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Boris Schumatsky
Der neue Untertan

Boris Schumatsky

Der neue Untertan

Populismus, Postmoderne, Putin

Residenz Verlag

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Salzburg – Wien

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Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Hanna Zeckau, Berlin
Umschlagmotiv: Hanna Zeckau, Berlin
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Stephan Gruber, feintext.eu

ISBN ePub:
978-3-7017-4526-5

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-3377-4

Inhalt

Frieden ist Krieg

Viele höfliche Menschen und eine Katze

Lechts und rinks

Zwei Juristen und der Kommunismus

Sekten, aber nicht ganz so peinlich

Von Putin zu Pegida

Eine kurze Geschichte der Kappe aus Metallfolie

Die unsichtbaren Untertanen kommen ans Licht

Der Mist, auf dem die Lüge wächst

Homo Sowok

Die Linke am Ende der Welt

Dein letzter Tag wird kommen, Bourgeois!

Nieder mit den Tatsachen!

Die militante Unmündigkeit

Die Friedenskrieger

Wollen die Russen wirklich Krieg?

Die Sieger

Das schwarz-orange Band

Kadaver auf Urlaub oder Tod in Moskau

Russische Schandgeschichten

Tod in Moskau

Zwischen Kosmos und Krebs

Die Linde meines Vaters

Die Versteher

Russland ist eine Lüge

Weltmeister der Postmoderne

Putins Ofen

Die Vernunft des Stärksten

Das gekreuzigte Kind

Stjob – die Kunst, nichts ernst zu nehmen

Putins postmoderne Zeitmaschine geht kaputt

Über das Scheitern

Die offene Gesellschaft und die Lüge

Willkommenskultur

Migrationswaffe

Den Plebs mobilisieren

Der neue Untertan

Zeitreisen

Der Vorgeschmack des Populismus

Rebellion der Untertanen

Sarrazins Hausschuhe

Die Zukunft bergen

Was tun?

Soldaten der Unmündigkeit

Quellen und Literatur

Für meine Eltern

Frieden ist Krieg

Der Krieg erfindet sich gerade neu. Er will heute wie Frieden aussehen, und sein Schlachtfeld hat sich so weit ins Mediale verlegt, dass man, wenn es so weitergeht, irgendwann scharfe Waffen gegen scharfe Bilder tauschen wird.

Mein allererster Krieg war noch, wie damals üblich, durchs Schwarz-Weiß-Fernsehen zu mir gekommen. Eine Panzerkolonne irgendwo in Afghanistan, grau auf dem grauen Bildschirm, die mechanische Stimme des sowjetischen Nachrichtensprechers. Die Sowjetunion brach bald zusammen, sie zog ihre Truppen aus Afghanistan und später aus Europa ab, doch die Kriege brachen nun sogar häufiger aus als zuvor. Beim nächsten Afghanistan-Krieg zeigte der Farbbildschirm meines Fernsehers schnittige Bomber, sie hoben rasch von Flugzeugträgern ab, und schon auf dem nächsten Bild stiegen riesige grauorange Wolken in den kargen Bergen auf, die in Farbe genauso aussahen wie einst in Schwarz-Weiß. So hatten sich alle bisherigen Kriege angekündigt, doch der jüngste Krieg war anders. Er wollte nicht wie ein Krieg aussehen, er war Alltag.

Es tauchten Uniformierte mit vermummten Gesichtern auf, die dennoch nicht martialisch erscheinen wollten. Sie sahen eher aus wie Spielzeugsoldaten, die man in meiner Kindheit als Geschenk aus dem Westausland mitgebracht hatte. Diese Männer ohne Rangabzeichen standen breitbeinig vor dem Eingang öffentlicher Gebäude in der Krimhauptstadt Simferopol, Passanten mit Kindern gingen an ihnen vorbei. Die Spielzeugsoldaten ließen die Hände auf den Gewehren ruhen, die locker vor ihren Bäuchen hingen, und man hatte den Eindruck, als würden sie nett lächeln. Das konnte man unter der Maske aber nicht sehen. Am liebsten hätte man mit ihnen gespielt. So zeigten sich die russischen Militärs auf Schnappschüssen und kurzen Videos, aufgenommen mit Mobiltelefonen. Und dann kam das Entsetzen. Wie in einem Horrorfilm, wenn durch die Augen eines Kuscheltieres ein Ungeheuer blickt.

Solche Bilder gibt es manchmal von Geiselnahmen oder Überfällen, oder wenn Passanten verwackelte Aufnahmen von Terroristen machen, die gerade in eine Schule oder Konzerthalle einbrechen. In den westlichen Nachrichten war vom Krieg lange nicht die Rede, so als wäre es tatsächlich ein unbedeutender Banküberfall ohne Sensationswert, ohne Tote und Verletzte. In Ermangelung eindeutiger Beweise, die es im Krieg sowieso nicht gibt, bezeichneten die Medien die Besatzer in ihren Tarnuniformen als »kleine grüne Männchen«; es klang, als wären sie vom Mars, vom Himmel gefallen.

Einerseits hatte es tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Invasion aus dem Weltall, doch kaum jemand in Ost und West schien wirklich überrascht. Eher kam es einem wie ein Albtraum vor, der über Jahre immer wieder auftaucht, aus dem man morgens aber mit der erleichternden Einsicht erwacht, dass so etwas in Wirklichkeit nicht passieren darf. Der Tod eines Nahestehenden, eine fatale persönliche Niederlage, Krieg. Man kann darauf nicht richtig vorbereitet sein, und dennoch: Eine wirkliche Überraschung ist es dann auch nicht. Dass Putin Krieg bedeutet, war eigentlich seit Langem klar, eigentlich schon seit dem sogenannten Zweiten Tschetschenienkrieg. Putin begann ihn als Ministerpräsident mit Beliebtheitswerten im einstelligen Prozentbereich, und nach einem halben Jahr Krieg wurde er zu Boris Jelzins Kremlnachfolger ernannt, um schon dreieinhalb Monate später gleich beim ersten Wahlgang Präsident Russlands zu werden. Der Krieg in Tschetschenien dauerte noch Jahre, und als die Kämpfe seltener wurden, stießen die russischen Panzer 2008 nach Georgien vor. Ganz überraschend kam der Angriff auf die Ukraine also gewiss nicht.

Sehr überraschend war jedoch das, was Putins neuer Krieg, Tausende Kilometer entfernt von seinen Schauplätzen, in meinem unmittelbaren Umfeld, im Westen, in Europa und Deutschland angerichtet hat. Das traf auch die unvorbereitet, die über Putin keine Illusionen hatten. Offenbar hatte ich keine Ahnung von vielen grundlegenden Dingen, die unter der heilen Oberfläche von Politik und Gesellschaft lauerten. Etwa vom Aluhut.

»Mutter setzt Baby Alukappe auf« – das hatte man manchmal auf den Titelseiten der Zeitungen mit großen dicken Überschriften und vielen bunten Bildern gelesen. Die Mutter will ihr Kleines vor Strahlen schützen, die sein Gehirn manipulieren. Sie glaubt nicht, dass es solche Strahlen nicht gibt, und sie glaubt auch nicht, dass die Alufolie keinesfalls vor elektromagnetischer Strahlung schützt, die unsere moderne Umwelt tatsächlich durchdringt. Der Begriff Aluhut steht mittlerweile für allerlei Verschwörungstheorien, für die es in Deutschland neuerdings sogar einen ironischen Preis gibt, den Goldenen Aluhut.

Wenn es eine postmoderne Religion geben könnte, würde sie Folgendes lehren: Wir werden von geheimen Weltmächten manipuliert. Und: Man versteckt die Wahrheit vor uns. Was das mit Putin und seinen Kriegen zu tun hat, will ich hier darlegen. Dies ist dabei keine Manipulation der Leser. Ich lege alle meine Karten auf den Tisch und gestehe offen ein: Die eine oder andere These kommt aus fernen Zeiten und entlegenen Landschaften, die ich durchkreuzt habe. Einiges geht so weit zurück wie Moskau 1991, als mein Geburtsland, die Sowjetunion, ohne einen Knall, nur mit kläglichem Gewimmer zugrunde ging. Manches rührt von den Zeiten her, als meine Freunde und ich im linken Berlin der Neunziger mit dem Gefühl lebten, die Geschichte wäre an ihrem Ende und es würde keinen Krieg mehr geben, zumindest nicht für uns. Wenn ich irgendwann, irgendwo auf dieser Reise von einer Weltregierung den Auftrag erhalten hätte, die Wahrheit zu manipulieren, würde ich das hier sogar zugeben. Aber eine geheime Weltregierung gibt es ja nicht.

Nachdem zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein Staat sich einen Teil eines anderen Staates gewaltsam einverleibt hatte, gingen die Menschen in Deutschland und anderswo im Namen des Friedens auf die Straße. Die Demonstranten protestierten aber nicht gegen die russische Krim-Annexion. Sie unterstützten Putins Kriegspolitik gegenüber den eigenen Regierungen, die angeblich einen Krieg gegen Russland anzetteln wollten. Putins Krieg war für sie keiner, er war für sie Frieden. Dagegen bedeuteten alle auch noch so zögerlichen Bemühungen, den Aggressor aufzuhalten, Krieg. Es war eine wunderbare Übertragung von George Orwell auf unsere Verhältnisse: »Krieg ist Frieden.«

Nicht weniger erschütternd war aber, welche politischen Gesinnungen bei diesen »Montagsmahnwachen für den Frieden« zueinanderfanden. Überproportional viele Wähler der deutschen Linkspartei (nämlich mehr als doppelt so viele wie der statistische Durchschnitt) und der nationalpopulistischen AfD demonstrierten Hand in Hand mit Antisemiten. Bei einer Mahnwache wurde sogar skandiert: »Hamas, Hamas, Juden ins Gas!« Mehr als ein Drittel der Demonstranten wollte sich gegenüber den Meinungsforschern weder als links noch als rechts einordnen. Viele von ihnen wollten »einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert«. Die Klientel populistischer Politiker war in Deutschland bisher schön brav zu Hause oder am sprichwörtlichen Stammtisch sitzen geblieben. Nun gingen die Untertanen zum ersten Mal auf die Straße und auf die Suche nach einem Anführer. Einem, der ihr Gefühl bestätigt, dass Krieg Frieden ist, dass Wahrheit Lüge ist, und der ihnen die wahre Wahrheit offenbart.

»Putin macht alles richtig«, sprach zu mir einmal nach einer dieser Mahnwachen ein älterer Herr in der S-Bahn. Er hatte gehört, wie ich mit meinen russischsprachigen Freunden über den Ukraine-Krieg redete. »Всё будет хорошо«, fügte er auf Russisch hinzu, was er vermutlich in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands gelernt hatte – »alles wird gut«.

Die deutsche Wortbildung »Putin-Versteher« ist inzwischen international geworden. Sie beschreibt eine Einstellung, die in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist, sowohl beim Durchschnittsbürger als auch unter den Meinungsführern. Noch vor dem Krieg verlief eine wichtige Trennlinie zwischen diesen Russlandverstehern und den sogenannten »Russlandexperten«. Letztere, die eigentlich schon seit Jahren die autoritäre Politik des Kremls kritisiert hatten, wurden damals auch »Russlandkenner« genannt, und sie hatten sowohl in der Politik als auch in der Expertengemeinschaft die Oberhand bekommen. Dennoch rief der Kriegsausbruch Lobbyisten russlandorientierter Konzerne und politische Versteher der Krim-Annexion auf den Plan, die als Entspannungs-Politiker auftraten. Oft dominierten sie sogar die Talkshows im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Auch den Lesern großer Zeitungen erzählten sie ihre Version der Wahrheit: Putin habe keine Soldaten in die Ukraine geschickt, man solle Putin glauben, man solle Putins Gefühle verstehen.

Das Verständnis für Despotien ist natürlich kein deutsches Phänomen. Putinversteher gibt es sowohl unter Journalisten in Venezuela als auch unter Politologen in den USA. Den meisten von ihnen geht es eigentlich nicht vordringlich um Putin. Vielleicht hätte auch eine der früheren Krisen oder irgendein anderer Brandherd der Welt ihre Einstellungen an die politische Oberfläche gespült. Jedenfalls waren bei den Krisen, die in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit den Ukraine-Krieg ablösten, die meisten Putinversteher gleich wieder da. Viele von denen, die Verständnis für Putin hatten, sahen auch seinen syrischen Kollegen Baschar al-Assad als Opfer westlicher Misshandlung. Assad hatte bereits Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt und tötete Zivilisten mit den gefürchteten Fassbomben. Die Assad-Versteher sprachen aber lieber von einer westlichen Verschwörung gegen ihn, die sie als »Regime-Change-Politik« bezeichneten. Als dann die ausgebombten Syrer begannen, Zuflucht in Europa zu suchen, fanden dieselben Menschen eine gemeinsame Sprache mit den Nationalpopulisten im Südosten Europas, die Mauern gegen Einwanderer bauten. Bei jeder neuen Krise gewinnen solche Einstellungen an Wucht und Masse.

Putin war gewiss nicht der Erste, der auf diese Versteher zurückgreifen konnte. Es bedarf nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass etwa Gerhard Schröder oder Silvio Berlusconi ebenfalls eine starke Versteher-Basis hatten. Beide waren nur zu früh dran. Doch bereits heute gibt es nicht allein im Süden Europas und nicht nur im Norden Amerikas Politiker, die sehr erfolgreich die magische Quelle des Populismus anzapfen. Sie sagen, hier sei die Wahrheit, die uns vorenthalten werde. Hier seien die Feinde, die sich gegen uns verschworen hätten. Frei nach Orwell: Wahrheit ist Lüge, Krieg ist Frieden und Frieden ist Krieg.

Ihre alternative Wahrheit ist jedoch, um hier den Orwell’schen Diskurs zu verlassen, nichts anderes als glatte Lüge. Genau hier lag von jeher der Kern des politischen Populismus. Nach den Anschlägen von 9/11 entstand zum Beispiel die Theorie, dass diese ein Werk der amerikanischen und israelischen Geheimdienste gewesen seien. Es dauerte jedoch Jahre, bis diese alternative Wahrheit in Ländern wie Venezuela oder dem Iran zum etablierten Teil des politischen Diskurses wurde. Die alternative Wahrheit des Ukraine-Krieges, die besagt, diesen Angriffskrieg gebe es nicht, war dagegen von vornherein Bestandteil der Kriegsstrategie. Heute sind Geheimoperationen unter falscher Flagge, wie der fingierte Überfall polnischer Soldaten auf den deutschen Sender Gleiwitz, nicht mehr nötig. 1939 brauchte man, um den Einmarsch nach Polen zu begründen, noch einen, wie es der SD-Chef Reinhard Heydrich damals formulierte, »tatsächlichen Beweis für die Auslandspresse und für die deutsche Propaganda«. Heute sind keine Beweise nötig. Überall auf der Welt sitzen die Fans obskurer Medien vor Computerbildschirmen und warten nur darauf, dass man ihnen eine alternative Wahrheit verkündet. Sie würden alles glauben, solange es aus keiner sachlichen Quelle kommt; solange es sich nicht wissenschaftlich verifizieren lässt.

Wie weit entfernt ist noch der Moment, wenn in den alten Demokratien Europas etwas in der Art der Tea-Party-Bewegung entsteht? Bis im Élysée-Palast oder im Kanzleramt oder im Weißen Haus jemand wie Donald Trump, jemand wie Viktor Orbán sitzt? Am Ende geht es gar nicht um Putin. Vielleicht sollte man dafür, dass sein Krieg all das aus den Abgründen der Politik und den Tiefen des Internets an die Oberfläche befördert hat, sogar sagen: Danke, Putin!

Viele höfliche Menschen und eine Katze

Die kleinen grünen Männchen, die, ohne einen Schuss abzugeben, die ukrainische Krim besetzten, wurden in Russland selbst kaum so genannt. Ein Blogger beschrieb sie als »höfliche Menschen«, was die Staatsmedien sofort aufgriffen. Nach der Annexion bestritt Wladimir Putin noch eine ganze Weile, dass es sich um russische Militärs handelte. Sein Verteidigungsminister pflichtete dem Präsidenten bei und verglich die Besatzer mit einer »schwarzen Katze im dunklen Zimmer«. Diese Katze sei »klug, tapfer und höflich«, fügte er hinzu.

Ähnlich wie Menschen, die einen Terroranschlag im Ausland mit einem Straßenfest zelebrieren, zogen Prozessionen durch die Straßen Russlands und feierten die Eroberung und die »höflichen Menschen«. Bald gab es in Russland eine Warenmarke, die so hieß, der Alexandrow-Chor sang ein Lied namens »Die höflichen Menschen«, heute werden ihnen Denkmäler errichtet. Es gibt auch ein Set Spielzeugsoldaten mit der Bezeichnung »Die moderne russische Infanterie – Die höflichen Menschen«. Sie sind fast genauso gut verarbeitet wie die amerikanischen oder französischen Spielzeugsoldaten aus meiner Kindheit, nur zum Spielen sind sie etwas zu unhandlich. Eine Katze ist auch dabei.

Die Gesichter der russischen Spielzeugsoldaten sind vermummt, aber ihre realen Vorbilder haben manchmal auch ohne Gesichtsschutz in die Kamera gelächelt oder sogar ihren Mund aufgemacht, um zu sagen, dass sie nicht reden dürften, aber man verstehe doch sowieso alles, oder? Mir waren diese Gesichter von jeher bekannt.

Es macht einen Terroranschlag noch viel schrecklicher, wenn man sieht, dass die Attentäter genauso wie die Eltern eines Mitschülers deines Kindes oder wie die Verkäufer im Laden nebenan aussehen. Wenn sie etwas sagen und dabei dieselben Floskeln gebrauchen wie die eigenen Freunde oder man selbst. Das bringt den Horror ganz nah, macht ihn zum Teil des eigenen Lebens.

So war auch die schreckliche Realität der höflichen Menschen. Es waren meine – nur älter gewordenen – Mitschüler. Dieser Soldat mittleren Alters, der sein Sturmgewehr wie eine domestizierte Schlange kaum merklich streichelte, wirkte dabei genau wie ein Waffenliebhaber aus meiner Schulklasse. Nach der Schule durfte er nicht erzählen, wo er jetzt arbeitete. Es war etwas mit Maschinenpistolen, er nannte sie »meine Maschinchen«. Ein anderer Soldat, der sich minutenlang von den ukrainischen Journalisten befragen ließ, war unserem Klassentrottel zum Verwechseln ähnlich. Er stand auf seinem Posten wie vor der schwarzen Tafel, wusste keine Antwort und lächelte dabei so, dass sich seine Lippen nicht bewegten und seine Augen zu immer schmaleren Schlitzen wurden. Diesem Mitschüler ging der Unterrichtsstoff, wie er zu sagen pflegte, »so was von am Arsch vorbei« wie die Journalistenfragen dem »höflichen« Soldaten.

Meine Mitschüler überfallen andere Länder. Das konnte einfach nicht sein, aber das war es, was da passierte. Obwohl es so etwas heutzutage einfach nicht mehr gibt, Krieg ist doch längst nicht mehr Teil unseres Lebens. Den gibt es nur in alten Büchern über den Zweiten Weltkrieg. Wir haben doch alle über die Menschen im Deutschland der Dreißigerjahre gelesen, die hilflos zusehen, wie das Regime immer unerträglicher wird, wie zuerst die Oppositionellen auswandern, dann die unpolitischen Bürger, die um die eigene Sicherheit bangen, und dann diejenigen, die die stickige Luft der Repression und der Lügen nicht mehr ertragen können. Schließlich verleibt sich das Regime fremde Gebiete ein, schließlich ist Krieg – und plötzlich passiert dieser alte Albtraum hier und heute. Da sind meine Mitschüler live auf dem Bildschirm, ihre Waffen, ihre Blicke, und ich vor dem Computer, der das nicht glauben kann. Nun bin auch ich so jemand geworden: eine Figur aus der Vergangenheit, über die man irgendwann mit derselben Erleichterung lesen wird, mit der ich Aufzeichnungen aus den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gelesen habe. Mit Erleichterung darüber, dass es vorbei ist und niemandem mehr widerfahren kann. Nun kann ich diesen Lesern nur wünschen, dass die Vergangenheit nicht auch sie irgendwann einholt.

Das siegreiche Russland selbst schien indes damals wie heute im Frieden mit sich selbst. Der Krieg, der keiner sein wollte, der nun »hybrider«, »asymmetrischer« oder »propagandistischer« hieß, also kein echter Krieg war, ging weiter und tiefer. Er überrollte mit seinen Panzern den Osten der Ukraine, und überall auf der Welt mobilisierte er seine Versteher und Unterstützer im Internet, auf der Straße und in der Politik.

Die Politiker der linken Parteien Europas zogen zusammen mit ihren einstigen rechten Gegnern in den Krieg, Schulter an Schulter mit den »höflichen Menschen«. In der Sowjetunion hatten wir alle bereits in der Grundschule gelernt, wie man die Macht richtig, also gemäß der Lehre des Marxismus-Leninismus, erobert. Anfang Oktober 1917 schrieb W. I. Lenin in seinem unverkennbaren Duktus (und wir mussten das Jahrzehnte später alle auswendig lernen):

Unsere drei Hauptkräfte: die Flotte, die Arbeiter und die Truppenteile, sind so zu kombinieren, dass unbedingt besetzt und um den Preis beliebiger Verluste behauptet werden: a) das Telefonamt, b) das Telegrafenamt, c) die Bahnhöfe.

Genau so gingen die höflichen Menschen vor, Lenins Lehre kreativ an die neue Zeit anpassend. Hoffentlich waren die linken Freunde Putins gebührend beeindruckt. Die russische Flotte hatte ja auf der Krim ihre Stützpunkte; noch vor den Bahnhöfen wurde der Flughafen besetzt, wogegen Lenin bestimmt nichts einzuwenden gehabt hätte. Später dann okkupierten die höflichen Menschen, wie schon die Bolschewiki nach ihrer Machtergreifung, das Parlament der Republik Krim. Sie inszenierten den Entscheid der Abgeordneten und später der Bevölkerung für den Anschluss an Russland, und genau hier kamen ihre europäischen Verbündeten ins Spiel.

Um dem Referendum auf der militärisch besetzten Halbinsel den Anschein von Legitimität zu geben, reisten verschiedene Vertreter von europäischen Parteien auf die Krim, die man gewöhnlich als extrem links oder radikal rechts bezeichnet. Sie alle spielten geschlossen die Rolle der Wahlbeobachter – die Mitglieder der deutschen Linkspartei neben einem Vertreter der nationalpopulistischen Front National aus Frankreich, ein griechischer Neo-Stalinist neben den Rechtspopulisten der österreichischen FPÖ, neben links-rechten Populisten aus Belgien oder Bulgarien, Italien oder Polen.

Lechts und rinks

In den deutschen Medien und Sozialstudien wird dieses Milieu manchmal als Querfront bezeichnet. Das ist eher irreführend. Der Begriff, der zugegebenermaßen sehr verlockend klingt, wurde in den 1930er-Jahren geprägt. Doch eine Querfront als Allianz zwischen den Anhängern der konservativen und der sozialen Revolution ist damals nie zustande gekommen, die Nationalsozialisten deckten beide Felder erfolgreich ab. Heute aber sind diese Felder so nicht mehr vorhanden. Zwar betont ein Rechtspopulist mehr die traditionellen rechten Inhalte und der Linkspopulist die linken. Das Nationale hat für die Rechten etwas mehr Bedeutung, während die neuartige Linke vor allem mehr Gleichheit anstrebt. Doch auch die Rechtspopulisten versprechen eine Umverteilung von oben nach unten, und die Linkspopulisten schützen nun die nationale »Souveränität«. Innerhalb der Basis ist diese Vermischung noch stärker ausgeprägt, und bei Aktivisten und Demonstranten ist es oft unmöglich zu sagen, ob sie links oder rechts sind. Diese Leute gehen gegen den Islam auf die Straße und zugleich für Putin; gegen die Banken und zugleich für die Nation; gegen den Krieg und zugleich für Baschar al-Assad.

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum

schrieb Ernst Jandl 1966, als die beiden Lager noch getrennt existierten. Nun, Querverbindungen, etwa beim Thema Antisemitismus, gab es schon damals. Aber in diesen Zeiten hatte die Linke noch Visionen, heute hat sie nur Feindbilder. Heute macht es wenig Sinn, von einer Querfront zu reden, die sich aus verschiedenen Extremen zusammensetzt. Die Front ist ein und dieselbe.

Putin gelang es als Erstem, die ehemals als links und rechts Bezeichneten so nah zueinander zu bringen. Weitere Krisen verstärkten dann den Trend. Zugleich verursachte sein Krieg einen Riss durch Freundschaften oder Familien, der bei den folgenden Krisen noch tiefer wurde. Wenn man anfangs, als einzelne Bekannte plötzlich auf der Seite Putins standen, lieber gar nicht über Weltpolitik redete, so gab es später richtig Streit in vielen Familien, ob man eine Mauer gegen die Flüchtlinge bauen sollte. Zwar sind mir keine Scheidungsfälle aus diesem Grund bekannt, doch die Polarisierung stieg deutlich an.

Zwei Juristen und der Kommunismus

Inzwischen kennt man die Einstellung der meisten Bekannten zur offenen Gesellschaft, und so kann man gut voraussehen, auf welcher Seite er oder sie bei der nächsten Krise steht. Doch anfangs war es für mich ein Schock, wer sich alles in meinem Umkreis als Putinversteher entpuppte.

Ein Jurist, der einige Jahre vor mir am linken Otto-Suhr-Institut der linken Freien Universität in Berlin studiert hatte und sich nach der Wende ein Schlösschen im nicht mehr sozialistischen Osten Deutschlands zulegte, bezahlte dieses mit dem Geld seiner Mandanten aus der Industrie. Dennoch ist dieser Anwalt zutiefst unglücklich darüber, wie der Neoliberalismus, wie die NATO, wie die EU, wie die etablierten Parteien unsere Welt zugrunde richten, und er hat deswegen volles Verständnis für Putin. Ein anderer Anwalt, der vor Kurzem noch Jurastudent war und gerne mal Bierflaschen auf die Polizei schmiss, arbeitet jetzt in der millionenschweren Familienkanzlei. Er findet die Neoliberalen und die US-Imperialisten nach wie vor arg öde, er verbringt mehr Zeit mit seiner Hip-Hop-Band als mit seinen Mandanten, und er hegt Verständnis für Putin.

Bei diesen beiden Juristen muss ich an einen Tagebucheintrag von Ernst Jünger denken. Am 24. Dezember 1971 notierte er ein Bonmot eines Freundes, des Schriftstellers Marcel Jouhandeau:

Wie ich von Pariser Besuchern hörte, randalierte neulich eine Gruppe Studenten, die mit einer seiner Äußerungen unzufrieden waren, vor seinem Haus. Marcel rief aus dem Fenster: »Macht, dass ihr fortkommt, in zehn Jahren seid ihr alle Notare.«

Ernst Jüngers katholischer Schriftstellerfreund hatte recht im Unrecht. Einerseits sind aus den Revoluzzern von ’68 in der Tat etablierte Notare, Geschäftsleute, Abgeordnete und sogar ein deutscher Vizekanzler geworden, der Außenminister der Grünen, Joschka Fischer. Diese politische Generation in Europa, zusammen mit den Civil-Rights-Aktivisten in den USA, setzte sich aber nicht einfach in die Chefsessel ihrer Väter, wie Marcel Jouhandeau es suggerierte. Ihre Revolution veränderte unsere Welt, und diese zehrt immer noch davon, was sie in Westeuropa und Nordamerika erreicht haben: mehr Freiheit, auch Redefreiheit, mehr Gleichberechtigung und universellere Menschenrechte, mehr Solidarität und weniger Gewalt, mehr Aufklärung, mehr Humanismus. Ich wäre vor zwei Jahrzehnten gewiss nicht nach Deutschland gezogen, wenn es sich seit den Fünfzigern nicht so sehr verändert hätte.

Vielleicht hat mein älterer Jurist ebenfalls dazu beigetragen, dass der Rechtsstaat und die Demokratie stärker wurden, ja vielleicht trägt er immer noch dazu bei. Ich jedenfalls würde ihm genüssliche Stunden in einer Villa irgendwo in der Toskana gönnen, mit Rotwein und Sonnenuntergang. Doch leider kommt er abends aus der Kanzlei heim in seine teure Immobilie, guckt Nachrichten auf seinem schicken schwarz-weißen Grundig-Fernseher und ärgert sich jede Sekunde über den Raubkapitalismus generell und den Imperialismus der USA im Besonderen.

Der jüngere Jurist, der vor einigen Jahren mit Bierflaschen auf die Polizei warf, wie es ja auch viele 68er getan hatten, wird aber im Gegensatz zu ihnen unsere Welt kaum wohnlicher machen. Seine linken Väter hatten übrigens auch für meinen Geschmack viel zu viel Verständnis für Moskau. Das hatten sie aber nicht, weil die Sowjetunion eine Diktatur war. Und nicht, weil sich die US-Imperialisten vor ihr fürchteten. Russland war für sie gleich Revolution, gleich Kommunismus.

In Russland selbst – damals noch die Sowjetunion – kannte ich in meiner Generation niemanden, der an den Kommunismus geglaubt hätte. Vielleicht bis auf meinen Mitschüler Dima, meinen besten Freund in der Abschlussklasse. Ich hatte ihm damals versprochen, kein Wort darüber zu verlieren. Aber der Sowjetkommunismus ist längst zusammengebrochen, und heute darf ich es erzählen.

Als unsere Eltern noch fast genauso jung gewesen waren wie wir damals, hatte ihnen Generalsekretär Chruschtschow versprochen, noch zwanzig Jahre, und sie würden in einer glücklichen und gerechten kommunistischen Gesellschaft leben:

Die Partei will hiermit feierlich verkünden: Schon die jetzige Generation der sowjetischen Menschen wird im Kommunismus leben!