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Barbara Nothegger

Sieben Stock Dorf

Barbara Nothegger

Sieben Stock Dorf

Wohnexperimente für eine bessere Zukunft

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LEBEN AUF SICHT die aktuelle Buchreihe für neue nachhaltige Wege

Die großen Herausforderungen – Klimawandel, Migrationsbewegungen, eine wachsende Weltbevölkerung bei endlichen Ressourcen – sind allen bekannt. Doch wie wir ihnen begegnen können, wollen und sollen, das bleibt umstritten. Die Reihe »Leben auf Sicht« ist der Missing Link zwischen Fachwelt und wachem Geist. Engagierte Vordenkerinnen und Geistesakrobaten, aber auch Aktivistinnen und Anpacker stellen Fragen, zeigen mögliche Antworten und liefern Ansätze für ein besseres Leben. Federführend für die Reihe ist Thomas Weber, der als Herausgeber von »Biorama« und »The Gap« als Spezialist für neue nachhaltige Wege gilt.

fb.com/LebenaufSicht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2017 Residenz Verlag GmbH

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: sensomatic

ISBN ePub:

ISBN Printausgabe:

Für Theodor und Julius

Inhalt

1.Zu Hause

2.Ab ins Kollektiv

Das Kollektiv hat Konjunktur

Vom Volkspalast zur Hausbesetzung

Neuland

3.Achtung, Baustelle!

Anklopfen

Zweifeln

Träumen

Reden

Planen

Bauen

Zahlen

Zittern

4.Sieben Stock Dorf

Wir Hausbesitzer

Mach du mal

Nachbarin im Nachthemd

Hände hoch, Oma!

Halt die Klappe

5.Nachhaltig wohnen

Teilen Sie auch Ihren Mann?

Wie kuschelig darf es sein?

Kollektivhaus für alle

Danke!

Das Wohnprojekt Wien

Weiterbauen

Quellen

1. Zu Hause

»Welche Uni besuchen? Welche Karriere verfolgen? Wen heiraten? Alles wichtige Fragen – aber keine so bedeutend wie die wichtigste Entscheidung, die du jemals zu treffen hast: wo du leben sollst.«

RICHARD FLORIDA, »WHOS YOUR CITY?« (2008)

Es gibt Momente im Leben, in denen die großen Fragen auftauchen. Jahrelang leben wir dahin, ohne uns näher Gedanken über das Wie, Wo und Warum zu machen. Wir richten uns ein, arrangieren uns mit den Gegebenheiten. Die Erfüllung der Träume, die wir irgendwann mal vom Leben hatten, verschieben wir auf später. Und dann, ganz unvorbereitet, passiert es: Das Leben klopft plötzlich an die Tür und will wissen, wie es weitergehen soll.

Als ich erfahre, dass ich schwanger bin, fühle ich mich überglücklich. Ja, ich bekomme ein Baby! Mein Freund Clemens und ich werden Eltern! Doch es dauert nicht lange, und es schieben sich diese großen Fragen zwischen mich und mein Entzücken. Zunächst ganz nebenbei, dann immer drängender. Und nach einiger Zeit bin ich so weit, dass ich mein ganzes Leben hinterfrage.

Es fängt damit an, dass ich den Platz, an dem Clemens und ich leben, nach und nach mit anderen Augen betrachte. Unsere Altbauwohnung war beim Einzug, nach dem Studienende, nur als Übergangsbleibe gedacht. Nun leben wir schon sechs Jahre dort. Sie ist alt, aber charmant. Ich mag die knarrenden Fischgrätböden und die Holzrahmen der Fenster, die seit der Errichtung des Hauses vor hundert Jahren noch nie gewechselt wurden. Die Miete ist günstig, und das ist gut so – denn für mich ist diese Altbauwohnung nicht mehr als ein Ort, an dem ich wohne. Im Alltag bedeutet das: schlafen, essen, duschen, entspannen. Für mehr ist wegen meines Jobs bei einem Wirtschaftsmagazin gar nicht Zeit. Darum hat meine Wohnung auch keine so große Bedeutung für mich.

Doch für unser Kind wird sie möglicherweise einen anderen Stellenwert haben. Es ist der Ort, von dem aus es die Welt entdeckt, Freunde findet, groß wird. Es ist der Ort, der es vielleicht ein Leben lang prägen wird, weil es das Zuhause seiner Kindheit ist. Vielleicht bestimmt dieser Ort sogar darüber, welcher Mensch aus unserem Kind wird. Ich frage mich: Wie wollen wir mit unserem Kind wohnen? Wie soll es aufwachsen?

Ich bemerke, wie Eigenschaften an der Wohnung, die ich früher erduldet habe, mich nun wirklich stören: Unsere Altbauwohnung liegt im ersten Stock, nordseitig, und ist deshalb ein finsterer Ort. Oft zieht ein Hauch von Calamari fritti und Knoblauch von der darunterliegenden Pizzeria über den Hinterhof in unsere Küche. Ich hasse diesen Geruch, und so bleiben unsere Fenster oft geschlossen. Vor allem im Juli und August ist das deprimierend – dann, wenn wir an einem lauen Abend in der Küche sitzen, Wein trinken, Zigaretten rauchen, und dazu gerne eine Brise Sommer durchs Fenster spüren würden. Dann fühle ich mich eingeschlossen und bekomme Sehnsucht nach den Sommerabenden meiner Kindheit: Mit meinen Schwestern zur Kirche hinüberradeln, barfuß auf den warmen Steinstiegen sitzen, die kreischenden Vögel und den rot gefärbten Himmel beobachten – das war unser Ritual vor dem Zubettgehen. Wird sich unser Kind in der Wohnung eingesperrt fühlen?

Die Lage unserer Wohnung am Radetzkyplatz nahe der Wiener Innenstadt fand ich immer toll: Nette Cafés und Bars sind vor der Haustüre, Theater und Kino nicht weit. Doch mit dem Gedanken an unser Kind sehe ich die dichte Urbanität auf einmal als Bedrohung. Ich beobachte das vierjährige Nachbarskind Max, wie es quietschend vor Freude mit seinem Laufrad vor der Haustüre losstartet und nach ein paar Metern von seiner Mutter hinterhergeschrien bekommt: »Stopp, nicht so weit, da kommt die Straßenbahn!« Was nützen mir Plätze zum Ausgehen, wenn Kinder hier keinen Schritt alleine machen können? Einfach so mal alleine zur Kirche hinüberradeln? Das kann ein Kind in unserem Viertel nicht. Zu gefährlich. Der freie Bewegungsraum endet an den eigenen vier Wänden.

Seit ich schwanger bin, fallen mir außerdem die vielen schlauen Sprüche über Kinder auf. Eigentlich will ich sie gar nicht kennen. Aber ich schaue trotzdem hin. Eine dieser Weisheiten lese ich in Büchern und Zeitschriften besonders häufig. Sie stammt aus Afrika und lautet: »Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.« Dieser Rat an moderne Familien scheint mir total überflüssig – weil es praktisch unmöglich ist, ihn umzusetzen. Die meisten Menschen – so wie ich auch – leben in irgendeiner Stadt, weit weg von ihrer Ursprungsfamilie. Oft mit ihrem Partner, eventuell mit Kindern, vielleicht mit Freunden in der Nähe. Aber darüber hinaus sind da nicht mehr viele Leute – weit und breit kein Dorf in Sicht!

Sosehr ich mich über diesen Spruch empören könnte, muss ich zugeben, dass ich gerne mehr Menschen um mich hätte. Wenn ich mich nicht verabredet habe, fühle ich mich manchmal ziemlich einsam. Niemand klopft und fragt, wie es geht. Es gibt in unserem Haus keine zufälligen Begegnungen, keine ungezwungenen Gespräche zwischendurch oder eine spontane Einladung zum Essen. Außer Harri, einem aus Rumänien zugewanderten Elektriker, kenne ich keinen anderen Nachbarn näher. Und selbst bei Harri, der mir zwar immer wieder selbst gefangenen Fisch aus der Donau schenkt, habe ich Hemmungen, einfach so für einen Tratsch zu klingeln. Wie einsam werden wir sein, das Baby und wir? Wird mein Kind ein Dorf haben?

Ich muss immer wieder daran denken, wie es war, als ich klein war. Ich hatte eine schöne Kindheit, obwohl ich an einem Ort aufgewachsen bin, der genau genommen kein guter Platz für Kinder ist: Mein Zuhause war ein mächtiger Dreikanthof mit Gasthaus, Fleischerei und Schlachthalle in einem Dorf in Oberösterreich. Die Geschäfte liefen gut, was zur Folge hatte, dass unser Leben von diesem Geschäft bestimmt wurde. Meine beiden Schwestern und ich wurden nicht in unserer Wohnung im ersten Stock groß, sondern zwischen Gaststube und Laden. Meine Eltern hatten kaum Zeit für uns. Schon das Frühstück habe ich nicht mit Mama und Papa eingenommen, sondern mit den Fleischergesellen am großen Tisch in der Wirtshausküche. Warum war ich trotzdem ein glückliches Kind?

Ich habe unsagbar viel Freiheit gespürt. Mein Bewegungsradius erstreckte sich weit über die Wohnungstüre hinaus. Im ganzen Haus warteten auf meine Schwestern und mich Tausende Abenteuer: Wir verschwanden am Dachboden, wo wir Mutproben inszenierten und uns durch alte Kisten wühlten. Wir veranstalteten Wettbewerbe, wer beim Servieren des Schnapses für die Stammgäste am wenigsten verschüttete. Und wir nahmen kleine Arbeitsaufträge in der Fleischerei an, etwa Botendienste zwischen Gasthaus und Schlachthalle. Trotz dieser Freiheit habe ich mich geborgen und sicher gefühlt, weil es in und um unser Haus Menschen gab, die auf mich achtgaben und mich liebten. Unsere Großmutter, Tante Rosi und Tante Herta sorgten sich um uns. Herta ist die Schwester meiner Mutter. Sie hatte eine Wohnung im Obergeschoß und verwickelte uns ständig in Diskussionen über Frauenrechte. Einmal schenkte sie mir Sticker mit der Aufschrift »Frauenpower macht Männer sauer«, die ich später auf die Verkaufsvitrinen in der Fleischerei klebte – Mitte der 1980er-Jahre empörten sich die Kunden noch über solche Sprüche.

Ich habe all diese Orte geliebt, und all diese Menschen. Sogar für die Metzgergesellen habe ich gewisse Sympathien gehegt, weil ich fasziniert davon war, wie sie es schafften, zwei dicke Wurstsemmeln zu verschlingen, während ich an einem halben Marmeladenbrot knabberte. Ich glaube, es lag nicht unmittelbar an dem Ort, an dem ich aufwuchs. Vielmehr machten mich die Gefühle glücklich, die dieser Ort erzeugte: Zu Hause ist ein Gefühl.

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»Ich möchte umziehen«, sage ich zu Clemens, als wir an einem Sonntagnachmittag auf der Sophienalpe im Wienerwald spazieren gehen. Er sieht mich überrascht an. Die Überlegungen der vergangenen Wochen haben so weit geführt, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass unser Baby, Clemens und ich in unserer Altbauwohnung gut leben werden. Mit meinem Bauch ist auch mein Wunsch nach einem neuen Zuhause gewachsen. Mir ist klar geworden, was ich mir für unsere Zukunft wünsche: Ich möchte, dass mein Kind Platz zum Aufwachsen, zum Ausprobieren und Kräftemessen hat. Ich sehne mich danach, dass wir als Familie mehr Beziehungen zu unserer nahen Umgebung haben. Ich will nicht einsam sein und stelle mir vor, dass unser Leben mit netten Nachbarn unkomplizierter wird. Und ich träume von einem Garten, wo wir den Wechsel der Jahreszeiten spüren und Gemüse anbauen. In diesem Moment versinkt mein Fuß im matschigen Frühlingsboden. »Schlamm und Erde, auch das braucht der Mensch«, sage ich. Clemens grinst.

Ich weiß, dass Clemens der Gedanke gefällt, im Grünen zu wohnen. Für ihn ist das Leben in der Stadt eine einzige Überwindung. Ginge es nach ihm, würde er in einer Jurte mitten im Wald hausen. Wenn er länger keine Bäume und Wiesen um sich hat, hat er schlechte Laune und schimpft ununterbrochen, er müsse sich »endlich wieder erden«. Clemens nimmt seinen Kalender aus der Tasche: »Dreißig Wochen, also circa sieben Monate, haben wir noch bis zum Geburtstermin. Wenn wir einen Monat vor der Geburt eine neue Wohnung haben wollen, bleiben uns sechs Monate. Das geht sich nie aus!« »Doch, ganz bestimmt«, antworte ich. Eine Weile geht er schweigend neben mir. »Okay, lass es uns versuchen«, sagt er schließlich und gibt mir einen Kuss. Unser Vorhaben ist besiegelt: Wir machen uns auf die Suche nach einer neuen Wohnung – einem richtigen Zuhause für uns und unser Kind.

Wir fangen dort an, wo wir vermuten, dass sich unser Wunsch nach Natur, Freiraum und Nachbarschaft erfüllt: am Land. Genauer gesagt in Clemens’ Heimatort Windhaag im oberösterreichischen Mühlviertel. Obwohl der Ort nur 1500 Einwohner hat, konnten sich hier eine Metzgerei, ein kleiner Lebensmittelladen und die Volksschule halten. Es gibt eine Musikkapelle, die Freiwillige Feuerwehr und zwei Dutzend andere Vereine. Windhaag ist bei jungen Familien sehr beliebt geworden, weil die nächste größere Stadt – Linz – nur vierzig Kilometer entfernt liegt und die Grundstückspreise vergleichsweise günstig sind. Wenn wir nach Windhaag kommen, ist unser erster Weg jener hinauf zu unserem Lieblingsplatz »Vogeltenn«, was so viel wie »Tränke der Vögel« heißt. Es ist ein großer Südhang gleich hinterm Haus von Clemens’ Eltern, wo dahinter der Wald beginnt. Von hier haben wir einen spektakulären Blick auf die Alpen. Wir setzen uns auf die Bank vor der kleinen Kapelle. Der Wind streicht durch die knospenden Bäume, und unter dem braunen Laub schimmern Frühlingsblumen. Die nördlichen Bergketten breiten sich vor unseren Füßen aus – wir haben das Gefühl, zwischen Himmel und Erde zu schweben. »Es ist so schön hier«, sagt Clemens. »Am liebsten würde ich hier wohnen, in einem Haus zwischen Bergkulisse und Wald.« Ich stimme ihm zu. Was braucht man mehr zum Leben?

Für gut 75 Prozent der Österreicher (und siebzig Prozent aller Deutschen) ist die Traumimmobilie ein eigenes Haus mit Garten. Ein solches Haus scheint große Versprechen einlösen zu können: Freiraum, Grün, Ruhe und Gestaltungsmöglichkeiten. Und weil Einfamilienhäuser im städtischen Raum unerschwinglich sind, hat so etwas wie ein langsames und leises »Comeback des Dorfes« eingesetzt, wie es das Zukunftsinstitut, das sich mit Trend- und Zukunftsforschung beschäftigt, 2015 in einer Studie formuliert hat. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zogen 2014 zum ersten Mal seit zwanzig Jahren mehr Deutsche aus Hamburg, Berlin und den fünf anderen größten Städten weg, als neu hinzukamen. In Österreich wünschten sich 2015 gut 53 Prozent der Bevölkerung, am Land zu leben. 2014 waren es 45 Prozent, fand das Maklerunternehmen sReal in einer Umfrage heraus. Diese Entwicklungen sind erstaunlich, sind sie doch so etwas wie der Anti-Trend zum Megatrend Urbanisierung.

Dabei hatte das Dorf immer etwas Ambivalentes: Einerseits verspricht es Heimeligkeit und Behaglichkeit. Die Dorfbewohner kennen sich – niemand muss sich erklären. Beim Einkaufen wird man gefragt: »Wie geht’s dir?«, und an der Schank heißt es: »Denselben Kaffee wie immer?« Beziehungen sind verbindlicher – wie ein Gelöbnis, sich um den anderen zu kümmern. Und es existiert ein feines Netz an Hilfen; man gibt und nimmt. Andererseits schlägt diese Heimeligkeit schnell in Enge, Eintönigkeit, Neid und soziale Kontrolle um: Setzt man den Fuß aus dem Laden, wird drinnen schon getuschelt und getratscht. Aus dieser Muffigkeit flüchtete man gerne in die Anonymität der Großstadt. Die Stadt galt lange als Kontrapunkt zum Dorf – weltoffen, modern, intellektuell und divers. Seit dem Mittelalter gibt es den Spruch »Stadtluft macht frei«, und schon Marx und Engels beklagten die »Idiotie des Landlebens«. Diese Trennlinie scheint heute aufgelöst: Urbane Qualitäten finden sich genauso am Land, und dank Internet lässt sich der Anschluss zur Welt in jede noch so abgelegene Hütte holen. Das Land konnte auf diese Weise zu einem neuen Sehnsuchtsort werden, wo sich die Vorteile beider Sphären scheinbar verbinden lassen.

Bei unserem Besuch am Vogeltenn ist diesmal etwas anders. Es dauert eine Weile, bis wir merken, was es ist: Die Bauparzellen für Einfamilienhäuser am Nachbarhang rücken seit ein paar Jahren immer näher an unseren Lieblingsplatz heran. Zum ersten Mal sehen wir von unserer Bank aus direkt auf solch eine frische Parzelle. Ein Volksschulkamerad von Clemens hat das Grundstück kürzlich gekauft und wird hier bald seinen Haustraum verwirklichen. Die Parzelle ist mit Schnüren abgesteckt, der Bagger für den Aushub bereitgestellt. In den nächsten Jahren wird der ganze Hügel voll sein mit Einfamilienhäusern. Dann reiht sich ein Haus an das andere – alle mit Garage und Trampolin für die Kinder im Garten. Die Gemeinde wird neue Straßen gebaut und die Erde für neue Rohre umgegraben haben. Unser Vogeltenn wird nicht mehr das sein, was er immer für uns war. Diese Zukunftsaussicht bedrückt uns. Wäre es weniger schlimm, wenn wir selbst es wären, die hier ein Haus bauen?

Heute erscheint es als Grundbedürfnis jedes Menschen, ein Haus zu besitzen. Dabei existierten Einfamilienhäuser bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts praktisch nicht. Bürgermeister und Gemeinderäte kommen dem modernen Wunsch gerne nach und widmen Flächen großzügig in Bauland um. Das Landleben hat noch dazu das Image, besonders naturfreundlich zu sein: Jeder hat einen Garten, und zum nächsten Bauernhof ist es nicht weit.

Tatsächlich werden jedoch die ökologischen Kosten ignoriert: In Österreich fressen neue Siedlungen und Verkehrsflächen pro Tag rund 22 Hektar Land – das entspricht einer Fläche von mehr als dreißig Fußballfeldern. In Deutschland sind es 77 Hektar pro Tag. Zwanzig Prozent dieser Fläche werden versiegelt, was bedeutet, dass der Boden durch Beton und Asphalt oder durch die Bebauung mit Gebäuden luft- und wasserdicht abgedeckt wird. Das hat direkte Auswirkungen auf den Wasserhaushalt: Regenwasser kann weniger gut versickern, und bei starken Regenfällen kommt es schneller zu Überschwemmungen. Dadurch werden die landwirtschaftlichen Flächen zur Produktion von Gemüse und Getreide weniger. Kürzlich machte sogar die Interessenvertretung AgrarMarkt Austria in einer Kampagne auf dieses Phänomen aufmerksam. »Wenn Österreich weiter so zubetoniert wird, gibt es keine heimischen Lebensmittel mehr. Jeden Tag wird ein Bauernhof zubetoniert«, war da zu lesen. Ginge die Entwicklung in diesem Tempo weiter, wäre Österreich in zweihundert Jahren komplett verbaut. Dazu kommen die Mehrkosten für Infrastruktur und Energie, die frei stehende Gebäude abseits dicht verbauter Räume benötigen. Und was uns besonders nachdenklich stimmt: Am Land ist das Hauptfortbewegungsmittel das Auto. Hier holt man das Biogemüse mit dem SUV aus dem Supermarkt. Die täglich zurückgelegten Autokilometer sind durch nichts aufzuwiegen – auch nicht durch eine ökologische Bauweise des Eigenheims.

Clemens und ich sitzen diesmal länger als sonst auf der Bank am Vogeltenn. Wäre hier, in einem Einfamilienhaus am Land, das Leben möglich, von dem wir träumen?

Einen Teil der Antwort gibt Tarek Leitner. Der bekannte österreichische Nachrichtenmoderator schreibt in seinem Buch »Wo leben wir denn? Glückliche Orte. Und warum wir sie erschaffen sollten«, dass das Landleben nicht etwa die Vorteile von Stadt und Land vereint, sondern – ganz im Gegenteil – von beidem nur die Nachteile birgt. Er spricht von einer Illusion, die Städter vom Landleben hätten. Das Leben im Grünen sei ein glatter Selbstbetrug. Schon alleine das Pendeln zur Arbeitsstelle dauert mehrere Stunden pro Woche – Zeit, von der man fälschlicherweise annahm, sie im Liegestuhl im Garten zu verbringen. Auch der erhoffte Freiraum bleibt aus: In manchen Orten besteht der Dorfplatz aus nicht mehr als einem Kreisverkehr. Und ebenfalls skeptisch ist Leitner, ob zwischen den mit grünen Hecken dicht eingezäunten Einfamilienhäusern wirklich ein soziales Leben stattfindet.

Den zweiten Teil der Antwort geben wir uns selbst. Ein Gedanke lässt uns nämlich nicht mehr los: Ja, es wäre wundervoll, an diesem magischen Ort am Vogeltenn zu wohnen. Doch gleichzeitig wäre es sehr paradox: Wir kaufen unser Biogemüse beim Bauern am Markt, fahren viel mit dem Rad und versuchen uns in einer nachhaltigen Lebensweise. Und dann würden wir mitten ins Grüne ein Einfamilienhaus klotzen und unseren geliebten Vogeltenn damit zerstören? Das passt nicht zusammen.

Doch was ist überhaupt eine »nachhaltige« Wohnform? Gibt es so etwas wie nachhaltiges Wohnen? Allgemein bekannt ist, dass in Industrienationen Gebäude rund ein Drittel der CO2-Emissionen ausstoßen. Sie benötigen nicht nur während der Betriebsphase Energie für Heizung, Warmwasseraufbereitung und etwaige Klimaanlagen, sondern bereits in der Bauphase werden in großem Umfang fossile Brennstoffe verbraucht.

Um zu messen, wie nachhaltig Häuser sind, wird in der Immobilienwirtschaft häufig der Kriterienkatalog der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) angewendet. In die Beurteilung fließen mehr als vierzig unterschiedlich gewichtete Aspekte ein, etwa: wie viele Emissionen ein Gebäude in der Herstellung, im Betrieb und bei einem Rückbau ausstößt; wie viele Ressourcen während des gesamten Lebenszyklus verbraucht werden; welche Baustoffe verwendet und mit welchen Chemikalien und Lösemitteln sie verarbeitet wurden; wie gut die technischen Qualitäten des Gebäudes sind, zum Beispiel Schallschutz, Dämmung und Recyclingfreundlichkeit. In der Bewertung ist auch relevant, wie die Planung des Gebäudes abgelaufen ist und ob die künftigen Nutzer miteinbezogen wurden. Außerdem wird beurteilt, welche öffentlichen Mobilitätsangebote rund um das Gebäude vorhanden sind und wie flexibel ein Haus genutzt werden kann – beispielsweise ob ein Wohnhaus leicht in ein Büro umzubauen wäre. Und natürlich, wie viel und welche Fläche für das Gebäude beansprucht wird: Ein saniertes Industriegebiet beispielsweise ist für die Bewertung am besten, ein Neubau auf der grünen Wiese am schlechtesten. Die DGNB zertifiziert im Auftrag von Hauseigentümern oder öffentlichen Einrichtungen Gebäude und vergibt Gütesiegel dafür.

Insgesamt ist der Begriff »nachhaltiges Wohnen« schwer festzumachen – genau wie »Nachhaltigkeit« selbst. Im engeren Sinn bezieht er sich auf eine ökologische Bauweise, also auf alles, was die Infrastruktur des Wohnens schafft. Der Begriff lässt sich aber auch wesentlich weiter fassen: Im und um den Wohnraum findet eine ganze Reihe an Alltagsaktivitäten statt, die nachhaltigkeitsbezogen höchst relevant sind – Ernährung, Mülltrennung, Energiekonsum, Kinderbetreuung, Mobilität und auch nachbarschaftliche Kontakte fallen darunter. Wie und wo wir wohnen, beeinflusst daher diese Alltagsaktivitäten. »Ein umfassendes Verständnis von nachhaltigem Wohnen hat daher etwas mit allgemeiner nachhaltiger Alltagsgestaltung und Konsumverhalten zu tun«, sagt Michaela Leitner vom Österreichischen Institut für Nachhaltige Entwicklung.

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Zurück nach Wien. Es wäre doch gelacht, wenn wir in der österreichischen Hauptstadt keine schöne, helle Wohnung – oder sogar ein kleines Häuschen – mit Garten oder Balkon und netten Nachbarn finden. Und zumindest im Ansatz nachhaltig wohnen könnten! Ein Blick in den Kalender: Fünf Monate haben wir noch Zeit, bis unser Baby auf die Welt kommt.

Ich registriere mich bei sämtlichen Immobilienportalen im Internet, richte eine Suchmaske mit unseren Präferenzen ein und überprüfe täglich die mir vorgeschlagenen Objekte. Zunächst durchforste ich alle Angebote, die zum Kauf stehen. Bei diesen »Hammer-Zinsen«, wie der derzeit niedrige Zinssatz beworben wird, wären wir ja dumm, nicht zu kaufen. Zwischen ein und zwei Prozent verlangen Kreditinstitute momentan für ein Wohnungsdarlehen – fast geschenkt! Warum dem Vermieter Monat für Monat Geld in den Rachen stopfen, wenn man um die gleiche Summe in ein paar Jahren stolzer Immobilienbesitzer sein kann? Es erscheint uns nur logisch, unser kleines Polster an Erspartem in eine Wohnung zu investieren, die wir irgendwann unseren Kindern vererben können.

Doch schon nach ein paar Tagen begreife ich, dass ein Kauf unmöglich und in unserer Situation schlichtweg unsinnig ist. Argument Nummer eins: Eigentum bindet auf Jahrzehnte. Unsere Wohnbedürfnisse aber ändern sich laufend. »Der flexible Mensch«, wie der in London und New York lehrende Soziologe Richard Sennett unsere Generation charakterisiert, ist auch beim Wohnen veränderlich: Wir arbeiten flexibler (mehr Jobwechsel, immer öfter Homeoffice), unsere Beziehungen sind flexibler (mehr Scheidungen, Patchwork- Familien, viele Singles), und wir werden flexibel älter (Senioren-WGs, neue Pflegekonzepte). Und dann sollen wir uns zwanzig Jahre und mehr – denn so lange laufen die meisten Immobilienkredite – auf eine bestimmte Wohnung oder ein Haus festlegen? Und wenn wir die Immobilie endlich abbezahlt haben, sind die Kinder schon aus dem Haus – und die Wohnung ist erst recht zu groß.

Argument Nummer zwei: die absurd hohen Preise. Immobilien gelten seit der globalen Finanzkrise als eine der wenigen sicheren Anlageformen mit stabilen Renditen. Das – zusammen mit den niedrigen Zinsen – heizte die Nachfrage an. In Wien und anderen europäischen Großstädten stiegen die Immobilienpreise in den vergangenen Jahren um teilweise mehr als fünfzig Prozent. Der durchschnittliche Kaufpreis lag in Wien laut ImmobilienScout24 im Jahr 2016 bei rund 4000 Euro pro Quadratmeter – die Innenstadt mit ihren Luxusapartments ist in dieser Berechnung sogar ausgenommen. Politiker und andere Beobachter warnen bereits vor einer Überhitzung des Marktes. Auch wenn wir es also schaffen könnten, unser Traumhaus irgendwie zu finanzieren: Wir würden die nächsten Jahrzehnte hart dafür arbeiten müssen. Ein Jobverlust, der angesichts der Umwälzungen in vielen Branchen gar nicht so abwegig ist, oder eine Auszeit wären eine finanzielle Katastrophe. Unsere Wohnung wäre nicht unser Zuhause, sondern wir wären der Knecht unseres Heims.

Dann doch lieber Miete. Ich ändere die Suchmaske im Internet, und los geht’s. In den nächsten beiden Monaten besichtigen Clemens und ich: eine Altbauwohnung gegenüber unserem Lieblingspark, dem Augarten; eine Altbauwohnung nicht weit vom Grünen Prater; eine Wohnung aus den 1960er-Jahren am Rande des Wienerwalds; ein Häuschen mit kleinem Garten am Wilhelminenberg; eine Dachgeschoßwohnung mit Terrasse beim Augarten; eine Wohnung in einem alten Kloster mit großem, begrüntem Innenhof; eine Altbauwohnung am Karmelitermarkt; eine Genossenschaftswohnung mit zwei kleinen Balkonen; eine Gartenwohnung im Nobelbezirk Döbling. Unterm Strich sind das neun Immobilien – macht neun Mal Termin vereinbaren, neun Mal hinfahren und alles durchüberlegen, sich hineinfühlen: Passt die Lage? Ist die Wohnung groß genug? Ist die Zimmeranzahl okay? Können wir uns die Miete leisten? Was müssten wir renovieren? Welche Leute wohnen im Haus? Kommt Sonne zum Fenster herein? Wie laut hören wir den Verkehr?

All die Objekte, die ich mir nur am Papier und auf Fotos angesehen habe oder die bei der Kontaktaufnahme mit dem Makler schon vergeben waren, sind da noch gar nicht mitgezählt. Die Wohnungssuche gleicht einem Nebenjob – einem ziemlich erfolglosen Nebenjob. Denn immer passt irgendetwas nicht. Nur eine einzige Wohnung hätte uns wirklich gefallen, und die haben wir nicht bekommen: Die Eigentümerin meinte mit Blick auf meinen Babybauch, dass es im Haus sehr ruhig zugehe …

Nach den ersten Besichtigungen bin ich auch erstaunt, wie hoch die Mieten sind. Eigentlich gilt Wien als Paradies für Mieter, weil der soziale Wohnbau im »Roten Wien« seit hundert Jahren hochgehalten wird. Internationale Delegationen von Wohnbaugesellschaften, Stadtverwaltungen und Architekten pilgern in Scharen hierher, um das »Wiener Modell« zu studieren. Mehr als 650 Millionen Euro an Wohnbauförderungen schüttet der Wohnbaustadtrat jährlich aus. Und die Stadt dominiert den Wohnungsmarkt: Rund 45 Prozent der Mietobjekte sind geförderte Wohnungen oder Gemeindewohnungen. Die Kommune hat hier – im Gegensatz zu vielen deutschen Metropolen – auf einen Ausverkauf ihrer Wohnungsbestände verzichtet, und sie ist heute mit rund 220 000 Wohnungen einer der größten Immobilienbesitzer Europas.

Trotzdem steigen in Wien die Mieten, vor allem bei frei finanzierten Wohnungen, weil Wien so schnell wie keine andere Stadt in Europa wächst und die Nachfrage hoch ist: Bis 2030 wird die Einwohnerzahl von derzeit 1,8 Millionen Menschen auf mehr als zwei Millionen zulegen. Experten rechnen vor, dass dabei mehr als 10 000 Wohnungen pro Jahr im ganzen Land fehlen. In Deutschland müssten pro Jahr rund 150 000 Wohnungen mehr gebaut werden, um die Wohnungsknappheit in den Griff zu bekommen. Und überall steigen die Mieten, weil Immobilienbesitzer die hohen Kaufpreise ihrer erworbenen Objekte irgendwie wieder hereinwirtschaften müssen. Laut einer aktuellen Studie der Deutschen Bundesbank haben die Wohnungsmieten zwischen 2010 und 2014 in den sieben wichtigsten Städten um fast 25 Prozent zugelegt – trotz Mietpreisbremse.

Clemens hat bei solchen Tätigkeiten wie Wohnungssuche keinen besonders langen Atem. Ihn nerven die Makler; von Termin zu Termin wird er gereizter, und schließlich, bei der Besichtigung eines kleinen Häuschens mit Garten im westlichen Wiener Bezirk Penzing, platzt ihm der Kragen. Die Eigentümerin, von Beruf Schamanin, will ihr geerbtes Haus wegen eines längeren Südamerika-Aufenthalts für mehrere Jahre vermieten. Der Mietzins für rund neunzig Quadratmeter Wohnfläche liegt gerade noch in unserem Budgetrahmen. Der Garten ist verwildert – die Schamanin meint, er sei »natürlich«. Innen ist es zwar eng, aber gemütlich. Der erste Stock ist nur mit einer kleinen Leiter zu erreichen – mühsam, aber es passt zum kuscheligen Häuschen.

»Die Möbel möchte ich hierlassen«, sagt die Schamanin. Wir nicken. »Ist das eine Couch?«, frage ich und zeige auf ein Möbelstück, das mit einer großen weißen Decke verhüllt ist. Sie bejaht. »Ich habe vor Kurzem unabsichtlich einen größeren Menstruationsfleck auf das Sofa gemacht, das müsstet ihr dann einfach reinigen.«

Zwei Minuten später sind wir weg. »Die hat wohl einen Knall!«, echauffiert sich Clemens. »Tausend Euro Miete für Möbel mit Menstruationsflecken? Ich lass’ mich doch nicht verarschen!« »Das Haus war doch ganz nett«, versuche ich einzuwenden. Doch er hat genug: »Die Leute glauben, sie könnten jeden Dreck zu hohen Preisen vermieten. Nicht mit mir! Mir ist das Umziehen vergangen – ich bleibe in unserer Altbauwohnung.«

2. Ab ins Kollektiv

»Cooperation beherrscht alle Welt. Die Gemeinschaft beherrscht das Einzelwesen.«

HANNES MEYER, SCHWEIZER ARCHITEKT (1889–1954)

In der Nacht nagen die Gedanken über unsere Wohnungssuche an mir. Ich werde aus dem Schlaf gerissen, und es schießt mir durch den Kopf: Wie wird es bloß mit uns weitergehen? In vier Monaten kommt unser Sohn zur Welt, und wir haben noch nichts Passendes gefunden. Mit meinem dicken Bauch rolle ich mich dann von einer Seite zur anderen. Die Anfangseuphorie hat in Ernüchterung umgeschlagen. Ich habe es mir wesentlich einfacher vorgestellt, bis zum Geburtstermin eine neue Wohnung zu finden. Davon sind wir immer noch meilenweit entfernt. Dabei sind unsere Ansprüche ja nicht einmal besonders hoch: Eine halbwegs angenehme Wohnung, Freiraum, Grün, nette Nachbarn und eine bezahlbare Miete sind doch kein Luxus, sondern die Voraussetzung, um gut leben zu können. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass unser Baby in einem schönen neuen Zuhause ankommt. Müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, in unserer Altbauwohnung zu bleiben?

Clemens jedenfalls weigert sich, die Suche auf diese Weise fortzusetzen. Er ist zum Schluss gekommen, dass wir auf normalem Weg keine Wohnung finden werden. Deshalb liegt er mir jetzt ständig in den Ohren, ich solle doch meine Informanten aus der Immobilienbranche bitten, uns zu helfen. Bisher habe ich das abgelehnt. Seriöse Journalisten dürfen das nicht, weil sie unabhängig bleiben müssen. Muss ich wirklich korrupt werden, um ein neues Dach über dem Kopf zu finden?

Ausgerechnet als ich für zwei Tage raus aus Wien, raus aus meiner Wohnungsmisere fahre, eröffnet sich eine neue Perspektive: Mein Chefredakteur schickt mich auf eine zweitägige Dienstreise nach München. Dort findet die Expo Real statt, die größte Fachmesse für Immobilien und Investitionen in Europa. In den meterhohen gläsernen Hallen der Messe München präsentieren Immobilienentwickler aus der ganzen Welt ihre Projekte. Ich schiebe mich mit Tausenden anderen Besuchern durch die schmalen Gänge, von einer Ausstellungskoje zur nächsten. Die Luft ist stickig, es wird gestoßen und gedrängelt. Da winkt mich der Vorstand eines österreichischen Immobilienkonzerns zu sich an den Messestand. Ob ich ein Glas Sekt mit ihm trinken wolle? Ich lehne dankend ab. »Gibt es etwas zu feiern?«, frage ich. »Das Gute an der Finanzkrise ist, dass jeder in den Immobilienmarkt investieren will«, sagt er und nimmt einen Schluck. »Viele Anleger haben sich mit Aktien, Fonds und anderen Finanzprodukten die Finger verbrannt. Die Investoren reißen uns die Objekte regelrecht aus den Händen.«

Wie leicht es doch wäre, den Mann jetzt um Unterstützung für meine Wohnungssuche zu bitten! Sein Unternehmen besitzt Hunderte Wohnungen in Wien. Er klappt eine Mappe auf und zeigt mir eine schön designte Grafik zu den steigenden Wohnungspreisen. Genau hier könnte ich gut einhaken: Hohe Mieten, schwanger – ein Satz, und wir hätten möglicherweise eine neue Bleibe.

Für mein Gegenüber sind steigende Immobilienpreise ein Grund zum Jubeln: Hohe Mieten – das bedeutet mehr Rendite. Je länger ich mich auf der Messe mit Maklern, Vorständen und Investoren unterhalte, desto klarer wird mir, wie stark sich alles nur um diese Logik dreht. Das Bedürfnis von Menschen nach einem bezahlbaren Zuhause, nach Nachbarschaft und Nachhaltigkeit hat in dieser Denke keinen Platz. Ganz einfach deshalb, weil es sich nicht rechnet. Erschreckend ist, dass laut der amerikanischen Soziologin Saskia Sassen der globale Immobilienmarkt nach der Lehman-Pleite 2008 in eine neue Phase eingetreten ist: Jene, die vorrangig die Rendite im Auge haben – etwa Immobilienkonzerne und Fonds –, gewinnen immer mehr Macht am Immobilienmarkt. Die Akquisitionen von kommerziellen Investoren sind in den hundert wichtigsten Städten der Welt in einem nie da gewesenen Ausmaß angestiegen. Und die Kommunen feuern diese Tendenz auch noch an: Es wird bei Förderungen für Wohnraum gespart, es mangelt an ambitionierter Raumplanung, und Wohnungsbestände werden privatisiert – und damit der Willkür des Markts überlassen.

Am Abend schreibe ich dem Chefredakteur eine kurze SMS über den Stand meiner Recherchen: »Stimmung gut, Investitionen und Preise steigen.« Mein persönliches Fazit des ersten Messetags sieht anders aus: Seriös geblieben, Zuversicht im Keller.

In dieser Stimmung beginne ich den zweiten Messetag. Jenen Tag, an dem ich den Türöffner zu meiner Traumwohnung kennenlerne. Und es ist nicht einer der mächtigen Immobilienbosse der Expo Real, sondern eine feine ältere Dame.

Rigoletto