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Alfred Pfabigan
Mord zum Sonntag

Alfred Pfabigan

Mord zum Sonntag

Tatortphilosophie

Residenz Verlag

Diese Arbeit versteht sich nicht als filmwissenschaftlich; die angeführten Zitate sind schriftlich fixiert und im filmischen Zeitablauf nicht ausgewiesen.
In der filmischen Erzählung als solche definierte Ermittlerinnen und Mörderinnen werden derart benannt; ansonsten verstehen sich die Worte »Ermittler« und »Mörder« als ein beide Geschlechter umfassender Sammelbegriff. (A. P.)

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ISBN ePub:
978 3 7017 4542 5

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3398 9

Ich glaube nicht, dass die Mördersuche
der einzige Zweck eines Krimis ist.
P. D. James

Inhalt

Vorwort

Vom Paradies zum »Tatort«

Der erste Mord

Der erste Mord und der Sozialvertrag

Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet

Fernsehen

Fernsehserien – Die Kinder der Scheherazade und des Schahseman

Von den »Jungen Adlern« zum »Tatort«

Nachrichten aus dem Innenleben deutsch-österreichischer Polizeiserien

Ästhetik der Beiläufigkeit

Zur Ästhetik der Gewalt

Der Moment des Tötens

Die Zurschaustellung der Leiche

Die Obduktion im Spannungsfeld von Mythos und Moderne

Kain und Abel

Wer ist »Opfer«?

Das schuldige Opfer

Die beiden Gesichter Kains

Die Klärung des Falles: Motiv oder Spur

Ermittler und Ermittlerinnen

Einsame Beamte

Good Cops – Bad Cops

Jenseits des Rechtsstaats

Anhang

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Register

Vorwort

»Das Fernsehen steht seit fast 60 Jahren im Zentrum unseres Lebens. Es gehört zu jedem Haushalt wie ein Familienmitglied. Gleichzeitig wurde es schon immer als niedere Unterhaltungsform angesehen. Mich fasziniert es, die narrativen Strukturen des Fernsehens zu untersuchen und zu schauen, inwieweit sie denen anderer Kunstformen ähneln, die als hochwertiger gelten – also von Büchern oder Filmen zum Beispiel. Gleichzeitig interessiert mich, wie das Fernsehen alles durchdringt, wie es unser Leben infiltriert und unsere Persönlichkeit formt. Wir befinden uns jetzt an einem historischen Moment, wo das Fernsehen vom Internet abgelöst wird – gerade darum scheint es mir der richtige Zeitpunkt für eine Beschäftigung damit zu sein.«1

Ob James Francos Annahme, dass das Fernsehen gerade vom Internet abgelöst wird, der sozialen Wirkkraft des Mediums gerecht wird, ist zweifelhaft : Immer noch verbringt die Mehrzahl der Menschen mehr Zeit vor dem Fernseh- als vor dem PC-Schirm, auf dem ja TV-Programme auch empfangen werden können. Fernsehen ist immer noch die wichtigste der »zweiten Welten«. Das ehrgeizige Projekt, das Geheimnis seiner Wirkung auf das Leben des Publikums zu enthüllen, ist wohl ein pluridisziplinäres Anliegen. Marshall McLuhans legendäre These, dass das Medium selbst die Botschaft sei,2 ist heute durch die zahlreichen technischen Innovationen überholt. Die Empfangsqualität riesiger, hochauflösender Flatscreens ist den ursprünglichen kleinen Flimmerschirmen weit überlegen. Das zunächst regionale Medium hat sich globalisiert, Monopole sind gefallen, und durch neue Technologien kann man Sendungen aufzeichnen, zeitversetzt empfangen, Einzelformate auf VHS, DVD oder Blu-ray erwerben, man kann durch die Programme zappen oder im Netz streamen. Angesichts des gigantischen globalen Angebots ist es nicht mehr das Medium an sich, dem unser Interesse gilt – heute entscheiden die Narration und ihre filmische Umsetzung über die Präferenzen des Publikums.

Ein wesentlicher Mosaikstein zur Beantwortung der von James Franco gestellten Frage nach der Rolle des Fernsehens in unserem Leben ist wohl der seriell erzählte Fernsehkrimi, ein global immens populäres Genre, das bei gleichbleibender Grundstruktur – der Lösung von Kriminalfällen durch ein in der Größe variables Set von Ermittlern – in einer Vielzahl von Variationen existiert. Innerhalb des globalen Anbots gibt es einen deutsch-österreichischen Sonderweg, der auch auf dem Gebiet jener Reihen und Serien begangen wird, in deren Zentrum polizeiliche Ermittlungsarbeit steht. Derzeit läuft ein vorwiegend kommerzielles Experimentieren, das Serien immer neue Höhepunkte beschert, sodass sie als die epische Erzählungsform der Zukunft gelten. Gleichzeitig erreicht der das allerdings stark fiktionalisierte Regionale zelebrierende, staatlich produzierte »Tatort« ständig neue Einschaltrekorde; im Herbst 2016 wird mit »Taxi nach Leipzig« die 1000. Folge auf Sendung gehen – unter dem gleichen Titel wie die erste Folge 1970. Der »Tatort« ist heute ein Generationen und kulturelle Milieus übergreifendes Format, dessen öffentliche Präsenz unübersehbar ist: Neben dem »Public viewing« in speziellen Programmkinos werden alte Folgen mehrmals pro Woche im Nachtprogramm gesendet bzw. finden sich auf Youtube und diversen Streaming-Diensten. Vor allem wird der »Tatort« im deutschen Sprachraum intellektuell ernst genommen, regelmäßig in der Qualitätspresse rezensiert, prominent kommentiert und zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gemacht.

So wird das »Flagschiff der ARD«3 von seinen Interpreten gesehen: Es fokussiere deutsche Kultur und verhandle deutsche Problemkonstellationen,4 es begleite nicht nur die Bundesrepublik, sondern spiegle als »nationale Kontemplation«5 auch »den Wandel ihrer Werte, ihre Eigenwahrnehmung, ihre Sozialstruktur«,6 ja es sei »der wahre deutsche Gesellschaftsroman«7. Im »Tatort« würden wir die Bundesrepublik erkennen,8 sodass den »Tatort« denken, immer auch heiße: »Deutschland denken«. Denn: »Wir sind ›Tatort‹«.9

Wie in jener legendären, von Benno von Wiese besorgten Anthologie Deutschland erzählt – Von Rainer Maria Rilke bis Peter Handke hat hier wieder einmal der Anschluss Österreichs unter gleichzeitiger Eingemeindung der deutschsprachigen Schweiz stattgefunden – das Format ist bekanntlich eine Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SF / DRS. Das Austriacum war immer prominent und mit markanten Typen präsent: der ORF gliederte bereits 1971 seine seit 1963 laufende Serie rund um Oberinspektor Viktor Marek (Fritz Eckhardt) in den »Tatort« ein; den Oberinspektor Kurth Hirth verkörperte Kurt Jaggberg vom Wiener Theater in der Josefstadt; Wolfgang Hübsch als Gruppeninspektor Paul Kant, Michael Janisch (Chefinspektor Fichtl) und Bruno Dallansky (Oberinspektor Pfeifer) kamen vom Wiener Burgtheater; in dem 1987 produzierten Film »Wunschlos tot« spielte der in der BRD nur in Nebenrollen eingesetzte Christoph Waltz den Revierinspektor Herbert Passini.10 Seit 1999 gibt Harald Krassnitzer, der Hauptdarsteller des bis China exportierten »Winzerkönigs«, den in ganz Österreich ermittelnden Oberstleutnant Moritz Eisner, unterstützt seit 2011 von Majorin Bibi Fellner (Adele Neuhauser). Schon die für ein deutsches Publikum befremdenden Diensttitel zeigen: Die österreichischen »Tatorte« verfolgen eine durchaus regionale Linie, auch wenn sich das Format als gesamtes in den letzten Jahren stark homogenisiert hat. Die Reichweiten bei der Erstausstrahlung bestätigen diese Tendenz: die österreichische Produktion »Sternschnuppe« (2016) hatte hierzulande 1 136 000 Zuseher, in der BRD 9,4 Millionen.11 Umgekehrt hatte »Hinkebein«, der erfolgreichste »Tatort« des Jahres 2012, in der BRD ein Publikum von 11,78 Millionen Zuschauern, also einen Marktanteil von 30,7 Prozent, in Österreich waren es 845 000 Zuschauer und 25 Prozent Marktanteil.

Ignorieren wir also den Chauvinismus jener Interpreten, die den »Tatort« exklusiv für die BRD reklamieren, und betrachten wir ihn als einen mächtigen, länderübergreifenden Diskurs. Wenn in Hinkunft dennoch von »deutschen« Fernsehserien gesprochen wird, wird nicht die »Kulturnation« des Jörg Haider neu belebt, sondern die Ursprungssprache bezeichnet – dass sich unter dem Deckmantel des »deutschen Tatorts« Gemeinsamkeiten und parallele Entwicklungen artikulieren, sei nicht geleugnet. Ungeachtet mehrerer Wandlungen blieb das genretypische Grundanliegen konstant: Der immerwährende Kampf gegen das »radikal Böse« wird in der Maske des Entertainments inszeniert. Ob das ein »kollektiver Läuterungsprozess«, ein »gesellschaftsdeckendes Reinigungsritual« ist, wie Wolfram Ellenberger meint, sei dahingestellt – doch tatsächlich geht es in Kriminalserien jenseits der Detektion um »zentrale Begriffe unseres Zusammenlebens«.12 Die Message des Formates, einer »medialen Moralagentur«13, wurde vom Publikum angenommen: Gespeist aus den Konstellationen der aufzuklärenden Fälle und der Reaktion der normsetzenden Ermittler hat sich vor allem im letzten Jahrzehnt eine »Wertegemeinschaft « gebildet; wenn es einmal ein »Bildungsbürgertum« gegeben hat, dann ist der Begriff»Tatort-Bourgeoisie« wohl ebenso zulässig.

In einem ambitionierten Versuch, die in Auschwitz ermordete Philosophin Edith Stein unter dem Titel »Mitleid mit den Tätern« als Interpretationskrücke für den »Tatort« »Weil sie böse sind« (2010) heranzuziehen, schlussfolgert zum Beispiel Susanne Schmetkamp, es könnte gut sein, dass der wie weiland die Kirche zum Sonntag gehörende Krimi »einen wesentlichen Beitrag zur empathischen Schulung und moralischen Erziehung der Zuschauer« leiste.14 Dieser Weihrauchnebel provoziert die folgenden Fragen: Was wird hier unter »Empathie« verstanden und zu welcher Moral soll der Zuseher mit welchen Mitteln erzogen werden? Beruft sich diese Moral auf eine Gesinnungs- oder eine Verantwortungsethik – oder verändert sie sich nach Belieben, gestützt auf die emotionale, filmisch wirksam gemachte Überzeugungskraft des jeweilig Faktischen? Auch der Versuch des Philosophen Wolfram Ellenberger, den »Tatort« in den Kontext von »Aufklärung par excellence« zu setzen,15 wirft Fragen auf: Wird hier jenes selbstständige, vom Mainstream unabhängige Denken, dessen Wagnis Immanuel Kant zur Maxime der Aufklärung ernannte, praktiziert und gar der Ausgang aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« geübt? Ist Professor Boerne aus Münster ein »Aufklärer par excellence«?

Dennis Gräf zufolge hat sich »mittlerweile eine Sichtweise des ›Tatort‹ als Konsens etabliert, welche die Krimireihe als Seismograph deutscher (sic!) Befindlichkeiten und Mentalitäten, als Beobachter der Gesellschaft insgesamt wahrnimmt«.16 Diese These soll hier ernst genommen und auf ihre Konsequenzen hin befragt werden.

Das Geburtsjahr des »Tatorts« fällt in die Zeit des »Kalten Krieges«, der »Unfähigkeit zu trauern« und der 1968 einsetzenden Jugendrevolte. Er hat den Fall der Mauer und das vermeintliche »Ende der Geschichte« nach 1989 ebenso begleitet wie 9/11, die Krise nach 2008, die Flüchtlingswelle und den Einzug des islamistischen Terrorismus in Europa. Für seine bisherige »Lebensspanne« stehen Namen wie Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder und Merkel bzw. Kreisky, Sinowatz, Vranitzky, Klima, Schüssel, Gusenbauer und Faymann. Im Polizeifilm werden – vor allem durch die Ermittler als normsetzende Instanzen – soziale Sachverhalte filmisch kommentiert: im Drehbuch, im Acting, im Schnitt. Was also hat der »Seismograph« wie registriert und was sieht der Zuseher, wenn er den »Tatort« sieht – wer sind die »guten« und wer die »bösen« Protagonisten, wie sehen ihre Grundhaltungen, ihre Beziehungen – oder »Nichtbeziehungen« – zueinander aus, was motiviert die Ermittler und Ermittlerinnen, wie definieren sie »Schuld«, »Täter« und »Beweis«? Daran anschließend stellt sich eine zweite Frage: Was macht diese Filme rund um unterschiedliche Morde so populär? Hier ist also Aufklärung über den »Tatort« intendiert, ausgehend von der These, dass es ein Feld gibt, auf dem sich auch im sogenannten Entertainment »Ethik« und »Ästhetik« einer Episode, einer Staffel oder einer Serie in einer dem Publikum gefälligen Weise berühren. Schon in der »Genesis« wird der Tod Abels ebenso verrätselt wie die Bestrafung Kains. Damit werden alle Reflexionen über den »Mord am Bildschirm« Bestandteil einer – säkularisierten – Sinnsuche; das wiederum erlaubt die Hoffnung, dass, wer eine Serie versteht, auch ein wenig vom Leben an sich verstanden hat.

1000 Episoden! Welch eine ungeheure Text- und Filmmasse mit wie vielen thematischen und ästhetischen Brüchen – »Relaunches« oder »Paradigmenwechseln«! Ohne dem »Tatort« seine heute noch wirksame Frühgeschichte zu nehmen, werden wir uns weitgehend auf Filme aus unserem Jahrhundert beziehen. Zwei Marksteine waren hier entscheidend: zunächst jener grundlegende Wandel zum »Quality TV«, der global etwa mit der im Museum of Modern Art gezeigten HBO-Serie »Die Sopranos« (1999) begann und unabhängig von den Vorgaben der Produktionsfirmen ablief. Und dann jener, diese neuen Trends zunächst ignorierende, thematische Wandel der Plots des »Tatorts« nach 2000, der Fragen der sozialen Ungleichheit und Gerechtigkeit zentrierte,17 vom Leben gezeichnete Ermittler auftreten ließ und seit einiger Zeit auch begann, die Sichtweise auf das Verbrechen zu ändern.

Wir folgen dabei einigen, im weiteren kurz skizzierten zentralen Konstellationen – eine kluge Leserin hat angemerkt, dass im Gegensatz zur landläufigen »Tatort-Literatur« die kritische Sichtweise hier doch überwiegt. Nun, ein einflussreiches Format wie der »Tatort« hat sich beim Publikum eine eigene, schwer hinterfragbare Selbstverständlichkeit der Werte und Haltungen geschaffen. Wir werden versuchen, diese durch einen Vergleich mit vornehmlich amerikanischen Serien zu brechen, vor allem mit dem zeitgleich gesendeten »CSI«, der weltweit meistausgestrahlten Serie der Fernsehgeschichte.18

Allerdings: Im Vergleich zu den produktionstechnischen Möglichkeiten des amerikanischen Marktes agiert der deutsche Serienkosmos unter beengten Verhältnissen. Das Set von Regisseuren, Autoren, Schauspielern etc. ist beengt und in den uns interessierenden Fragen ist der »Tatort« sozusagen die »Leitserie« zum »Alten«, dem »Letzten Zeugen«, dem »Ermittler« sowie zu den Serien rund um die »Kommissarin«, »Stolberg«, »Bella Block«, den »Staatsanwalt«, den »Kriminalisten« und die diversen »SOKOS«.

Kriegs- und Polizeifilme haben etwas gemeinsam: In ihnen wird dem Staat ein filmisches Gesicht gegeben. Deutsch-österreichische Polizeiserien sind mit wenigen Ausnahmen unmittelbar staatliche Produktionen, viele der Akteure verdienen das von Thomas Bernhard mit neuem Inhalt gefüllte Etikett »Staatskünstler«, und es scheint, dass die öffentlich-rechtlichen Produktionsbedingungen die Narration beeinflussen. Selbst wenn diese Filme dem Entertainment (oder dem Politainment19) zugerechnet werden, sagen sie doch etwas über den gouvernementalen Stil der produzierenden Länder aus – so sie nicht überhaupt ein von Michel Foucault ignorierter Bestandteil der Gouvernementalität sind.

Wer ein Buch über den »Tatort« schreibt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er ein »Serienjunkie« sei. Die dieser Frage innewohnende abwertende Tendenz hat Tradition: Wer über Populärkultur spricht, steht hierzulande unter einem apriorischen Rechtfertigungszwang gegenüber diskursmächtigen, allerdings heute getarnt auftretenden Nachfolgern der bildungsbürgerlichen Verachtung einer – so Siegfried Kracauer – Kultur der »kleinen Ladenmädchen«, an deren Stelle wohl heute die populäre »Supermarktkassiererin« getreten ist. Fragen des persönlichen Geschmacks sind nicht diskursfähig, doch die asketische Position gegenüber der Unterhaltung als Feind der echten Kunst ist uralt und hat hierzulande eine lange Haltbarkeit. Populärkultur, zumal in ihrer kommerziell verfertigten Variante, steht spätestens seit Theodor W. Adornos und Max Horkheimers im Exil verfasster Studie über die »Dialektik der Aufklärung« unter Generalverdacht: Die Kulturindustrie überziehe – jenseits der politischen Ideologien – die Welt mit ihrem Schund, sie »deale« sozusagen mit jenem aus Aldous Huxleys Schöne Neue Welt bekannten »Soma«, einer Variante der Marx’schen Etikettierung der Religion als »Opium des Volkes«, sie hätte einen internationalen Konformismus begründet, der selbst den Regelbruch toleriere, und sei damit der wichtigste Agent einer »Scheinversöhnung« mit dem falschen Leben.

Dazu ist vieles zu sagen und wohl auch schon gesagt worden. Tatsächlich gibt es in der Populärkultur Kunstwerke und Trash, die Erarbeitung von Kriterien zur Distinktion läuft, doch eines wissen wir heute schon: dass die Protagonisten der Frankfurter Schule nicht die ästhetische Kompetenz hatten, zu verstehen, warum »Vertigo« von Alfred Hitchcock ein Meisterwerk ist und warum die »39 Stufen« des gleichen Regisseurs ein konventionelles Routineprodukt sind. Also: Vergessen wir Adorno – er wäre wohl ein Hindernis beim Projekt, Aufklärung über den »Tatort« zu schaffen!

 

1 »Einer für alle«, Interview mit James Franco, in:monopol, Magazin für Kunst und Leben, 2/2011, 40f.

2 Marshall McLuhan,Understanding Media. The Extensions of Men, New York 1964

3 Hendrik Buhl, Tatort. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe, Konstanz – München 2013, 319

4 Dennis Gräf,»TATORT«. Ein populäres Medium als kultureller Speicher, Marburg 2010, 25

5 Markus Schmitz, Räumlichkeit, Gender und die Inszenierung von Blickgrenzen in einem Türken-Tatort, in: Julika Griem / Sebastian Scholz,Tatort Stadt. Mediale Topographie eines Fernsehklassikers, Frankfurt am Main 2010, 116

6 Vgl. Bertram Eisenhauer, Tatort Deutschland. Sozialgeschichte und Mentalitäten im Spiegel des Kriminalfilms, in: Claudia Cippitelli u. a. (Hg.),Das Mord(s)programm, Frankfurt am Main 1998, 64

7 Jochen Vogt, Tatort – der wahre deutsche Gesellschaftsroman. Eine Projektskizze, in: ders. (Hg.),MedienMorde. Krimis intermedial, München 2005, 111

8 Knut Hickethier, »Tatort« und »Lindenstraße« als Spiegel der Gesellschaft. 60 Jahre ARD, in:»Aus Politik und Zeitgeschichte«, 20/2010, 46

9 Wolfram Ellenberger (Hg.),»Tatort« und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie, Stuttgart 2014, 18

10 http://tatort-fans.de/category/stadt-archiv/tatort-wien/

11 http://kurier.at/kultur/medien/oesterreich-tatort-mit-neuem-reichweitenrekord/179.772.619

12 Ellenberger, a. a. O., 11

13 Buhl, a. a. O., 156

14 Susanne Schmetkamp, Mitleid mit den Tätern. Edith Stein und die Kraft der Empathie, in: Ellenberger, a. a. O., 158

15 Ellenberger, a. a. O., 13

16 Gräf, a. a. O., 8

17 Vgl. Gräf, a. a. O., 23

18 Jürgen Müller, Die besten TV-Serien. Taschens Auswahl der letzten 25 Jahre, Köln 2015, 167

19 Vgl. dazu Andreas Dörner,Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt am Main 2001

Vom Paradies zum »Tatort«

 

Der erste Mord

In der Genesis, so die These Johann Gottfried Herders in dem Büchlein Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774), werde der zureichende Grund zur Unterscheidung zwischen Barbarei und Zivilisation benannt, auch biete sie den Schlüssel zu deren Geheimnissen; ähnlich verfährt Immanuel Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). Und so wird die Genesis als Basistext unserer Kultur nicht nur in den Religionen und den schönen Künsten durchdekliniert, sondern auch in Fernsehkrimis.

Auf der Basis von Stilvergleichen gehen manche davon aus, dass Genesis, Exodus und Numeri zwischen 950 und 900 v. d. Z. von einer am Hof von König Salomon lebenden Autorin verfasst wurden; die Forschung hat der Unbekannten den Namen »Jahwistin« verliehen. Tatsächlich unterscheiden sich diese Teile vom übrigen Textkorpus des Alten Testaments der Bibel; die Autorin erzählt in rasendem Tempo, schnörkellos, beiläufig, scheinbar unbeteiligt, und ihre Haltung zu den Geschehnissen bleibt unklar. Harold Bloom attestiert ihr eine »schockierende Ironie« und hält ihren Genius für geradezu unheimlich, da sie nie aufhöre, uns zu überraschen.1 Tatsächlich berührt dieser lakonische Text zentrale Punkte unseres sozialen Lebens – die Schöpfung, die Machtfrage, die Einsamkeit, die Sexualität, den Regelbruch und den gewaltsamen Tod. Das alles wird auf einer Seite erzählt, die Autorin ignoriert die Gefühle der Beteiligten, sie spekuliert nicht über Motive und feiert weder den Schöpfer wie ihre barocken Nachfolger, noch verurteilt sie ihn wie die Gnostiker. Alles ist offen, ihr angsterregender Text schafft einen Raum ungeheurer Geheimnisse, der allerdings kunstvoll die Beteiligung der Autorin, ihre Bewunderung wie auch ihr Entsetzen versteckt. Und mit diesem Text beginnt auch der Diskurs über das Töten des Menschen durch seinen Bruder-Menschen und die unaushaltbare Veralltäglichung dieses Vorgangs. Der Bericht ist ohne Trost: Die Autorin weigert sich, durch die Verheißungen der Religion, durch Kunst oder Verbildlichung, die Angst wegzuspülen.

Das erste Kapitel der Genesis enthält den Bericht über die Schöpfung und den nicht näher begründeten Entschluss Gottes, den Menschen, der später Adam genannt wird, zu schaffen: »ihm zum Bilde«. Er schenkt seinem Geschöpf das Leben und den Raum, den es und wir, seine Nachfolger, uns untertan machen sollten – aber nicht mehr. Damit setzt er uns in jene vernunftfreie Regellosigkeit, die Kant so erschrecken wird. Im zweiten Kapitel erfahren wir, dass dieses Wesen eine unbestimmte lebendige Seele hat, dass es den Garten Eden kultivieren, doch sich der Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse enthalten solle – und hier beginnt der erste große Konflikt: »Denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.« (1 Moses 2, 17) Hat Gott uns ein Urwissen vom »Sterben« implantiert, wo doch – so Freud in Totem und Tabu – die Vorstellung des Todes »inhaltsleer und unvollziehbar« ist? Warum hat Gott diese unklare und die Souveränität seines Geschöpfes einschränkende Drohung ausgesprochen? Die Probe folgt jedenfalls sofort, Eva, jene Gefährtin, die Gott dem einsamen Adam geschaffen hat, wird von der Schlange in Versuchung geführt, die Früchte zu essen: »Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; … (ihr) werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« (1 Moses 3, 4f.) War, was geschehen wird, von Jahwe vorhergesehen, vielleicht sogar geplant? Oder hat er von Anfang an die Freiheit seiner Geschöpfe akzeptiert? Unsere Vorfahren können der Versuchung nicht widerstehen, sie verlieren das, was wir heute Unschuld nennen, gewahren ihre Nacktheit und verstecken sich vor ihrem Schöpfer, der doch alles sieht. Und der verflucht die Schlange, vertreibt die Menschen aus dem Paradies und konfrontiert sie mit jener für Kant so wichtigen, vernunftfördernden Realität: Eva soll mit Schmerzen Kinder gebären und Adam soll sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen.

Die Schlange hat uns belogen, wir sind sterblich, und die Unklarheit darüber, was gut und was böse ist, ist immer noch groß. Offenkundig hat der Herr seinen Geschöpfen keine Regeln für das Leben »Jenseits des Paradieses« gegeben. Im Gegensatz zu den geschwätzigen Apokryphen, jenen Texten, die biblische Themen behandeln, aber nicht zum Kanon gehören, verliert die Jahwistin kein Wort darüber, wie unsere Vertriebenen ihr Leben gestalten. »Im Lauf der Zeit« gebiert Eva Kinder, von zwei Söhnen wird der Name genannt: vom Ackersmann Kain und dem Schäfer Abel, Repräsentanten der zwei Soziotypen, aus deren Antagonismus sich unsere Zivilisation entwickelt hat. Das also ist die erste Familie. Beide Söhne opfern dem Herrn, um ihn gnädig zu stimmen, doch Gott sieht nur das Opfer des Abel gnädiglich an. Der Text lässt das »Warum« offen. Hat Kain – wie in der bildenden Kunst gerne angespielt – das Ritual der schon so oft gescheiterten Versöhnung Gottes mit lustlosem Realismus vollzogen? Welchen Sinn hatte das Opfer überhaupt und was bedeutete die für Abel letztlich tödliche Gnade des Herrn? Spielte er etwa mit seinen Geschöpfen? Die Jahwistin bleibt hier vage, sie verrätselt die Geschichte und begründet damit das Feld, in dem die Allianz zwischen Religion, Kunst und Populärkultur ansetzt, wo uns spekulative, aber anziehende Lösungen angeboten werden.

In der Erzählung der Jahwistin »ergrimmete Kain, und seine Geberden verstellten sich«. Nun beginnt die Autorin mit dem Leser zu spielen und lässt den Herrn, der doch weiß, was sich gleich ereignen wird, Kain vor der Sünde warnen, die da »vor der Tür ruhet«. Und so geschieht es: Bei der Aussprache mit seinem Bruder auf dem Feld – dem Arbeitsplatz Kains – erschlägt dieser Abel. Das große Spiel rund um den gewaltsamen Tod hat damit begonnen; das Wort »Mord« stammt aus dem apokryphen »Vierten Buch der Makkabäer«.2 Doch weiß Kain, was er getan hat? Der Allwissende, dem die Welt ja ein Kristall ist, stellt ihm eine rhetorische Frage: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und der erste Verdächtige in der Untersuchung eines Kriminalfalles leugnet unverschämt: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?«

Da wird Gott zornig und verkündet ein Grundgesetz unserer Zivilisation, dessen Bedeutung in deutschen und amerikanischen Polizeiserien recht verschieden ausgelegt wird: »Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde. Und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul aufgetan hat, und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstät und flüchtig sollst du sein auf Erden.« Reue, Besserung, »zweite Chance« – das liegt nicht im Willen des Herrn; wer getötet hat, der wird mit einem schlimmen Leben bestraft. Zeigt Kain, dem offensichtlich nach der Tat das Wissen über den Unterschied zwischen »Gut« und »Böse« gegeben ist, Einsicht, wenn er antwortet: »Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge«? Oder heuchelt er und hat nur Sorge um sein Wohlergehen? »Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und muss mich vor deinem Angesicht verbergen, und muss unstät und flüchtig sein auf Erden. So wird’s mir gehen, dass mich tot schlage, wer mich findet.« Die Strafe ist Gottes Wille, ansonsten stellt er, der doch Abel nicht geschützt hat, Kain unter seinen persönlichen Schutz: »Nein, sondern wer Kain tot schlägt, das soll siebenfältig gerochen werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.« So zeigt der erste Mörder kein eindeutiges Zeichen von Reue und darf seiner Wege ziehen. Ein weiteres Rätsel, denn in Exodus 21,12 wird der Herr Mose zwar verkünden, dass der, der einen Menschen zu Tode bringt, mit dem Tod bestraft werden solle. Doch er wird eine Ausnahme benennen, die vielleicht rückwirkend für den Fall Abel gilt: »Wenn (…) Gott es durch seine Hand geschehen ließ, werde ich dir einen Ort festsetzen, an den er fliehen kann.« War der Tod Abels etwa der Wille des Herrn – oder hat sich Kain die Rolle Gottes als Herrn über Leben und Tod angemaßt?

Kain also geht »von dem Angesicht des Herrn« und zieht ins Land Nod und »erkannte sein Weib, die ward schwanger, und gebar den Hannoch«. Abel ist tot, es macht wenig Sinn, über ihn nachzudenken. Kain repräsentiert das Überleben und damit die Zukunft, keine gute möglicherweise, doch bleibt er rätselhaft. Gilt das auch für seine mörderischen Nachfolger, die für die Populärkultur so anziehend sind? Was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext? Deutsche Filme ignorieren diese Frage häufig und haben oft parallel laufende Tendenzen zur Schuldigmachung des Opfers und zur Entschuldigung des Täters; indirekt rechtfertigen sie oft jene private Rache, vor der der Herr Kain durch sein Zeichen schützte, während ein Strang der öffentlichen Meinung dahin geht, jede Strafe als Rache abzulehnen. Amerikanische Fernsehserien sehen in der privaten Rache einen folgenschweren Bruch der Grundlage der Zivilisation, des Gewaltmonopols des Staates, und deuten Strafe nicht als »revenge«, sondern als »retribution«, als unzureichende Wiederherstellung einer gestörten Sozialordnung – wie die Populärkultur mit der rätselhaften Widersprüchlichkeit im Verhältnis zwischen »Schuld und Sühne« in der Erzählung der Jahwistin umgeht, wird uns breit beschäftigen.

Und wie reagieren die Angehörigen auf dieses Geschehnis? Wir wissen nichts über das Leben des kleinen Trupps der aus dem Paradies Vertriebenen, doch welche Harmonie es auch immer gegeben haben mag, Kain hat sie wohl zerstört. Die Jahwistin spart alle Komplikationen aus; jene ungeheure, allseitig erschütternde Involvierung, die ein Mord in sozialer Nähe auslöst, wird von ihr verschwiegen. Als Vorfahrin jener »Ästhetik der Beiläufigkeit«, die wir deutschen Polizeiserien attestieren werden, lässt die Autorin ihre Geschichte weitergehen: »Adam erkannte abermals sein Weib, und sie gebar einen Sohn, den hieß sie Seth.« (1 Moses 4, 5–25)

Seit damals steht fest: Die Familie ist eine ambivalente Institution, Sehnsuchtsort und gleichzeitig keineswegs eine Ausnahme von der Tatsache, die der Herr den Vertriebenen verschwiegen hat – dass der Mensch dem Menschen Wolf ist. Den »bösen Familien« und den »Wunschfamilien« werden wir in Hinkunft zu Dutzenden begegnen, ebenso autoritären oder hilflosen Vätern, wie Adam wohl einer war, einander stützenden oder missbrauchenden Generationen, resignierten oder rebellierenden Kindern, einander belauernden oder liebenden Ehepaaren – sie werden die Leerstelle in der Erzählung der Jahwistin ausfüllen und uns involvieren. Ist die Familie zu Recht der primäre Ort des Verdachts, der Ort, an dem die von der Jahwistin nur angedeuteten Motive sich realisieren? »Laut Statistik passieren die meisten Morde in der Familie«, meint nicht nur Kommissar Leitmayr im »Tatort« »Frau Bu lacht« (1995). Oder ein Ort der Überforderung, die in Enttäuschung umschlägt? (»Borowski und die heile Welt« (2009)) Oder ist es die Komplexität selbst der als normal erlebten Moderne, die Familien ins Revier des Bösen treibt, wie schon die erste Familie?

Kant hat sich auf die Vertreibung aus dem Paradies konzentriert und hier den Ursprung unserer Vernunft geortet. Gott hat uns zur Arbeit und zum Liebesleid in seiner unmittelbar physischen Form verurteilt und uns offensichtlich verpflichtet, unsere Sozialordnung selbst zu erarbeiten, indem er uns keine Regeln vorgegeben hat. Jene markante Konsequenz von Vertreibung und Sündenfall, den Umschlag von Brüderlichkeit in Mord, den Moment, ab dem der Mensch – so Hegel – töten darf, weil er aus der Natur ausgetreten ist, hat Kant ignoriert. Wir wurden von Gott erschaffen und von der Schlange verführt – doch der Mord war unsere erste autonome Handlung. Mit Kain hat das große Spiel begonnen – er ist unsterblich. Gott existiert aus sich und klärt einen Fall, den er nicht verhindert hat; im Polizeifilm schafft der Täter die Bedingungen der Möglichkeit des Ermittlers.

Die Apokryphen wissen mehr, als die Jahwistin erzählt: Nicht nur der Herr hat diese Tat vorausgeahnt, auch Eva sah im Traum das Blut Abels an der Hand Kains, und so beschlossen die Eltern, die beiden zu trennen – erfolglos, denn es folgt der lapidare Satz: »Und darnach erschlug Kain den Abel.«3 Es gibt also ein »Urwissen« von der Gefährdung, die der Bruder dem Bruder darstellt; dass der Mensch ursprünglich gut war, kann man wohl nicht sagen – Grausamkeit scheint ihm anthropologisch eingeschrieben zu sein. So steht der Tod des Abel am Anfang der Suche nach einer sozialen Ordnung. Adam und Eva wurde das ambivalente Geheimnis der Liebe verkündet und der Fluch des eisernen Käfigs der Rationalität der Arbeitswelt. Jetzt erfahren sie das dritte Geheimnis – das sich hinter dem Wort Tod verbirgt. Der Tod kommt von außen, allerdings nicht immer, und er kommt aus der Nähe, aus der Familie, aber auch das nicht immer. Der Tod – jenes große Skandalon der Schöpfung, das Elias Canetti in Wort und Schrift bekämpft hat – ist ein Mord, jeder Tod ist Mord, diese grandiose Fiktion ist das Werk des Kain. Gott hat den Menschen geschaffen, und Kain hat den Tod in die Welt gebracht. Wir alle sind sterblich und der Mörder illustriert uns durch seine Tat dieses – je nach Weltanschauung – göttliche oder Naturgesetz. Ja, indem er Abel vor der Zeit den Tod gebracht hat, hat er sich an die Stelle Gottes oder der Natur gesetzt – aber wissen wir, ob Gott nicht den Tod Abels gewollt, vorhergesehen oder ihn – die Freiheit Kains respektierend – nicht zumindest zugelassen hat? In jedem Fall liegt darin die höchstpersönliche Dialektik Kains: er hat als Vollstrecker göttlichen Willens gehandelt – und war doch ein Sünder. Und er hat seinen Mitmenschen ein Problem geschaffen, das ihn zu einer zentralen Figur des Zivilisationsprozesses macht.

Von nun an ist alles anders – neben dem ordinären Elend, das der Herr verkündet hat, ist jener plötzliche, außergewöhnliche Tod in die Welt gekommen, der sich wohl von jenem sanften Tod unterscheidet, den Adam einem Apokryph zufolge mit 900 Jahren erlitten haben soll. Die Freiheit hat von nun an zwei Seiten – der Mensch kann sündigen, aber auch zum Opfer der Freiheit eines Anderen werden. Seither ist die Angst da. So täuscht die karge Erzählung der Jahwistin eine Einfachheit vor, die sie nicht hat, doch gleichzeitig präsentiert sie Konstellationen, die seither unzählige Male variiert wurden. Vor allem aber sind wir schon zu Beginn der Lektüre des »Buchs der Bücher« mit jenem in der Populärkultur unendlich zelebrierten Dreieck Opfer – Täter – Ermittler ebenso konfrontiert wie mit den zahllosen Relationen, die zwischen ihnen herrschen, und mit den Nebenfiguren: mit jenen, die das Motiv darstellen – wie etwa die apokryphe schöne Lebuta –, und mit den trauernden Überlebenden und Nachkommen. Auch die Frage nach dem Zweck und der Angemessenheit einer Strafe stellt sich uns erstmals.

Gewiss, dieser Mord ist nicht rätselhaft, die Ermittlungen sind kurz, denn Gott ist allwissend. Doch trotz dieser kargen Ausstattung ist das keine eindimensionale Geschichte, sie ist im Gegenteil untergründig komplex und lässt viele Lesarten zu – und an diesen Lesarten arbeiten sich die Schwestern Philosophie, Wissenschaft und Kunst bis heute ab. Um nur ein Beispiel zu nennen, dem wir – in abgewandelter Form – in unseren Filmen noch oft begegnen werden: Ist das Verbrechen des Kain nicht eine quasi nachvollziehbare Reaktion auf sein übles Geschick, dass Gott sein Opfer nicht angenommen hat, oder gibt dieses Geschick nicht viel eher Auskunft über den üblen Charakter des späteren Delinquenten, der dem Herrn bekannt war? Auch dem leugnenden Verdächtigen, der nur gesteht, was man ihm beweist, werden wir noch oft begegnen: Okay, das gebe ich zu, ich will keine Verantwortung für meinen Bruder übernehmen, Mord ist nicht meine Sache, okay, ich war’s, das gebe ich zu, aber dafür habe ich gute Gründe, und was geschieht jetzt mit mir, ich will meinen Deal.

Damit sind wir im Heute angelangt, und selbst die andeutungshafte Erzählweise der Jahwistin und ihre Verrätselungsstrategie machen es leicht, aus ihrem Text jene berühmten, aufeinanderfolgenden Fragen abzuleiten, welche die Achse der narrativen Struktur unserer Filme bilden: Was ist geschehen? / Wer war das Opfer? / Wer war der Täter? / Warum hat er gemordet? / Wer hat die Tat aufgeklärt? / Wie ist die Tat aufgeklärt worden?

Das sind einfache Fragen, doch sie ergeben sich aus der einfachen Sozialstruktur, die Bühne des ersten Mordes war. In unserer heutigen Gesellschaft – urbanisiert, individualisiert, mobil, säkularisiert, profitorientiert, konsumistisch, dekadent, um nur einige der infrage kommenden Adjektive zu nennen – hat jede dieser Fragen unzählige Variablen, die in der medialen Befassung mit Kains Tat durchgespielt werden. Die möglichen Kombinationen sind unendlich, Psychologie und Soziologie intervenieren und vor allem wechselt der Modus des Erzählens in den verschiedenen Medien. Es gibt eine Kontinuität: Immer noch tötet Kain den Abel, das ist wohl der Gesellschaft eingeschrieben; und eine Diskontinuität: Die Bedeutungen, die dieser Vorfall hat, ändern sich ständig. Der Herr hat keines der im Text enthaltenen Rätsel gelöst, sondern sie durch sein Handeln erst konstituiert. Die populärkulturellen Nachfolger der Jahwistin haben die Frage vom angsterregenden »Was« zum ästhetisch und intellektuell aufgeladenen »Wer, wie, warum« verschoben. Nebenaspekte nahmen mehr und mehr zentrale Rollen ein, der Mord blieb auf jene Sekunde reduziert, die ihm auch die Jahwistin gegeben hat, doch die Person des Ermittlers – den sie nicht benötigte – rückte ins Zentrum. Ermittler – und spätestens seit Agatha Christies Miss Marple ihre weiblichen Pendants, die wir nur im Ausnahmefall extra kenntlich machen werden –, das waren jene, die das herausfinden wollten, was der Herr von Anfang an gewusst hat. Eigenartige Figuren traten auf und füllten die scheinbare Lücke im Text der Jahwistin, indem sie die Fragen, die die Erzählung offenließ, zu beantworten versuchten – Dupin, der verrückte Privatgelehrte Edgar Allan Poes, oder der rauschgiftsüchtige Sherlock Holmes. In der Frühzeit des Kriminalromans waren es noch ein Lord Peter Wimsey oder Chestertons Father Brown, doch dann, parallel zum Tod Gottes, traten schlecht bezahlte »private eyes« oder korruptionsanfällige Polizisten an ihre Stelle. Poes Dupin hatte in Die Morde in der Rue Morgue das Rätsel verschoben und gleichzeitig die metaphysische Komponente neu justiert – nicht Kain hat die zwei Frauen im geschlossenen Raum getötet, nein, die Natur ist eingedrungen, in Gestalt eines wild gewordenen Affen, er ist eine neue böse Figur, auch er wohl ein Vertriebener aus dem Paradies, der in einem irdischen Zirkus gestrandet ist, doch die Strukturkohärenz der Jahwistin hat auch er respektiert. Kain, Abel und die Ermittler werden uns in unzähligen Rollen begegnen – während uns die Jahwistin mit der angsterregenden Erkenntnis alleinlässt, dass uns Gottes Wille unfassbar ist, verniedlicht die mediale Behandlung des Mordes den radikalen Text und gibt uns ein scheinbares Wissen, dessen unterschiedliche Aspekte Thema dieses Buches sein werden.

 

Der erste Mord und der Sozialvertrag

Leviathan für Hobbes gering – kann doch auch der Schwache den Starken mit List töten: »Und hieraus folgt, dass Krieg herrscht, solange die Menschen miteinander leben ohne eine oberste Gewalt, die in der Lage ist, die Ordnung zu bewahren.«