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Ida Hegazi Høyer

Das schwarze Paradies

Roman

Aus dem Norwegischen übersetzt
von Alexander Sitzmann

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Dieses Buch wurde mit Unterstützung von NORLA gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© 2015 der Originalausgabe »Fortellingen om øde« bei Tiden Norsk Forlag, Oslo
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin / buero8
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:
978 3 7017 4555 5

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1686 9

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Anmerkung der Autorin

These »Enchanted Islands«, as the Galapagos Archipelago was originally called, had not derived their enchantment from legends created by human aboriginals, for they had never been the home of native tribes. They had given only a brief hospitality to willing or unwilling visitors, and the enchantment that was upon them caused strange and often evil things to happen. I for one, having been a victim of this magic, am quite convinced that the gods or demons of Galapagos were the invisible spinners of the fate which overtook not only us, but all those who came there in our time; and I believe that these islands are in truth one of those places of the earth where humans are not tolerated.

Dore Strauch

Mitten im einzigen Meer, in der schwärzesten Tiefe, im stärksten Licht, im wachsenden Blau und im lebenden Abgrund ist die Erdkruste geborsten und aufgebrochen, hinabgestürzt und emporgestiegen, hat ihr Innerstes brennend ausgespien und aufgeworfen – zu einer Insel.

Lange Zeit war sie allein, während rote Flüsse zu Stein wurden und schwarze Steine zu Sand, bevor das Wasser erneut hindurchzog und das Grün alles überwucherte. Erst als der Horizont dort draußen erschien, als ferne Grenze, wurde sie sichtbar, und so, als diese Rettung, erfuhr man von ihr.

Dass ein neuer Ort existierte. Dass ein alter Ort existierte. Dass er rein sein sollte. Und dass er eigen sein sollte. Dies. Dort. Dass es möglich sein sollte, von vorn anzufangen.

Ob es dort schon früher jemanden gegeben hatte, das wusste niemand. Wer versteckt, wer vergessen und wer auch da war, gehörte nicht zu dem Traum. Wenn man das überhaupt einen Traum nennen konnte, diese Art von Reise zurück.

Die Kunde verbreitete sich. Sie verbreitete sich. Ehe das Grün sich in die anderen Farben verwandelt hatte, wollten Menschen dorthin. Und einige versuchten es.

I

Es ist ungewiss, wie Dr. Carlo Ritter von der Insel erfuhr. Vielleicht hatte er, seit er klein war, eine Art Zufluchtsort in sich getragen, oder es hatte ihn, seit er begriffen hatte, wie klein er war, die Idee dieser vollständig unverrückbaren Abgrenzung fasziniert, die das Meer war, oder auf die eine oder andere Weise die Tatsache, nicht weiterkommen zu können. Jedenfalls ist ungewiss, warum er sich dazu entschloss, gerade hierherzuziehen. Es gab doch noch mehr Inseln, Inseln, die näherlagen. Er hätte es sowohl einfacher als auch sicherer und schneller haben können, aber der Doktor war kein Durchschnittstyp, er wollte so weit wie möglich fort, und als er erst Wind von dieser Insel bekommen hatte, blieb es einfach so, nichts Näherliegendes würde jemals gut genug sein können.

Er hatte das Großstadtleben satt, die Enge und den Lärm, all die zu nichts führenden Projekte, die die Menschen in Angriff nahmen. Er hatte Menschenansammlungen satt, er hatte es satt, jeden Sonntag Portwein im Café zu trinken, über Politik zu diskutieren, eine Meinung zu kulturellen Ereignissen haben zu müssen, er hatte das Straßennetz satt, die Einstellungen der Allgemeinheit, er hatte Europa satt, kurz gesagt: Er hatte das meiste satt, was an moderne gesellschaftliche Entwicklungen erinnern konnte, an diesen ewigen Fortschritt. Außerdem hatte er seine Frau satt. Seine Arbeit. Und nicht zuletzt die sinnlose Anstrengung, sich jeden einzelnen Morgen Kleidung anziehen zu müssen. Er hatte genug. Er wollte weg. Und zwar an einen Ort ganz ohne Menschen, ohne Beziehungen, ja, überhaupt ohne Kontaktmöglichkeiten.

Wahrscheinlich spürte er es wie eine Mühle hinter der Stirn, im Magen, im Rückgrat. Wie der Druck der dritten Zahnreihe von Untieren, ein Druck, der immerfort im selben inneren Kern schmerzte, in seiner verkehrten, verhärteten Sehnsucht. So war das Leben für den erschöpften Doktor geworden, vor sich sah er ein Land mit Fischen und Vögeln und selbst gezogenem Gemüse, und diese Vision, die hinter dem Tag und den Pflichten lag, begleitete ihn. Ein anderer Himmel. Eine andere Ruhe.

Alles, was er bisher über das Leben zu wissen geglaubt hatte, sollte mit den Stürmen ausradiert werden. Zumindest hoffte er auf etwas in dieser Art. Etwas musste doch mit ihm geschehen in so einem Experiment, und das war es ja trotz allem, sonst wäre alles vergebens. Wenn die Demut nicht ins Meer geworfen werden könnte. Wenn man die Einsamkeit nicht richtig spüren könnte.

Viele Jahre lang hatte er sich in der Gesellschaft herumgetrieben und seine eigene Flucht proklamiert, hatte mit dem Glas in der Hand dagestanden und Reden geschwungen und alle zum Grinsen gebracht darüber, wie satt er sie hatte. Freunde, hatte er gesagt, ich ertrage euch einfach nicht mehr, und dann hatten sie gelacht und die Gläser erhoben, und alle zusammen fühlten sich privilegiert, von so einem außergewöhnlichen Mann überhaupt als Freunde bezeichnet zu werden. Dann sah er an sich hinunter, betrachtete seine eigene Kleidung, setzte eine akut erschrockene Miene auf, erhob die Stimme und rief: Und diese bedauernswerte Aufmachung, ich kann es kaum erwarten, sie mir vom Leib zu reißen!

Er war ein Mann von Charakter, der Doktor, und das wusste er. Ein großes Ego, verborgen hinter einer kuriosen und halbwegs einnehmenden Fassade.

Die Sache war die: Er wollte gesehen werden. Wollte mehr als nur eine gewöhnliche Lücke hinterlassen. Wollte der sein, der verschwand. Der Furchtlose. Der Wilde. Und er gab sich nicht mit etwas zufrieden, mit dem andere sich hätten begnügen können. Die Vögel sollten Vögel sein, wie sie noch nie jemand zuvor gesehen hatte, die Fische nicht nur Teil des Gemäldes, sondern selbst ein Gemälde, und das Gemüse, saftig wie tropische Früchte, sollte in allen Farben und Formen wachsen. Er sah es vor sich, knisternd, sprießend, und so fand er eine Art Mission, und so fand er eine Art Vision.

Wenn man allein lebte. Wenn man einen Naturalienhaushalt betrieb. Wenn man nur vegetarisch aß. Und wenn man immer nackt war. Dann könnte man leben, bis man 140 Jahre alt wurde.

Das war es, was er zu beweisen suchte. Oder das war es, was er erkunden würde. Er war nicht die Art Mann, die sich einfach so davonmachte ohne Plan und Agenda, er war trotz allem von einem gewissen Intellekt, und außerdem, von seiner zur Schau getragenen Misanthropie einmal abgesehen, hatte er überhaupt nichts gegen die Bewunderung seiner Mitmenschen einzuwenden. Wäre es ihm nicht um die Aufmerksamkeit gegangen, hätte niemand anderes es mitbekommen, hätte niemand applaudiert, so könnte man sich absolut vorstellen, dass der Doktor sich nie der Insel zugewandt hätte. Der unabhängige Misanthrop war ein Opfer seiner Abhängigkeit, er wie alle anderen. So war er, ein gespaltener Mann, und beide Teile gleichermaßen unrein.

Viel hatte er in Zeitungen und Zeitschriften über das Inselprojekt geschrieben. Viel hatte er darüber gesprochen. Und lange war es nur Gerede gewesen. Als die Zeit endlich gekommen war und die Leute mit Ungeduld seine Abreise erwarteten, war es schlicht und einfach zu spät, um umzukehren. Kalte Füße oder nicht, er hatte gesagt, er würde fahren. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn es um die Ehre ging, gab es keinen Rückzug.

Eine Sache tat er noch, bevor er aufbrach. Außer den notwendigen praktischen Dingen, die solch ein Abgang erforderte: Verkauf von unnötigem Besitz, Einkauf von notwendigem Besitz, Scheidung, Abschiede und Ausreden – nur eine Sache. Dr. Ritter war nämlich nicht irgendein Arzt. Er war ein Arzt mit Dentalspezialisierung, also Zahnarzt, und wenn es eine Sache gab, die er wusste, dann war es, wie viele Scherereien man mit den Zähnen haben konnte. Und so legte er sich, nachdem er all seinen Patienten Lebewohl gesagt hatte, auf den Zahnarztstuhl und zog sie sich, jeden einzelnen. Er würde ohnehin nie wieder Fleisch essen. Wozu braucht man schon Zähne, wenn man kein Fleisch isst, dachte Dr. Ritter. Doch er fertigte sich ein Reservegebiss aus Stahl an, das tat er, nur so, für alle Fälle. Dann war er bereit, der zahnlose Zahnarzt.

Sie war Hunderttausende von Jahren alt. Er war in seinen Vierzigern. Keiner von beiden ahnte, was er vom anderen zu erwarten hatte, dazu reichte ihre Fantasie nicht aus. Sie hatte zwar schon früher solche wie ihn gesehen, sie waren gekommen, hatten sich eingerichtet, sich vergriffen, sich versorgt, um dann aufzugeben. Diese Gestalt hingegen war anders. Es war etwas Zupackendes an ihm, etwas Felsenfestes, das sie sofort bemerkte und das ihr vielleicht gelingen würde zu ertragen. Wie er stehen blieb, das gefiel ihr. Dass er sich die Zeit nahm, den Sand die Füße kennenlernen zu lassen. Der Respekt, der darin lag, die Furcht oder Standhaftigkeit. Dass er sie in sich aufnahm. Dass er den Ernst erkannte. So sollte es sein, trotz allem, denn Furchtlosigkeit hatte sich hier noch nie als lebensfähig erwiesen.

Der Strand war schwarz. Nicht braun oder grau oder dunkelgrau, sondern schwarz. Dr. Ritter hatte nie zuvor schwarzen Sand gesehen, und lange wunderte er sich, ob es vielleicht seine Augen waren, mit denen etwas nicht stimmte. Er stand im schwarzen Sand, während das Schiff dort draußen ihn verließ, und bereits hier, in dieser allerersten Stunde, kam ihm der erste Verdacht. Man stelle sich vor, das alles wäre ein Fehler gewesen.

Die Reise hatte vier Monate gedauert, und als der Doktor endlich an Land ging, war er sich einer Sache sicher: Er würde sich nie wieder auf so eine Fahrt begeben. Er würde nie wieder zurückfahren. Niemals wieder aufs Meer hinaus. Einmal war die Seekrankheit so schlimm gewesen, dass er tatsächlich glaubte, er würde sterben. Er hatte die Insel vor sich gesehen, die ultimative Einsamkeit, und er hatte die kurze Notiz in den Zeitungen vor sich gesehen Zahnarzt auf Weg zu einsamer Insel verstorben und die vielleicht gar nicht so überraschten Gesichter der Leser, er hatte ihren arroganten Tonfall gehört, hast du gesehen, sagten sie, er ist noch nicht einmal angekommen. Als wäre sein Innerstes nach außen gekehrt, so fühlte er sich. So leer, dass es einen Hohlraum in ihm gab, groß genug, um sich von jener entscheidenden Schwäche nähren zu können, die er eigentlich bereits bezwungen hatte. Der Hohlraum war jeden Tag gewachsen, jede Nacht, jede Seemeile, und am Schluss war der Doktor so klein, nur eine geschrumpfte, sprachlose Zunge, die über das Meer hin zu etwas Wortfestem unterwegs war, und natürlich verging nicht viel Zeit, bis der weiße Streifen des Horizonts ihn zu täuschen begann. Plötzlich konnte er undeutlich Land sehen, eine Insel, eine Wand aus Wasser, und genauso plötzlich würde alles, was er sah, wieder verschwinden. Das scharfe Licht machte ihn verrückt, die Wellen zerrten an ihm wie Zauberei. Er würde sterben, dessen war er sich sicher, und er fühlte sich so schlecht, dass der Tod überhaupt nicht mehr abschreckend wirkte, vielleicht wäre er sogar ein herbeigesehnter Gast. Aber dann dämpfte sich das Licht. Und dann nahmen die Wellen ab. Und die Delfine tauchten auf. Zuerst hatte er nicht begriffen, dass sie real waren, so viele Sinnestäuschungen hatte ihm das Meer beschert, aber nach und nach, als es immer mehr wurden und sie näher kamen – einige von ihnen sprangen nur ein paar Meter vom Boot entfernt aus dem Wasser –, konnte er sie nicht nur deutlich sehen, er konnte sie auch hören, das freundliche, lachlustige Klicken. Er wusste jetzt, es gab andere Arten von Sprache. Er wusste jetzt, er würde es schaffen. Und dann, endlich, kam seine Insel in Sicht. Und nun stand er hier. Die Insel war echt. Sie war echt. Und selbst wenn es immer noch in seinem Körper schaukelte, wusste er genau, alles würde sich festigen, ganz bald.

Er bot einen traurigen Anblick. Dieser einst so attraktive und aufrechte Mann war jetzt ein Schatten seiner selbst, bärtig und mager, voller Sorge. Er hatte gewusst, es würde schwer werden, aber nicht, wie unmöglich es scheinen würde.

Und jetzt? Es war der erste Tag. Dr. Ritter stand auf dem Strand, dem trockenen, schwarzen, kühlen Strand, mit seiner Angst und seinem Gepäck. Er hatte gesagt, er würde mit leeren Händen kommen, das war der Plan gewesen. Aber wer kommt mit leeren Händen auf eine leere Insel? Er hatte es nicht gewagt, als es wirklich darauf ankam. War er etwa nicht gekommen, um zu leben, um zu überleben? Und außerdem wusste niemand etwas von seinem Gepäck, er hatte es geheim und vertraulich gehalten, niemand würde es je herausfinden. Zu Hause, von wo er kam, war er immer noch dieser vorbehaltlose Draufgänger mit nur zwei Händen und einem Kopf, und es war ihm genug, dass diese Vorstellung existierte.

345 Kilo hatte er dabei. Das war nicht zu knapp und ihr gegenüber keineswegs besonders ehrerbietig. Was wollte er eigentlich mit all dem? Glaubte er etwa nicht, dass sie ihm einiges zu bieten hätte? Aber es waren 345 Kilo Zucker und Tabak, Metall und Werkzeug, Textilien und Hausrat, Bücher und Schreibutensilien, Dosen und Pflanzensamen, Mehl und Reis, Wein und Schnaps, eine Machete, ein Feldstecher, ein Stück Seife, ein großer Tank mit Frischwasser – und ein Stahlgebiss. Er wusste genau, er gab einen idiotischen Anblick ab. Und er fühlte sich beobachtet in seiner Idiotie, vielleicht sogar angestarrt.

Aber eine Sache hatte er nicht mitgenommen. Eine Sache wollte er sich wirklich sparen. Und das war Kleidung.

Dr. Ritter hatte sich danach gesehnt. Vielleicht war es im Grunde dieser eine Augenblick, um den sich die ganze Reise drehte: sich zum allerletzten Mal auszuziehen. Es war nicht sonderlich warm, er war nicht verschwitzt, er würde nicht baden gehen, aber er zog sich aus, im Übrigen ohne eine große Sache daraus zu machen, er warf nur die zerlumpten Kleider auf einen Haufen, stemmte die Arme in die Seite, stellte fest, dass er jetzt fertig war, fertig damit, Doktor zu sein, fertig mit allerlei Titeln, Nachnamen und Höflichkeiten. Denn in diesem Bild, Carlo auf der einsamen Insel, der Einsiedler, der Wilde – in diesem Bild musste Freiheit zu finden sein.

Er drehte sich um und betrachtete sie. Wie kantig scharf und dürr sie war, selbst im Grün dort oben, wie grau und unwirtlich, wie wild und einsam. Sie hatte einen Gipfel, es gab unterschiedliche Zonen, aber wie sonderbar weit weg das Ganze wirkte. Wie unbewältigbar sie von hier aus, vom schwarzen Strand, aussah. Und so war es, in seinem ersten Zusammentreffen mit seiner letzten Heimat fand sich überhaupt keine Freiheit. Er war ein nackter Mann auf einem schwarzen Strand auf einer Insel im allergrößten Meer. Und es gab nicht einmal jemanden, der nahe genug bei ihm gewesen wäre, um ihn auszulachen.

Er nahm das Wichtigste mit, Tabak und Pfeife, Feldstecher und Wasserflasche. Den ganzen Rest seines Lebens würde er hier sein, aber er hatte keine Zeit zu verlieren. Er musste etwas sehen, etwas entdecken.

Ein leuchtender Anblick war er mit seiner kreidebleichen, beinahe durchsichtigen Haut. Nur mit Schuhen und Sonnenhut bekleidet, glich er einem Maskottchen, einem felllosen Affen. Dort, wo er auf die wilden Klippen kletterte, wirkte er absolut deplatziert, aber er hatte keine Wahl, es gab hier keinen einzigen Pfad, überhaupt keinen Pfad. Wollte er weiter ins Innere der Insel vordringen, musste er zuerst die Klippen am Strand überwinden, und das waren nicht irgendwelche Klippen, das hier, sondern versteinerte Wesen, Trollköpfe, obskure Gesichter in schwarz. Sie waren riesig, sie waren scharf, und sie sahen böse aus. Carlo hatte noch nie etwas Derartiges gesehen, und ein Balancekünstler war er nie gewesen. Als er schließlich in das Grün eintauchte, hatte er blutige Handflächen, aufgeschürfte Knie und einen sehr sonnenverbrannten und wunden Hintern.

Das Grün bestand aus Blättern so groß wie Bettwäsche, und diese Wäsche entfaltete sich zu verborgenen Räumen und Eingängen. Die Decken bestanden aus trockenen, scharfen Flügeln, die Böden aus trockenen, scharfen Klauen. Nichts sah grün aus, hier im Inneren. Auf einmal konnte man in einen Tunnel fallen, in einem Gestrüpp gefangen werden oder in einem Hohlraum. Oft musste er umdrehen und zurückgehen, um es ein paar Meter weiter erneut zu versuchen. Das war ein Höllenprojekt, jenseits der Geduld, und es dauerte nicht lange, bis die Hitze an ihm zehrte, und er erkannte, dass er zu wenig Wasser mitgenommen hatte. Nicht einmal das kleinste Insekt war ihm zu sehen gelungen, bevor er schlagartig aufgab, was auch immer entdecken zu wollen. Das Einzige, was er jetzt finden wollte, war eine Wasserquelle. Und er hatte nicht viel Zeit. Die Abenddämmerung stand im Westen bevor. Das blasse Grün sah jetzt bedeutend frischer aus. Ätzend.

Eine Stunde, dachte Carlo, eine Stunde habe ich noch. Aber zehn Minuten später war es stockfinster.

Sie war ihm gefolgt, und sie begleitete ihn immer noch. Er war der erste Nackte und von allen, die sie bisher gesehen hatte, definitiv der Dümmste.

Nun lag es hier, das Menschengeschöpf, in der Dunkelheit, und sie wusste, es träumte bereits von allem, was es zurückgelassen hatte. Seine Geräusche waren von der verzweifelten Sorte, seine Augen fiebrig. Als trüge es alle Schatten auf der Innenseite. Ihn ertragen zu müssen, war, als hielte man eine flügellose Fliege in der Hand. Eine unmögliche Sehnsucht, frenetisch der Puls, die Schläge funkensprühend roh. Als hätte er einen Keim der Unruhe gesät, der nun den Erdboden aufsprengte. Nicht einmal der Mond konnte ihn trösten, und dass sie ihn hielt, half gar nichts.

Er hatte versucht zu sitzen. Hatte versucht auszuhalten, wach, offensiv, die ganze Nacht hindurch. Aber er war durstig und er war erschöpft, die Nacht dauerte schlicht und einfach zu lange. Zurückzugehen war unmöglich. In der Dunkelheit, in dem zugewucherten Inselwald würde es ihm nie gelingen, seine Schritte richtig zu setzen, nie im Leben würde er über die grausamen Klippen kommen, nein, er musste bleiben, wo er war, die langen Stunden ausharren.

Als die Ameisen anfingen, ihn zu beißen, begann er zu fluchen. Als die Vögel anfingen, über ihm zu kreisen, begann er zu weinen. Und als sich die Vögel nicht einmal als Vögel erwiesen, da betete er zu Gott. Lieber Gott, schluchzte Carlo, lass mich nur diese erste Nacht überleben. Und so, wie ein winselnder, vierzigjähriger Fötus, kollabierte er zum Schluss.

Lange, bevor er die Augen aufschlug, nahm er den Geruch wahr. Auch wenn er sich immer noch in einem halben Dämmerzustand befand, bekam er es mit. Aber er hatte vergessen, wo er war. So lang war er auf dem Meer gewesen, dass sein Kopf den Wellen nachhing, und jetzt glaubte er immer noch, er sei an Bord, in der Kabine. Oft war er so erwacht, mit dem Geruch seines eigenen Erbrochenen als Wecker, aber dieser Geruch war anders, und in seinem Dämmerzustand fragte er sich, ob er nicht vielleicht in die Hose gemacht hatte. Das suspekte Kombüsenessen, das er in den letzten Monaten zu sich genommen hatte, war in der Regel ziemlich schnell wieder herausgekommen, manchmal viel zu schnell, und jetzt lag er da und schnüffelte im Schlaf nach Indizien dafür. Erst, als er seinen Hintern abtastete, erwachte er mit einem Ruck. Der Gestank ging nicht von ihm aus. Er war nicht allein.

Mit einem Satz war er auf den Beinen, betastete fiebrig sein Gesicht, seinen Körper, aber wie sehr er sich auch die Augen rieb und wo an seinem Körper er sich auch kniff, das war kein Traum. Direkt neben der Stelle, wo er geschlafen hatte, lag eine riesige Echse, fast genauso lang wie er selbst, abscheulich und hässlich in ihrer kahlen Echsenhaut, mit einem stacheligen Mittelstreifen auf dem Rücken und hervorstehenden Augen sah sie aus wie eine Art urzeitliches Gespenst. Und, was vielleicht genauso aufsehenerregend war, zwei Meter dahinter stand eine Kuh und kaute einige Blätter, ja, abgesehen von einem Paar ungewöhnlich spitzer Hörner war es eine ganz gewöhnliche braune und beleibte Kuh. Er wusste nicht, an welches der Geschöpfe er weniger glaubte.

In seiner Verwirrung erwog er, ob jemand die Kuh ihm zu Ehren dort platziert haben könnte, als ein Geschenk, als Hilfe. Aber das konnte nicht stimmen, wie narzisstisch veranlagt er auch war, und schließlich folgerte er, sie müssten aus der Hölle kommen, sowohl die Kuh als auch der Echsenteufel.

Dann lief er. So schnell er konnte, durch das enge, verkehrte, scharfe Grün, dem Geräusch des Meeres entgegen. Er lief so schnell, dass er sowohl Sonnenhut als auch Feldstecher verlor, lief, als wäre er dabei, auch den Verstand zu verlieren. Er wusste, er benahm sich wie ein Verrückter, weder die Kuh noch die Echse hatten ihm etwas getan, aber er mochte sie nicht, sie sollten nicht hier sein, nicht auf dieser Insel, seiner Insel, und wer weiß, dachte Carlo, was solchen Tieren einfällt, wie durchtrieben sie sein können, wie ausgeprägt ihre Fähigkeiten. Er fühlte sich observiert, angestarrt, gejagt, und er war sich sicher, dass die Echse ihm folgte, dass sie ihren giftigen Echsenkörper durch das Gestrüpp schlängelte und dass sie hungrig war. Als die Beute, die er zu sein glaubte, lief er, obwohl die Blätter seine Haut aufschürften, obwohl die Wurzeln ihn zum Stolpern brachten. Jedes Mal, wenn er fiel, rappelte er sich wieder auf und lief weiter, und er blieb nicht stehen, um nachzusehen, und er machte nicht halt, weder um zu lauschen noch um zu tasten, nicht bevor er wieder an den Klippen stand, dann, endlich, wagte er es, auszuatmen.

Auf einer Kuppe lag ein runder Stein in der Sonne, und er setzte sich darauf, mit Blick auf die Aussicht. Er war jetzt außerhalb des Grüns, die Echse musste aufgegeben haben, aber er fühlte sich trotzdem nicht völlig sicher. Mitunter meinte er, ein fauchendes Geräusch zu hören, oder er spürte ein Vibrieren, als bebte der Erdboden oder, schlimmer noch, als würde er bersten. Aber er war ja erschöpft und dehydriert und außerdem am Meer. Das Meer, hatte er gelernt, konnte sogar die gewöhnlichsten Sinneseindrücke verzerren, alles so wogend und mystisch machen. Er musste jetzt zu sich kommen. Wenn er hier auf der Insel eine Chance haben wollte, musste er sich ordentlich zusammenreißen, und diese Echse, die an seinem Inneren zerrte, würde ihn nicht von seinen Plänen abbringen.

Hör mal, Carlo, jetzt hast du einen klitzekleinen Panikanfall. Das ist ganz natürlich, aber das wird nicht wieder vorkommen. Panik steht dir nicht, stellte er fest.

Und dann schallte ein hohler Donner über die Insel, ein wärmender Donnerschlag. Er ahnte nicht, woher es kam, das Unwetter, er konnte keine einzige Wolke sehen. Als ob jemand lachte, so hörte es sich an. Ein Lachen von oben, ein Lachen aus den Bergen, ein Lachen aus dem Grünen und Grausamen.

Als die Angst sich endlich legte und er ausgeruht genug war, um die Klippen hinunterzuklettern, sah er seine Niederlage mit Scham und Enttäuschung ein. Er hatte keine Wasserquelle gefunden, und er hatte auch nichts entdeckt. Es war wohl tatsächlich eher so, dass etwas ihn entdeckt hatte.

Fünfzig Liter hatte er. Fand er kein Wasser, bevor er die fünfzig Liter ausgetrunken hatte, war es aus mit ihm, so war die Situation. Aber er würde nicht aufgeben. Der Doktor, der kein Doktor mehr war, betrachtete sich nicht als Schwächling. Nächstes Mal, sagte er zu sich selbst, würde er einfach besser gerüstet sein, mit einer Machete und mit erheblich mehr Wasser, ja, vielleicht auch mit ein paar Konserven. Nächstes Mal würde er so lange gehen, bis er es fand, das Wasser, daran führte kein Weg vorbei. Sollte er sterben, dann in jedem Fall nicht an Durst.

Er ging dort oben am Rand entlang und suchte nach einem Weg hinunter, suchte nach der schwarzen Klippe, die am wenigsten teuflisch aussah. Er war verletzt und verbrannt und von Ameisen zerbissen, aber es hätte schlimmer ausgehen können, rief er sich in Erinnerung. Er hätte ja trotz allem getötet werden können. Und außerdem hatte er immer noch den Tabak, das war gar nicht so schlecht, und wenn er es jetzt an den Strand hinunter schaffte und ein wenig Wasser und Essen in den Körper bekam, dann würde er einen Drink nehmen und eine gute Pfeife rauchen, versuchen, die Situation ein wenig zu genießen, wie düster sie auch aussehen mochte.

Es fiel ihm erst nach und nach auf. Aus großer Entfernung sah er es. Oberhalb des Strandes, mitten in dem kolossalen, schwarzen Steinmassiv, öffneten sich die Klippen. Auf wundersame Weise bildeten sie eine Art Durchgang, so parallel und ebenmäßig, dass man hätte denken können, dass Menschen dahintersteckten oder Maschinen, die das Ganze angelegt hatten.

Und es war keine Sackgasse. Der Pfad durch die Klippen führte ganz hinunter bis zum Strand. Weit dort unten sah er das Blau. Und so geschah es, dass Carlo auf einem gepflegten Pfad aus Sand und stumpfen Kanten einen weitaus leichteren Rückweg hatte. Er konnte nicht fassen, dass er diese Öffnung von unten nicht gesehen hatte. Er musste blind gewesen sein.

Erleichtert darüber, dass er den Pfad gefunden hatte, und begierig, den trockenen Gaumen zu befeuchten, eilte er den engen Klippendurchgang hinunter. Er war guten Mutes, fühlte sich kühn, vielleicht fast ein wenig glücklich. Tatsächlich hörte er eine Melodie, diffuse Töne von einem noch diffuseren Ort, von innen oder außen, auf jeden Fall war es tröstlich und angenehm kühl.

Aber kaum war er wieder unten am Strand, bekam er ein neues Problem. Das Gepäck. Vögel und Seelöwen hatten sich um die Essensbehälter geschart, einer der Reissäcke war bereits zerrissen, mehrere Kilo waren verloren, und Carlo wurde ganz wild bei diesem Anblick. Er hatte nicht Nahrungsmittel bis ans Ende der Welt verfrachtet, nur um Federvieh und Säugefische zu füttern. Verflucht, rief er und lief hin, wedelte mit den Armen. Aber die Vögel hauten nicht ab, und die Seelöwen gingen kaum zur Seite, und wenn er nicht das Bewusstsein verlieren wollte, musste er Wasser trinken, bevor er den Kampf aufnehmen konnte.

Zwei Stunden lang mühte er sich, dann resignierte er und sah ein, dass die Tiere nie aufgeben würden. Er konnte sie nur am Fressen hindern, wenn er sich auf den kaputten Reissack legte, aber tat er das, entwickelten sie stattdessen sofort Interesse an einem anderen Sack. Er sah es ein, er hatte keine Chance. Er war allein, und sie waren viele. Und außerdem waren das keine gewöhnlichen Vögel. Die Möwen beispielsweise waren dunkelgrau, nicht weiß. Die Spatzen schwarz wie Kohle. Mit anderen Worten: Es war gar nicht sicher, dass es sich überhaupt um Möwen und Spatzen handelte. Vielleicht waren es ihre bösen Brüder? Und dann gab es auch noch andere Vögel hier, die er nie zuvor gesehen hatte, und was wusste er schon, was denen einfallen konnte, wie aggressiv sie werden konnten? Dort oben flogen die riesigen Kreaturen in einem doppelten Kreis, und ihr Anblick machte ihn nervös. Manche von ihnen hatten einen roten Hals, aber sonst waren sie ganz schwarz, mit einem langen, gespaltenen Schwanz. Ab und an schoss einer von ihnen herunter, um sich zu erkennen zu geben, um den Strand mit seinen enormen Flügeln in den Schatten zu tauchen, und wie wenig ihm das auch gefiel, er duckte sich, es war ein Reflex, den er offensichtlich hatte, er, der erwachsene Mann, genauso wie die anderen, kleineren Vögel.

Es stimmte, ursprünglich war das ja genau das, wovon er geträumt hatte, er hatte es nicht vergessen, und er rief es sich selbst noch mal in Erinnerung. Das war doch genau das, was du erleben wolltest, sagte er zu sich selbst, unbekannte Tiere, neue Vögel, neue Natur. Aber die Mahnung wirkte nicht. Die ursprüngliche Überlegung wirkte nicht. Er hatte die Angst nicht einkalkuliert.

Was war los mit diesem Ort? Warum war alles schwarz? Der Sand. Die Steine. Die Klippen. Die Vögel. Sogar die Muscheln waren hier schwarz.

Von allem, was er bisher gesehen hatte, waren die Seelöwen das Einzige, worauf er vorbereitet gewesen war. Aber dafür verhielten sie sich nicht wie Seelöwen. Sie hatten keine Angst vor ihm. Und sie mochten Reis.

Carlo hatte nicht einmal in seinen wildesten Fantasien geahnt, dass er sich jemals von Seelöwen bedroht fühlen würde, aber jetzt war es genau so, und er erkannte schnell, dass er sie nicht herumkommandieren sollte, dass sie weit gefährlicher waren, als ihre anmutigen Gesichter versprachen. Er sah ein, dass er für sie nur ein winzig kleiner Menschenmann war.

Warum habe ich keine Schrotflinte mitgenommen, fragte sich Carlo und verfluchte sich selbst. Er war jetzt knappe zwanzig Stunden auf der Insel und wünschte schon, er könnte sich den Weg freischießen. Die Machete hatte er ja nur als Werkzeug dabei, also in erster Linie, und er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, sie für etwas anderes zu verwenden. Wenn, dann musste es in Notwehr sein.

Konnte man sagen, dass das eigene Leben auf dem Spiel stand, wenn einem das Essen auf einer einsamen Insel gestohlen wurde? Das konnte man wohl. Aber der Gedanke, mit der Machete auf die Seelöwen loszugehen, nein, das ging einfach nicht. War er vielleicht nicht ein Mann des Friedens? War er nicht gerade deshalb hierhergekommen, um ein Leben in Unschuld und Harmonie zu leben, als nackter Vegetarier und im Einklang mit anderen Geschöpfen?

Also fresst doch meinen verfluchten Reis, brüllte Carlo die Vögel und Seelöwen an. Aber keiner kümmerte sich um seine Rufe, und keiner schrie zurück.

Er musste das Gepäck vom Strand wegschaffen, er musste einen sicheren Lagerplatz für die Nahrungsmittel finden.

Noch hatte er keinen Überblick, er war weder auf dem Gipfel gewesen, um die wirkliche Aussicht zu sehen, noch hatte er Wasser gefunden, aber er konnte seine gesamten Nahrungsmittel doch nicht den Tieren überlassen, zumindest ein Sack musste übrig bleiben, also musste er die Waren, bevor er sich einen Platz aussuchte, an dem er wohnen wollte, in ein Zwischenlager bringen. Dieses Lager, dachte er, könnte in dem engen Klippendurchgang sein, dort war es trocken und kühl, und es war leicht, die Nahrungsmittel zu schützen. Die Kisten mit Büchern und Werkzeug könnte man um die Säcke mit den Nahrungsmitteln herum stapeln, und über das Ganze könnte er eine Persenning spannen. Es würde funktionieren.

Aber dann, als Carlo den ersten Sack schulterte und sich zum Pfad aufmachte, über den er gekommen war, war sie fort, die Öffnung in den Klippen. Es war unbegreiflich.

Den ganzen Weg bis zum Ende des Strandes ging er und dann zurück bis zum anderen Ende. Und dann tat er es noch einmal und noch einmal, und beim vierten Mal tastete er mit der Hand, ohne Unterlass, die gewaltigen Steine ab. Es fand sich keine Öffnung.

Europäische Länder und Hauptstädte, die Monate des Jahres, die Tage der Woche, die Planeten im Sonnensystem, die Gelenke und Muskelgruppen des Körpers, die Funktionen der Organe, die physiologischen Prozesse – alles ging er durch, und er erinnerte sich an alles, er war nicht verrückt, sagte er zu sich selbst, auch wenn er sich instabil fühlte.

Und dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Dass jemand ihm nachspionierte, ihn auslachte. Er empfand es so; und war er noch nicht verrückt, so konnte er es absolut noch werden.

Beides gleichzeitig konnte er nicht, die Tiere von den Nahrungsmitteln fernhalten und nach dem Felsspalt suchen, und er hatte auch nicht die Kraft, alle Säcke mit Mehl und Reis und Zucker über die Klippen zu tragen, das war nicht zu machen. So lief er jetzt auf und ab, hier auf dem schwarzen Teufelsstrand, wie ein Desperado, umherirrend und brüllend, während die Seelöwen in Sack Nummer zwei einbrachen und die schwarzen, hässlichen Vögel immer näher schwärmten. Er musste in der Hölle gelandet sein, eine andere Erklärung für diese Teufelei sah er nicht.