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LEBEN AUF SICHT

URS NIGGLI

ALLE
SATT?

ERNÄHRUNG SICHERN FÜR
10 MILLIARDEN MENSCHEN

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LEBEN AUF SICHT die aktuelle Buchreihe für neue, nachhaltige Wege

Die großen Herausforderungen – Klimawandel, Migrationsbewegungen, eine wachsende Weltbevölkerung bei endlichen Ressourcen – sind allen bekannt. Doch wie wir ihnen begegnen können, wollen und sollen, das bleibt umstritten. Die Reihe »Leben auf Sicht« ist der Missing Link zwischen Fachwelt und wachem Geist. Engagierte Vordenkerinnen und Geistesakrobaten, aber auch Aktivistinnen und Anpacker stellen Fragen, präsentieren mögliche Antworten und liefern Ansätze für ein besseres Leben. Federführend für die Reihe ist Thomas Weber, der als Herausgeber von »Biorama« als Spezialist für neue, nachhaltige Wege gilt.

fb.com/LebenaufSicht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Sig Ganhoer, NTRP Design

Grafische Gestaltung / Satz: Sig Ganhoer, NTRP Design

Schrift: Sailec, Capito

Lektorat: Manuel Fronhofer

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Pub:

978 3 7017 4549 4

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3419 1

Inhalt

Vorwort

1Landlust oder Wie ich zum Biolandbau kam

2It’s the lack of democracy, stupid! oder Warum es Hunger gibt

3Alle können satt sein oder Warum ich die moderne Landwirtschaft lobe

4Der Erfolg der Landwirtschaft oder Warum dieser heute ein Hassthema geworden ist

5Die Gesellschaft und die Landwirtschaft entfremden sich voneinander oder Eine Chronologie der wachsenden Kritik

6Die Mutter aller alternativen Entwicklungen oder Warum der Biolandbau entstand und wie er zum Katalysator der Zukunft wurde

7Bio kann sehr viel, aber (leider) nicht alles

8Der einfachste Weg zu einem nachhaltigen Ernährungssystem: Mäßigung! Die Diskussion um Effizienz oder Suffizienz

9Wenn’s mit der Mäßigung nicht klappt: Innovation, das goldene Kalb!

10Bilder prägen die Wirklichkeit oder Warum die Gegenüberstellung von „natürlich“ und „künstlich“ in der Landwirtschaft vermutlich falsch ist

11Die Vielfalt der Landwirtschaft oder Klein gegen Groß

12Nachhaltig essen in einer großstädtischen globalen Gesellschaft oder Die grünen Städte

13Ernähren wir uns falsch und essen wir das Falsche?

14Handeln wir!

15Epilog

Literaturverzeichnis

Vorwort von Werner Lampert

Während wir alle, die wir in der biologischen Landwirtschaft engagiert waren, an einem überzeugenden Narrativ für diese arbeiteten, ging Urs Niggli einen ganz anderen Weg: Er und das von ihm geführte Forschungsinstitut für Biologischen Landbau FiBL setzten sich wissenschaftlich mit den Methoden und den Grundlagen des biologischen Landbaus auseinander.

Selbstverständlich war und ist es wichtig, den Konsumentinnen und Konsumenten sowie den interessierten Bäuerinnen und Bauern bewusst zu machen, dass im biologischen Landbau keine Pestizide und keine Kunstdünger eingesetzt werden. Biologischer Landbau heißt, sich mit den Bodenqualitäten und der Fruchtfolge auseinanderzusetzen. Es geht hier um eine andere Methode, um eine andere Form der Landwirtschaft.

Urs Niggli aber war nicht sehr empfänglich für romantische Geschichten. Er wollte genau wissen, wie sich das bäuerliche Tun auf die Qualität der Lebensmittel und auf die Umwelt auswirkte. So entwickelte er die Wissenschaft zur biologischen Landwirtschaft. Im FiBL führte er, um nur ein Beispiel zu nennen, Langzeitfeldversuche durch, in denen er sich – gemeinsam mit seinem Team – mit der organisch-biologischen Methode im Verhältnis zur biologischdynamischen und zur konventionellen Landwirtschaft beschäftigte. Urs Nigglis Arbeit war dabei nie eine Orchideendisziplin. All seine Erfahrungen, sein Wissen teilte er mit den Biobäuerinnen und Biobauern, für die er auch eine Bauernberatung über das von ihm geführte Institut ins Leben rief. Für sein Engagement, seinen Willen, den biologischen Landbau wissenschaftlich abzusichern, bewundere ich ihn und ich war stets offen für seine Geistesblitze. In schwierigen Entscheidungsprozessen halfen mir seine Arbeit und seine Erkenntnisse, die biologische Landwirtschaft weiterzuentwickeln.

Neben meiner Bewunderung für Urs empfinde ich auch große Dankbarkeit. Unendlich viele Ideen, jede Menge Inspiration erhielt ich von ihm und seinem Institut. Auch unseren Weg, den biologischen Landbau radikal mit der Nachhaltigkeit zu verschränken, und zu berechnen, zu belegen, wie er sich vom konventionellen Landbau unterscheidet, habe ich ihm zu verdanken. Zum ersten Mal benötigen wir kein Narrativ mehr in der biologischen Landwirtschaft. Mit Urs Nigglis Methode können wir ihre Vorzüge wissenschaftlich untermauern, beweisen, wo der Unterschied zur konventionellen Landwirtschaft liegt. Für mich war dieser Schritt der wichtigste in meinem langen Engagement für die biologische Landwirtschaft.

Wir wollen Lebensmittel von höchster Qualität, mit ernährungsphysiologisch wertvollen Inhaltsstoffen, mit exzellentem Geschmack und hoher Authentizität. Dieses Ziel ist wohl am besten mit biologisch wirtschaftenden Bäuerinnen und Bauern zu erreichen. Denn ein biologisch sehr aktiver, lebendiger Boden, eine hohe Artenvielfalt auf und in den Feldern, am Hof und in der Landschaft fördern ganz direkt die Qualität der Lebensmittel. Und nicht zuletzt gehört ein respektvoller Umgang mit den Tieren, die wir nutzen, dazu. Das verstehen wir dank europäischer Forschungsprojekte, an deren Entwicklung Urs Niggli stark beteiligt war. Milch von Weidekühen enthält größere Mengen mehrfach ungesättigter Fettsäuren, mehr Antioxidantien und Vitamine als solche von Kühen, die im Stall mit Sojaschrot gefüttert werden. Zudem weisen Weidekühe eine bessere Eutergesundheit auf und sind auf Dauer wirtschaftlicher. Das FiBL hat diesen umfassenden Blick auf den Biolandbau geschärft und zusammen mit den Bäuerinnen und Bauern den Biolandbau zu einer modernen Produktionsweise weiterentwickelt. Urs Nigglis Engagement in vielen europäischen Ländern und darüber hinaus hat viele Menschen inspiriert. Mit zunehmender Dringlichkeit hat er aber auch den Biolandbau in den Kontext der globalen Ernährungssicherheit gestellt. Wir alle, die mit biologischen Lebensmitteln zu tun haben, werden regelmäßig mit der Frage konfrontiert, ob der Biolandbau denn die Welt ernähren könne. Dieser Frage ist Urs nicht ausgewichen und sie ist deshalb zum Thema dieses Buches geworden. Er begnügte sich dabei nie mit platten Antworten und war gefeit vor vermeintlichen Patentrezepten. Denn diese Herkulesaufgabe des 21. Jahrhunderts wird wohl nur durch große Kreativität und vielfältigste Lösungen zu bewältigen sein, was in diesem Buch sehr gut und verständlich dargestellt ist. Die Überraschung war aber trotzdem eine ganz einfache Lösung, die der Autor von Mahatma Gandhi ableitet: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“

Dieses Buch blickt tief in die Entwicklung der Landwirtschaft und Ernährung. Denn um die heutige Situation zu verstehen, braucht es eine schonungslose Analyse. Urs Niggli verknüpft dabei Ereignisse und Fakten, die ein sehr differenziertes Bild ergeben, aber trotzdem von einer hohen Klarheit geprägt sind. Diese kenntnisreiche Denkweise ist wohl auch die Basis dafür, dass Urs von vielen Menschen als Brückenbauer und nicht als Provokateur gesehen wird. Und trotzdem haben seine Lösungsansätze, die in jedem Kapitel auftauchen, eine hohe gesellschaftliche Brisanz. Er fordert im letzten Kapitel zum Handeln auf und inspiriert damit in einer Zeit, in der Menschen und Institutionen sich auch radikalen Wegen öffnen, die gesellschaftliche Debatte darüber, wohin wir mit der Landwirtschaft und der Ernährung gehen können und wollen. Urs Niggli verknüpft vieles mit seinem eigenen Leben und schöpft seine Expertise aus zahlreichen Begegnungen mit engagierten Menschen. Das macht das Buch hoffnungsvoll und motiviert dazu, die großen Herausforderungen geradlinig und mit klarem Kopf anzugehen.

Werner Lampert, Salzburg

Landlust

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Wie ich zum Biolandbau kam

Kapitel 1

Für uns Kinder glich es dem Schlaraffenland, wenn Ende August die Renekloden auf dem riesigen Baum im Obstgarten des Bauernhauses, das sich über viele Generationen im Familienbesitz befand, reif waren. Tausende der gelben, süßen, großfruchtigen Pflaumen wurden geerntet, frisch vom Baum gegessen oder abgeschüttelt und zu Konfitüre verarbeitet. Auch nach 55 Jahren ist die Erinnerung daran so präzise, dass ich mir ziemlich sicher bin, von Fruchtfleisch, Form und Geschmack sowie der Wuchsform des längst gefällten Baumes auf die Sorte Reineclaude d'Oullins schließen zu können.

Das mächtige Haus stand quer zu einer Dorfstraße im Solothurner Teil des Schweizer Mittellandes, die direkt auf das Gebäude zuführte und sich nach links und nach rechts teilte. Ich erinnere mich gut an Urgroßvater Andreas, der schweigsam oben am Küchentisch saß. Alle seine Söhne und Töchter erhielten Ende des 19. Jahrhunderts ein Stück Boden, auf dem sie bauten und eine Familie gründeten. Mein Großvater sollte den stark geschrumpften Betrieb bewirtschaften. Der großväterliche Obstgarten war voll von Köstlichkeiten. Unter den als Erste reifen Apfelsorten gab es eine Berner Rose, wunderbar rot und saftig, wenn man die Früchte direkt vom Baum anbiss. Mittlerweile ist diese Sorte in der Schweiz dank der Organisation Pro Specie Rara wieder im Einzelhandel zu finden. Aber man tut sich damit – abgesehen vom guten Gewissen, dass man historische Genetik ehrt – nichts Gutes. Denn schon als Bub wusste ich, dass dieser Apfel nach dem Pflücken rasch trocken und mehlig wird. Wir aßen als Kinder nur die schönsten Früchte direkt vom Baum, schorffleckige und vom Mehltau verkrüppelte lagen im Gras und wurden zu Süßmost gepresst. Die Sorte Jacques Lebel wiederum war langweilig – zu dick und fettig war ihre Schale und das Fruchtfleisch schmeckte fad. Sie war meist stark von der Obstmade befallen. Als gekochte Spalten oder Mus jedoch war der Apfel fantastisch.

Es gab damals in der bäuerlichen Küche fast zu jedem Gericht gekochte Äpfel. Wunderbar auch der Sauergrauech, ein Zufallssämling aus dem Kanton Bern, die Goldparmäne, die einen Ast nach dem anderen verlor, weil sie nicht mehr richtig geschnitten wurde, und schlussendlich der unscheinbare Süßapfel, den Großmutter und Mutter stets für „Apfel im Schlafrock“ verwendeten, ein typisches Essen am Freitag, wenn fleischlos angesagt war. Ein halber Apfel wurde dabei in einer Teigtasche gebacken, die nach unten gekehrte Rundung des Kerngehäuses gefüllt mit gemahlenen Walnüssen, Zucker und Zimt. Zum Ende des Monats hin gab es bereits am Donnerstag kein „richtiges“ Fleisch mehr, weil das Haushaltsgeld knapp wurde. So gab es Schweinsleber oder Kutteln.

Diese arme Küche meiner Kindheit begeisterte mich erst als 17-Jährigen auf einer Studienreise zur Geschichte der Renaissance in Florenz als Trippa alla fiorentina. Heute ist sie erneut recht schick dank der Bewegung Nose to Tail, die den ganzen Schlachtkörper verwerten will. Die bäuerliche Küche meiner Kindheit aber war keines dieser Gastro-Events, die heute in Zeitschriften wie Landliebe, Landlust, und wie sie alle heißen mögen, zelebriert werden. Ganz im Gegenteil. Sie war wenig abwechslungsreich und auch nicht besonders gesund. In unserem Dorf starben viele Menschen an Kreislauferkrankungen: Diabetes und Übergewicht waren – trotz bescheidener Einkommen – verbreitet. Es waren die Baslerin Kathrin Rüegg und der Breisgauer Werner O. Feißt, die die alemannische Bauernküche über viele Jahre im Südwestfunk wieder berühmt machten – nach dem Motto: „Was die Großmutter noch wusste“. Eine nostalgische Verklärung jener Armut, die einst auch im Badischen und in der Nordwestschweiz verbreitet war.

Das Streben nach dem Ursprünglichen, dem Ländlichen und Natürlichen beeinflusst die Erwartungen der Menschen in zunehmendem Maße und fließt auch in die Konzepte der Agrarpolitik und in die Marketingstrategien des Lebensmitteleinzelhandels ein. Ich besuchte zum Beispiel erstmals im noblen Georgetown in Washington, D. C., ein Restaurant mit eritreischer Küche. Das war nach einem Vortrag von Prinz Charles zum Thema Nachhaltige Landwirtschaft an der Georgetown University, wo die diplomatische und wirtschaftliche Elite der USA ausgebildet wird. In Bonn, nach den Vorstandssitzungen der IFOAM – Organics International, der Dachorganisation von Bioverbänden aus aller Welt, gab es ebenfalls gelegentlich Eritreisch. Und auch in Brüssel war ich ab und zu mit den Studierenden der Universität Kassel-Witzenhausen – als Abschluss unseres einwöchigen Abstechers in die europäische Agrar- und Forschungspolitik – bei einem archaisch-modisch aufgemachten Eritreer. Ursprünglich nährte der dickflüssige Eintopf mit Schaf- und Rindfleisch, der auf mehreren schwammartigen Fladenbroten aufgetürmt und dann mit den Fingern von außen nach innen gegessen wird, die hart arbeitenden Bauernfamilien. Meinen Geschmacksknospen hat er in keinem der Restaurants geschmeichelt – vielleicht fehlt mir einfach das Gen, das die Vergangenheit, das Landleben und die eigene Jugend verklärt. Für mich musste und muss die Zukunft nicht unbedingt oder zumindest nicht nur ein Revival der Vergangenheit sein.

Meine Großeltern waren nicht aus einer Leidenschaft heraus Kleinbauern. So schnell es ging, verpachteten sie ihr Land, und das letzte Schwein wurde bei einem großen Familienfest im Jahr 1957 geschlachtet. Die dampfenden Gedärme, die vom Störmetzger, der damals noch von Hof zu Hof wanderte und Tiere schlachtete, mit Schweineblut, Speck, Schwarte und Gewürzen gefüllt wurden, haben uns Kindern damals den Appetit auf die riesigen Blutwürste nicht verdorben. Das Schlachten gehörte zum bäuerlichen Alltag. Einem Polizeiprotokoll, das ich als neugieriger Jugendlicher gut versteckt auf dem Heuboden fand, entnahm ich, dass der Großvater im Jahr 1943 angeklagt war, heimlich ein Schwein geschlachtet zu haben, was während der Lebensmittelrationierungen im Zweiten Weltkrieg streng verboten war.

Erst als regionaler Versicherungsvertreter der Rentenanstalt legte mein Großvater dann den Grundstein zum gutbürgerlichen Wohlstand der Familie. „Es isch ned schön gseh“, seufzte meine Großmutter oft, die in den Kriegsjahren mit einer alten Tante und einem dienstuntauglichen Säufer mit Pferd und Wagen die Heuernte einfahren musste. War die Fuhre schlecht geladen und der Baum, der ihrer Befestigung diente, nicht genau in der Mitte mit Seilen nach unten gebunden, kippte das grobe Heu aufs Feld oder auf die Straße. Oft ging es um eine halbe Stunde, ob man es noch trocken oder bereits vom Augustgewitter durchnässt einfahren konnte. Entlud sich das Gewitter zu früh, war das Milchgeld bis zum nächsten Frühjahr knapp.

Viele Jahre später, beeinflusst durch viele solche Geschichten aus dem dörflichen Leben, startete ich im Jahr 1974 an der ETH Zürich eine landwirtschaftliche Karriere. Geprägt von bäuerlicher Tradition, die Wunderbares hervorgebracht hat, und gleichzeitig von einer starken Unruhe getrieben, die auf Veränderung pochte. Dem Bewahren stand stets das Einreißen gegenüber.

Mein nüchterner Blick provozierte einmal einen von mir geschätzten Pionier der Vermarktung alter Tierrassen, mich einen unverbesserlichen Positivisten zu nennen. Seine Kritik traf tatsächlich einen inneren Konflikt, der mich während meiner 30 Jahre als Chef des Forschungsinstituts für biologischen Landbau FiBL begleitete: Auf der einen Seite das Objektivitätsideal der Naturwissenschaften, das auf Experimenten und empirischer Überprüfung von Hypothesen beruht. Wissen, das publiziert wird und an die Bäuerinnen und Bauern weitergegeben wird, sollte sich auf „positive“, das heißt tatsächliche, sinnlich wahrnehmbare und überprüfbare Befunde beschränken. Auf der anderen Seite entstand der Biolandbau gerade auch aus einer Kritik an dieser Wissenschaftsauffassung. Das kommt besonders in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft zum Ausdruck, wo sich Wissenschaft mit transzendentalen philosophischen Konzepten vermischt.

Ist man im Biolandbau tätig, muss man sich mit Wissenschaftskritik auseinandersetzen. Deshalb erlauben Sie mir, liebe Leserin und lieber Leser, bereits im ersten Kapitel einen kleinen Exkurs. Tatsächlich ignorieren vor allem die Naturwissenschaften gerne gesellschaftliche Phänomene und schätzen den Bezug zur Gesellschaft als rein spekulativ ein. Damit geht eine Negierung von Verantwortung dafür einher, was mit dem Wissen gemacht wird und welchem Verständnis von Eigentum es dient. Der Sankt Gallener Ökonom Hans Christoph Binswanger, der meine Generation stark geprägt hat, skizzierte zum Beispiel ein Eigentumsverständnis, das die soziale Verantwortung des Eigentümers hervorhob. Seine ökologische Steuerreform wurde leider noch nirgends umgesetzt, auch rot-grüne Regierungen wagten sich nicht an dieses heiße Eisen.

Der Vorwurf des naiv-positivistischen Denkens des erwähnten Pioniers beschäftigte mich natürlich sehr. Und er tut es auch in gegenwärtigen Diskussionen wieder, wo ich mich etwa für einen konstruktiven Dialog hinsichtlich sogenannter Zukunftstechnologien wie der Molekularbiologie, der Nanotechnologie oder der Digitalisierung einsetze. Denn erstens ist mir mit dem Hintergrund von 30 Jahren forschungstheoretischer und forschungsstrategischer Arbeit bewusst, dass eine objektive Forschung oft nur ein Bemühen und das Scheitern vorprogrammiert ist. Wichtig ist vielmehr, dass jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler die Pflicht hat, die Interessen, die hinter einem Forschungsprojekt stehen, transparent zu machen. Und auch deutlich zu machen, an welchen ethischen und gesellschaftlichen Werthaltungen sich Auftraggeber und Forscherinnen orientieren. Und zweitens bin ich als Wissenschaftler schon fast eine Ewigkeit mit dem Bestreben konfrontiert, interdisziplinär zu forschen. Die Unbeholfenheit, mit der dieser Anspruch umgesetzt wird – durch Wissenschaftler, Universitäten, Geldgeberinnen und Förderstrukturen –, zeigt, wie stark die disziplinären Grenzen noch nachwirken. Der liechtensteinische Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, schrieb am 3. August 2017 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ): „Die Forschungsgegenstände in diesen Bereichen (gemeint ist die synthetische Biologie; Anm. des Autors) – zugleich prospektive Anwendungsobjekte – sind in der Regel nicht mehr allein durch ihre natürlichen – seien sie physikalisch, chemisch oder biologisch – oder technischen Seiten bestimmt. Sie sind mehrfach hybride Gegenstände geworden, in denen sich Aspekte sowohl von Natur wie auch von Kultur untrennbar miteinander verbinden und sich auch nur verantwortlich handhaben lassen, wenn diese Verbindung nicht ausgeklammert wird.“ Ob wohl deshalb so viel Faszination von der biologischdynamischen Landwirtschaft ausgeht, weil sie gerade das zu tun versucht?

Den Vorwurf, die Forschung sei gekauft, den viele kritische Nichtregierungsorganisationen und Biobauern vortragen, siedle ich übrigens eher bei den Verschwörungstheorien an, obwohl die Abhängigkeit der universitären Lehrstühle von agrarindustriellen Unternehmen tatsächlich zugenommen hat. Wallace E. Huffman, Professor für Agrarökonomie an der Iowa State University, kritisierte bereits 1999 – zu Recht – den Rückgang bzw. die Stagnation des Anteils der öffentlichen Finanzierung an der Agrarforschung seit 1980. Vor allem im Vereinigten Königreich, in den USA, in den Niederlanden und in Frankreich – alles Titanen der weltweiten Agrarforschung – ermunterten die Regierungen Universitäten und Forschungsanstalten, Drittmittel einzuwerben, um Geld zu sparen. In England verdreifachte sich der Anteil von Drittmitteln in der Agrarforschung von 1987 bis 1993 von 5,5 Prozent auf 15 Prozent – ein Ergebnis des Kahlschlags durch die Regierung von Margaret Thatcher. Auch in den USA stieg der Anteil von Drittmitteln in der Agrarforschung deutlich an – im Zeitraum zwischen 1960 und 1996 auf 15 Prozent. Diese Drittmittel stammen von der Agrarindustrie und von landwirtschaftlichen Verbänden, bei denen jeweils ein wirtschaftliches Interesse ausgemacht werden kann. Zu einem noch größeren Teil handelt es sich dabei aber um im Wettbewerb eingeworbene öffentliche Mittel, etwa von Umweltministerien oder aus transnationalen Quellen wie den europäischen Forschungsrahmenprogrammen.

Reichen diese immer noch bescheidenen Anteile privater Forschungsgelder schon aus, um die Agrarforschung unter einen Generalverdacht der Befangenheit zu stellen? Der Journalist Danny Hakim berichtete in der New York Times in einem Artikel vom 31. Dezember 2016 (Scientists Loved and Loathed by an Agrochemical Giant) vom Schicksal zweier amerikanischer Wissenschaftler und einer Schweizer Wissenschaftlerin, die im Zusammenhang mit Arbeiten zur Bienengefährdung durch Neonicotinoide (ökonomisch wichtige moderne Insektizide) und zu Nebenwirkungen von genmodifiziertem Bt-Mais (ihm wird ein Gen eines Bodenbakteriums eingesetzt, das einen speziellen natürlichen Wirkstoff produziert) auf Nützlinge mit den Interessen der Schweizer Firma Syngenta in Konflikt gerieten.

Sind solche Erfahrungen symptomatisch für den Zustand der Agrarforschung oder eher Einzelfälle, die potenzielle Gefahren aufzeigen, wenn die Agrarforschung zunehmend ihren Charakter als gesamtgesellschaftlich bedeutsame Unternehmung verliert und Wissen sowie Methoden privatisiert werden? Dies auszudiskutieren wird wohl ein wichtiges Zukunftsthema sein. Schon jetzt gibt es zahlreiche Bemühungen, die einer solchen Entwicklung in der Agrarforschung entgegensteuern. So hat etwa die Europäische Kommission mit dem im Jahr 2014 gestarteten Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 die Anforderungen an die Transparenz von Forschungsergebnissen massiv erhöht. Die Forscherinnen und Forscher sind verpflichtet, auch die Rohdaten ihrer Tätigkeiten in geeigneten Datenbanken vollständig öffentlich zugänglich zu machen. Damit sichert die EU das Prinzip des offenen elektronischen Zugangs (Open Access) zu wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, was gleichzeitig eine bessere Kontinuität in der Forschung ermöglicht, da andere Forschungsgruppen mit diesen Rohdaten neue, weiterführende Forschungsprojekte entwickeln können.

Ich bin deshalb nicht kulturpessimistisch und möchte auch nicht in den Kanon der Katastrophen einstimmen. Wir leben ohne Zweifel, das zeigen unzählige Entwicklungen, in der besten aller Zeiten. So publizierte ein Team um Vasilis Kontis vom Imperial College London eine demografische Untersuchung in 37 Industriestaaten, der zufolge im Jahr 2030 eine Mehrheit der Bevölkerung das Alter von 90 Jahren erreichen wird. Als Bub murmelte ich mehrmals täglich „Gelobt sei Jesus Christus“, wenn ich am massiven Steinkreuz im Dorf vorbeiging. Menschen über 70 waren damals grau, gebückt und hatten Gebrechen. Heute überholen einen Rentnerinnen und Rentner im Jogginganzug oder rasen auf dem E-Bike vorbei. Berufspessimisten hingegen erstarren vor Zukunftsangst angesichts von Allergien, degenerierten Lebensmitteln und Giften. Und neuerdings auch angesichts von Pandemien. Nein, es geht uns gut und wir sind fit, noch ausstehende Probleme zu lösen.

Dennoch bin ich betroffen und angetrieben von der schreienden Ungerechtigkeit, dass Menschen wegen ihrer Armut immer noch hungern oder so einseitig ernährt sind, dass es sie in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung benachteiligt. Und das trotz intensivster landwirtschaftlicher Produktion, die auf die Umwelt und den Verbrauch beschränkter Ressourcen wenig Rücksicht nimmt. Auch die Folgen billiger Lebensmittel für wohlhabende Gesellschaften und Gesellschaftsschichten sind bekannt: Lebensmittel werden dort zu Wegwerfartikeln und die Fettleibigkeit wird zu einem ernsthaften sozialen und medizinischen Problem.

Zum Glück bauen Tausende von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in Ländern und Regionen mit niedrigen Einkommen funktionierende Alternativen auf. Dass es etwa in Afrika 500.000 zertifizierte Biobetriebe gibt, ist der Arbeit von NGOs und Bioorganisationen zu verdanken. „Ohne das Engagement dieser Freunde und ohne Exportmöglichkeiten nach Europa gäbe es bei uns keinen einzigen Biobauern“, sagte mir Mwatima Juma, die Präsidentin des Tanzania Organic Agriculture Movement (TOAM), nach einem gemeinsamen Vortrag im Jahr 2013 für die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. In diesem Satz schwang einerseits die Botschaft mit, dass selbst mit kleinen Initiativen, hinter denen viel persönliches Engagement steckt, einiges erreicht werden kann; oft mehr als mit Projekten der Bill & Melinda Gates Foundation, die jedes Jahr Hunderte Millionen US-Dollar in Afrika investiert. Andererseits war auch eine Kritik herauszuhören, die drei Jahre später, bei der BIOFACH in Nürnberg, der weltweit größten Messe für ökologische Konsumgüter, von Auma Obama, Germanistin und Leiterin der Hilfsorganisation CARE International in Kenia sowie Schwester des ehemaligen US-Präsidenten, explizit formuliert wurde: Der Westen solle sich hüten, Wertvorstellungen, die selbst in Europa oder Amerika nur in einer Nische gelten, in die afrikanischen Gesellschaften hineinzuprojizieren – um dabei auch noch eigennützig vom Export exotischer Lebensmittel in Bioqualität zu profitieren.

Eine vollkommen andere Meinung hörte ich in Brasilien. Im Juni 2012 leitete ich eine Delegation der IFOAM und des FiBL bei der UNO-Konferenz Rio+20, die der nachhaltigen Entwicklung gewidmet war und 20 Jahre nach der ersten Konferenz zum Thema Umwelt und Entwicklung ebenfalls in Rio de Janeiro stattfand. Dort trafen wir offizielle Delegierte der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, sowie verschiedene Botschafter bei einer Nebenveranstaltung an der Pontifícia Universidade Católica do Rio de Janeiro. Hier wäre ich gern Student gewesen! In Hörsälen, Cafeterias und an Arbeitsplätzen mitten in üppigster tropischer Vegetation, zwischen hohem Bambus und riesigen Palmen. Maria Fernanda Fonseca, die seit vielen Jahren am brasilianischen Forschungsinstitut PESAGRO arbeitete, räumte bei unserer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Vorurteil auf, dass der Biolandbau nur etwas für den Export nach Europa, Japan oder in die USA sei. Sie stellte vier brasilianische Initiativen vor, die auf dem Prinzip der eigenverantwortlichen Kontrolle basierten und Bioprodukte für die lokalen Märkte herstellten. Das in Brasilien entwickelte Modell des Participatory Guarantee System (PGS) beruht sehr stark auf jenem Prinzip, das in der Wissenschaft bereits verbreitet ist: nämlich auf jenem der Qualitätssicherung durch Peers, also durch die eigene Berufsgruppe. „Warum sollten Bauern nicht beurteilen können, ob ein Kollege biologisch anbaut oder nicht? Warum braucht es externe Kontrolleure, die oft aus Europa oder den USA kommen?“, fragte Fonseca. Die vier brasilianischen Initiativen hatten damals schon 10.000 Mitglieder und waren Teil einer stark wachsenden Bewegung.