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GUSTAV SCHÖRGHOFER

DREI
IM BLAU

MIT EINEM BEITRAG
VON JULIAN SCHUTTING

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALT

Zur Einleitung

Teil I
Drei im Blau

Über sich hinausgehen

Das Fremde sehen

Die Erfindung von Leerraum und Subjekt

Die Eindeutigkeit geht verloren

Fragmente im Unfassbaren

Sichtbares und Unsichtbares

Einfache Dinge

Giorgio Morandi (1890–1964)

Käthe Kollwitz (1867–1945)

Schweben

Wunde und Schmerz

Das Kreuz

Max Weiler (1910–2001)

Karl Prantl (1923–2010)

Der Glanz von Gold

Wie sieht Gott aus?

Teil II
Julian Schutting: Wie sieht Gott aus?

Teil III
Über das Schaffen von Orten

Kirche

Fabrik

Nachwort

Anmerkungen

Bildnachweis

Es wird schon irgendwie weitergehen, glauben die Menschen, mit der Wirtschaft, mit dem Wohlstand, mit der Sicherheit, mit dem Leben. Die Menschen leben weiter in der Wiederkehr des immer Gleichen. Doch für den Einzelnen kann es plötzlich vorbei sein. Wer den Tod oder den Weggang eines Menschen erleidet, kommt an ein Ende. Gibt es dort, wo alles vorbei ist, noch etwas zu entdecken? Zunächst ist alles aus. Und dann? Es heißt, ein Christ habe den Tod hinter sich und die Liebe vor sich. Das klingt sehr schön, setzt aber voraus, dass die Liebe aus dem Nichts erstehen kann, etwas völlig Neues, noch nie Dagewesenes. Keine Wiederholung, keine Wiederkehr des immer Gleichen. Gibt es das, die Musik nach dem Ende? Sie müsste dann anders sein. Beziehungen müssten anders gelebt werden, Kunstwerke anders aussehen und Priester anders sprechen. In jeder Begegnung müsste das Staunen darüber mitschwingen, dass der Andere da ist. Der Andere, das ist der Fremde, das ist der, der durch den Tod hindurch zu entdecken ist – nur durch den Tod hindurch. Im Glauben und in der Kunst geht es letztlich um nichts anderes als um Begegnung mit diesem Fremden.

In Erinnerung an den Oboisten Wolfgang Zimmerl (1965–2011)

ZUR EINLEITUNG

Die Betrachtungen und Überlegungen dieses Buches sind das Ergebnis langer Erfahrung im Umgang mit Kunstwerken, seien sie alt, modern oder zeitgenössisch. Glaube wird von mir als einzigartiges Phänomen verstanden, da er in einer persönlichen Beziehung zu Gott gründet, wie sie in der Taufe zum Ausdruck gebracht wird. Mit Religiosität oder Spiritualität darf das Phänomen des Glaubens nicht verwechselt werden. Es ist ganz anderer Natur.

Die Erfahrung des Glaubens und die Erfahrung der Kunst haben mich zu zwei Einsichten geführt. Zur einen, dass Kunstwerke, wenn sie mit den „Augen des Glaubens“ betrachtet werden, tiefere und weitere Bedeutung bekommen. Zur anderen, dass die Begegnung mit Kunstwerken eine wesentliche Hilfe ist, um Glaube, Hoffnung und Liebe in unserer Gegenwart lebendig zu erhalten.

Die Bibel beschreibt den Weg Gottes als Wendung zu den Armen, den Witwen und Waisen, zu allem, was am Rand steht, schwach ist, als unbedeutend gilt. Sie beschreibt Gottes Weg als Menschwerdung, als Eingehen in Schwäche und Verwundbarkeit, Auslieferung an die Gewalttäter, Leiden und Tod. Und sie beschreibt ihn als Durchgang durch Wunden, Leid und Tod, als Weg zu einem neuen Anfang, in eine neue Schöpfung.

Die Kunst der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts hat wesentlich mit diesen Kernaussagen der Bibel zu tun. Sie hat sich selbst auf diesen Weg gemacht. Das zeigt sich jedoch auf eine völlig neue und überraschende Weise. Es wird nicht mehr abgebildet, es werden Zeichen gesetzt. Ein Betrachter kann all das nicht verstehen, wenn er als Unbeteiligter Distanz hält. Nur wer die Erfahrung, die den Kunstwerken zugrunde liegt, als Erfahrung des eigenen Lebens begreift, wird den Sinn dieser Kunst erkennen.

Die Entdeckung der Würde dessen, was als minderwertig bisher verworfen worden war, durch Künstlerinnen und Künstler ist eines der großen kulturhistorischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Materialien aller Art, deren Verwendung in einem Kunstwerk früher ganz und gar ausgeschlossen war, tauchen nun in Bildern und Skulpturen auf. Das Unedle, Wertlose, der Abfall – all das bekommt durch die Kunst eine besondere Würde. Die Kunst von Kurt Schwitters ist hier zu nennen, oder die von Jean Tinguely, die von Alberto Burri und die von Antoni Tàpies. Viele Künstlerinnen und Künstler haben etwas bezeugt, das einer in der Bibel geschilderten Grundhaltung Gottes entspricht.

Gerade im kirchlichen Umfeld ist immer wieder zu hören, die Kunst solle doch edel, schön und erhaben sein. Doch der Gott der Bibel nimmt sich gerade des Minderwertigen und Geringgeschätzten, der Sünder, an. Er entdeckt Schönheit und Würde dort, wo andere nur Dreck und Niedrigkeit sehen können. Der Blick Jesu, sein immer wieder bezeugtes Gespür für die Größe und Würde des Menschen, macht das deutlich. Den Künstlerinnen und Künstlern ist es zu verdanken, dass inmitten einer Konsum- und Erfolgsgesellschaft dem als gering und wertlos Geltenden Würde und Ansehen geschenkt wird. Eben deshalb machen sie gerade das Unansehnliche und Unbrauchbare zum Gegenstand ihrer Werke.

Die Erfahrung von Leid, nicht nur der Menschen, sondern der gesamten Kreatur bis hin zur Deformation der Materie, hat mehr als jede andere Erfahrung die Kunst des 20. Jahrhunderts geprägt. Auch hier sind es nicht Abbilder, die das Leid und die Leidenden auf Distanz zum Betrachter halten. Im 20. Jahrhundert führt die Kunst – wie nie zuvor in der Geschichte Europas – in die Mitte des Leids, der Not, der Nacht. Niemand wird sie verstehen, der in diesen Bildern, Skulpturen, Filmen, Gestaltungen aller Art nicht die eigene Erfahrung wiederfindet, sich nicht hinführen lässt in die Mitte eigenen Leids und eigener Not. Diese Kunstwerke sind Begleiter und Hilfe, um es an einem schrecklichen Ort auszuhalten. Um es auszuhalten, hier auf der Erde, aus Liebe zu anderen.

Auch wenn in den Kunstwerken, gerade in den schrecklichen, den schwer erträglichen, von Liebe nicht die Rede ist: dass sich hier einer so weit zum Menschen vorgewagt hat, dass er die Nähe des Menschen auch in seiner Not, seiner letzten Not sucht, das allein ist Zeugnis der Liebe. Ein Künstler legt dieses Zeugnis im Kunstwerk ab, ein Betrachter kann es entdecken und in sein eigenes Zeugnis verwandeln. Wer von der Kunst der Gegenwart Trost und Schönheit verlangt und ihr den Mangel an all dem zum Vorwurf macht, der verkennt die Situation des Menschen in dieser Zeit. Der verkennt auch die Botschaft der Bibel, dass die neue Schöpfung nur im Durchgang durch das Leid zu finden ist.

Das Leid, der Verlust, die Wunde, die Not zeigen sich auf unterschiedliche Weise im Werk vieler Künstler. Zwei bereits verstorbene Filmemacher sind hier besonders zu erwähnen: Andrej Tarkowskij und Pier Paolo Pasolini. Der Betrachter hat nicht mehr das allgemein verständliche Bild der Not, des Leids vor sich, das frühere Jahrhunderte geschaffen haben: der Gekreuzigte, der Märtyrer. Damals wurde das Leid stets in einem Zusammenhang wahrgenommen, der ihm Sinn schenkte. Heute ist dieser Zusammenhang nicht mehr vorgegeben.

Für die Vorstellung von einem Ende, das zugleich der Beginn von etwas Neuem ist, hat die Wunde besondere Bedeutung. Durch die Wunde wird der Leib geöffnet. Sie ist ein Tor in sein Inneres, ein Einlass. Zugleich ist sie Ausgang aus dem Inneren. Durch sie teilt sich etwas mit, das im Inneren verborgen ist. Alte Bilder zeigen die Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Jesu Christi. Bilder des Schmerzensmannes aus dem 15. Jahrhundert zeigen die Zuwendung Jesu Christi zum Betrachter auf ganz besondere Weise: Jesus hält mit beiden Händen die Öffnung der Seitenwunde offen.

Nachdem schon im 19. Jahrhundert die Darstellungen christlicher Bildinhalte weniger wurden, verschwinden sie im 20. Jahrhundert fast ganz. Doch nie zuvor in der Geschichte hat es eine größere Fülle und Qualität von Kunstwerken gegeben, die in jener von ihrem Ursprung her tief christlichen Vorstellung des Guten, aus dessen Wunde das Neue entspringt, verwurzelt sind.

Lucio Fontana thematisiert die Verletzlichkeit der Haut des Tafelbildes und öffnet sie durch Löcher und Schnitte. Eine neue Gestalt des Bildes entsteht. Sie verlangt, in das Bild einzugehen, durch den Schnitt, durch die Öffnung den Weg in ein Inneres anzutreten.

Der Reichtum der Kunst von Wols oder von Paul Klee gibt sich dem zu erkennen, der sich auf ihre äußerst zarte Form einlässt. Die Kunst beider zeigt eine Welt mit verletzlicher und verletzter Haut. Auch die Stillleben von Giorgio Morandi sind in diesem Zusammenhang zu sehen, und die Kunst von Alberto Giacometti, die Arbeiten von Bill Viola und die von James Turrell. Ja mehr noch: Das Element des Verwundbaren, des Verwundeten, das Phänomen der Wunde, der Öffnung, durch die Zugang zu etwas Neuem gewährt wird, ist so prägend für die Kunst des 20. Jahrhunderts, dass kein bedeutendes Werk eines Künstlers frei davon ist. Die Frage ist, wie es zu entdecken, wie es wahrzunehmen ist. Denn es ist nicht wie früher an bestimmte Motive und Inhalte gebunden, sondern tritt in immer neuen Erscheinungen auf, von Künstler zu Künstler, von Künstlerin zu Künstlerin verschieden.

Der Betrachter muss sich den Zugang zur Bildwelt eines jeden Künstlers, einer jeden Künstlerin, immer wieder neu suchen. Das Fremde fordert ihn immer neu heraus, sich der eigenen Erfahrung zu stellen. Der Sinn ist nicht vorgegeben, sondern vom Betrachter auf dem Weg der eigenen Erfahrung erst mühsam zu entdecken. All das aber führt näher an die Welt der biblischen Botschaft heran als eine Vorwegnahme von Sinn, die doch nur das Eingehen auf das Leid zu meiden sucht.

Erstaunlich ist, wie sehr sich in der Kunst der Gegenwart und der des 20. Jahrhunderts jenes Geheimnis offenbart, welches das Geheimnis großer Kunst ist. Jedes Kunstwerk birgt in sich eine tiefe Freude, es eröffnet dort den Zugang zu einem Sinn, wo aller Sinn verloren scheint, es öffnet die Augen für Schönheit dort, wo nur mehr das Grauen zu regieren scheint. In den besten alten Bildern des Gekreuzigten ereignet sich gerade das.

Die biblische Botschaft bezeugt immer wieder, dass im Durchgang durch Leid und Tod, im Durchgang durch ein Ende, einen Verlust, etwas zu erreichen ist. Ein neuer Anfang, ein Leben jenseits des Todes, eine neue Schöpfung. Was bereits in diesem Leben vielfach erfahren werden kann, findet seine Erfüllung in der Auferstehung der Toten, wenn Gott alles in allem ist (1 Kor 15,28). Eine tiefe Ahnung dieser Wirklichkeit kommt in jedem Kunstwerk zum Ausdruck. In jedem Kunstwerk zeigt sich Glaube, unverfügbar, aufgrund der Qualität des Werkes.

Das größte Geheimnis der biblischen Botschaft, das Wort von der Nähe Gottes, von der Auferstehung, von der neuen Schöpfung, wird von den Werken großer Kunst bezeugt. Im 20. Jahrhundert gibt es Werke dieser Art. Die Skulpturen von Alberto Giacometti stehen für die Wirklichkeit einer neuen Schöpfung ein. Sie sind auf einem Weg entstanden, der durch den Verlust der Figur, durch den Verlust alles Abbildhaften, durch den Verlust alles Fassbaren hindurch geführt hat. Wer nahe an sie herantritt, kann keinen Bezug zu einer Form des menschlichen Körpers wahrnehmen. Und doch ist durch diese Figuren der menschliche Körper, der lebendige Leib auf eine einzigartige Weise präsent. Jede dieser Figuren hat einen Raum um sich, der mit ihr gemeinsam wahrgenommen werden muss. Sie stehen in einem Raum, in dem sie in Erscheinung treten. Ein Raum, der nichts mehr mit unserem vermessbaren Raum zu tun hat. Es ist ein Raum, der sie trägt, den sie aufnehmen, den sie zwischen sich verdichten oder in sich verdichten.

Die Kunst der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts bietet keine Belehrung, sie illustriert nicht die Inhalte des Glaubens. Sie ist jedoch eine Herausforderung an den Glaubenden. Sie fordert ihn dazu heraus, die Zeichen der Gegenwart des Geistes dort zu suchen und zu entdecken, wo sie nicht mehr dem Gewohnten entsprechen. Sie fordert ihn dazu heraus, die Gegenwart dessen, was vom Wort der Bibel bezeugt wird, in neuen und gültigen Gestalten zu erkennen.

„Ich arbeite nicht auf der Leinwand, wohl aber auf dem, der sie betrachtet.“ – Dieser Satz von Henri Matisse weist auf etwas hin. Das Kunstwerk verwandelt den Betrachter und dessen Wahrnehmungsvermögen. Umgekehrt hat der Betrachter selbst schöpferische Kraft, seine Wahrnehmung lässt das Kunstwerk als Kunstwerk erst entstehen. Um das Wirken des Geistes Gottes zu entdecken, bedarf es einer Ahnung, wer Gott ist und wie Gott ist. Und es bedarf der Präzision der Wahrnehmung, um wirklich zu sehen, was augenscheinlich ist.

TEIL I

DREI IM BLAU

BIRNEN/KOSMOS – ein kleines Bild von Heinrich Menches. Zwei rotbraune Dreiecke nehmen ein mächtiges Blau in ihre Mitte. Die heftige Bewegung der Pinselstriche, Aufschäumen und Versinken der Farbe: Blau, aus dem Blauweiß ins Schwarzblau. Und schwebend im Blau drei gelbe Birnen.1

„Und als er an einem Tag auf den Stufen desselben Klosters die Tagzeiten unserer Herrin betete, begann sich ihm der Verstand zu erheben, als sähe er die heiligste Dreifaltigkeit in Gestalt von drei Tasten …“2 So schildert Ignatius von Loyola in seiner Autobiografie, dem „Bericht des Pilgers“, seine Schau Gottes. Ignatius spricht von sich selbst in der dritten Person. Er sagt nicht, er habe drei Orgeltasten gesehen und diese hätten ihn an die Dreifaltigkeit erinnert. Er sagt, er habe die Heiligste Dreifaltigkeit in Gestalt von drei Tasten gesehen. Sie hat sich ihm zu erkennen gegeben. Aber nicht in mächtigen Erscheinungen, sondern in der Gestalt unscheinbarer Gegenstände. Gott kann in den Gestalten dieser Welt wahrgenommen werden. In Gestalt von drei Orgeltasten. Oder von drei Birnen im Blau.

Jesuitenkosmos – eine Installation von Christoph Steinbrener und Rainer Dempf. Von November 2008 bis Mai 2009 war über den gesamten Innenraum der Wiener Jesuitenkirche/Universitätskirche eine Ansicht der Erde aus dem Weltall gespannt. Über dem Blau der Meere weiße Wolken. Schwarz die Weite des Raums. Ein Astronaut schwebt im Freien. Teile der Raumstation. Die Gewölbefresken eines der prächtigsten hochbarocken Kirchenräume Wiens sind mit diesem auf ein engmaschiges Netz gedruckten Foto der NASA verhängt, das Bild des von Engeln bevölkerten Himmels ist durch ein neues Bild ersetzt worden. Das Motiv der „Eroberung des Himmels mit technischen Mitteln“ wurde mit neuen Methoden umgesetzt, der Innenraum der Kirche mit einer aus der Werbung bekannten Technik neu interpretiert. Das neue Bild forderte eine Wendung des Blicks, eine radikale Änderung der Blickrichtung. Nicht mehr Aufstieg des Blicks in himmlische Zonen, sondern ein Abstieg des Blicks auf die Erde. Der umgekehrte Blick geht von oben nach unten.

Diese Sichtweise entspricht jener, die Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbuch für die „Betrachtung über die Menschwerdung“ vorschlägt: „Die drei göttlichen Personen sehen und erwägen, gleichsam auf ihrem königlichen Sitz oder Thron ihrer göttlichen Majestät, wie sie das ganze Angesicht oder die Rundung der Erde und alle Völker schauen.“3 Die Installation Jesuitenkosmos bot dem Betrachter eine Ansicht der Welt aus der Perspektive der göttlichen Personen. Sie verbarg das in der Apsiswölbung gemalte Bild der Dreifaltigkeit. Doch sie bot die Möglichkeit, die Welt mit den Augen Gottes zu betrachten. Der Blick Gottes auf die Welt entdeckt mehr als bloß einen schönen blauen Planeten.

Michael Collins, ein Mitglied der Mannschaft von Apollo 11, schlug nach der Rückkehr vom Mond vor, auf zukünftigen Flügen auch einen Dichter, einen Priester und einen Philosophen mit an Bord zu nehmen: „Dann werden wir eine bessere Vorstellung von dem bekommen, was wir gesehen haben.“

Unsere Erde, der „Blaue Planet“. Wir haben sie gesehen, mit den Augen derer, die vom Mond oder frei schwebend im All zurückgeschaut haben: im Schwarz das leuchtende Blau der Erde. Wo wir geschützt durch Luft und von der Schwere am Boden gehalten leben. Schwer oder luftig. Wo wir unter freiem Himmel Häuser und Hütten bauen. Auf festem Boden oder auf Sand. Wo wir Heimat suchen, einen Ort der Ankunft. Im Blau der Erlösung.

Die Welt aus dem All zu sehen. Von außen auf sie zu schauen. Der Blaue Planet als Ort der Rast. Wo Leben Erlösung findet. Wo es zur Entfaltung kommt. Wo es kommt und geht, im Blau der Erde. Blau ist die Farbe des Unendlichen, des Ewigen und der Reinheit. Wir leben eingetaucht ins Blau.

Blau des Himmels, Blau des Meeres, Kornblumenblau, Stahlblau, Lavendelblau, das Blau des Eisvogels, Blau der Feder des Eichelhähers, Blau des Wellensittichs, Saphirblau, Lapislazuliblau, Blau des Labradorsteins, Ultramarinblau, Kobaltblau, Indigoblau, das Blau des Abends und des Morgens, das Blau der Nacht, das Blau des hellen Mittags, das Blau ferner Berge.

„Die Japaner schliefen unter blauen Moskitonetzen, die ihnen die Illusion von Frieden und Kühle vermitteln sollten.“4

Die Erde als Rastplatz zu betrachten. Wo es nichts zu erreichen gibt, weil alles schon erreicht ist. Millionen Jahre hat es gedauert. Doch nun bin ich angekommen. Und bevor ich wieder gehe, halte ich kurz Rast. Eingebettet ins Blau.

Marienblau. Das Blau der Unbefleckten Empfängnis. Das Blau der Reinen, die nicht unversehrt geblieben ist. Bedrohtes Blau. Bedroht vom Schmerz des Abschieds, vom Schmerz des Unverständlichen, vom Schmerz des Unrechts, vom Schmerz des Todes, vom Schmerz der Einsamkeit. Bedroht von Machtgier, von Ichsucht, von Neid, Geiz, Zorn und Wut. Bedroht von den Ausschweifungen des Geistes und der Sinne. Bedrohtes Blau. Gefährdetes Blau.

Gerettetes Blau. In die Geste der Versöhnung hinein gerettetes Blau. Das blaue Lachen des Kindes. Der blaue Blick der Unschuld. Blauäugig nicht. Das blaue Wunder der Liebe. Die Fahrt ins Blaue des Vertrauens. Das Blau der ungetrübten Hingabe. In den weiten Raum der Freiheit gerettetes Blau. Blau der Zuneigung. Die blaue Blume.

Blauer Himmel. Blaue Luft. Blaues Meer. Blaue Ferne. Blaue Augen. Blaue Lippen. Blaue Flecken. Blauer Rauch. Blaue Bohnen. Blaue Jungs. Blauer Dunst. Blauer Montag. Blaustichig.

Die Erde als einen Ort der Rast gestalten. Mit Musik. Mit Kunst. Mit Dichtung. Mit Essen und Trinken. Mit Gespräch. Mit Aufmerksamkeit. Mit Entgegenkommen. Mit Demut. Mit Freundlichkeit. Mit Vertrauen. Mit Witz. Mit kühlem Kopf. Mit brennendem Herzen. Mit Wissen. Mit Können. Mit Geduld. Das Blau der Geduld üben. Das blaue Wunder immer neu herbeirufen. Und blaue Flecken nicht scheuen.

Blau der Schuld, der eigenen und der Schuld anderer. Blaubarts Spur. Das Blau der Kälte. Blau des Eises. Blau des Stillstands. Blau des Erstarrens. Blau der Salzsäule. Das Blau der Rast verkehrt zum tödlichen Blau erstickten Lebens. Blausäure.

Das Blau der Erinnerung. Vergissmeinnichtblau. Das Gewesene im reinen Blau bewahren. Dass ihm das Drückende genommen wird. Dass es reingewaschen wird im Blau der Vergebung. Dem Blau des Verzichts Raum schenken. Dem Blau des Verzichts, das dem Leben der anderen nicht das eigene Recht auf Vergeltung entgegenstellt. Blau der Vergebung, die das Leben der anderen freispricht von den Folgen ihres unrechten Tuns. Das helle Vergissmeinnichtblau der Erinnerung. Die wie die lichtdurchfluteten Schichten des Meeres getragen ist vom Blau der Tiefe. Nachtblau der Erinnerung, das birgt und verbirgt. Tiefes Blau der Rast in Vergebung.

Das Blau von Derek Jarman:

„Blau ist die universelle Liebe, in welcher der Mensch badet – es ist das irdische Paradies.“

„Im Pandämonium der Bilderwelt

Präsentiere ich dir das universelle Blau

Blau, eine offene Tür zur Seele

Eine unbegrenzte Möglichkeit

Die greifbar wird.“

„Das unergründliche Blau der Seligkeit.“

„Ich lege dir eine Ritterspornblüte, Blau, aufs Grab.“5

„Blue“ – der letzte Film von Derek Jarman, der damals schon erblindet war, die Leinwand blau, nur blau, und Stimmen, 1993.

Das Blau von Yves Klein.

Das Blau von Georg Trakl:

„Ein blauer Augenblick ist nur mehr meine Seele.“

„In blauem Kristall

Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt.“

„Blaue Blume,

Die leise tönt in vergilbtem Gestein.“

„Dunkle Stille der Kindheit. Unter grünenden Eschen

Weidet die Sanftmut bläulichen Blickes; goldene Ruh.“

„Die blaue Woge

Des Gletschers.“6

Das Blau von Karl Prantl:

In den blau schimmernden Flächen des Labradorsteines sah er die Augen der Verstorbenen, ein Augenfriedhof. Die Millionen Augen der in den Gaskammern Ermordeten. Der Stein ist der Augen Rast und Ruhe. All die gebrochenen Augen leuchten im blauen Schimmer des Steins.

Das Blau Giottos:

Blau ist der Grund der Welt, Figuren, Bäume und Tiere, Bauten und Felsen, sie stehen im Blau. Blau ist das Gewölbe, das sich über alles breitet, Blau der Stille, Blau des Bergens, Blau der Heimkehr, Blau der Zusage, Blau des Trostes.

Das Blau der Glasfenster.

Von jenseits des Himmels betrachtet ist die Erde blau. Den Augen anderer verdanke ich diesen Blick auf unseren Blauen Planeten. Den Augen anderer verdanke ich die Einsicht, dass sich auch meinem Blick Gott zeigen kann. Überall im Blau der Erde lässt sich Gott finden.

ÜBER SICH HINAUSGEHEN

Unter dem Datum des 8. April 1873 findet sich im Tagebuch von Gerard Manley Hopkins folgende Notiz: „Der Eschenbaum in der Ecke des Gartens wurde gefällt. Er wurde zuerst gestutzt: ich hörte das Geräusch und indem ich hinausschaute und sah wie er verstümmelt wurde kam da in jenem Augenblick ein tiefer Stich und ich wünschte mir zu sterben und nicht mehr die Inbilder der Welt zerstört werden zu sehen.“7

Ist es übertrieben, sich wegen einer gefällten Esche den Tod zu wünschen? Gerard Manley Hopkins war Jesuit, Priester, einer der großen Dichter englischer Sprache. Er hat gewusst, was er sagte und wovon er sprach. Die Inbilder der Welt werden zerstört, damals wie heute. Wer sieht es, wen schmerzt es? Die Sensibilität der Kirche ist sozial orientiert, nicht ästhetisch. Die Hässlichkeit der Kirchenräume erzeugt nicht jenen Schmerz, den soziale Ungerechtigkeit erzeugt.

Hat die Schönheit im Evangelium keinen Platz? Gibt es in der Heiligen Schrift keine „Inbilder der Welt“? Mit dem von ihm gebildeten Wort „inscape“ hat Hopkins etwas gemeint, das mit „Gestalt“ recht gut übersetzt werden kann, oder eben mit „Inbild“. Gemeint ist etwas, das in seiner Erscheinung Sinn wahrnehmbar macht, einen Sinn, der nicht schriftlich zu formulieren wäre, sondern der in einem sichtbaren Gebilde, in der Gegenwart seiner Gestalt aufleuchtet. Das sind oft sehr unscheinbare Vorgänge. Gegen Ende Oktober 1873 schreibt Hopkins in sein Tagebuch: „Am Ende des Monats harte Fröste. Wundervoller Blätterregen: als die Morgensonne den Frost zu schmelzen begann fielen sie bei einer einzigen Berührung und in wenigen Minuten war ein ganzer Baum ihrer entledigt; sie lagen und maskierten und tapezierten den Boden um den Fuß. Dann scheint der Baum hinabzublicken auf sein entlassenes Selbst wie blauer Himmel auf den Schnee blickt nach einem langen Fall, sein Verlieren, sein Tun.“8

Inbilder der Welt gibt es in der Bibel genug. Die Sprache der Heiligen Schrift lebt davon, das Sichtbare als Inbild wahrzunehmen. Die Gleichnisse Jesu beziehen daraus ihre Kraft, ihre Wahrheit. Was entspricht dem heute im kirchlichen Leben? Was den westlichen Kirchen heute am meisten abgeht, ist der Sinn für Schönheit und Poesie. Das Gleiche gilt für die Gesellschaft im Allgemeinen. Wer eine der alten Kirchen betritt, wird den Eindruck bekommen, hier werde Altes sorgfältig bewahrt. Aber eine Spur von Gegenwart? Oft gibt der neue Altar zu verstehen: Man wäre doch lieber im Barock. Und das Lesepult zeigt: Hier wird vorgelesen, aber dieses Wort hat keine die Welt gestaltende Kraft. Wer eine der neu erbauten Kirchen betritt, bekommt in den meisten Räumen den Eindruck, hier hätten sich Kraftlosigkeit und mangelnder Sinn für Schönheit ein Haus errichtet. Hübsch ist es ja immer wieder. Aber das Atemberaubende der Schönheit ist kaum zu erfahren. Auch nicht jene Erscheinung von Welt, die deutlich macht: Der Anfang einer neuen Schöpfung ist jetzt schon zu erfahren.

In Zeiten allgemeiner Ratlosigkeit und zunehmender Verwirrung gibt es die Neigung, der Aufsplitterung des Lebens in Teilbereiche durch einen Rückzug in einzelne dieser Teilbereiche zu begegnen. Die Pflege des Körpers, die Natur, die Kunst, die Religion, die Wissenschaften – sie alle bilden solche Rückzugsgebiete. Durch Abgrenzung dem Anderen, dem Fremden gegenüber lässt sich eine gewisse Beheimatung im Eigenen erreichen. Der Preis ist Blindheit und Taubheit dem Fremden gegenüber. Der in der Kunst Beheimatete weiß nichts vom Glauben. Für den im Glauben Geborgenen ist die Kunst unbedeutend.

Andererseits bietet gerade die allgemeine Verunsicherung wieder Anlass genug, die Nähe zum voneinander Getrennten zu suchen. Vielleicht sind dort Halt und Bereicherung zu finden. Heute gehört es bereits zum guten Ton christlicher Gemeinden, der zeitgenössischen Kunst Interesse zu schenken. Waren es von den Fünfzigern bis in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts noch einzelne Pioniere, die hier am Werk waren, einsame Brückenbauer zwischen den getrennten Welten von Kunst und Kirche, so hat sich vor allem in den vergangenen zehn Jahren die Situation gewandelt. Christliche Gemeinden und kirchliche Institutionen haben ein reges Interesse für das Schaffen von Künstlerinnen und Künstlern entwickelt. Diese reagieren darauf mit großer Offenheit.9

Meist wird die Brücke zwischen den beiden Welten durch die Suche nach Gemeinsamkeiten errichtet. Diese Suche konzentriert sich auf Inhalte von Kunst und Religion. Eben auf der inhaltlichen Ebene waren Kunst und Religion ja lange, Jahrhunderte lang, miteinander verbunden. Auch heute noch lassen sich im Inhaltlichen weitreichende Bezüge entdecken. Doch wird dabei im Fremden vor allem das Eigene gesucht und gefunden. Auch hier bleibt das Fremde, das Andere, dem betrachtenden Blick ungeschaut, dem hörenden Ohr unerhört.

Wie kann ich dem Fremden als Fremdem begegnen? Die Antwort des Evangeliums ist: Ich muss aus dem Eigenen ausziehen, muss es verlassen, ja, ich muss mir selber sterben. „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.“ (Mk 8,35) Im Glauben erreiche ich das Fremde, das ist der Andere, das ist Gott, nur, indem ich mich selbst überschreite, mich zurücklasse. In der Kunst gilt das Gleiche. Darin liegt der Drang nach Neuem begründet. Künstlerisches Schaffen bleibt nur lebendig, wenn alles Erreichte und Gelungene immer neu zurückgelassen wird, wenn alle Sicherheiten immer von Neuem aufgegeben werden.

Warum aber sollte dieser wahnwitzige Schritt getan werden? Warum sollte immer neu das Eigene, Vertraute, Erworbene aufgegeben werden? Um Jesu und des Evangeliums willen, ist die Antwort des Glaubens. Und die Antwort der Kunst? Damit werden sich die folgenden Texte beschäftigen. Es wird sich zeigen, dass gerade der Glaube von der Kunst viel lernen kann, wenn sie ihn das Fremde betrachten lehrt.

Welcher Preis ist dafür zu entrichten? Die Kunst muss aufhören, Zerstreuung zu sein. Doch wer Kunst betrachtet und sich mit Kunst beschäftigt, sucht fast immer Zerstreuung. So lenkt er sich davon ab, über sich und seinen Zustand nachzudenken. Blaise Pascal hat die Bedeutung der Zerstreuung hellsichtig erkannt: „Das einzige, was uns in unserem Elend tröstet, ist die Zerstreuung, und dabei ist sie die Spitze unseres Elends; denn sie ist es, die uns grundsätzlich hindert, über uns selbst nachzudenken, die uns unmerklich verkommen lässt. Sonst würden wir uns langweilen, und diese Langeweile würde uns antreiben, ein besseres Mittel zu suchen, um sie zu überwinden. Die Zerstreuungen aber vergnügen uns und geleiten uns unmerklich bis zum Tode.“ (Pensées, 171)10 Das eigentlich Fremde zum Leben ist der Tod. Was aber, wenn die Kunst hilft, von diesem Fremden nicht abzulenken, sondern ihm hellsichtig und wach zu begegnen?

Kunstwerke können, bei genauerem Betrachten, sehr rasch langweilig werden. Viele Kunstwerke halten ein längeres Betrachten gar nicht aus. Um die sich rasch einstellende Langeweile zu vertreiben, müssen sie durch neue ersetzt werden. Daher wird sich die Kunst immer neu selbst überbieten, um immer noch reizvollere Abwechslung zu schaffen. Wer das einmal erkannt hat, wird die von der Kunst gebotene Zerstreuung bald als langweilig empfinden. Er wird sie beiseitelassen und bessere Zerstreuung suchen. Oder er gibt das Suchen nach Zerstreuung den Kunstwerken gegenüber auf, um in ihnen etwas anderes zu entdecken. Was könnte dieses Andere sein? Es gibt Kunstwerke, deren Entstehen in gewisser Weise einen Tod zur Voraussetzung hat. Nur die Bereitschaft zum Scheitern, nur die erlittene Möglichkeit des Scheiterns lässt sie entstehen. Warum sollte in der Kunst immer neu das Eigene, Vertraute und Erworbene aufgegeben werden? Eben um das zu erreichen, das nicht die Wiederkehr des immer Gleichen ist, sondern das Neue, das noch nie Dagewesene.

DAS FREMDE SEHEN

Um 1800 ist Gott aus der europäischen Kunst verschwunden. Tausend Jahre lang wurden in ihr immer neue Bilder Gottes entworfen. Doch auf einmal war es damit vorbei. In den letzten zwei Jahrhunderten wandten sich Künstlerinnen und Künstler den Menschen und ihrer irdischen Welt, der Natur und den Dingen zu. Wenn Bilder Gottes oder der Heiligen auftauchen, sind es Erinnerungen an längst Vergangenes, nur sehr selten die Gestaltung erlebter Gegenwart. Sehr selten durchbricht das Bild einer überirdischen Macht die Konzentration auf das Irdische. Ist Gott in der Kunst überflüssig geworden? Sind ihr die Heiligen abhandengekommen? Ist ihr der Glaube zunehmend verloren gegangen? Der Glaube in der Kunst?

Einige der großen Künstler der Moderne, wie Paul Cézanne oder Vincent van Gogh, waren tiefgläubig. Doch nur ausnahmsweise wird in ihren Bildern inhaltlich auf die Religion Bezug genommen. Und auffallend ist, dass gerade diese Arbeiten zu den eher schwachen zählen, die es im Werk eines jeden noch so bedeutenden Künstlers auch gibt. Andere Künstler, deren Werk wesentlich in permanenter Selbstdarstellung bestand, haben merkwürdigerweise bestimmte Aktionen in der Öffentlichkeit sorgfältig verheimlicht. Die Wallfahrten von Yves Klein nach Cascia oder die Tätigkeit Andy Warhols in einem Obdachlosenheim wurden erst nach dem Tod der Künstler bekannt. Francis Bacon hat sich beharrlich als Atheist bezeichnet, doch gibt es in seinem Werk erstaunliche Hinweise auf zentrale Themen des Glaubens. Auch er ist Notleidenden beigestanden, ohne diese Hilfe bekannt zu machen. Hinweise auf Religiöses und Spirituelles sind in den Werken vieler Künstlerinnen und Künstler zu finden. Nicht selten sind diese Hinweise Teile einer privaten Spiritualität, die heute sehr oft zu finden ist. Mit Glauben muss das alles nicht unbedingt zu tun haben. Je mehr daher auch in der Kunst von Spiritualität die Rede ist, je ausdrücklicher sich Kunstwerke auf Spiritualität beziehen, desto mehr ist ein nüchterner und unterscheidender Blick gefordert.

Mit Glauben ist im Folgenden eine Haltung des Vertrauens gemeint. Vertraut wird der Wahrheit bestimmter Aussagen der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition. Vertraut wird vor allem einem lebenden Gegenüber, Gott und Menschen. Glauben kann ich selber nicht erzeugen. Er wird mir geschenkt, in mir von anderen wachgerufen. Glauben bedeutet daher, in der Beziehung zu einem Anderen, einem Fremden zu leben.

Was ist mit Kunst gemeint? Eine von einem autonom agierenden Subjekt, dem Künstler oder der Künstlerin, geschaffene Kunst ist eine Erfindung des 16. Jahrhunderts. Giorgio Vasari hat mit seinen Lebensbeschreibungen der berühmtesten Architekten, Maler und Bildhauer Italiens wesentlich zur Entstehung und der Verbreitung dieser Vorstellung beigetragen.11 Das Tun der Künstler wurde mit dem Handeln Gottes verglichen. Sie galten als die Schöpfer eigenständiger Welten, gottähnliche Urheber von Wirklichkeit. Im Geniebegriff des 19. Jahrhunderts sollte sich diese Vorstellung vollenden. Sie wirkt heute noch immer nach. Das Genie unserer Zeit praktiziert die Kunstreligion vor allem in Beziehung auf den Kunstmarkt. Insoweit ist es vom Glauben denkbar weit entfernt.

Ich will im Folgenden auf etwas hinweisen, das, wie mir scheint, sowohl auf Seiten der Kunst als auch auf Seiten der Kirche zu wenig Beachtung findet. Bei genauem Betrachten der modernen und der zeitgenössischen Kunst stellt sich nämlich heraus, dass für den Glauben in diesem Bereich eine ungeheure Bereicherung zu entdecken ist. Umgekehrt entdeckt der Blick des Glaubens in dieser Kunst Aspekte, die ihre Bedeutsamkeit außerordentlich vertiefen, die aber anderen Betrachtern weitgehend verborgen bleiben.

Glaube und Kunst stehen sich heute als Fremde gegenüber. Wer aber lernt, das Fremde zu betrachten, dem tun sich auch im Eigenen neue Welten auf. Bei aller Fremdheit kommen Glaube und Kunst in einem überein: Es gibt ein Subjekt, das sie beide zu entdecken und fruchtbar aufeinander zu beziehen vermag. Dieses Subjekt ist im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts entstanden.

DIE ERFINDUNG VON LEERRAUM UND SUBJEKT

Die Kunst Westeuropas ist seit ihren Anfängen im 8. Jahrhundert im Wesentlichen Raumgestaltung. Malerei und Bildhauerei haben das ganze Mittelalter hindurch ihren Ort im größeren Zusammenhang der Architektur. Am Beginn des 15. Jahrhunderts geschieht in Italien, in der Toskana, ein gewaltiger Wandel. Etwas völlig Neues entsteht. Nun werden Bilder gestaltet, die nicht mehr bloß der Architektur eingefügt sind, sondern selbst den Charakter des Gebauten, des Architektonischen haben. So entsteht das Kunstwerk im heutigen Sinn. Es ist eine Erfindung der Neuzeit.12

Das von Masaccio um 1426 in Santa Maria Novella in Florenz gemalte Fresko der Dreifaltigkeit, das erste bekannte Bild, das konsequent nach den Gesetzen zentralperspektivischer Konstruktion aufgebaut ist, zeigt einen Raum, der als Fortsetzung des realen Raums erscheint. Das Bild stellt eine Wirklichkeit dar, die früher unbekannt war. Zum ersten Mal ist das Bild eine in sich geschlossene Fläche, die nach Gesetzen gestaltet wird, die vom inhaltlich Dargestellten unabhängig sind. Diese Fläche wird in der Vorstellung des Betrachters zum Raum. Zum ersten Mal gibt es die Möglichkeit, in der Vorstellung einen Raum zu schaffen, der alle Qualitäten des gebauten realen Raums besitzt. Der von Masaccio gemalte Raum könnte getreu nachgebaut werden. (Um 1350 sind die ersten bekannten Architekturmodelle entstanden, die ein maßstabgetreues Bild eines Bauwerks bieten – in der Geschichte der Architektur hat es so etwas, soweit bekannt, nie zuvor gegeben.13)

Der so gestaltete Raum ist ein Leerraum, in den Personen und Gegenstände eingefügt werden.

Das von Masaccio geschaffene Bild stellt den Prototyp eines Kunstwerks dar. Es kann als streng geordnete Fläche oder als Raum wahrgenommen werden. Beide Sichtweisen ergänzen einander. Als Fläche bleibt das Bild distanziert. Als Raum dagegen öffnet es sich zum Betrachter, spricht es ihn direkt an. Der Raum des Bildes hat den Charakter einer zuerst leeren Bühne. Sie wird nachträglich bevölkert. Ein Betrachter erlebt, wie auf dieser Bühne für ihn gespielt wird. Für ihn, den Betrachter, findet das Dargestellte statt. So entstand damals zugleich mit dem Kunstwerk auch der Betrachter, das betrachtende Subjekt.

Die zentralperspektivische Darstellung gilt allgemein als Ausdruck einer subjektiven Weltsicht. Alles bis hin zum Bild Gottes selbst werde als subjektive Vorstellung gedeutet, das Individuum trete in den Mittelpunkt und werde zum Maß aller Dinge. Das stimmt, wenn das Bild als ein vom Künstler entworfenes Abbild der Welt verstanden wird. In Bezug auf die Kunstwerke gilt für einen Betrachter aber auch das Gegenteil. Die zentralperspektivische Konstruktion legt seinen Standpunkt fest. Er hat den ihm zugewiesenen Platz dem Fluchtpunkt gegenüber einzunehmen. Von diesem Platz aus nimmt er die Ordnung des im Kunstwerk gezeigten Raums wahr. Er nimmt damit auch wahr, wie alles Dargestellte zu ihm in Beziehung steht. Das Erstaunliche ist also, dass hier zum ersten Mal in der Geschichte eine Welt vorgestellt wird – und zwar vom Kleinsten bis zum Größten, vom Wassertropfen bis zum Meer, vom Grashalm bis zum Wald, von der Fliege bis zum Elefanten, von der Ecke eines Innenraums bis zur Weite ferner Gebirge –, wo alles für den Betrachter da ist, alles ihn anspricht und zu ihm in Beziehung steht. Wenn also im ersten Fall ein Betrachter die Welt anschaut, schaut im zweiten Fall die Welt den Betrachter an.

Was für das Kunstwerk und seinen Raum gilt, das lässt sich auch im Bereich des Glaubens feststellen. Auch hier hat es die Erfindung eines Raums gegeben, der wie eine leere Bühne allem, vom Kleinsten bis zum Größten, Platz bietet. Es ist auch hier die Erfindung eines als Modell der Wirklichkeit vorgestellten Raums. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür bieten die Betrachtungen im Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola. Mit ihnen wurde die Erfindung eines als Modell von Wirklichkeit vorgestellten Raums bereits im frühen 16. Jahrhundert für den Glauben fruchtbar gemacht. Sehr schön zeigt sich das in den Anleitungen zur „Betrachtung von der Menschwerdung“ (Exerzitienbuch Nr. 102–106):

„Die erste Hinführung ist: Die Geschichte der Sache herbeibringen, die ich zu betrachten habe. Hier ist dies: wie die drei göttlichen Personen die ganze Fläche oder Rundung der Welt voller Menschen schauen und wie, da sie sahen, dass alle zur Hölle abstiegen, in ihrer Ewigkeit beschlossen wird, dass die zweite Person Mensch werde, um das Menschengeschlecht zu retten; und so senden sie, als die Fülle der Zeiten gekommen ist, den heiligen Engel Gabriel zu unserer Herrin.

Die zweite: Zusammenstellung, indem man den Raum sieht. Hier wird dies sein: die große Fassungskraft und Rundung der Welt sehen, worin so viele und so verschiedene Völker wohnen; ebenso danach im einzelnen das Haus und Zimmer unserer Herrin, in der Stadt Nazareth in der Provinz Galiläa. (...)

Die Personen sehen, die einen wie die anderen: und zuerst die auf dem Angesicht der Erde in so großer Verschiedenheit der Trachten wie der Gebärden: die einen weiß und die anderen schwarz; die einen in Frieden und die anderen in Krieg; die einen weinend und die anderen lachend; die einen gesund und die anderen krank; die einen geboren werdend und die anderen sterbend; usw.

Zweitens: die drei göttlichen Personen sehen und erwägen, gleichsam auf ihrem königlichen Sitz oder Thron ihrer göttlichen Majestät, wie sie das ganze Angesicht oder die Rundung der Erde und alle Völker schauen: in so großer Blindheit und wie sie sterben und zur Hölle hinabsteigen.

Drittens: unsere Herrin sehen und den Engel, der sie grüßt.“14

Zuerst soll sich der Betrachtende die Szene als ganze vor Augen halten: Gott, die Welt, die Menschen, Maria. Weil die Vorstellung alles das umfasst, ist es möglich, in der Vorstellung den Platz Gottes einzunehmen und aus seiner Perspektive auf die Welt zu schauen, auf das Große und das Kleine, die Weite des Erdenrunds und das Zimmer Marias. Mit scharfen Augen wird die Welt von oben betrachtet. Sie ist wie ein leerer Raum, in dem alle Dinge der Welt und des Himmels angeordnet werden. Diese Vorstellung wird auch in zahlreichen Bildern der Zeit um 1500 gestaltet. In ihnen sind die Weite der Welt und der intime Innenraum von Marias Zimmer miteinander verbunden, das Große und das Kleine, das Ferne und das Nahe sind vereint in der Vorstellung. Der von Ignatius vorgeschlagene Standpunkt entspricht einer Umkehrung der Perspektive. So werden die Dinge vom Standpunkt Gottes aus wahrnehmbar. Der Blick geht nun nicht aus dem Innenraum in die Weite der Welt, sondern über die Weite der Welt ins Kleine von Marias Zimmer. Das Subjekt kann sich an die Stelle Gottes setzen. Doch diese Option war Ignatius noch völlig fremd. Naheliegender und für Ignatius und seine Gefährten gefährlicher war eine andere Vorstellung: Ohne vermittelndes Handeln der kirchlichen Hierarchie teilt sich hier Gott unmittelbar dem Subjekt mit, ja wird das Subjekt als freies Gegenüber Gottes erschaffen.