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Philipp Blom

Gefangen im Panoptikum

Leben in den Ruinen der aufgeklärten Utopie

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

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Unruhe bewahren – Frühlingsvorlesung & Herbstvorlesung.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2017 Residenz Verlag GmbH

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Redaktion: Harald Klauhs, Astrid Kury

ISBN 9783701745524

Inhalt

IDie Architektur der Träume

Das Universum des Narziss

Der unmögliche Turm

Tief im Inneren

IIHotel Malmaison

Et in paradisum ego

Menschenversuche

Wölfe, Automaten, Hoffnungen

Anatomie der Hoffnung

IIIBericht eines Ingenieurs (anonym)

Bildnachweis

Für André

I

Die Architektur der Träume

Manchmal muss man weit reisen, um sich selbst besser zu verstehen. Machen wir also eine Reise nach Kuba. Aber nicht nach Havanna, zu der Romantik alter Paläste, automobiler Fossilien und unter der Hand verkaufter Zigarren. Wir fahren weiter, zu einer kleinen Insel mit dem schönen Namen Isla de la Juventud. Dort, auf einem flachen Areal nahe dem Städtchen Nueva Gerona (Bevölkerung: 59 000), stehen fünf riesige, runde Gebäude in der Landschaft und verfallen langsam in der tropischen Hitze. Dies ist das Presidio Modelo, das Modellgefängnis, fertiggestellt 1928 unter dem zunächst durchaus fortschrittlichen Präsidenten und späteren brutalen Diktator General Gerardo Machado.

Der Zahn der Zeit und das Klima haben den Gebäuden des 1967 geschlossenen Gefängnisses arg zugesetzt. Die Außenmauern sind von Feuchtigkeit durchzogen, die Dächer brechen langsam ein, die Gebäude verrotten in der feucht-heißen Witterung der Insel, die noch vor zwei Jahrhunderten hauptsächlich von Sklaven bevölkert war.

Kuba – das war schon immer die Geschichte des Kampfes zwischen Freiheit und Sklaverei, zwischen Revolution und Reaktion. Auch Fidel Castro und mehrere seiner Mitstreiter waren Insassen des Presidio Modelo, bevor sie 1955 im Rahmen einer Amnestie freigelassen wurden. Vier Jahre später, nach einem erbitterten Guerillakrieg, regierte Castro den Inselstaat.

Das Presidio Modelo war kein Gefängnis wie jedes andere. Es ist eine Stein gewordene Utopie. Die Zellen sind entlang der Außenwände angeordnet, in einem gigantischen, fünf Stockwerke hohen Kreis. Zum Zentrum hin haben die Zellen Gitter statt Wände. Von dem nur über einen unterirdischen Gang erreichbaren Wachturm aus, der sich in der Mitte des Kreises wie ein Leuchtfeuer erhebt, lässt sich jede Zelle jederzeit einsehen. Jeder Gefangene soll wissen und fühlen, dass er ständig unter Beobachtung ist. Unfreiwillig in der Obhut des Staates, hat er keine Geheimnisse mehr.

Sowohl das Gefängnis als auch die Revolutionäre, die darin eingesperrt waren, waren auf unterschiedliche Weise direkte Erben der Aufklärung, der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, auf die Macht der Vernunft, die Formbarkeit des Menschen. Vom modernen Kuba führt ein direkter Weg ins vorrevolutionäre Paris und in den Nebel Londons zu Ende des 18. Jahrhunderts. Der Vater des runden, totale Transparenz versprechenden Zuchthauses lebte hier. Sein Name war Jeremy Bentham, und man kann ihn noch heute besuchen – aber dazu später.

Bentham war Zeitgenossen zufolge ein seltsamer und eigenbrötlerischer Mensch. Er wurde 1748 als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren und entdeckte schon früh Bücher als seine engsten Vertrauten. Der einzige Mensch, der ihm wirklich nahestand, war sein neun Jahre jüngerer Bruder Samuel. Fünf weitere Geschwister hatten die frühen Kinderjahre nicht überlebt, Benthams Mutter starb, als der Junge zehn Jahre alt war. Kein Wunder, dass das kränkliche Kind sich panisch vor Geistern fürchtete und mit seinen Büchern zurückzog.

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1 Innenansicht des Presidio Modelo, Isla de la Juventud, Kuba

Als intellektuelles Wunderkind gefeiert, studierte er schon mit zwölf Jahren am Oxforder Queen’s College Jura, beschrieb diese Zeit aber als einsam und eintönig. Seine Mitstudenten (von denen einige nicht wesentlich älter waren als der hochbegabte Jeremy) langweilten ihn und er verachtete ihren Standesdünkel. Nur seine Studien waren ihm wichtig, aber eine Karriere als Anwalt oder Richter interessierte ihn nicht. Seine ganze Leidenschaft galt der Rechtsphilosophie und der Systematisierung des juristischen Denkens. Er bewunderte Aufklärer wie David Hume, Cesare Beccaria und Claude Helvétius, die das Denken auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen wollten.

Nach seinen Studien zog sich Bentham, der über ein mehr als komfortables Einkommen aus Investitionen verfügte, ins Privatleben zurück. Bis ins hohe Alter vermied er größere Gruppen von Menschen. Der Schriftsteller William Hazlitt beschrieb den Philosophen: »In seinen allgemeinen Angewohnheiten und allem, was nicht seinen Beruf betrifft, ist er ein bloßes Kind. Er hat die letzten vierzig Jahre in einem Haus in Westminster gelebt, mit Blick über den Park, wie ein Einsiedler in seiner Zelle, hat das Gesetz zu einem System reduziert und den Geist des Menschen zur Maschine. Er geht kaum jemals aus und hat nur wenig Gesellschaft. Die wenigen Glücklichen, die das Privileg haben, bei ihm empfangen zu werden, werden nur einzeln zugelassen… Er spricht viel und hört nur zu, wenn ihm Fakten mitgeteilt werden.«1

Benthams eigensinniger und einsamer Charakter hat einige Historiker vermuten lassen, er habe am Asperger-Syndrom gelitten, einer Art von Autismus. Tatsächlich wirft diese Annahme nicht nur ein interessantes Licht auf sein persönliches Leben, sondern auch auf seine Philosophie. Bentham ist der Begründer des Utilitarismus: Gut ist, was nützlich ist, das Ziel allen Handelns ist »the greatest happiness of the greatest number« – eine Formulierung, die er von Beccaria übernommen hat. Sein Ziel war es, Welt und Menschen lesbar zu machen und nach rationalen Kriterien und mit objektiven Zielen zu verbessern. John Stuart Mill, dessen Vater James eng mit Bentham zusammenarbeitete, schrieb später über seine Philosophie: »Sie kann die Möglichkeiten darstellen, die bloß geschäftlichen Aspekte sozialer Zusammenhänge zu organisieren und zu regeln… Er machte den Fehler zu meinen, dass der geschäftliche Teil der menschlichen Angelegenheiten das Ganze sei.«2

Vielleicht war es dieser Fehler, der Bentham auf die Idee für sein ehrgeizigstes Projekt brachte, das er über Jahre mit größter Verbissenheit verfolgen sollte. Diese Idee kam ihm in Kritschew in Weißrussland, wo er 1787 seinen Bruder Samuel besuchte, der dort ausgerechnet für Fürst Potemkin arbeitete, den berühmten Günstling der Zarin Katharina der Großen und Erfinder der Potemkinschen Dörfer. Die Dörfer, die nur aus Kulissen bestanden, durch die der Fürst seine Zarin mit dem Schlitten fahren konnte, um Fortschritt vorzutäuschen, sind so wahrscheinlich nie gebaut worden. Aber, si non è vero è ben trovato. Irgendjemand musste diese Geschichte erfinden.

Vielleicht waren es die reformerischen Ideen, die in Russland gerade Mode waren und für die Potemkin sich so energisch einsetzte, sowie der Einfluss der französischen Aufklärer am Zarenhof, vielleicht war es auch die Langeweile fern der Heimat, die Bentham dazu nötigte, sich mit einer neuen Idee zu beschäftigen. Jedenfalls glaubte er bald, auf eine geniale Eingebung gestoßen zu sein, eine einfache und sichere Methode, allen möglichen Missständen in der Gesellschaft nicht nur zu begegnen, sondern sie völlig zu beseitigen: »Die Sitte reformiert – der Gesundheit einen Dienst erwiesen – das Gewerbe gestärkt – die Methoden der Unterweisung verbessert – die öffentlichen Ausgaben gesenkt – die Wirtschaft gleichsam auf ein festes Fundament gestellt – der Gordische Knoten der Armengesetze nicht durchschlagen, sondern gelöst – all das durch eine einfache architektonische Idee!«1 Er nannte diese Idee das Panoptikum.

Das Panoptikum schien sich allen Zwecken anzupassen:

Mochte es darum gehen, die Unverbesserlichen zu bestrafen, die Verrückten zu beaufsichtigen, die Gemeingefährlichen zu bessern, die Verdächtigen unter Aufsicht zu stellen, die Müßigen zu beschäftigen, die Hilflosen zu betreuen, die Kranken zu behandeln, die Bereitwilligen anzuleiten zu jeder beliebigen Arbeit oder die zukünftige Generation auf den Pfad der Bildung zu führen: Kurzum, mochten es dauerhafte Gefängnisse auf Lebenszeit oder Untersuchungsgefängnisse zur Unterbringung derer, die auf ihr Gerichtsverfahren warten, Straf- oder Besserungsanstalten, Arbeitshäuser, Manufakturen oder Irrenhäuser oder Hospitäler oder Schulen sein.1

Die ganze, geniale Idee war ergreifend einfach: Es handelte sich um ein großes, kreisförmiges Gebäude mit Zellen entlang der Außenwand und einem Wachturm in der Mitte, der von den Zellen durch eine ringförmige, leere Zone getrennt war. Wichtig war, dass alle Zellen nach innen hin nur vergittert und so vom Wachturm aus jederzeit einsehbar waren, der Wächter im Turm aber von den Insassen nicht gesehen werden konnte. So konnte kein Insasse jemals sicher sein, ob er beobachtet wurde oder nicht.

Bentham hatte alles genau durchkalkuliert, vom Umfang des Gebäudes (etwa dreißig Meter), der Dicke der Mauern bis hin zur Größe der Zellen und ihrer Fenster, von der Beleuchtung und Kommunikation bis hin zu Verpflegung, Tagesplan, Bestrafungen, Beschäftigung und natürlich der Wirtschaftlichkeit des Gesamtprojekts, denn das Panoptikum sollte sich selbst tragen und sogar profitabel sein, um ehrlichen Bürgern nicht auf der Tasche zu liegen. Um seine Pläne zu verdeutlichen, beauftragte er einen Architekten damit, das von ihm so sorgfältig durchdachte Gebäude zu zeichnen.

Das Panoptikum war eine Maschine der sozialen Transformation. Die Häftlinge des 18. Jahrhunderts vegetierten oft unter fürchterlichen Bedingungen, in dunklen und feuchten Zellen, ohne ausreichende Ernährung, sie waren Hitze und Kälte, Krankheiten und der Brutalität ihrer Wächter ausgesetzt. Für sie wäre das Panoptikum sicher ein enormer Fortschritt gewesen – ein rationales Regime ohne Willkür, in dem sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten hätten können.

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2 Jeremy Bentham, Skizze des Panopticon, 1791

Wer nicht arbeitswillig war, würde mit harten Sanktionen belegt werden. Hier hatte Benthams moralischer Enthusiasmus einen wichtigen Vorläufer, auch wenn der Philosoph sich dessen wohl selbst nicht bewusst war: noch eine architektonische Legende, die es vielleicht so nie gegeben hat, die aber ebensosehr ein Ausdruck der Kultur ist, der sie entstammt, wie Potemkins nie gebaute Dörfer. Das Rasphuis in Amsterdam war im 17. Jahrhundert ein spezielles Gefängnis für Arbeitsunwillige und »asoziale Elemente«, das Häftlinge, wie man heute sagen würde, durch Arbeit wieder in die Gesellschaft integrieren wollte. Wer sich weigerte, wurde mit Stockhieben umgestimmt. Für ganz Unverbesserliche gab es lokalen Legenden zufolge einen speziellen Ort, die Ertränkungszelle. Der Häftling befand sich allein in einem fensterlosen Raum, der langsam mit Wasser volllief. Er selbst hatte nichts als eine Pumpe, um sich vor dem Tod zu retten. Er pumpte ohne Unterlass oder er ersoff.

Bentham glaubte ebenfalls an den heilenden Wert der Arbeit, aber er hatte auch noch andere Ideen zur Verwendung der Häftlinge. Man könnte nicht nur Arbeitsmethoden, sondern auch Medikamente und neue Arten von Bestrafung an ihnen ausprobieren. Kinder könnten in unterschiedlichen Panoptiken unterschiedlich erzogen werden, um pädagogische Theorien oder psychologische Hypothesen zu testen – alles zum Wohle der Allgemeinheit.

Gleichzeitig führte das Glückskalkül, das seiner Philosophie zugrunde lag, den Vater des Panoptikums auch zu Positionen, die für seine Zeit zutiefst untypisch und in unseren Augen erstaunlich liberal sind: Er setzte sich für Tierrechte ein, forderte die Legalisierung der Homosexualität, die Gleichheit von Männern und Frauen und die Abschaffung der Todesstrafe, die, wie er meinte, unverhältnismäßig häufig die Armen treffe und im Übrigen in ihrer Anwendung teurer sei als die wirtschaftlich produktive, lebenslange Zwangsarbeit.

Nach London zurückgekehrt, warf sich Bentham mit immensem Enthusiasmus in die Verwirklichung seines Projekts. Ein Baugrund wurde gefunden, die Regierung war nicht abgeneigt, aber schon bald geriet die Planung ins Stocken. Die Anrainer wehrten sich, politische Intrigen erschwerten die Umsetzung, der König, der sich von dem sozial immer ungeschickten Bentham beleidigt fühlte, verlangsamte den Fortgang des Projekts, bis alles zum Stillstand kam und die Idee schließlich fallen gelassen wurde. Bentham, der große Summen seines eigenen Geldes in die Planung gesteckt hatte, war außer sich vor Wut, die bald in tiefe, lebenslange Verbitterung umschlug.