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Jana Beňová

Café Hyena

Roman

Aus dem Slowakischen übersetzt
von Andrea Reynolds

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© 2008 Jana Beňová

Die Originalausgabe ist 2012 unter dem Titel »Café Hyena. Plan odprevádzania« bei Marenčin PT, Bratislava, erschienen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2017 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Lektorat: Jessica Beer

ISBN e-Book 978 3 7017 4558 6

ISBN Print 978 3 7017 1682 1

»Was sollte die Ursel denn nach Seite 399
noch erleben?«

Rudolf Sloboda

Inhalt

I Petržalka – Galapagos

II Café Hyena

III Kalisto Tanzi

IV Sommer

V Herbst

VI Winter

VII Der zweite Sommer

VIII Das Meer

IX CarlSolomon

X Kindheit

XI Jugend

XII Das Ende (der Kindheit und der Jugend)

XIII Der Begleitplan

XIV Der zweite Winter

XV Im Rückspiegel

I

Petržalka – Galapagos

Petržalka
The shadow of my smile
Petržalka
My own style
Petržalka
The sound of my heart
Petržalka
Always on my mind

Ein richtiger Knaller. In der Wohnung neben Ian und Elza wohnt ein älterer Herr. Der denkt schon jahrelang, Elza sei Ians Sohn. Er grüßt sie munter mit Servus und boxt ihr mitunter kumpelhaft gegen den Brustkorb.

Der Nachbar kann Knallkörper nicht ausstehen. Wenn die Kinder wieder einmal welche abfeuern, dann rennt er auf den Balkon und brüllt: »Du Wichser!« Noch mal und noch mal. So beginnt die Vorweihnachtszeit in Petržalka: Duwichserduwichserduwichserduwichserdu.

Der Nachbar ist kein Mensch, er ist im Grunde genommen selbst eine Knallerbse der besonderen Art. Ein Zündhütchen. Heute Nacht pilgert Elza zu seiner Wohnungstür, weil sie eine Unterhaltungssendung im Fernsehen durch die Wand hindurch mit anhören muss. Sie bittet ihn, doch etwas leiser zu drehen. Seine Augen glänzen: eine Mischung aus Alkohol und Tränen. »Also ich weiß ja nicht«, antwortet er zunächst erhaben, voller positiver Energie. »Das ist ja eine Sendung, die erklärt, wie wir unsere Tatra retten können, und da habe ich gedacht, dass alle, dass ja jeder …«, fügt der Nachbar dann schon eher winselnd hinzu.

Elza kehrt in ihre Wohnung zurück, der Fernseher jenseits der Wand röhrt nicht mehr. Jetzt röhrt der Nachbar. »Ungarische Huren!« Noch mal und noch mal. Elza liegt im Bett und ihr rollen die Tränen. Immer wieder. Zur Rettung Petržalkas.

Petržalka ist ein Gebiet, in dem Zeit keine Rolle spielt. Hier leben Wesen, von denen der übrige Teil der Weltbevölkerung denkt, dass sie gar nicht mehr existieren, dass sie längst ausgestorben sind. Die guten und auch die bösen. Die Kakerlaken hier sehen aus wie Dinosaurier, die Stimme des Nachbarn kommt nicht aus seiner Kehle, sondern durch die gefletschten Fangzähne eines Raubtieres.

Elza rennt auf den Balkon, fischt eine Flasche aus dem Mülleimer und beugt sich zum Nachbarn hinüber. An der Wand steht ein leeres Aquarium. Sie wirft die Flasche gezielt dort hinein und läuft schnell wieder weg, um sich im Bett zu verstecken. Sie hört, wie der Nachbar auf den Balkon kommt, eine Weile ist es still. Elza zittert.

»Blauer Portugieser«, entziffert der verwunderte Nachbar schließlich aus den Scherben. Dann senkt sich Frieden übers Land.

In den Wohnungen von Petržalka musizieren und plaudern alle Wände. Hier frischt man Lieder wieder auf, von denen man dachte, dass die Welt sie längst vergessen hat. Hier steht die Zeit still, die Radios sind jahrelang auf ein und denselben Sender eingestellt. Der Zeiger, der den Sender auf der Skala einst anzeigte, ist irgendwann ins Innere des Gerätes gefallen. Auf den Boden des Heimatmuseums. Elza stellt fest, dass im Radio immer noch Ein Ständchen zum Geburtstag gesendet wird. Das kennt sie noch aus ihrer Kindheit. Während des Sozialismus lief die Sendung bei jedem Frisör.

Elza bittet ihren Nachbarn, er solle die Ständchen und Glückwünsche doch bitte nicht so laut hören. Der Nachbar steht in seiner Wohnungstür, barfuß und mit einer Unterhose bekleidet. Er heult. Bei der Blasmusik hat er an sein totes Mütterchen denken müssen.

Seine beiden Söhne kommen ihn besuchen: »Reiß dich zusammen, Papa! Mit dir geht es immer weiter bergab! Was ist nur los mit dir? Rufst mich über das tschechische Netz von Eurotel nach Österreich an? Dafür muss ich doch blechen. Guck dich doch an, du Depp! Merk dir’s doch! Ich sag dir was und zwei Wochen später weißt du nichts mehr davon.«

»Keine Details bitte! Ich möchte keine Details wissen«, fleht der Vater.

Elza beschließt, den Söhnen auf der Straße vor dem Haus aufzulauern und sie zu ersuchen, ihre Familienprogramme nicht so laut und bitte schön nicht bis drei Uhr morgens zu senden. Nachdem sie einen halben Tag lang vor der Haustür herumgehangen hat, stellt sie schließlich fest, dass sie die Söhne des Nachbarn gar nicht von den anderen jungen Männern in Petržalka unterscheiden kann. Alle sind groß und aufgedunsen, haben kahl geschorene Köpfe und Pfannkuchengesichter.

Elza: Als Kind schien mir das Land jenseits des Flusses gefährlich. Ich wohnte mit meinen Eltern in der Altstadt. Die Alte Brücke war für mich stets der Beginn einer unberechenbaren Reise – so wie der Fußgängerweg, der links über dem Abgrund hing und unter dem sich der braune Fluss dahinwälzte. Eine Grenze, an der ein Sonntagsspaziergang zum Kampf ums nackte Leben wurde. Deshalb sollten dort nur Erwachsene entlanglaufen, also über Achtzehnjährige.

Vom Ufer unserer Stadtseite aus beobachtete ich oft den Lunapark – das Tor Petržalkas. Ich versuchte, dem lodernden Blick der Sphinx auszuweichen. Sie bewachte den Eingang des Parks und täuschte dabei Spiellust vor. Pferdchen, Enteriche und Schwäne von riesiger Gestalt und in kräftigen Farben sausten wie in einem luftdicht abgeschlossenen Karussell herum. Sie kreisten in einer diabolisch abgesteckten Bahn. Auf ihnen kreisten jauchzende und kreischende Kinder. Diese unerbittlich kreisende Bewegung verschluckte die Landschaft.

Es gab keine Flucht – der Kreis ließ sich nicht durchbrechen. Einige Kinder hatten eine schlechte Entscheidung getroffen – sie hielten sich krampfhaft an den störrischen Nacken künstlicher Pferde fest und weinten.

»Das nenne ich Leben«, sagte der Karussellbesitzer, er wandte das Gesicht dem Himmel zu und ließ das Karussell noch schneller sausen.

An manchen Tagen sah der Lunapark völlig heruntergekommen aus, wie für immer geschlossen. Nur ein paar Karussells und eine Schießbude waren in Betrieb. Auf dem schlammigen Gelände strichen nur die Karussellbesitzer herum. Diese tragischen Figuren sahen aus, als stammten sie aus den Zeiten, als man in England zum Schornsteinreinigen Kinder in die Schlote schickte.

Im blauen Auto des Autodroms sitzend, bleibt mir beim Zusammenprall mit dem roten die Luft weg. Wenn sich unser Gespräch ums Karussell dreht, erzählt Vater immer von dem Schwan, der sich einmal mitten in der Runde losgerissen hat, samt den beiden Kindern, die darin saßen.

Großmutter geht mit mir ins Spiegelkabinett, und als es uns nicht gelingt, wieder herauszukommen – kein Weg, keine Tür, Spiegel sind keine Fenster, nichts, nur ich und Oma, Oma und ich und unsere immer blasser werdenden Gesichter in den Spiegeln, eine halbe Stunde irren wir herum –, rufen wir nach dem Mann, der uns die Eintrittskarten verkauft hat, er soll uns herausführen. Uns den Weg zeigen.

Ein paar Jahre später verlaufen sich Mama und Oma in Petržalka. Sie steigen in den richtigen Bus, doch in die falsche Richtung. Statt sie zurück in die Stadt zu bringen, fährt er sie tiefer und tiefer ins Innere der Wohnsiedlung.

Als sie schließlich ganz verstört aussteigen, ist es schon dunkel und es schneit. Sie werden nie mehr nach Hause kommen, sie werden nie mehr aus Petržalka herausfinden. »Wie kommen wir bitte nach Bratislava?«, spricht Mama aufgelöst ein Fräulein an der Haltestelle an. »Aber Sie sind doch schon … Sie sind hier in Bratislava«, antwortet das Fräulein verwundert.

Mama lächelt hilflos. »Ich meine, in die Stadt Bratislava.« Nachdem sie die Brücke wieder überquert hatten, fragte Mama Oma, ob sie bemerkt hätte, was für ein merkwürdiges Gesicht das Mädchen gehabt hatte. Ein Quarkpfannkuchen.

Als Ian und ich das erste Mal miteinander schlafen wollen, offenbart er mir, dass er in Petržalka wohnt. Ich schrecke nicht zurück. (Ich werde mir bewusst, dass ich nicht zurückschrecke.)

Die Brücke ist gefährlich, vor allem, wenn man sie zu Fuß überquert. Der Fluss ist viel zu nah. Die Grenze zwischen Wasser und Luft ist provokant. Ich fürchte, dass ich irgendwann einfach springen werde. Ganz unvorbereitet, ohne einen einzigen traurigen Gedanken, ohne den Ausruf hops!, kein Drama und kein Entscheidungsprozess – statt normaler Schritte dann eben einfach ein Sprung.

Die größte Lust zu springen habe ich im Winter. Eingepackt in etliche Schichten warmer Kleidung fühlt man sich undurchdringlich und unantastbar. Und man sehnt sich nach einer Veränderung. Wie ein Nomade sich nach einer Veränderung des Horizonts sehnt, so sehne ich mich im Winter nach der Veränderung meines Aggregatzustands. Im Vergleich zu einem weiteren unsicheren, täppischen Schritt auf der vereisten Oberfläche der Brücke wird so ein Sprung wie Fliegen sein. Dann der Augenblick an der Grenze zwischen den Welten. Verlängert um jenen Moment, als ich zwar schon im Wasser liege, es aber noch nicht durch die Schichten der Kleidung bis zum Körper hindurchgedrungen ist. Es sickert nur langsam durch, es ist schwer und grün wie Mentholbonbons – es füllt die Taschen, dringt in die Schuhe ein.

Ein Pfannkuchen stieg in den Bus ein. Der Typ streckte mir seine fetten, tätowierten Arme hin. Ich machte besser die Augen zu. Damit ich die Figuren, die durch die Flammen galoppieren, nicht ansehen musste, und auch den Pfannkuchen nicht, der gerahmt wurde von der Landschaft mit Mond draußen vor dem Fenster. Ich ließ mich mit geschlossenen Augen davontragen und durchrütteln.

Vielleicht waren es gerade die Bilder Petržalkas, die Ian vor Jahren für einige Zeit erblinden ließen. Er beschloss, lieber nichts zu sehen, sich nicht umzusehen, es nicht zu beobachten, es gar nicht beachten zu müssen – Petržalka.

Ian erzählt, wie ihn nach vielen Jahren einmal ein Freund aus seiner Kindheit besuchte, der 1968 nach Kanada emigriert war. Dieser Freund hatte eine Weile aus dem Fenster von Ians Wohnung in Petržalka geschaut und seine einstige Heimatstadt daraufhin nie wieder besucht. »So lebst du also jetzt«, hatte er gesagt, Ian auf die Schulter geklopft, und dann war er ohne irgendeine Spur zu hinterlassen nach Hause gereist. Er hat sich seitdem nie wieder gemeldet. Petržalka hat ihm den kanadischen Atem verschlagen.

Tätowierte Leute habe ich noch nie gemocht. Sie erinnern mich an den Knast und an Piratenschiffe. Und an einen besoffenen Arbeiter in der sommerlichen Straßenbahn. Mama und ich fuhren vom Freibad nach Hause. »Was guckst du so?«, schnauzte der Arbeiter, auf dessen Arm eine Meerjungfrau, ein durchschossenes Herz und die Aufschrift Carmen tätowiert waren, Mama an. »Ich schaue Sie gar nicht an«, sagte Mama, und wir gingen ans andere Ende des Straßenbahnwaggons.

Manchmal denke ich, dass Ian damals nicht wegen Petržalka erblindete. Sondern vielleicht wegen mir. Er hielt es nicht mehr aus, unser gemeinsames Leben anzuschauen. Wie eine Tätowierung. Er ging ans andere Ende des Waggons.

Und sein kanadischer Freund kehrte nie wieder in die Slowakei zurück, da er sich bewusst geworden war, dass er niemanden vor Petržalka beschützen konnte. Nicht einmal seinen ersten richtigen Freund, den ehemaligen Kommandanten der Kinderarmee.

Nachdem Ians Augenlicht zurückgekehrt war, hasste er alles, was ihn an die Blindheit erinnerte. Schlüpfrige Steine auf dem Grund von Flüssen und Seen und dem Meeresboden, Morast, die Filme »Dancer in the Dark« und »Ray«, Schwimmbrillen und dunkelfarbige Lebensmittel (Rindfleisch, chinesische Pilze, Truthahnschenkel).

Er konnte jedoch nur noch auf einem Auge sehen.

Pfannkuchen sind Fans des Totenkultes. Kahl geschorene Schädel sind ein Zeichen für Nekrophilie. Sie können all das nicht ausstehen, was ans Licht will, was sprießt, was hervorquillt, was durch die Schale hindurchbricht. Ihnen imponieren nackte, leuchtende Knochen, Schädel, reines Kalzium. Die Haare der Pfannkuchen bekommen erst unter der Erde ihre Chance. Dann sprießen sie erstmals schüchtern wie Flaum aus den Schädeln.

»Ha! Ha! – Na, was ist das?«, schreit ein kleiner Junge auf einer Terrasse in Petržalka, und er wedelt dabei mit den Armen in der Luft herum wie ein Vogel.

»Nichts«, antwortet sein Freund.

»Das ist Heil Hitler«, sagt der Junge und wedelt weiter.

Er hebt ein wenig ab.

Elza und Ian gehörten zu den Desperados von Bratislava. Sie arbeiteten nicht in einer Werbeagentur und bemühten sich auch nicht, auf eine bessere Wohnung und auf ein Auto zu sparen. Sie saßen oft in noblen Cafés herum. Alles Geld, das sie verdienten, verfutterten sie, vertranken sie und verrauchten sie. Sie benahmen sich wie Studenten (Motto: Vergeudet ist nur das Geld, das gespart wird). Sie reihten sich ein in die Schar der sorglosen Leute, die nur das kauften, was man wieder herauspinkeln, herauskacken und herauspusten kann – was also binnen 24 Stunden recycelt werden kann.

Und genau dank dieser desperaten Leute konnten in der Stadt Cafés und Restaurants existieren, in denen alles hundertmal teurer war als angebracht.

Von Zeit zu Zeit genossen sie das Wohnen in anderen Häusern – in Pensionen und Hotels. Es kam gar nicht darauf an, in welcher Stadt sich die jeweilige Unterkunft befand. Es war einfach eine Wonne, woanders zu wohnen als in Petržalka. Von ihren Reisen kehrten sie stets mit der Angst nach Hause zurück, was sie hinter der eigenen Wohnungstür wohl erwarten könnte.

Elza: Manche Leute kriegen Dünnschiss, wenn sie nach Ägypten reisen. Wir haben immer einen gekriegt, wenn wir wieder nach Hause kamen. Nach Petržalka.

Elza und Ian liebten sich gerade. Die Stimmen der Kinderanführer, die vor dem Wohnblock ihre Spiele spielten, drangen ins Zimmer. Geschrei. Fluchen. Es war Herbst. Es wurde langsam dunkel. Die Wonne von Mann und Frau vermischte sich mit dem vulgären Geschrei der Kinder. Mann und Frau liebten sich leise und genügsam. Sie blickten einander in die Augen. Wie Juden, versteckt in irgendeinem Keller.

Jede namhafte Stadt hat ihre Aussichtspunkte. Man blickt von dort aus hinunter und plötzlich liegt einem alles zu Füßen, man sieht die Stadt wie auf einem Tablett vor sich, alles auf einmal. An einigen Aussichtspunkten gibt es Cafés, in denen man das teuerste Mineralwasser und den teuersten Wein der Stadt kaufen kann.

Auf jedem dieser Aussichtspunkte lebt irgendein Alter. Meist ein weißhaariger. Er steht unauffällig in der Ecke herum und beobachtet jene, die hinunterblicken. Er sieht sie wie auf einem Tablett vor sich, alle auf einmal.

Er tritt an die Wehrlosen heran, blickt ihnen für einen Moment ins Gesicht, und gleich darauf fliegen seine Hände in die Luft und aus ihm sprudeln die Namen und Bezeichnungen berühmter Gebäude und Denkmäler heraus. Er zeigt auf ein Gebäude nach dem anderen, als ob er mit der Stadt Schach spielen und die Gebäude unauffällig verrücken würde. Er fährt selbst dann noch fort, wenn Sie ihm andeuten, dass Sie die Stadt gut kennen. Auch alle ihre Bauten und Denkmäler. Wenn Sie beteuern, dass Sie kein Tourist sind. Dass Sie hier geboren sind und die Stadt nur während der heißen Sommermonate verlassen.

Schließlich hält er seine Hand wie ein Tablett hin und bittet um drei Euro für einen Kaffee.

Elza: Ich bin so ein Alter aus Bratislava. Ich warte auf dem Burgberg. Dort hat man die beste Aussicht auf die Touristen. Zunächst beobachte ich sie und dann suche ich mir welche aus. Ich trete an meine Opfer heran, blicke ihnen für einen Moment ins Gesicht, dann strecke ich die Hand aus in die Ferne, in Richtung des anderen Ufers, und zeige auf die weiße Stadt jenseits des Flusses: Petržalka, Pe-tr-žal-ka.

Als wäre ich das Ebenbild jenes weißhaarigen Alten namens Freud, und zwar genau in dem Moment, als ihn die Gestapo vorlud. Die war direkt gegenüber seiner Wohnung (Berggasse 19) eingezogen. Ein Blick von Fenster zu Fenster. Bevor sie ihm erlaubten, das Land zu verlassen, musste er bestätigen, dass sie ihm nichts Böses angetan hatten. Der Alte unterschrieb und fügte noch den Satz hinzu: »Die Gestapo kann ich wirklich jedem nur empfehlen.«

Muezzins. Ihre Stimmen wurden lauter, kamen näher. Sie hämmerten durch die Wände, stiegen von oben herab, pochten von unten in die Beine hinein. Der rhythmische Gesang der Muezzins von Petržalka. Er weckte Elza früh am Morgen. Vor dem Morgengrauen.

Eine Etage tiefer wohnte eine alte Frau mit ihrer gebrechlichen Mutter. Die beiden waren immer zu Hause, und sie waren fast taub. Ihr endloses Gespräch begann vor dem Morgengrauen. Sie wachten früh auf, sie konnten nicht schlafen. Jeden Morgen gingen diese beiden Alten die gesamte Existenz durch – ihre eigene sowie die anderer Leute. (Von Anfang an.) Sie hingen am Klatschen und Tratschen wie am seidenen Faden des Lebens.

Elza lag im Bett. Sie wurde von den Stimmen gestört, die aus der Wohnung unter ihr kamen. Sie hatte das Gefühl, die Alten krächzten unter ihrem Kopfkissen. Sie waren dort jeden Morgen. Seit Anbeginn der Welt. Ihr Altweiberhaushalt pulsierte unter Elzas Kopf.

»Mama, und im Krankenhaus, da bist du immer so ein unzufriedener Patient«, kreischte eine Alte die andere an. »Du bist immer nervös. Beschwerst dich – über die Ärzte, über die Schwestern, über die Dialyse. Bist immer so schrecklich unzufrieden. Und die anderen Omas in deinem Zimmer, die liegen nur still da, machen nicht mal den Mund auf …«

»Weil die blöd sind«, krächzte die andere Alte.

Und als die Sonne aufging, kamen weitere Stimmen hinzu.

Petržalka kann ich wirklich jedem nur empfehlen.

Das Geschrei eines Mädchens, es war mit Pornofilmen genährt worden wie andere mit Muttermilch, dieses Mädchen schrie beim Ficken, als ob man es zersägen würde. Von links kam der Monolog einer enttäuschten Frau: »Besoffen habt ihr mich gemacht und dann habt ihr heimlich die antike Uhr verkauft, ihr Menschenfresser. Doch diese Wohnung ist mein Eigentum. Ich trete euch allen in den Arsch. Verschwindet, ihr Schufte! Alles vertuschen sie vor mir, sie klauen Handtücher, schlagen Dellen in die Töpfe. Hauptsache, bei euch selbst ist nichts kaputt!«