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DAVID SAX

DIE
RACHE
DES
ANALOGEN

WARUM WIR UNS NACH REALEN DINGEN SEHNEN

Aus dem kanadischen Englisch
von Pauline Kurbasik

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Revenge of Analogue

© 2016 by David Sax.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Covergestaltung: Hanna Zeckau

ISBN: 978-3-7017-4-5500

INHALT

Einleitung

TEIL 1 – DIE RACHE ANALOGER DINGE

1. Die Rückkehr des Vinyls

2. Die Rückkehr des Papiers

3. Die Rückkehr des analogen Films

4. Die Rückkehr der Brettspiele

TEIL 2 – DIE RACHE ANALOGER IDEEN

5. Die Rückkehr von Print

6. Die Rückkehr des Einzelhandels

7. Die Rückkehr der Handarbeit

8. Die Rückkehr der Schule

9. Die Rückkehr des Analogen im Digitalen

Epilog – Die Rückkehr des Sommers

Danksagung

Auswahlbibliografie

»Weder ergänzt ein neues Medium je ein altes Medium, noch lässt es das alte Medium in Ruhe.

Es hört nie damit auf, die älteren Medien zu unterdrücken, bis es für sie neue Formen und Positionen findet.«

Marshall McLuhan, 1964

Jackie Treehorn: »Die neue Technologie ermöglicht es uns, mit interaktiven erotischen Programmen recht aufregende Dinge anzustellen. Die Zukunft, Dude, ist zu hundert Prozent elektronisch.«

The Dude: »Ich wichse aber immer noch mit der Hand.«

EINLEITUNG

Im Juni 2012 öffnete in Little Italy in Toronto ein Geschäft namens June Records, nur anderthalb Blocks vom Haus entfernt, das meine Frau und ich gerade gekauft hatten. June Records hatte nichts mit den staubigen, vollgestopften Plattenläden meiner Jugend gemeinsam. Der Laden war modern, ordentlich und schön beleuchtet, fast wie eine Boutique. Kurz nach dem Hauskauf lief ich durch dieses Viertel, und die wunderbare Musik, die aus dem Schaufenster von June Records erklang, ließ mich auf dem Bürgersteig innehalten. Bei der Platte handelte es sich um Aretha Live at Fillmore West, und ich war hin und weg: Ein sonniger Sommertag in meiner neuen Gegend und die Queen of Soul, da musste ich einfach zuschlagen. Ich ging hinein, fragte nach dem Preis der Platte und trat mit Aretha unterm Arm wieder ins Freie, fast schon tanzte ich euphorisch auf dem Bürgersteig.

Wie die meisten Musikliebhaber habe auch ich in den letzten zehn Jahren meine Musik nicht mehr von Tonträgern gehört: Ich importierte CDs in iTunes, iTunes kam auf mein iPhone, und schließlich wurde alles in der Cloud abgelegt. Ich besaß noch einen Plattenspieler – mein Freund David Levy hatte mir einmal einen alten Technics geschenkt –, der aber bei meinen Eltern seit über 20 Jahren im Keller verstaubte und völlig in Vergessenheit geraten war. Die 20 Dollar, die ich in dem Plattenladen gelassen hatte, waren mehr Geld, als ich in den letzten zwei Jahren insgesamt für Musik ausgegeben hatte.

In jenem Herbst zogen wir in unser Haus, ich baute meinen Plattenspieler auf, und Aretha erklang in ihrer ganzen Herrlichkeit. Nach einigen Takten von »Respect« dämmerte mir, dass ich seit einer Ewigkeit keine Musik mehr von einer Schallplatte gehört hatte. Vor Monaten hatte ich das letzte Mal iTunes auf dem Rechner geöffnet, und auf meinem Telefon war keine Musik mehr gespeichert.

Alle meine Alben waren auf einer Festplatte versteckt, zwischen alten E-Mails und zahlreichen anderen Dateien. Meistens hörte ich nur noch ein wenig Radio, wenn ich in der Küche saß oder Auto fuhr. Nachdem mir mein Bruder ein Abo für den Streamingdienst Rdio geschenkt hatte, kam es zwar öfter vor, dass ich diese App öffnete, aber nur, um sie dann vor lauter lähmender Unentschlossenheit wieder zu schließen. Meine Möglichkeiten waren unendlich groß, ich konnte einfach jedes Album und jedes Lied hören, das jemals aufgenommen worden war. Wofür sollte ich mich entscheiden? Irgendwie schien mir, als hätte die Einfachheit und Bequemlichkeit der digitalen Musik meiner Freude am Hören den Garaus gemacht. Die ganze Musikwelt war nur einen Klick weit entfernt, aber selbst das war mir noch zu viel. Und wenn einen Mausklick weiter noch ein besserer Song wartete? Irgendetwas fehlte. Nun wurde mir bewusst, dass Platten dieses fehlende Element wieder zurückbringen konnten.

Plötzlich kaufte ich bei jeder Gelegenheit Platten. Anfangs wühlte ich mich bei June Records durch die Abverkaufskisten auf der Suche nach alten Jazz- und Soulalben, bald schon kaufte ich aber neues Vinyl von Bands und einzelnen Musikern, die mir die Verkäufer dort empfahlen. Häufig nahm ich ein Album mit nach Hause, das im Laden auf dem Plattenteller lag: das harmonische Debütalbum der Rockband Alvvays, eine neue Kompilation des nigerianischen Psycho-Disco-Eremiten William Onyeabor, das reduzierte instrumentale Hip-Hop-Album, das aus der Zusammenarbeit der Rap-Legende Ghostface Killah mit der Funk-Band BadBadNotGood entstanden war. Meine neue Sammlung, die beim Einzug vielleicht ein Dutzend alter Platten umfasste, wuchs derart rasant, dass meine Frau ganz schnell im Regal den maximalen Platz für meine Musik festlegte.

Ich hatte so viel Spaß bei der Sache, mir war es egal. Mein bescheidener Vinylfetisch hatte etwas erweckt, was seit dem ersten Download bei Napster in mir Winterschlaf gehalten hatte: das sinnliche Vergnügen, in Plattenläden zu stöbern und Vinyl zu kaufen. Ich ging in einen Plattenladen und spürte plötzlich, wie der 10-Dollar-Schein in meiner Tasche geradezu danach schrie, ausgegeben zu werden. Eine halbe Stunde später verließ ich das Geschäft mit einem Album unter dem Arm und einem stolzen Lächeln im Gesicht, als hätte ich das verdammte Ding selbst aufgenommen. In einem Zeitalter, wo ich genau diese Musik umsonst streamen sowie auf fünf verschiedenen Endgeräten abspielen konnte, bezahlte ich dennoch gutes Geld für empfindliche, schwere, unhandliche Scheiben aus geschmolzenem Kunststoff, die ich auf einem Gerät abspielte, das so launisch und teuer in der Wartung war, wie ein altes Auto. Es war total verrückt.

In meinem Wahnsinn war ich nicht allein. Alle paar Monate stieß ich auf einen neuen Plattenladen oder auch auf einen älteren, der gerade seine zweite oder dritte Filiale eröffnete. Jedes neue Geschäft war wie ein kleines Wunder. Zehn Jahre zuvor waren Plattenläden der allgemeinen Wahrnehmung nach dem Untergang geweiht, mussten als Metapher für den sterbenden Einzelhandel herhalten, der sich nicht rechtzeitig an das digitale Zeitalter angepasst hatte. (»Wenn Buchläden das Internet nicht geschickt nutzen, könnte es ihnen wie Plattenläden ergehen.«) Niemand eröffnete mehr neue Plattenläden. Niemand.

Dann – man hatte das Gefühl, es geschah über Nacht – waren diese Relikte des Einzelhandels nicht mehr bloß irgendwelche Randerscheinungen, sondern mitten unter uns und vermehrten sich überall auf der Welt. Geschichten über das Aussterben von Plattenläden wurden von Berichten darüber abgelöst, wie seltsam es sei, dass diese Geschäfte der Krise trotzten oder dass Läden wie June Records neu eröffneten, und führten schließlich zu zuversichtlichen Erklärungen, dass Plattenläden nicht nur wieder da seien, sondern tatsächlich florierten. Die Anzahl neuer Schallplatten, die gepresst und verkauft wurden, hat sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre mehr als verzehnfacht, was zu einem ähnlichen Verkaufsanstieg bei Plattenspielern und eben auch zu vielen neuen Plattenläden führte. Bei June Records beispielsweise stiegen die Umsätze seit der Eröffnung jeden Monat um etwa fünf Prozent, wie der Miteigentümer Ian Cheung erzählte, sodass sich die Gewinne so ziemlich jedes Jahr seit der Eröffnung verdoppelt hatten. Gerade erst letzten Monat öffnete ein weiterer Plattenladen einige Blocks von June entfernt. Cheung sagte mir, er mache sich wegen der Konkurrenz keine Sorgen. Je mehr Plattenläden es gebe, desto relevanter erscheine June.

Wichtiger noch als die Verkäufe war die Zielgruppe, die diese Platten erwarb. Andrew Zukerman, ein langhaariger, angemessen verschrobener Mitarbeiter bei June (im Grunde der prototypische Plattenladenguru), beschrieb den durchschnittlichen Kunden der vergangenen zehn Jahre als »miesepetrigen alten Mann, der auf Wühltischen nach tollen Platten sucht«. Man kennt diese Zeitgenossen, die sich in endlosen Monologen mit ihrem unübertrefflichen Musikgeschmack brüsten: ergrauender Zopf trotz schütterem Haar, zerfleddertes Bandshirt von Jane’s Addiction, das in geflickte schwarze Jeans gestopft war.

Etwa zu der Zeit, als June Records eröffnet wurde, veränderten sich die Stammkunden grundlegend. Die mürrischen alten Kerle wurden in Windeseile durch jüngere Kunden ersetzt, Musikfans in ihren Zwanzigern und sogar Teenager, Jugendliche, die mit digitaler Musik aufgewachsen waren, die Musik bislang einzig und allein als frei verfügbare virtuelle Dateien auf Geräten von Apple gehört hatten. Und auch eine weitere neue Kundengruppe sorgte für Überraschung.

»Mädels!«, sagte Cheung mit der verzweifelten Erleichterung eines Mannes, der nach Stunden in der Wüste endlich einen Fluss erblickt. »Als auch Frauen wieder Platten kauften, wusste man, dass sich etwas verändert hatte.« Zukerman nickte bloß. »Als Mädels anfingen, Vinyl zu kaufen, sah man einfach diesen Ausdruck in den Augen der alten Kerle.« Sie hatten Angst. Die Rückkehr der weiblichen Plattenkäufer – und es wurden sogar immer mehr – zeigte, dass Plattenläden wieder an ihren angestammten Platz in der Kulturlandschaft zurückgekehrt waren: Sie waren ein Ort, an dem junge Leute neue Musik entdeckten und sich kennenlernten. Ein cooler Ort also.

Niemand, weder aus der Medien- noch der Musikbranche, konnte diese erstaunliche Renaissance der Schallplatten auf der ganzen Welt erklären. Authentizität, Nostalgie und Millennials waren Begriffe aus dem Marketing, die häufig und in verschiedenen Kombinationen fielen. Andere schoben es auf den gefürchteten Hipster, diese schwammig definierte Spezies der Jugendkultur aus den frühen Nullerjahren, den liebsten Sündenbock für sämtliche urbanen Meckereien, von Gentrifizierung bis hin zu engen Jeans.

Ich hingegen sah die Rückkehr der Schallplatten als Teil eines größeren Phänomens: der Rache des Analogen.

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Fünf Jahre vor der Eröffnung von June Records besuchte ich eine Tagung in Park City in Utah, die von einer jüdischen Organisation namens Reboot veranstaltet wurde. An jenem Wochenende widmete man sich verschiedensten Aktivitäten, um jüdische Identität und Kultur neu zu überdenken. Im Rahmen dieses Treffens wurden die Teilnehmer aufgefordert, am Sabbat, der 24-stündigen Ruhezeit zwischen Sonnenuntergang am Freitag und am Samstag, auf technische Apparate zu verzichten. Als ich bei meinen digitalen Geräten den Stecker zog, fand ich das derart erholsam, dass ich nach meiner Rückkehr nach Toronto regelmäßig meinen ganz persönlichen digitalen Sabbat abhielt, obwohl ich ansonsten gar nicht religiös war.

Einige Wochen später waren meine Freundin (und jetzige Frau) und ich freitagabends bei Freunden zum Essen eingeladen. Acht Leute saßen am Tisch und während des ganzen Essens hatten alle außer meiner Frau und mir ein BlackBerry in der Hand, auf dem sie während Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch herumtippten. Wir konnten es nicht fassen und stießen uns jedes Mal unterm Tisch gegen das Schienbein, wenn sich wieder jemand aus der Unterhaltung ausklinkte und auf die kleine Tastatur einhämmerte, während das Huhn kalt wurde. An jenem Abend haben wir beide zum ersten Mal diese grundlegende Veränderung der menschlichen Interaktion – ausgelöst durch technische Geräte – erlebt, und wir waren bis ins Mark erschüttert.

Klar, das war erst der Anfang. Nur wenige Monate später kam das erste iPhone auf den Markt, und jeder war von den unendlichen Möglichkeiten begeistert, mit denen es einen in seinen Bann ziehen konnte. Nur kurze Zeit später waren meine Frau und ich wie jedes andere Paar: Wir starrten beim Abendessen auf unsere Bildschirme und straften unsere Umgebung und uns gegenseitig mit Missachtung.

Als ich nach jenem seltsamen Abend wieder in mein Apartment zurückkehrte, das ich mit meinem guten Freund Adam Caplan teilte, entspann sich aus der Geschichte über die Einladung eine lange Unterhaltung darüber, wie digitale Technik unser Leben veränderte. Adam ist Lehrer und sehr versiert im Umgang mit Technik. Er glaubte fest an die transformative Macht digitaler Technologie. Aber er gab auch ganz offen zu, dass diese Veränderung nicht ohne Opfer vonstattengehen würde.

Adam hatte erst kurz zuvor einen Plattenspieler und viele Platten von seinen Eltern abgeholt (darunter auch die gesammelten Werke von Herb Alpert & the Tijuana Brass). Diese Musik war der Anstoß zu unserem aufschlussreichen Gespräch und lief auch als Soundtrack im Hintergrund.

Wenn man sich eine Schallplatte anhörte, war das weniger effizient, dafür aber mühsamer, und lieferte auch nicht unbedingt ein besseres Klangerlebnis als eine digitale Datei, die man auf derselben Anlage abspielte. Dennoch hatte man dabei einen direkteren Bezug zur Musik und ein größeres Erfolgserlebnis, als wenn man dieselbe Musik von einer Festplatte abspielte: Man konnte das Plattenregal durchstöbern, die kunstvolle Gestaltung der Hüllen bewundern, die Nadel achtsam auf die Platte senken – und dann gab es noch diese Sekunde Pause, bis die ersten knarzenden Klänge aus den Lautsprechern kamen. Wenn man eine Schallplatte auflegt, werden die Sinne angesprochen, wir benutzen unsere Hände, Füße, Augen und Ohren und sogar den Mund, wenn wir den Staub von der Hülle pusten. Diese Erfahrung war einfach unglaublich intensiv. Eben weil es anstrengender – also weniger effizient – war, machte es mehr Spaß.

Das Erlebnis sei deswegen anders, erklärte mir Adam, weil es analog war. Analog ist im weitesten Sinn des Begriffs (und in dem Sinn wie ich ihn in diesem Buch verwende) das Gegenteil von digital. Digital ist die Computersprache, der binäre Code aus Nullen und Einsen, der in unzähligen Kombinationsmöglichkeiten Hard- und Software kommunizieren und rechnen lässt. Wenn etwas mit dem Internet verbunden ist, läuft es mithilfe von Software oder ein Computer greift darauf zu, auf jeden Fall ist es digital. Analog ist das Yin zum Yang des Digitalen, es verhält sich zu ihm wie der Tag zur Nacht. Beim Analogen benötigt man keinen Computer, und es ist zumeist Bestandteil der wirklichen Welt (im Gegensatz zur virtuellen Welt).

Als ich anfing, die Welt durch dieses Prisma zu betrachten, bemerkte ich eine Veränderung. Einige Technologien und Prozesse, die ich in letzter Zeit als »obsolet« betrachtet hatte, wurden plötzlich mit neuem Leben erfüllt, selbst wenn die Umgebung mehr und mehr von digitaler Technik bestimmt war. Jede Woche entdeckte ich bei meinen Streifzügen durch die Straßen neue Geschäfte, die auf Analoges ausgerichtet waren und nichts mit Computern zu tun hatten: manuell gedruckte Karten und Einladungen, Fotografen, handgemachte Lederwaren und Uhren, neue Printzeitschriften, Füller und – natürlich – Schallplatten. Ein Brettspielcafé eröffnete in der Nähe unserer Wohnung, und vom ersten Tag an standen die Leute dort Schlange.

Ich verdiene meinen Lebensunterhalt fast ausschließlich als Autor, aber ich habe auch ein wenig in Start-ups investiert. Der Trend, den ich bemerkte, ging in eine andere Richtung, als uns von den allgegenwärtigen Berichten über wirtschaftliche Neuerungen weisgemacht wurde. Von jedem wurde erwartet, dass er die nächste großartige App erfinden würde, aber die neuen Geschäfte, die in meinem Leben eine Rolle spielten, verkörperten etwas völlig anderes. Sie waren Orte mit Wänden und Fenstern, die Dinge zum Anfassen verkauften.

Es schien, als würde das Analoge wieder bedeutsam, gerade zu einer Zeit, als es doch überall als überflüssig galt. Die Rache des Analogen verdeutlichte eine wiedererwachende und neu durchdachte Wertschätzung für nicht digitale Güter, Dienstleistungen und Ideen zu einem Zeitpunkt, als der Übergang vom Analogen zum Digitalen als abgeschlossen betrachtet wurde. Obwohl die digitale Technologie eine immer größere Rolle in unserem Leben spielte, wirkte es fast so, als würde gleichzeitig eine alternative postdigitale Wirtschaft entstehen. Zwar sah ich diesen Trend hauptsächlich in hippen Stadtvierteln, aber er breitete sich schnell bis in den Mainstream aus. Anfangs schien das Ganze noch langsam abzulaufen, aber bald schon war die Rache des Analogen nicht mehr zu übersehen.

Ich traf mich mit dem Gründer eines Technologie-Unternehmens in einem Starbucks am Stadtrand, und er machte sich Notizen in einem Büchlein von Moleskine, genau wie jeder andere an diesem Ort. Eine Ladenkette wie Urban Outfitters hatte plötzlich eine große Auswahl an neuen Polaroid-Kameras im Angebot, während der Bioladen Whole Foods ankündigte, man werde nun Schallplatten verkaufen. Täglich erschienen in den Medien Artikel über einen neuen analogen Trend. Im Silicon Valley boomten Kurse in Achtsamkeitsmeditation und luxuriöse Klausurtagungen, bei denen die Teilnehmer ihre technischen Geräte ausgeschaltet lassen mussten. Bücher über die Gefahren der digitalen Ablenkung und die Vorteile persönlicher Kommunikation wurden zu Bestsellern. Genau jene Freunde, die mich bei der Einladung vor zehn Jahren nicht beachtet hatten, legten nun beim Essen ihre Telefone weg. Mit schöner Regelmäßigkeit erschienen wissenschaftliche Studien über die Bedeutung des persönlichen zwischenmenschlichen Kontakts, der Kindererziehung ohne digitale Medien und des Lesens auf Papier. Amazon eröffnete in Seattle tatsächlich einen Buchladen und schlug damit den Weg anderer Onlinehändler in Richtung Einzelhandelsgeschäfte ein, die das Unternehmen doch einst vom Markt verdrängen wollte. Selbst Kassetten tauchten wieder auf. Auf einmal war analog in aller Munde.

Wie war das passiert? War ich in einen Fiebertraum des Regisseurs Wes Anderson mit handgefertigten, sorgfältig ausgewählten kostbaren Gegenständen geraten? Bemerkte ich all das nur, weil es mich faszinierte, oder steckte mehr dahinter? Hatte unsere innige Beziehung mit dem Digitalen eine Schwelle überschritten und wurde dadurch dem unausweichlichen Fortschreiten des Digitalen der Wind aus den Segeln genommen, der doch mein ganzes Leben bestimmt hatte? Und waren die Ursachen dafür in einer tieferliegenden menschlichen Wahrheit zu finden? Wenn die Welt doch mehr und mehr von digitaler Technik bestimmt wurde, warum wurde ich dann gerade Zeuge der Rache des Analogen?

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Jeden Tag werden Dinge in unserem Leben durch digitale Technik verbessert, verändert oder umgekrempelt: unsere Autos, Häuser und sogar unser Sexleben sind Beispiele hierfür. In der sauberen und ordentlichen Geschichte des digitalen Fortschritts lässt die neueste Technik stets die ältere obsolet erscheinen. Zunächst hörten wir Musik live, dann von Wachswalzen, dann folgten Schallplatten, Kassetten, CDs, Download per MP3 und nun drahtlose Streamingdienste. Die Zukunft des Musikhörens weist ganz klar in Richtung von Diensten, die preiswerter, schneller, von besserer Qualität, kostengünstiger und vollständig virtuell sind; diese Eigenschaften lassen sich auch auf zahlreiche weitere Bereiche unseres Lebens übertragen, in denen digitale Technologie eine Rolle spielt.

Noch bis vor kurzer Zeit schien es so, dass das Schicksal von etwas besiegelt war, wenn es digitalisiert werden konnte. Zeitschriften würde es nur noch online geben, man würde nur noch online einkaufen und in virtuellen Klassenzimmern lernen. Jede Arbeit, die von einem Computer erledigt werden konnte, war bereits überflüssig. Unsere Welt würde Schritt für Schritt in Bits und Bytes verwandelt, ein Programm nach dem anderen, bis wir einen Zustand der digitalen Utopie erreicht hätten oder uns der Terminator holen käme.

Die Rache des Analogen erzählt aber eine andere Geschichte. Dieses Buch zeigt, dass der Prozess der technologischen Innovation nicht ein langsamer Marsch vom Guten zum Besseren ist, sondern eher eine Versuchsreihe, bei der wir erkennen können, wer wir sind und wie wir funktionieren.

Die Rache des Analogen findet jetzt statt, eben genau weil die digitale Technologie so verdammt gut geworden ist. Digitale Datenverarbeitung ist seit rund 50 Jahren Teil unseres Lebens, der PC seit den letzten 30 Jahren, das Internet seit 20 Jahren und Smartphones seit 10 Jahren. Heutzutage ist eine digitale Lösung fast immer der Standard: das effizienteste, am weitesten verbreitete, preiswerteste und offensichtlichste Werkzeug, um eine Aufgabe zu erledigen. Man muss nur ein wenig auf dem Smartphone tippen und schon hat man sich ein warmes Cookie nach Hause bestellt oder aber auch ein riesiges Datenzentrum in der Cloud angelegt.

Aus diesem Grund ließ die Übermacht des Digitalen das Analoge anfangs wertlos erscheinen und bewirkte eine erhebliche Entwertung analoger Technologien. Aber im Laufe der Zeit veränderte sich das Werteverständnis. Die erste Begeisterungswelle für eine spezielle digitale Technologie endet zwangsläufig irgendwann; anschließend können wir die tatsächlichen Vorzüge und Nachteile besser beurteilen. In vielen Fällen funktionieren ältere analoge Werkzeuge oder Ansätze einfach besser. Die inhärente Ineffizienz des Analogen ist auf einmal begehrt, seine Schwäche wird wieder als Stärke gesehen.

Deswegen ist die Rache des Analogen wichtig; der steigende Wert von analogen Artikeln und Ideen, über die ich in diesem Buch schreibe, ist nur der Anfang. Weil das Digitale allgegenwärtig ist, sehnen wir uns nun nach Erfahrungen, die haptischer und mehr auf den Menschen ausgerichtet sind. Wir wollen Waren und Dienstleistungen mit all unseren Sinnen erfahren, und viele von uns bezahlen dafür gerne etwas mehr, auch wenn der Artikel sperriger und teurer ist als sein digitales Äquivalent.

Die Rache des Analogen stellt nicht nur unsere Annahmen über die Unumgänglichkeit des Digitalen in Frage, sondern auch die Sicherheit, auf der die digitale Wirtschaft basiert. Der Strom, gegen den man dabei schwimmt, ist stark. Der Gedanke, dass nichtdigitale Waren und Ideen wertvoller geworden sind, ist dem Diskurs aus dem Silicon Valley und anderen Start-up-Hubs entgegengesetzt, wo Zerstörung zum Erfolgskonzept der Technikutopie gehört; eigentlich aber zeigt diese Denkart nur, dass die technologische Evolution nicht absolut ist. Vielleicht ist es so, dass wir neue Lösungen begierig übernehmen, aber auf lange Sicht überdauern sie nur, wenn wir damit wirklich bessere Erfahrungen machen, wenn sie also mit der digitalen Technologie auf einer kalten, rein rationalen Ebene konkurrieren können.

Das verleiht der Rache des Analogen sogar einen noch höheren Stellenwert. Analoge Erfahrungen bieten uns nicht nur die Freuden und Belohnungen der wirklichen Welt – das kann Digitales nicht –, manchmal sind sie auch ganz einfach leistungsfähiger. Wenn man etwa seinen Gedanken ungehindert freien Lauf lassen möchte, ist der Stift immer noch mächtiger als die Tastatur und der Touchscreen. Wie Sie durchgehend in diesem Buch sehen werden, können die natürlichen Grenzen analoger Technologien die Produktivität des Nutzers eher steigern als beeinträchtigen.

Eine Sache möchte ich jedoch klarstellen: Dieses Buch ist keine Tirade gegen digitale Technologie. Die Personen, Unternehmen und Organisationen, die Sie kennenlernen, werden nicht von einer sepiafarbenen Sehnsucht nach einer idealisierten, vordigitalen Vergangenheit getrieben. Unter ihnen befindet sich kein einziger Technikfeind. Sie sind vielmehr unglaublich zukunftsorientiert, innovativ und benutzen sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden digitalen Werkzeuge – Crowdfunding, soziale Medien, Designsoftware –, um analoge Güter und Dienstleistungen auf den Markt zu bringen. Sie stoßen die digitale Welt nicht ab. Sie ziehen sie eher näher zu sich heran und nutzen sämtliche Vorteile, um erfolgreich zu sein.

Aus diesem Grund stellt die Rache des Analogen eine große Chance für die Unternehmen und Institutionen dar, die sich die universelle Wahrheit hinter diesem weitreichenden Phänomen zu eigen machen. Wenn man die Kundenwünsche nach neuen und neu durchdachten analogen Produkten und Dienstleistungen ernst nimmt, kann man reichlich Geld damit verdienen, aber auch viel darüber erfahren, wie wir mit der Welt interagieren und wie unsere Entscheidung für Technologie dieses Verhalten beeinflusst. Selbst wenn man nie bewusst eine Schallplatte anhören, ein Brettspiel spielen oder Uhren in Detroit herstellen wollte, kann man von den erfolgreichen Geschäftsleuten aus diesen Bereichen viel lernen, sei es als Privatperson oder als Organisation, die in unserer postdigitalen Wirtschaft leben und Erfolg haben möchte.

Ich habe dieses Buch in zwei Hälften geteilt, die diese Entwicklung erklären:

Teil I: Die Rache analoger Dinge untersucht die neuen Absatzmärkte für Schallplatten, Papierprodukte, Fotografie und Brettspiele, um zu zeigen, wie die Unternehmen, die traditionsreiche analoge Waren verkaufen, heutzutage florieren, indem sie die grundlegenden Kundenbedürfnisse nach diesen Produkten befriedigen.

Teil II: Die Rache analoger Ideen zieht Schlüsse aus den Branchen Verlagswesen, Einzelhandel, Herstellung und Bildung sowie aus Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley, um das innovative und umwälzende Potenzial analoger Ideen in der heutigen, auf Digitales ausgerichteten Wirtschaft und die Vorteile zu zeigen, die diese Ideen denjenigen bringen, die sie einsetzen.

Wir stehen nicht vor der Wahl: digital oder analog. Diese vereinfachte Dualität wurde uns vielmehr vom Digitalen aufgedrängt: eine falsche binäre Wahl zwischen 1 und 0, Schwarz und Weiß, Samsung oder Apple. Die wirkliche Welt ist nicht schwarz oder weiß. Sie ist noch nicht einmal grau. Die Realität hat viele Farben, unendliche Strukturen und emotionale Schichten. Sie riecht seltsam, schmeckt komisch und entblößt menschliche Unvollkommenheit. Die besten Ideen entspringen aus dieser Komplexität, welche die digitale Technologie nicht völlig erfassen kann. Die reale Welt ist wichtig, jetzt noch mehr als je zuvor.

Die Rache des Analogen ist ein Ergebnis dieser chaotischen Wirklichkeit. Sie stellt sich den Herausforderungen der digitalen Technologie und wird dadurch sogar stärker. Jede Technologie dient einem anderen Zweck und führt zu anderen Ergebnissen. Die Rache des Analogen zeigt uns ein Modell für eine aufstrebende postdigitale Wirtschaft, die ihren Blick auf die Zukunft der Technologie richtet und dabei nicht ihre Vergangenheit vergisst.

Bevor wir weitergehen, würde ich Sie, liebe Leser, gerne um einen Gefallen bitten. Das hier ist ein Buch, und auch wenn es auf einem Computer geschrieben wurde und Sie es womöglich auf einem Reader oder dem iPad lesen, entfaltet es seine volle Wirkung in einer analogen Umgebung. Also schalten Sie bitte Ihr Telefon aus. Lassen Sie die digitale Welt so gut es geht außen vor und genießen Sie die Ruhe, wenn Sie die Seiten umblättern. Setzen Sie sich gemütlich hin und hören Sie eine Platte, wenn Sie denn einen Plattenspieler besitzen. Wir werden nun zu unserer Reise durch die Rache des Analogen aufbrechen, und wir beginnen mit Schallplatten und einem Besuch im Herzen des weltweiten Vinylbooms – dort, wo auch meine Reise begonnen hat.

TEIL 1

DIE RACHE ANALOGER DINGE

1.

DIE RÜCKKEHR DES VINYLS

Die Fabrik United Record Pressing (URP) in Nashville erinnert an einen mächtigen schnaufenden Drachen. In dem relativ kleinen Labyrinth aus Betonräumen zischen, husten, brummen und schleifen 22 Pressen und spucken schließlich Schallplatten sämtlicher Genres, Farben und Größen aus. Gleich neben einem Album der Dave Matthews Band werden klassische Wiederveröffentlichungen von Primus, Pearl Jam und dem Wu-Tang Clan hergestellt, Verkaufsschlager von Lana Del Rey, bunte Sammlereditionen der Band Iron Maiden, eine Nachpressung von »Elvira, Mistress of the Dark« und Elektro-Funk von Chromeo. Ein Geruch nach heißem Metall, saurem Wasser und der süßlich beißende Gestank von warmem Plastik liegen in der Luft.

Dutzende Arbeiter überwachen die Maschinen und füttern sie mit Dampf, Wasser, Fett, Strom und schwarzem Polyvinylchlorid-Granulat (PVC alias Vinyl). Sie sortieren die Platten, die vom Band laufen, auf lange Metallspieße, um Platz für neue Tonträger zu schaffen, die sich bereits anhäufen. Die Maschinen – riesige unförmige Monster mit enormen hydraulischen Schaltflächen, Rohren, Schläuchen und dicken Metallplatten, die vor langer Zeit gebaut wurden – erzeugen ein derartiges Getöse, als würden sie nicht bloß Schallwellen in geschmolzenes Vinyl pressen, sondern auch einem Urschrei gleich sämtliche Musik herausbrüllen, die an diesem Ort vergraben liegt. Das analoge Revival ist derart unerbittlich, dass diese alten Vinylpressen bis zum Gehtnichtmehr beansprucht werden.

Hätte man United Record Pressing im Jahr 2010 besucht, wäre alles noch viel beschaulicher gewesen. Die meiste Zeit über standen die Pressen still und warteten auf einen neuen Auftrag, und zwei Drittel der Arbeiter, die man heute sieht, waren noch woanders beschäftigt. Damals befand sich United Record Pressing auf seinem Tiefpunkt: Nur noch wenige Sechs-Stunden-Schichten wurden an einigen Wochentagen von etwa 50 Leuten erledigt. Die Eigentümer mussten Kredite aufnehmen, sonst wären sie Bankrott gegangen. An einem durchschnittlichen Tag presste URP einige tausend Schallplatten, und mit der Zeit wurden es immer weniger, so wie weltweit seit Anfang der 1990er-Jahre bei den meisten Unternehmen, die Tonträger aus Vinyl herstellten.

Schon vier Jahre später, als ich zwischen diesen Maschinen stand und der melodiösen Kakophonie lauschte, produzierten sie jeden Tag 40 000 Tonträger, und dreimal so viele Angestellte wie im Jahre 2010 kümmerten sich um einen reibungslosen Ablauf. Man arbeitete 24 Stunden an sechs Tagen die Woche, nur am Sonntag standen die Maschinen still. Heute stapeln sich die Aufträge bei URP sowie brandneue Alben in den Kisten zum Versand: Als großes Label muss man mit zwei bis drei Monaten Wartezeit rechnen, unabhängige Label müssen noch viel mehr Zeit einkalkulieren. Bis vor Kurzem wurde das Unternehmen derart mit Aufträgen überhäuft, dass es gar keine neuen Kunden mehr aufnahm. Bei URP können die Platten gar nicht schnell genug vom Band laufen, weswegen das Unternehmen wachsen muss, damit es noch mehr Schallplatten pressen kann. Die Musikfans sind hungrig. Der Appetit auf Vinyl ist unersättlich, und eine Diät ist derzeit nicht in Sicht.

Der Prozentsatz an Musikliebhabern, die sich einen Plattenspieler und die dafür benötigten LPs kaufen, ist gestiegen. Dabei kann es sich auch um Dachbodenfunde handeln oder um alte Platten, die im Internet oder in Geschäften gekauft werden, sowie zunehmend um neue LPs, die täglich in Fabriken wie United Record Pressing hergestellt werden. Der Eigentümer einer Plattenfabrik in Europa schätzte, dass im Jahr 2015 auf der ganzen Welt annährend 30 Millionen neue Schallplatten gepresst wurden.

Nirgendwo aber war die Wiederentdeckung von Vinyl umfassender oder dramatischer als in den Vereinigten Staaten von Amerika. United Record Pressing ist das landesweit größte Unternehmen, das Schallplatten herstellt, und gehört zu den drei umsatzstärksten Werken in diesem Sektor weltweit (nur Optimal in Deutschland und GZ in der Tschechischen Republik sind etwas größere). Nach dem Tiefpunkt im Jahr 2010 vervielfachte sich die Auftragslage von URP derart rasant, dass das Unternehmen Mitte 2014 erklärte, es werde eine zweite Fabrik eröffnen, die Vinylpressmaschinen von 22 auf 38 aufstocken und statt 150 über 250 Mitarbeiter beschäftigen. Ein eindeutiger Indikator für die Wiederauferstehung der Schallplatte, den ich bei June Records hautnah miterlebte, und damit auch ein Zeichen für das Wachstum der postdigitalen Wirtschaft, die eine neu entfachte Nachfrage nach analogen Gütern stillt.

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Nicht ohne Grund nennt man Nashville Music City. Wenn man dort mit einer Gibson-Gitarre unterwegs ist (die Traditionsfirma ist in Nashville zu Hause), wird man unweigerlich jemanden kennenlernen, der im Musikbusiness arbeitet. Angefangen vom Grand Ole Opry und dem Johnny Cash Museum bis hin zu Country-Bands, die auf der Honky-Tonk-Meile des Broadway spielen, dreht sich in Nashville alles um Musik. Das süße Wimmern einer Slide-Gitarre im Country-Stil steht nach wie vor für den typischen Nashville-Sound, allerdings sind neuerdings zahlreiche Rock- und Indie-Musiker in die Stadt gezogen, die aufgrund der niedrigen Mieten, des großen Angebots an Aufnahmestudios und der vielen talentierten Gleichgesinnten attraktiv für sie ist. Heute steht Nashville genauso für den rauen Roots-Rock von Jack White oder den Black Keys wie für Taylor Swifts ausdrucksvolle Popmusik oder Fiedeln und Lieder über Pick-ups.

Direkt südlich von Downtown Nashville befindet sich in Wedgewood Hill, in einem Industriegebiet zwischen Lagerhäusern und Fabriken, die Produktionshalle von United Record Pressing. Am Eingang blickt man auf zwei übergroße Schallplatten, die in die Fassade eingelassen sind. Wenn man über den Parkplatz geht, knirschen kleine geschmolzene Vinylstückchen unter den Füßen. Im Inneren des Gebäudes scheint alles aus Vinyl zu bestehen: Schallplatten hängen eingerahmt an den Wänden und stapeln sich auf dem Boden, Stühle, Lampen, Schreibtische, Bodenfliesen und Wandverkleidungen mit Holzmaserung, alles ist aus dem schwarzen Kunststoff. Abgesehen von den Schallplattenhüllen aus Pappe, Metallpressen und vergilbenden Bildern von Künstlern wie Lionel Ritchie oder Rick James besteht so ziemlich alles an diesem Ort aus dem bearbeiteten Nebenprodukt von Erdöl, das im Dienste der Musik gepresst wird.

Das Unternehmen fing im Jahr 1947 als Bullet Plastics an und war die erste Fabrik mit einer Vinylpresse in der Stadt. Einige Jahre später änderte Bullet seinen Namen zu Southern Plastics und schließlich zu United Record Pressing. Das aktuelle Gebäude dient seit 1962 als Produktionsstätte, und dort wurden einige der wichtigsten Schallplatten der Popmusik produziert: Singles von Elvis und Johnny Cash auf dem Label Sun Records, Platten aus der Blütezeit von Motown und Stax und sogar die erste Platte der Beatles, die in Amerika gepresst wurde. Wenn sich in den Staaten eine Scheibe auf einem Plattenspieler drehte, stammte sie höchstwahrscheinlich aus diesem Gebäude.

An diesem Ort fühlt man sich wie in einer Raum-Zeit-Schleife. Auf der oberen Etage befindet sich ein Apartment mit Möbeln, das seit der Zeit der Kennedy-Regierung nicht verändert wurde. Es wird »Motown Suite« genannt und diente als Unterkunft für Größen aus der Musikbranche mit schwarzer Hautfarbe, als in Nashville noch Rassentrennung herrschte. In der »Suite« gibt es ein Schlafzimmer mit einem Paar schwarzer Lederschuhe auf dem Boden, die dort seit Jahrzehnten stehen, weil niemand weiß, ob sie einer berühmten Persönlichkeit wie beispielsweise Smokey Robinson gehörten oder ob einfach irgendein beliebiger Typ seine Schuhe vergessen hat.

»Musik besteht bloß aus Schwingungen in der Luft«, sagte Jay Millar, der damalige Marketingchef von URP (er arbeitet nun beim Label Sundazed), der den Prozess des Vinylpressens erklärte. Wir befanden uns im großen »Wohnzimmer« im ersten Stock der Fabrik, das häufig für Liveaufnahmen mit Künstlern aus der Umgebung verwendet wurde; die Scheiben erschienen dann als limitierte Sondereditionen. »Wenn eine Platte abgespielt wird, reproduzieren die Rillen in der Platte diese Schwingungen; die Nadel nimmt sie auf und verstärkt sie.«

Das hört sich einfach an und ist es auch, einerseits, und dann wieder doch nicht. Aber es ist auf jeden Fall ein guter Einstieg in die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um analoge Musik in ein physisches Produkt zu verwandeln. Schauen wir uns doch einmal Taylor Swifts Album 1989 an. Um die Schwingungen eines Liedes wie beispielsweise »Shake It Off« auf eine Schallplatte zu übertragen, sind verschiedene Schritte nötig. Zunächst müssen Swift und ihre Band das Album im Studio aufnehmen, wo der Produzent die bearbeiteten Lieder abmischt und ein Tontechniker die Lautstärke der einzelnen Spuren anpasst. Das Master-Recording wird dann durch eine Schneidemaschine in Rillenform in eine Aluminiumscheibe geschnitten; diese Maschine ist im Grunde ein umgekehrter Plattenspieler, der anstelle einer Nadel einen Kopf mit Diamantspitze hat. Die Aluminiumscheibe ist mit einem schwarzen Lack beschichtet, der an Nagellack erinnert, und die Rillen darin bilden die Höhen und Tiefen der Schallwellen jedes Songs ab: Diese kleinen Vertiefungen kann man auf einer Schallplatte sehen.

Als Nächstes wird die lackierte Master-Disc in metallene Pressmatrizen umgewandelt. Dieser Prozess ist kompliziert und dafür braucht es chemische Bäder, Taschen voller Nickelnuggets, elektrischen Strom und verschiedene sich wiederholende Produktionsschritte. Die metallenen Pressmatrizen sowohl für die A- als auch die B-Seite einer Platte werden dann in einer Pressmaschine befestigt. Im Grunde genommen presst jede Maschine wie ein riesiges Waffeleisen mit etwa 2700 Kilo hydraulischem Druck die Rillen der Schallwellen von Swifts Lied in ein »Plätzchen« aus geschmolzenem PVC in Größe eines Hockeypucks. Etwa 30 Sekunden benötigt die Maschine pro Platte.

Der Herstellungsprozess hört sich zwar automatisiert an, ist aber sehr komplex, weshalb viel menschliche Mitarbeit erforderlich ist. Von der Feuchtigkeit über die jeweilige Metallmischung in der Pressmatrize bis hin zur Beschaffenheit des PVC, alles kann die Qualität der Schallplatte beeinflussen. Mit Mikroskopen, an Hörstationen und mit dem menschlichen Auge kontrolliert URP die Tonträger ständig nach Unebenheiten, Kratzern oder anderen »Oberflächengeräuschen«, die eine Nadel aufnehmen würde. Bis zu 20 Prozent der produzierten Schallplatten müssen nach der Inspektion vernichtet werden. Die aussortierten Tonträger kommen in eine Maschine, die das Label ausstanzt und dann das Vinyl zerkleinert, damit es eingeschmolzen und wieder zu neuen Schallplatten gepresst werden kann.

»Diesen Prozess kann man einfach nicht standardisieren«, sagte Millar und warf ein Metallica-Album mit einem schlecht aufgeklebten Label dumpf scheppernd in die Maschine. »Er ist einfach zu empfindlich. Jeden Tag taucht ein neues Problem auf. Wären wir Bäcker, müssten wir unsere Öfen und Backbleche täglich wechseln.« Musik ist die größte Variable. Platten verfügen über begrenzten Platz für Informationen, und je mehr man daraufpacken will (nehmen wir ein besonders lautes Heavy-Metal-Album als Beispiel oder basslastige Tanzmusik), desto mehr Informationen müssen in die schmalen Rillen gepresst werden. Das erfordert auf jeder Produktionsstufe kleine Änderungen.

»Bisher hatte jeder meiner Jobs etwas mit Musik zu tun«, erklärte Millar, ein schlanker, gedrungener Enddreißiger. Er sprach mit einem Akzent, der irgendwo zwischen seiner Heimatstadt Detroit, New York (wo er viele Jahre gelebt hatte) und Nashville anzusiedeln war. Seine erste Stelle fand er in einem Plattenladen, anschließend arbeitete er für Polygram, BMG und Universal im Marketing. Er und seine Frau zogen 2006 nach Nashville, nachdem Millar dort ein Konzert von Tom Waits gesehen und sich in die Stadt verliebt hatte. Er wurde kurz darauf von United Record Pressing eingestellt und stieg ganz schnell zu einer Schlüsselfigur bei der Renaissance von Vinyl auf.

»Ich bin eine sehr gute Verkörperung der Rückkehr zu Vinyl«, sagte Millar. »Ich habe Schallplatten, Kassetten, CDs und MP3s gehört. Ich habe alle meine Musiktonträger gratis bekommen und lebte damals in einer kleinen Wohnung in New York, wo sich CDs stapelten.« Als Millar aber seinen ersten iPod bekam, änderte sich etwas. Die Stücke von seinen CDs konnten nun auf verschiedenen Computern gespeichert werden, weswegen ihre physische Präsenz keine große Rolle mehr spielte, aber im Laufe der Zeit vermisste Millar den Bibliothekscharakter seiner Musik: die kunstvoll gestalteten Cover, die Haptik und den Anblick, den wahrnehmbaren Unterschied in der Tonqualität zwischen verschiedenen Alben.

»Mir ging ein Licht auf. Ich erkannte, dass die Schallplatte all diese Dinge vereinte.« Millar verkaufte seine CDs und legte sich mit dem Geld LPs zu. »Digitalisierung ist wahnsinnig bequem, aber Vinyl ist der Gipfel des Musikerlebnisses auf allen Ebenen«, sagte er, erklärte dann aber direkt, dass er sich nicht auf Analoges versteift habe. Er höre ständig digitale Musik: im Auto, wenn er joggen geht oder wenn er seine Platten nicht zur Hand hat. Seine Frau arbeitet sogar als Produktionsmanagerin für digitale Medien bei Warner Music. »Beim Digitalen geht es darum, dass jeder seine Musik hören kann, der wahre Musikliebhaber aber kauft Vinyl.«

Nichts davon erklärt allerdings die Rückkehr von Vinyl als wirtschaftliches und kulturelles Phänomen. Es ist eben nicht so, als wären Millars »wahre Musikliebhaber« ein winziges Grüppchen, das plötzlich auf zehnfache Größe anwuchs, so wie es in den USA und im Rest der Welt im Schallplattengeschäft seit 2007 geschehen ist. Wie war es zuvor um den Markt für Schallplatten bestellt, und warum expandierte er nun so schnell?

Zunächst einmal ein wenig Geschichte: Kommerzielle Schallplatten wurden 1931 von RCA Victor erfunden; die Basis dafür waren Fortschritte im Bereich Kunststofftechnik, wodurch leichtere, robustere und widerstandsfähigere Platten hergestellt werden konnten als die damals verbreiteten spröden Wachs- und Schellackscheiben für Grammophone, welche mit 78 Umdrehungen pro Minute (UpM) abgespielt wurden. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die neuen Platten durch, als Columbia 1948 die 12-Zoll-Schallplatte auf den Markt brachte, die 45 Minuten Musik mit 33 ⅓ UpM abspielen konnte. Ein Jahr später kam die 7-Zoll-Single heraus, die acht Minuten Musik mit 45 UpM spielte. Diese beiden Formate, 12-Zoll-Alben und 7-Zoll-Singles, wurden nach dem Krieg zu Standardgrößen für die Herstellung, den Verkauf und die Wiedergabe der neuen Popmusik, zu Hause, in Jukeboxen und auch im Radio.

Vinylschallplatten hatten viele Nachteile; sie waren groß und schwer, außerdem war die Vinyloberfläche empfindlich: Sie bekam mit der Zeit Kratzer, die die Nadel springen ließen. Platten zogen Staub an und luden sich elektrisch auf, sie nahmen in Geschäften und zu Hause viel Platz ein und schmolzen in der Sonne. In einem Auto konnte man sie nicht abspielen, vom Joggen mit einer Schallplatte wollen wir gar nicht erst reden (allerdings joggte damals auch noch niemand). Dann, im Jahr 1979, brachte Sony seinen ersten tragbaren Kassettenrekorder heraus, den Walkman, vier Jahre später folgte die Compact Disc (CD). Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Vater uns 1985 den neuen, magischen CD-Player vorstellte. Mit einem eleganten Surren öffnete sich automatisch die Lade, vorsichtig legte er eine kleine silberne Scheibe ein. Das Haus wurde von kristallklarem Klang erfüllt (George Bensons Beyond the Blue Horizon, immer noch eines meiner liebsten Jazzalben), und man konnte per Knopfdruck zwischen den Lieder hin- und herspringen. Dies war das musikalische Format für das heraufziehende Zeitalter des PCs, eine nüchterne, mysteriöse schwarze Kiste, die irgendwie mit Laser und durch digitale Verarbeitung Musik zum Klingen brachte. Wir waren in der Zukunft angekommen!

Ab den 1970er-Jahren wurden langsam immer weniger Platten verkauft, weil sie von 8-Spur-Kassetten und Kompaktkassetten verdrängt wurden. Zwar erreichten Singles im Jahr 1973 mit 228 Millionen verkauften Exemplaren in den USA noch einen Höhepunkt; Alben waren 1978 mit 341 Millionen Verkäufen auf ihrem Zenit. Aber der rasante Aufstieg der CD ließ die Schallplatten bald alt aussehen; die Verkäufe fielen zwischen 1984 und 1988 um die Hälfte, und auch danach ging es stetig bergab. Verkäufe von LPs brachen am dramatischsten ein (der Tiefpunkt war 1993 erreicht, als in den USA nur 300 000 Alben verkauft wurden), Singles hingegen, die immer noch in Jukeboxen, von DJs und bei Radiosendern verwendet wurden, hielten sich etwas länger über Wasser. Dennoch waren die Verkaufszahlen bis weit in das 21. Jahrhundert hinein rückläufig, als CDs erst MP3-Downloads und dann dem iPod wichen. 2006 war der absolute Tiefpunkt von Vinyl erreicht. Weltweit wurden in jenem Jahr insgesamt bloß 3 Millionen neue Schallplatten verkauft, nur 900 000 davon in den Vereinigten Staaten; das war in etwa ein Viertel der Verkäufe, die Disneys Filmsoundtrack High School Musical als CD und Download verbuchen konnte.

Mark Michaels, der Eigentümer und CEO von United Record Pressing, hatte das Unternehmen im Jahr 2007 gekauft, nach einer erfolgreichen Karriere als Berater für globales Management und außerbörsliches Eigenkapital. In seiner Freizeit sammelte Michaels Schallplatten, und er hatte das Gefühl, dass URP im Laufe der Zeit ein schönes, stabiles Geschäft sein und Geld abwerfen würde. »Der Marktanteil von kommerziellem Vinyl innerhalb der Industrie hatte sich auf ein Minimum reduziert«, erinnerte er sich bei unserem Telefonat in seinem Büro in Chicago. Aber Plattenlabels pressten nach wie vor Platten zur Promotion jeder neuen Single, und das war das Kerngeschäft von URP. »Dieser Anteil war klein und stabil«, erinnerte sich Michaels, aber ihm war nicht bewusst, wie plötzlich das Geschäft mit Schallplatten zu Promotionzwecken ins Bodenlose stürzen würde. »Ich habe es nicht kommen sehen, aber die Labels schauten sich Geschäftsmodelle an und ihnen wurde klar, dass es sich nicht rechnete, 20 000 Platten zu verschenken.« Als die Weltwirtschaftskrise ein Jahr später zuschlug, war das Unternehmen am Ende. Michaels flehte die Kreditgeber um Geduld an und entließ den Großteil der Angestellten von URP. Viele der Maschinen waren nicht ausgelastet.

Die Schallplatte war ganz offiziell tot. Wie es ein alter Hase aus der Musikbranche mir gegenüber formulierte: Sie waren zu jener Zeit eine statistische Anomalie, ein Rundungsfehler in der Bilanz von Plattenfirmen, der Bruchteil eines Bruchteils von einem Prozent verkaufter Produkte. Bis zum Jahr 2007 befand sich die Musikindustrie mitten im Kampf gegen illegale Downloads und Piraterie, und die Zukunft – mochte sie noch so unsicher und turbulent sein – schien klar: digitale, körperlose Musik, die kabellos zu jeder Zeit überallhin übertragen werden konnte. Auch die CD-Verkäufe fielen ins Bodenlose, und sogar bezahlte digitale Downloads stagnierten, weil Streamingdienste wie Spotify immer beliebter wurden. Physische Tonträger waren auf dem absteigenden Ast. Vinyl war bloß das erste Opfer.

Dann kam seine Rückkehr.

»Nach allem, was man hört, wurde Vinyl ganz offensichtlich von der Industrie durch ein ›besseres‹ Produkt ersetzt, es sollte eigentlich heutzutage ausgestorben oder zumindest nur noch in Museen und Antiquariaten als altmodische Inkunabel vorhanden sein«, schrieben Dominik Bartmanski und Ian Woodward 2015 in ihrem faszinierenden Buch Vinyl: The Analogue Record in the Digital Age. »Stattdessen geschah aber etwas anderes … Vinyl erlebte eine Renaissance in einer viel größeren Gesellschaftsgruppe, zu einem Zeitpunkt, als die digitale Revolution gerade vollendet schien.«

Gemäß der Recording Industry Association of America wuchs der Versand von LPs allein in den Vereinigten Staaten von 990 000 im Jahr 2007 auf mehr als 12 Millionen im Jahr 2015; die jährlichen Wachstumsraten betrugen mehr als 20 Prozent. Verschiedene Quellen berichteten, dass Vinyl im Jahr 2015 fast ein Viertel der Einnahmen aus Musikverkäufen ausmachte und damit werbefinanziertes Streaming überholt hatte, während die Verkaufszahlen von bezahlten Downloads und CDs weiterhin sanken. Der Verkauf von neuen Schallplatten generierte allein im Jahr 2014 einen Umsatz von 346,8 Millionen Dollar für die Musikindustrie, und der Handel mit gebrauchten Schallplatten, der nach wie vor den Großteil des Geschäfts ausmachte, wahrscheinlich ein Vielfaches dieses Betrags.

Seit dem Tiefpunkt vor etwa zehn Jahren sind die Verkaufszahlen von Schallplatten rapid, dramatisch und stetig gestiegen. Eine beeindruckende Umkehrung. Aus verschiedenen Gründen haben Menschen in den vergangenen zehn Jahren mehr Schallplatten (neue und gebrauchte) gekauft als in den gesamten zwanzig Jahren zuvor.

Warum?