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Rotraud A. Perner

Die reuelose Gesellschaft

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Der Verlust der Wahrheit

Das Zeitalter der Seelenvergiftung

Die Lügen der Gier

Die Lügen der Trägheit

Die Lügen des Zornes

Die Lügen des Geizes

Die Lügen des Hochmuts

Die Lügen der Unkeuschheit

Die Lügen des Neides

Das Behagen in der Unkultur

Die reinigende Kraft der Reue

Seelenreinigung konkret

Anmerkungen

Literaturangaben

Der Verlust der Wahrheit

Es gibt Zeiten, in denen die einfachsten und klarsten Wahrheiten der Menschheit genötigt sind, sich zu vernebeln und zu verkleiden, um zu den Menschen zu gelangen, da die humansten und heiligsten Gedanken verhüllt und vermummt wie Diebe durch Hintertüren sich einschmuggeln müssen, weil die offene Pforte von den Schergen und Zöllnern der Machthaber bewacht ist.

STEFAN ZWEIG1

Das Verbot der Wahrnehmung

Es war einmal … es war einmal eine Zeit, in der Fehlverhalten nicht übersehen, nicht verharmlost und nicht vorauseilend verteidigt und entschuldigt wurde. Ich meine die Zeit der 1960er-Jahre, in denen erstmals Menschen, die keine Macht hatten, von denjenigen, die Macht hatten bzw. gehabt hatten, Verantwortung einforderten. Sie benützten dazu wissenschaftliche Methoden wie den beabsichtigt »herrschaftsfreien Diskurs«2 statt traditioneller Anprangerungen und Blutgerichte und suchten durch Analysen und Alternativkonzeptionen Machtmissbrauch künftighin obsolet zu machen.

Das Dichterwort sagt, wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.3 Ich sage: leider auch umgekehrt. Wo etwas Rettendes, Befreiendes, Reinigendes auftaucht, wächst gleichzeitig die Gefahr der gezielten Vergiftung, der Fixierung und der Verunreinigung – und das vor allem dann, wenn sich damit Gewinn machen lässt.

Wenn es um unseren physischen Verdauungsapparat geht, erfahren wir schon in frühester Kindheit, dass man bei Vergiftungen eine Entgiftung oder ein Gegengift braucht; wir erfahren, dass Fixierungen nicht nur Bewegungsfreiheit, Entwicklungsraum nehmen, sondern oft auch Schmerzen und Striemen verursachen (auch wenn diese verborgen oder abgestritten werden) und dass man sich nach Verunreinigungen säubern sollte – und meist schätzen wir auch das wohltuende Gefühl nach solch einer Reinigungsprozedur. Wir kennen dieses Gefühl von Sauberkeit nicht nur hinsichtlich des eigenen Körpers, sondern auch was die Umwelt betrifft: Wenn wir den Schreibtisch frei bekommen haben oder die Wohnung entmüllt, Auto oder Kühlschrank geputzt und postalische Altlasten erledigt haben, und wir kennen es aus dem psychischen Bereich, wenn wir Konflikte be-reinigt und uns von seelisch Bedrückendem ent-sorgt haben.

Ich ziehe dazu gerne den Vergleich mit einem Gewitter: Zuerst lädt sich die Atmosphäre mit Plus-Ionen auf – es herrscht »dicke Luft« –, bis es blitzt und donnert und so endlich zur Entladung kommt und dann ein reinigender Regen (sofern er nicht radioaktiv verseucht ist) »frische«, nämlich saubere Luft zuführt; dann pflegen wir uns zum Durchatmen aufzurichten und öffnen Herz und Lungen … Das braucht allerdings mehr Zeit als flaches oder verhaltenes Atmen.

Den Atem halten wir automatisch zurück, wenn wir attackiert werden oder uns gegen andere Gefahren schützen wollen: Wir machen uns dann klein, verringern die Angriffsfläche unseres Körpers und versuchen auch, uns unhörbar zu machen; wir stellen uns gleichsam tot wie manche Tiere und zeigen damit eine uralte Überlebensstrategie. Sie sollte jedoch keinesfalls chronisch werden (müssen).

Eine andere Überlebensstrategie bezeichne ich mit »clever und smart«. Dabei meine ich nicht die beiden Comic-Helden, sondern das klassische Verteidigungsverhalten vor Gericht: Man behauptet erstens, gar nicht dabei gewesen zu sein, wenn das aber nachgewiesen wird, als zweites nicht gewusst zu haben, worum es geht, und falls man auch dieser Kenntnis überführt wird, dann drittens, eigentlich doch etwas ganz anderes beabsichtigt zu haben.

Wir kennen diese Reaktionen von Kindern – dort lauten sie: Ich war es nicht – ich hab das nicht gewusst – ich hab das nicht gewollt. Auch diese Strategie stammt aus dem Tierreich – nur dort ist es der Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt und vermutlich wähnt, nun könne man ihn nicht sehen, weil er nichts mehr sieht – oder aber möglicherweise nur den wichtigsten Körperteil vor Verletzungen schützen will. Ähnliches zeigen die sogenannten drei heiligen Affen von Benares, die sich Augen, Ohren und Mund »zu«halten: nicht sehen, nicht hören und – sich oder andere – nicht durch Laute verraten, übrigens auch das Motto in den dunklen Gefilden der Gesellschaft und überall dort, wo dunkle Geschäfte das Licht der Wahrheit scheuen.

Eigentlich liegt der Ursprung dieser Affendarstellung im positiven Sinn des vorbildlichen Umgangs mit Schlechtem: Man solle nicht auf das schauen, nicht auf das hören und nicht von dem reden, was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht.

Manchmal wird auch noch ein vierter Affe dazugesellt, der mit seinen Händen sinnigerweise seinen Unterleib bedeckt, was bedeuten soll, nichts zu tun, was nicht dem Gesetz des Guten entspricht.

Für mich ist dieser Bezug auf ein altes fernöstliches Sprichwort kein Gegensatz zu der westlichen Interpretation von Verleugnung des Schlechten und mangelnder Zivilcourage, sondern Warnsignal für ein Verhalten, das nicht nur die Gesundheit von anderen und der Gesellschaft überhaupt schädigt, sondern auch die eigene.

Wenn alle diesem Affen-Motto folgen – und das tun nicht nur Unterweltler, sondern auch viele in der anderen ehrenwerten Gesellschaft –, fällt damit die Möglichkeit zur Bereinigung von Konflikten und die Verbesserung von Störendem, Krankmachendem weg. Vor den bereits zitierten 1960er-Jahren hieß es oft, wenn Kinder »vorlaut« mit ungeliebten Wahrheiten herausplatzten: »Das sagt man nicht! Ich werde dir gleich den Mund mit Seife auswaschen!«, und so geschah es dann auch. Oder es hieß – und heißt es auch heute noch: »Das gehört sich nicht!« und »Was werden die Leute sagen?« und schließlich »Schau da nicht hin, sonst wirst du blind!« (Alles selbst noch erlebt!).

Umgekehrt kennen die meisten heute keinen »Genierer«, wenn sie sich im Ton vergreifen, am Körper oder an fremdem Eigentum. Sie wähnen das manchmal berechtigt, manchmal lustig oder auch sportlich, auf jeden Fall aber unbedenklich, da ihnen kaum Grenzen gesetzt werden oder wenn doch, dann ohne Erklärung oder aber in einer solch gewalttätigen Weise, dass Unrecht gegen Unrecht steht.

Wen wundert es also, wenn Wahr-Nehmung und Wahr-Sagung schon von den Bezugspersonen der frühesten Kindheit im Keim erstickt und Lügensame gesät wird, wenn späterhin die Medien an deren Stelle treten und Botschaften suggerieren, für die PR-Abteilungen von Industrie und Politik und professionelle Rumpelstilzchen – das sind die, die aus (geistigem) Stroh Gold machen können – viel Geld bewegen, damit möglichst nur Goldseiten von Botschaften ankommen und nicht die Abfallseiten.

Sich da die eigene Wahrnehmung zu bewahren und auch ausdrücklich zu ihr zu stehen erfordert Zeit und – Mut. Schon Goethe lässt Faust im Studierzimmer auf die Wissbegierigkeit seines Famulus Wagner hin sinnieren:

»Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?

Die wenigen, die was davon erkannt,

Die töricht g’nug ihr volles Herz nicht wahrten,

Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,

Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.«

Wahr-Nehmung braucht Zeit

Meine Erfahrung aus über vierzig Jahren beratender und psychotherapeutischer Berufstätigkeit lautet: Das, was Menschen krank macht, ist die Lüge – das, was sie heilt, ist die Wahrheit.

Zur Lüge zähle ich aber nicht nur die vielfältigen Täuschungsversuche von anderen, sondern vor allem das Sich-selbst-Belügen. »Das kann doch nicht ich gewesen sein!«, lautet die übliche Distanzierung von sich selbst, wenn man schockiert vor den Folgen seines Tuns steht. Wenn man Lügen nur lange genug wiederholt, glaubt man auch wirklich, dass man das nicht gewesen sein kann. Wir haben Idealvorstellungen von uns selbst – und auch von den Menschen, die uns etwas bedeuten – und wollen nicht enttäuscht werden, nicht von ihnen, vor allem aber nicht von uns selbst. Es ist kein schönes Gefühl, wenn man auf die eigene Verblendung gestoßen wird, aber es ist notwendig, diese Übelkeit auszuhalten, um zu mehr Realitätssicht zu gelangen.

Das, was Menschen krank macht, ist die Lüge –
das, was sie heilt, ist die Wahrheit.

Ich vergleiche diesen Schmerz gerne mit einem Brechvorgang: Man möchte die eruptive Entleerung »nach oben« vermeiden, legt sich hin, trinkt Wasser, schluckt Tierkohle, wartet auf Entspannung – aber der Körper will den Kotzbrocken aus sich herausbringen und lässt nicht nach, den Druck nach oben zu verstärken. (Entleerung »nach unten« ist zwar ebenso schmerzhaft, jedoch für viele Menschen während des Vorgangs irgendwie auch anregend, weil dabei der Urogenitaltrakt in Bewegung versetzt wird und die Erinnerung an lustvollere Empfindungen in den unteren Regionen wachgerufen wird.) Wenn aber das Herauswürgen der »Giftbrocken« endlich abgeschlossen ist, verbreitet sich ein Gefühl der Erleichterung: Leere und Reinheit. Man fühlt sich wieder lebendig. Ich nenne das den Schneewittchen-Effekt.

Psychotherapie ist auch solch ein Reinigungsvorgang, ein primär seelisch-geistiger, hat aber auch Wirkungen auf den Körper. Deswegen weise ich oft bereits im Erstgespräch darauf hin, dass mit unangenehmen Emotionen zu rechnen sei und es daher ganz normal (im Sinne von Eigenschonung) ist, wenn man diesen Prozess vorerst wie beim Erbrechen vermeiden will – aber man darf frohe Erwartungen hegen: Wenn man den verdorbenen Seelenmüll draußen hat, folgt ein ähnlich herrliches Befreiungsgefühl wie bei jeder anderen Entgiftung.

Manche Menschen reagieren dann pikiert auf meinen drastischen Vergleich; das sind diejenigen, denen im Laufe ihrer Erziehung jeglicher »Entzug« von Giftstoffen – nämlich vor allem die Befreiung von toxischen Beziehungen – verboten wurde und die daher die Erkenntnis von deren ungesunder Beschaffenheit fürchten. Ich erinnere mich da an einen Ehemann, der die dringlich angeratene Psychotherapie ablehnte, weil er, wie er sagte, fürchtete, er könnte sonst vielleicht draufkommen, dass er gar nicht verheiratet sein wolle. Er sagte dies mit einer Betonung, die zeigte: Zumindest einer der Giftklumpen in dieser Leiden schaffenden Ehebeziehung war er selbst. In meinem gleichnamigen Buch habe ich solche giftigen Personen »Kaktusmenschen« genannt und geraten, zu ihnen schützende Distanz zu halten – aber genau das fällt schwer, wenn es sich um Verwandte und Vorgesetzte handelt, von Lebenspartnern ganz zu schweigen.

So wie die körperliche Entgiftung nicht in Sekundenschnelle bewältigbar ist, bei Drogenentzug sogar Tage und langfristig Wochen dauert, braucht auch die seelische ihre Zeit: Zeit des Erkennens, Zeit des Entschließens, Zeit des Herangehens, Zeit des Durchhaltens und Zeit des Genießens der Leere, wenn der Reinigungsprozess abgeschlossen ist. Und Zeit, sich gegen die Anfechtungen derer zu behaupten, die einen in die Gemeinschaft der Giftschlucker zurückholen wollen – professionelle Verführer inbegriffen.

Kleine Kinder, die bei der Erkundung der Welt sich noch die »richtige«, nämlich ihre Eigenzeit nehmen wollen, leben ein anderes Tempo als ihre Erziehenden oder besser: Ziehenden. Die ziehen nämlich das Kind weg, wenn es mit seinem »Nasenpinsel« jedes Blümchen, jedes Steinchen mit den Augen betasten will. Sie schreiten voll aus und ziehen das Trippelkind so rasant hinter sich her, dass oft ein Fliegen (Hinfliegen) oder Nachschleifen daraus wird. Und sie drängen, und oft schimpfen sie auch. Sie denken nicht daran, welche Erfahrung von Lebensstil sie damit dem Kind vermitteln, weil sie in Gedanken schon an ihrem Ziel sind und nicht im Hier und Jetzt. Aber authentisch leben kann man nur in der Gegenwart.

»Niemand hat mehr Zeit«, so sprach der Zeitpoet Martin Lammerhuber4 und betonte das »mehr«: Wir haben alle die gleiche Quantität von Zeit, aber wir leben und (v)erleben sie in unterschiedlichen Qualitäten.

Je »schnelllebiger« wir versuchen, immer mehr in unseren Lebenstag hineinzupacken, desto weniger bleibt Zeit zur Besinnung dessen, was wir tun oder unterlassen. Da können wir noch so viele Phrasen von uns geben, wie sehr wir Nachhaltigkeit befürworten, ja auch umsetzen wollen. Wir schätzen damit nur die Folgen von objektivierten Handlungen ab, also von Taten ohne Bezug auf die Leute, die sie setzen – quasi für eine anonyme Allgemeinheit. Wir vergessen dabei, dass auch wir in unserem eigenen konkreten Tun (Denkmuster inbegriffen) Folgen auslösen, die Schaden anrichten können.

Zivilcourage

Auch denken wir selten darüber nach, wem die steigende Beschleunigung nutzt – wer damit Vorteile für sich daraus zieht und womöglich noch viel Geld damit verdient. Ich antworte: all jene, die nicht wollen, dass wir nachdenken.

Wir denken selten darüber nach,
wem die steigende Beschleunigung nutzt.

Würden wir nachdenken und nachfühlen, würde sich vielleicht unser Ethiksinn melden und nach Zivilcourage verlangen; damit meine ich nicht das körperliche Eingreifen in Raufereien oder gar das organisierte Protestieren wider Gegenmeinungen, sondern das innere Aufrichten und die ruhige Bedachtsamkeit, die jeder Widerstandshandlung vorausgehen muss, wenn diese nicht in Gewalt münden soll.

Ich bin von meinem Ursprungsberuf und Berufsstart her Juristin und Nationalökonomin – das wird gerne ignoriert, obwohl es achtbarer und gefährlicher ist als Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin. Als Juristin gehört es zu meiner Identität, Gesetze zu respektieren. Aber ich nehme für mich auch das »Recht« in Anspruch, Gesetze für überprüfbar, ja sogar regelmäßig überprüfungspflichtig zu halten und, wenn nötig, mit allen gewaltverzichtenden Methoden an der Verbesserung zu arbeiten; dazu zählen für mich vor allem publizistische Tätigkeiten, Projektarbeit und das Werben um Unterstützung, in der Bevölkerung wie bei Politikern. Als ich Rechtswissenschaft studierte,5 gab es weder ein Politologie- noch ein Soziologiestudium; was es gab, war Staatswissenschaft – frei von jedem kritischen Gedankengut. Im Rechtsstudium erfuhren wir, wie Gesetze »gemacht«, d. h. legistisch verabschiedet werden, wir erfuhren nicht, wie es überhaupt zu einem Gesetzesvorhaben kommt. Da hieß es nur: Der oder jener Regent erließ dieses oder jenes Gesetz.

Wie man legal, d. h. mit demokratischen Mitteln, an der Veränderung der Rahmenbedingungen – die man ja erst überhaupt als solche verstehen muss – arbeitet, lernte ich erst Jahre später als Kommunalpolitikerin in den diesbezüglichen Schulungen. Während ich dieses Buch verfasse, befinde ich mich bereits im Masterstudium evangelische Theologie. Hier und heute vermitteln die Kirchengeschichtler Unmengen an politischem Hintergrundwissen, mehr als ich vorher je vermutet hätte. Aber Zivilcourage ist ja auch für Protestanten kein Fremdwort, sondern historisches Erbe. Als solches Hintergrundwissen wird auch aufgezeigt, wie gedankliche Inhalte vermittelt wurden und werden – in welcher Sprache, mit welchen Bildern, mit welchen Ritualen, mit welchen Inszenierungen.

Zivilcourage besteht vor allem darin, sein Denken und Fühlen offenzulegen. Das zeigt sich bereits in der Wortwahl.

In der unterschwelligen Militärsprache des Alltags, die eigentlich aufdeckt, dass wir uns in unseren Beziehungen vorwiegend in einem kriegerischen Dauerzustand befinden, heißt das dann »Flagge zeigen«; diese entpuppt sich allerdings oft als eine Piratenflagge.

Von Heraklit stammt der Satz »polemos pater panton«, der zumeist mit »Der Krieg ist der Vater aller Dinge« übersetzt wird. Ich übersetze ihn mit »Der Konflikt ist der Vater aller Dinge«, denn ich meine, man muss ihn nicht zum Krieg anwachsen lassen. Krieg schafft nur Angst, Leid und Tote. Aber genau solch ein Spiel mit Angst und Leid ist heute das Allerweltsrezept zur Auflagensteigerung der Boulevard-Zeitungen. Wer da, beispielsweise als Experte, nicht mitspielt, wer seriöse Information geben, sinnentstellte Verkürzungen vermeiden und auf Publicity verzichten will, wird aus dem Kreis der Medienorgelspieler ausgeschlossen – oder auch bedroht: Wenn man kein Interview gäbe, würde eben etwas geschrieben, was einem dann gar nicht recht sein würde.

Professionelle Verführer

Medien werden oft als »Vierte Macht im Staat« (neben Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung) bezeichnet. Ihre Macht ist die Macht der Sprache, und die gehört besonders verantwortungsvoll verwaltet, denn Sprache besitzt weitreichende Suggestivkraft. Verantwortlichkeit bedeutet in diesem Fall, dass man sich der Suggestivkraft von Worten und Sätzen und mehr noch von laufenden Bildern bewusst ist. Das ist aber nicht einmal bei den – Selbstbezeichnung – Qualitätsmedien immer der Fall; dies hängt einerseits mit den persönlichen Ressentiments der Gestalter zusammen – aus meiner Beobachtung kommt dies vor allem bei Männern vor, die sich »kraftvoll« ausdrücken wollen, Frauen sind überwiegend sensibler für Diskriminierungen, und seien sie noch so geschickt getarnt –, andererseits mit dem Konkurrenzdruck und bei tagesaktuellen Medien mit dem Zeitdruck der Produktion. Viele Journalistinnen und Journalisten – wie auch mein verstorbener Ehemann, Pressereferent von Stadträten und Bürgermeistern – opfern ihre Gesundheit auf dem Altar, der vom jeweiligen Herausgeber oder Chefredakteur errichtet wurde, um nur ja zeitgerecht oder aber wunschgemäß abzuliefern – nicht nur die Texte, sondern auch ihre Gelassenheit. Bei meinem Mann waren es erst der Magen, dann das Herz (im Zuge einer ignorierten Grippe – es war ihm wichtiger, den damaligen Bürgermeister zum Städtetag zu begleiten, um ihm auf Abruf Reden schreiben zu können), dann die Lunge und zuletzt die Stimmbänder, die ihm vergebens signalisiert hatten »Stopp! Hör auf deinen Körper! Schon dich!«.

Verantwortung fängt bei sich selbst an. Da steckt das Wort »Antwort« drin, und daher gilt es zu lernen, den »inneren Dialog« wahrzunehmen. »Was mir widerfährt, ist Anrede an mich«, formulierte der in Österreich geborene jüdische Religionswissenschaftler Martin Buber (1878–1965).6 Damit ist aber nicht »papanca«, der plappernde Affengeist7, gemeint oder der jeweilige »Kopfbewohner«8, wie das Phänomen der inneren Stimme in der Transaktionsanalyse, einer psychotherapeutischen Schule, bezeichnet wird, sondern die wohlwollend-kritische Selbstreflexion (es gibt ja auch eine nörgelnd-miesmachende): Man überprüft möglichst einfach, ob man sich nicht etwa irrt, täuscht oder belügt – oder sich verwirren, täuschen und belügen lässt.

Verantwortung fängt bei sich selbst an.

Professionelle Pseudologen – dieser aus der Sprache der Psychiatrie stammende Begriff bezeichnet krankhafte Lügner, hier wird er aber auf »Sportlügner« angewendet – wissen aus Erfahrung, dass sie ihren behaupteten Wahrheitsanspruch nur vehement genug immer wieder aus Neue repetieren müssen, bis der andere sich selbst nicht mehr glaubt, und freuen sich dann über ihre Überzeugungskraft und ihren Sieg. Und meist ist es ihnen auch egal, was sie bei den Belogenen auslösen.

So lehnte einmal ein Journalist, der entgegen der Wahrheit geschrieben hatte, ich hätte mich im Zusammenhang mit einem Missbrauchsskandal »zu Wort gemeldet« und im selben Artikel einen Bekannten von mir als meinen Klienten bezeichnet hatte, mein Begehren nach einer Richtigstellung mit den Worten ab, ich solle das Ganze einfach »sportlich« nehmen. Gottlob hatte ich diese Kommunikation per Mail geführt und daher den Nachweis, dass ich mich gegen diese Verkehrung der Tatsachen gewehrt hatte. Ich bekam nämlich mit einiger Zeitverzögerung prompt eine kritische Anfrage meines Berufsverbandes, weil irgendjemand aus der Kollegenschaft entsprechend der irrigen Formulierung in der Zeitung geglaubt hatte, ich hätte meine Verschwiegenheitspflicht verletzt, und mir eine Anzeige anhängen wollte.

Mir sagte schon früher einmal ein ehemaliger Journalist und späterer Spitzenpolitiker, bei dem ich mich wegen einer anderen Medienhatz gegen mich beklagte, die Zeitung von heute sei das Klopapier von morgen und dementsprechend zu verwenden. Leicht gesagt, wenn man nicht selbst betroffen ist – und die unbeteiligte Familie mit dazu. Nur mit dem neuerdings stereotypen Hinweis »Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung« kann man dem Vorwurf der Gewissen- und Reuelosigkeit nicht die Berechtigung entziehen.

Im Gegensatz zu demjenigen, der aus der neuronal eingespeicherten Angst des kleinen Kindes vor grausamer Bestrafung lügt, üben sich die professionellen »Verführer zum Aberglauben« in performativer Sprachkunst: Sie wollen verunsichern, um damit den Verkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen zu steigern.

Solche Strategien zielen

erstens auf Angst vor Ausgrenzung sowie

zweitens auf die Suche nach Erklärungen, Neu-Gier und Wissensdurst zur Kompensation der Gefühle von Hilflosigkeit und

drittens auf die Hoffnung, die Ratlosigkeit in Selbstsicherheit zu verwandeln (was oft auch in Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit mündet).

Und weil das eher gelingt, wenn man die anderen überrumpelt, inszenieren sie Zeitdruck – so wie der Vertreter an der Haustür, der seinen Fuß erst wieder von der Schwelle nimmt, wenn man unterschrieben hat.

Die Schwelle in den Überredungskämpfen wird mit »Memen« besetzt. Die Wortneuschöpfung Mem stammt von dem britischen Zoologen und Evolutionsbiologen Richard Dawkins (*1941) und bezeichnet Informationseinheiten, die sich wie Gene im Genpool in einem gedanklichen »Mempool« vermehren. Er erklärt seine Gedankenkreation am Beispiel von Melodien, Schlagworten, Kleidermoden oder der Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen; all diese geistigen Inhalte sieht er von Gehirn zu Gehirn überspringen wie Spermien von Körper zu Körper. Für diesen Prozess, den er als Imitation bezeichnet, gibt er ein Beispiel: »Wenn ein Wissenschaftler einen guten Gedanken hört oder liest, so gibt er ihn an seine Kollegen und Studenten weiter. Er erwähnt ihn in seinen Aufsätzen und Vorlesungen«, und »so setzt er mir im wahrsten Sinn des Wortes einen Parasiten ins Gehirn und macht es auf genau die gleiche Weise zu einem Vehikel für die Verbreitung des Mems, wie ein Virus dies mit dem genetischen Mechanismus einer Wirtszelle tut …«9

Der von mir angeführte Vergleich mit dem Fuß des Vertreters in der Haustür entspräche auch der täglich wiederholten Berieselung mit kompakten Werbebotschaften mittels Bild, Wort und Melodie im heimeligen Wohnzimmer; wenn einen dann solch ein Slogan quasi als »Ohrwurm« immer wieder überfällt, entspricht das durchaus den Flashbacks von traumatischen Erlebnissen (Fachausdruck: Intrusionen10). Der Werbeprofi freut sich dann über die Wirksamkeit seiner Botschaft, nur: Kaufentscheidung folgt daraus keine, sondern eher die Anfrage an Fachleute wie mich, wie man sich von solch unerwünschten Zwangsgedanken befreien kann (Techniken dazu – die natürlich auch Meme bilden – folgen im letzten Kapitel »Seelenreinigung konkret«).

Unter den Begriff des Mems summiere ich aber nicht nur kognitive Inhalte, sondern auch die nonverbal erfahrenen Bewertungen: Es beeinflusst einen, wenn Bezugspersonen die Brauen runzeln oder die Nase rümpfen, schnaubend Luft holen oder sich angeekelt abwenden. All diese »Parasiten« verführen uns zur Imitation, wie man sehr genau bei Kleinkindern beobachten kann oder bei Jugendlichen oder auch bei Erwachsenen in Umbruchszeiten wie besonders in Identitätskrisen.

Namensgebungen

Meme bestehen nicht nur in kompletten Gedankengängen, sondern können auch Verhaltensweisen – z. B. die erwähnten Stile, Moden, Verfahrensweisen etc. – sein. Aber erst wenn diese einen Namen bekommen und damit in ihrer Wirksamkeit begrenzt werden, kann so etwas wie Selbststeuerung und damit Verantwortung für das eigene Tun und Lassen beginnen.

Solange solche »Stile« namenlos bleiben, bestehen sie nur in einem diffusen Gefühl und sind schwer kommunizierbar – man redet höchstens »drum herum« –, vor allem aber sind sie ganz leicht abzustreiten. Als Beispiel biete ich den Begriff Mobbing an: Das Phänomen gibt es schon lange, nur pflegte man früher im konkreten Fall davon zu sprechen, dass einem jemand »aufsässig« sei – und das wurde dann immer vehement von sich gewiesen. Heute ist Mobbing klar juristisch definiert, als negative kommunikative Handlungen, die gegen eine Person gerichtet sind (von einer oder mehreren anderen) und die sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen und damit eine Beziehung zwischen Täter und Opfer kennzeichnen.11

Heinz Leymann (*1932), der diesen Begriff als Erster populär gemacht hat, konkretisiert diese Akte fünffach als

Angriffe auf die Möglichkeit, sich mitzuteilen,

Angriffe auf die sozialen Beziehungen,

Angriffe auf das soziale Ansehen,

Angriffe auf die Qualität der Berufs- und Lebenssituation und

Angriffe auf die Gesundheit.

Nur: Alle Formen von Mobbing greifen früher oder später die Gesundheit an. Zuerst die geistige durch Verwirrung – man spürt etwas und kann es noch nicht einordnen, dann die seelische – man fragt sich, wieso einem so etwas zugefügt wird und kränkt sich, dann beginnen die psychosomatischen Symptome infolge der Ausschüttung von Stresshormonen – der Körper macht sich kampfbereit und wird zivilisierterweise zurückgehalten, und schließlich ist man krank, nicht zuletzt durch die Übersäuerung infolge permanenter Anspannung. Man befindet sich ja in einem Kriegszustand.

Wer mobbt, schädigt also konkret immer die Gesundheit der angegriffenen Person: Eigentlich wäre es Aufgabe der Person, die im Anlassfall die »Fürsorgepflicht des Arbeitgebers« hat, Mobbing abzustellen. Da sich diese um ihre Verantwortung drückt – meist, weil sie kein dialogisches Modell besitzt, wie sie diese in die Tat umsetzen könnte –, wählt sie eine der archaischen Formen des Umgangs mit bedrohlichen Situationen: Sie wird aggressiv, flüchtet oder stellt sich tot.

Wenn man unter Zeitdruck steht, befindet man sich biologisch in einem Fluchtzustand: Das ist der Berufsalltag der meisten Meinungsmacher und Namensgeber, sprich: Journalisten. Jede Zeile im Text, jede Sekunde in Hörfunk und Fernsehen kostet Geld und muss sich »rechnen« oder aber eingespart werden. Diese Maxime vergiftet genauso, wie wenn man andauernd Saures bekommt, und das bekommen ja auch viele aus der schreibenden Zunft von ihren Vorgesetzten. Ich habe viele Mitarbeiter von zwei Printmedien therapeutisch begleitet, die von ihren Chefs im Stundentakt »kalt – warm«, d. h. Kündigungsdrohungen und dann wieder buhlerisches Lob, bekamen und sich diesen Stress von der Seele reden mussten, um sich selbst nicht zu verlieren.

Mundtot ist auch eine Art von Tod.

»Aufrichtige Kommunikation eigenen Erlebens impliziert, dass man die Art und Weise, in der andere die eigene Äußerung aufnehmen, nicht strategisch in die Kommunikation einplant«, erinnert der Soziologe Wolfgang Engler. »Wer spricht oder schreibt, muss sich ohne jeden Rückhalt offenbaren und Sorge dafür tragen, dass er die anderen mit keiner Miene und zu keinem Zeitpunkt manipuliert.«12 Aber genau diese strategische Einplanung gehört zur Berufsqualifikation – der Kölner Psychologieprofessor Jörg Fengler würde formulieren: Berufsdeformation13 – von Journalisten und solchen, die gerne in den Medien Dauergast wären, nämlich Politikern. Und weil sie dank der PR-Budgets ihrer Parteien sowie mittels ihrer live veröffentlichten Meinung umfangreichst manipulieren können und das auch tun, liefern sie ohne jegliche Reue die Modelle für die »Sager«, die andere mundtot machen sollen. Mundtot ist aber auch eine Art von Tod.

Schlagfertigkeit verstärkt nur die ohnedies überstarke Kampfatmosphäre und wirkt nicht nur auf die »Kontrahenten«, sondern auch auf diejenigen, die zusehen und zuhören, stressend. Vance Packard – der als einer der schärfsten Sozialkritiker der amerikanischen Industriegesellschaft bezeichnet wurde – zitiert in seinem Buch über Industriekarrieren Johnson O’Connor, den Gründer des Human Engineering Laboratory und der Johnson O’Connor Research Foundation, mit dem Satz: »Spitzenmanager zeichnen sich durch drei Charakteristiken aus: langsames Sprechen, eindrucksvolles Auftreten und völlige Humorlosigkeit.«14

Langsames Sprechen ermöglicht Mitdenken, eindrucksvolles Auftreten ergibt sich aus selbstsicherer Authentizität, und Humorlosigkeit ist wohl angebracht, wenn man jemanden oder etwas ernst nehmen will. Dennoch sind bedächtig formulierende Interviewpartnerinnen und -partner unbeliebt: Sie kosten Zeit.

Langsames Sprechen ermöglicht Mitfühlen; Einfühlung ermöglicht aber auch, unredliche Gedanken zu erspüren. Korruption wird dadurch schwerer zu verleugnen – nur: Es braucht wieder Zivilcourage, die eigenen Vermutungen oder Ahnungen in Sprache zu kleiden – und: sie sich nicht wieder ausreden zu lassen.

Um mit der eigenen Sprache verantwortlich umgehen zu können, braucht es mehr als nur korrektes Formulieren. Damit beziehe ich mich nicht primär auf Political Correctness mit ihrem Verzicht auf Diskriminierung; soziale Korrektheit heißt für mich bewusster Verzicht auf Stresserzeugung, wohl wissend, dass mit Berufung auf eine derartige Gesundheitsschädigung Missbrauch getrieben werden kann. Aber das wäre nur eine Retourkutsche, und der könnte aufdeckend widersprochen werden.

Soziale Korrektheit bestünde unter anderem in der Kontrolle der eigenen Atmung: Wenn diese in die hechelnde Kampffrequenz übergeht, wird sie genauso zum Stressor wie Knurren, Pfauchen oder Zischen – wenn sie fortgesetzt durchgehalten oder gar gesteigert wird. Schauspieler bekommen für Kampfverhalten Anleitung von ihren Regisseuren, Politiker von ihren Mediencoaches. (Ich habe das in der Zeit, in der ich Kommunalpolitikerin war, auch üben müssen, nach Abschluss meiner psychoanalytischen Ausbildung habe ich mich dann aus diesem Betätigungsfeld zurückgezogen, weil ich solches Agieren nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren wollte.) Alle anderen schauen sich diese Verhaltensmöglichkeiten ab und ahmen sie bewusst oder unbewusst nach. Männern wird solch eine Selbstdarstellung positiv abgenommen, sie gelten dann als durchsetzungsstark; Frauen hingegen ernten Kritik, fallen sie doch aus dem traditionellen Frauenrollenbild, selbst wenn es in ihrer Berufsrolle – beispielsweise als Fernsehinterviewerin – als üblich (was nicht gleichbedeutend ist mit notwendig) einkalkuliert ist. Ganz im Gegenteil: Was früher Kindern als »Kasperl haut das Krokodil« vorgespielt wurde, wird heute als »Anchor Man haut Politiker« nachinszeniert, und egal wie komplex die inhaltliche Materie ist – das Schauspiel differiert nur durch den größeren Wortschatz (und oft nicht einmal dadurch).

Rollenvorgaben

Einer der klassischen Grundsätze vor Gericht lautet: Der Beschuldigte darf alles seiner Verteidigung Dienliche vorbringen – wahr muss es nicht sein.

Strafgerichtsverfahren sind Schauspiele – wie viele andere Konfliktsituationen auch. Denn auch wenn keine Mehrzahl von Personen ein kritisches oder wohlwollendes Publikum bildet, unsichtbar stehen immer irgendwelche »Autoritäten« – und wenn es nur die Spezln vom Stammtisch sind – hinter uns und geben ihre unhörbaren Kommentare ab.

Erving Goffman, Professor für Soziologie und Anthropologie an der University of Pennsylvania, schreibt: »Berücksichtigen wir, dass die Partner einer Interaktion die Definitionsansprüche der anderen zu akzeptieren geneigt sind, so können wir die entscheidende Bedeutung verstehen, die gerade jenen Informationen zukommt, die der Einzelne anfangs über seine Partner erwirbt oder besitzt; denn auf der Grundlage dieser Anfangsinformationen beginnt er die Situation zu definieren und die Richtung seiner Reaktionshandlungen auszubauen«, und dann kommt der Satz, den ich besonders hervorheben möchte: »Seine anfängliche Projektion verpflichtet den Einzelnen auf das, was er zu sein behauptet, und zwingt ihn, jeden Anspruch fallen zu lassen, etwas anderes zu sein.«15 Das erklärt, warum jemand, der oder die sich einmal für ein bestimmtes Verhalten entschieden hat, dieses nicht aufgeben will: Weil man die eigenen Erwartungen, wie die anderen auf einen reagieren werden, auf die anderen projiziert wie ein Dia auf eine Leinwand – und mit diesem Verhalten auch oft erst diese Reaktionen provoziert –, schafft man sich selbst eine »Rüstung«, in der man dann oft ein Leben lang eingeschlossen ist.

Und weiter konstatiert Goffman: »Die Gesellschaft hat sich so etabliert, dass jeder mit Recht erwarten darf, von den anderen nach seinen sozialen Eigenschaften eingeschätzt und behandelt zu werden.«16 Solche sozialen Eigenschaften sind aber nicht nur Berufsstatus oder Personenstand, Beziehungen, Einkommen oder Prestige, sondern auch Korrektheit, Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit und vor allem: Treue.

In der psychoanalytischen Schule der Transaktionsanalyse wird die sogenannte »Skriptanalyse« betrieben, um herauszufinden, welche »Rollen« von Eltern und anderen Erziehenden – und dazu muss man heute vor allem die Medien rechnen – gleichsam als »Drehbuch« für das Leben mitgegeben wurden. Sie alle prägen die späteren Lebensstile, wenn sie nicht »umgeschrieben« werden. Treue, wie sie noch in klassischen Dichtungen besungen wurde, kommt da nicht mehr vor und Verantwortung auch nicht. Es fehlen Vorbilder.

Wie aber Treue leben, wenn man in dem einen »System« – beispielsweise der allgemeinen Öffentlichkeit – eine andere Rolle spielt als in einem anderen, privaten? Und wenn diese beiden Rollen einander nicht ergänzen oder vertiefen, sondern total widersprechen?

Dann stellt sich die Frage, wer man ist und wer man sein will und: wie man den Wechsel von dem verbesserungsbedürftigen Zustand zu dem erwünschten schafft – und was dabei behindert. Diese Frage »Was für ein Mann wollen Sie sein?« stelle ich oft, wenn ich mit Männern therapeutisch arbeite, die wegen Sexualdelikten im Zusammenhang mit Kindern zu mir kommen. (Und meist tun sie das nur, weil ihnen ihr Anwalt zwecks Erzielung einer Strafmilderung dazu geraten hat – aber das ist ja ein Teil der Kunst der Psychotherapie, so wie ich sie verstehe und praktiziere, den Ratsuchenden zu einer neuen Sicht ihrer Möglichkeiten und ebenso zur Motivation, diese zu erproben, zu verhelfen.)

Und eine weitere Frage, die ich oft stelle, um Hindernisse auf dem Weg zur Selbstgestaltung zu beseitigen, lautet: »Zu wem wollen Sie halten – zu sich oder zu den anderen?« Denn gerade wenn man verschiedenen oppositionellen Systemen angehört, steht man unter dem Entscheidungsdruck, wessen Erwartungen man sich anpassen soll – und welche Risiken man damit eingeht.

Zu wem will man halten –
zu sich oder zu den anderen?

Diese anderen erwarten vor allem, dass man sie nicht mit Gefühlen, Zweifeln, vor allem aber dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit belästigt. »Gefühle haben ist unprofessionell«, zitierte einmal ein Spitzenmanager den Eigentümer seines Unternehmens. Ähnlich sorgte sich ein Journalist und Personalvertreter in seinem Medienunternehmen, man könnte ihn nicht für einen »Härtling« halten, wenn er zu viel Mitgefühl und Engagement für seine Kollegenschaft zeigte. Um seiner sich selbst zugedachten Rolle zu entsprechen, pflegte er auch in seiner Freizeit mit Stiefeln, Breeches und Reitgerte zu demonstrieren, dass er »Manns genug« sei.

Auch der gemeinsam mit Karl v. Frisch und Nikolaas Tinbergen 1973 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete, aber erst nach seinem Tod von Historikern wegen seiner anbiedernden Karriere im nationalsozialistischen Regime kritisierte Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989) positionierte sich in diesem Sinn auf der harten Seite: »Schon in alten Zeiten haben es die Menschen hochentwickelter Kulturen verstanden, unlustbringende Reizsituationen zu vermeiden, was zu einer gefährlichen Verweichlichung führen kann. Seit alters her«, zitiert er ohne Quellenangaben die »Altvorderen«, »haben die Menschen herausgefunden, dass man die Wirkung lustbringender Situationen durch besonders schlaue Zusammenstellung der Reize steigern und durch deren ständigen Wechsel vor der Abstumpfung durch Gewöhnung bewahren kann, und diese Erfindung, die in jeder höheren Kultur gemacht wurde, führte zum Laster, das indessen kaum jemals ebenso kulturvernichtend wirkt wie die Verweichlichung.«17

Er malt mit dieser Formulierung einen Gegensatz von hart und weich und ordnet dem Weichen das Laster zu, ohne zu präzisieren, was ihm an dem Harten – beispielsweise sadistischer Gewalt – gefällt. Denn dass eine »schlaue Zusammenstellung der Reize« meist auch der Inszenierung von Dominanz mit ihrem spezifischen Lustgefühl des Triumphes über andere – oder die eigene Weichheit – dient, liegt seinem Denken fern.

Aus meiner Sicht liegt der Schaden der Kulturvernichtung nicht in der Weichheit und dem Verlust einer Moral des Ertragens »unlustbringender Reizsituationen«, sondern ganz im Gegenteil in der Zerstörung des Gefühls zur Erkenntnis von Gehirnwäschen und anderen Manipulationen an der Erkenntnisfähigkeit, beispielsweise durch retuschierte Bilder.

Zu diesen Manipulationen zähle ich vor allem die Werbung und das Marketing für Produkte und auch Dienstleistungen, die Menschen nicht gesünder, liebevoller und weiser machen, sondern im Gegenteil Meme verbreiten, die der Realitätsprüfung auf Verbesserung der Lebensqualität nicht standhalten und nur Geld aus der Tasche ziehen. Wenn dann jemand diese Manipulationen aufdeckt, wird er oft von Medien hochgejubelt wie zum Beispiel Günter Wallraff oder Edward Snowden. Andere werden geklagt wie Hans-Ulrich Grimm, der die Lebensmittelindustrie im Visier hat.

Nur: »Jede Rolle hat ihre entlaufenen Priester, die uns erzählen, was im Kloster vor sich geht«, wie Erving Goffman erinnert, »und die Presse hat stets ein lebhaftes Interesse an derartigen Bekenntnissen und Enthüllungen bewiesen«,18 unabhängig davon, ob sie wirklich den Tatsachen entsprechen – man kann ja immer einen Widerruf nachschicken.

So kam einmal eine Frau in Beratung, die ziemlich empört war, dass ihre Mutter in einem Buch über Sex älterer Frauen Fantasiegeschichten über ihr aktives Lustleben zu Protokoll gegeben hatte, von dem kein Wort wahr war. Sie konnte nicht verstehen, weshalb die Mutter diese Pseudofassade aufgebaut hatte und ihr auch jede erklärende Information verweigerte nach dem Motto »Du als Tochter hast mich nicht zu kritisieren!«; die bis dahin auf Wahrheit und Vertrauen aufgebaute Beziehung zwischen den beiden Frauen war durch diese Angeberei irreparabel zerstört.

Ähnlich zerstört sind auch Vertrauensbeziehungen zu Politikern, und auch dies hängt mit den immer gleichen PR-Inszenierungen von Fit & Fun – sportlichen Betätigungen und Auftritten bei Festen – zusammen. Es sind die Spindoktoren und Kommunikationsratgeber, die glauben, dass man Stimmen gewinnt, wenn man trivial menschlich »rüberkommt«.

Der ehemalige französische Europa-Abgeordnete Roger-Gérard Schwartzenberg klassifizierte die »Stars« der Politik als »Helden«, »Väter«, »Charmeure« und »Herrn Jedermann«19. Wie die Person tatsächlich wäre, sei ganz egal, wusste er, wichtig sei nur, dass das jeweilige Image in den Medien diesen vier Formen von »Showmanship« entspräche, anderes brächte keine Wählerstimmen. (Bei Frauen ließ er nur die ersten beiden Kategorien – »Heldin« oder »Mutter« – zu, wobei er prognostizierte, dass Heldinnen wie Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen zu enden pflegen.) Heute kann man beobachten, wie die Spindoktoren versuchen, Herrn und Frau Jedermann in Helden- oder Charme-Images zu kleiden und sich dabei an Vorbildern aus Film und Fernsehen orientieren. Die Lebensstile, die dabei vermittelt werden, zeigen sich an Männern – und zunehmend auch Frauen –, die fühllos funktionieren, sich brutal durchsetzen (müssen), andere mit Charme betören (da steckt das Wort Torheit drin) oder sich betören lassen, die vor allem aber nicht viel nachdenken, und das schon gar nicht über ethische Positionen.

Eigentlich sollte, analog den Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen, mitvermittelt werden: Achtung – diese Verhaltensweisen können ihre soziale Gesundheit gefährden. Oder: Dieses Verhalten ist nicht alltagstauglich!

Jede Kommunikation hängt vom Wohlwollen des anderen ab, bemerkte Max Frisch so treffend: Aber wenn der andere die nachprüfbare Realität gar nicht wissen will – beispielsweise, weil sonst seine »G’schicht« ihre Dramatik, ihr Erregungspotenzial verliert –, kann man widersprechen, soviel man will, es wird nichts nutzen. Man sollte es dennoch tun und bei der Wahl der Veröffentlichung kreativ sein, auch wenn das Zeit und möglicherweise viel Kraft braucht.

Korrektheit, Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit – das sind auch Bausteine der Treue vor allem zu sich selbst. Und sie sind Bausteine der seelischen und damit auch körperlichen Gesundheit.

Das Zeitalter der Seelenvergiftung

»Sich des Unbewussten bewusst werden« heißt, die Verdrängungen und Entfremdungen von mir, und damit von dem Fremden, zu überwinden. Es bedeutet aufzuwachen, Illusionen, Fiktionen und Lügen abzuschütteln und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

ERICH FROMM1

Körper, Seele und Geist sind eine Einheit; sie beeinflussen einander gegenseitig. Zu dieser »ganzheitlichen« Sichtweise hebt der Psychologe Peter Orban als Charakteristikum der philosophischen Medizin hervor, dass aus ihrer Sicht der Weg der Krankheit von oben nach unten geht – von der Seele in den Körper: »Nicht in einem gesunden Körper wohne auch eine gesunde Seele, sondern eine gesunde Seele ist auch verantwortlich dafür, dass auch der Körper gesund ist«, schreibt er, und: »Ein kranker Leib freilich ist immer ein Hinweis darauf, dass die Seele ein Problem hat«2 und, ergänze ich, Energie und damit Immunkräfte verliert.

Aber, so Orban, nicht jedes Problem fällt in den Körper und produziert dort ein Symptom, sondern es kann ebenso in Handlungen stecken bleiben; dann sei eben der Körper gesund, schreibt er, und das Handeln krank. Daher gelte es, die Seele zum Sprechen zu bringen. Das setze eine Suchbewegung voraus und eine Übersetzungsleistung3 und, setze ich aufklärend hinzu, diese beiden Fähigkeiten müssen erst erlernt werden. Man braucht dazu eine bestimmte Art, von außen nach innen zu schauen – und dies lernt man meist im Dialog mit einem psychotherapeutischen oder auch theologischen Seelsorger, sofern Letzterer nicht darauf versessen ist, Scham- und Schuldgefühle auszulösen. (Bei Psychotherapeuten wäre das ein grober Kunstfehler, bei Geistlichen hängt es von der Ideologie des jeweiligen Religionsbekenntnisses ab, ob dieses nämlich auf Befreiung oder Unterwerfung abzielt.)

Seh-Kraft

Es gibt viele Arten, wie man sehen kann. Meist wird einem das bewusst, wenn man Autofahren lernt: Da benötigt man die »zweite Aufmerksamkeit« – ich spreche von ihr als dem »Panorama-Blick« –, mit der man das Blickfeld erweitert, gleichsam die Augenachsen parallel stellt, anstatt sie auf einen Fokus zu verengen; das muss man aber wiederum dann tun, wenn etwa ein Kind die Fahrbahn betritt und man nun besonders vorsichtig, besser gesagt: voraussichtig, dessen mögliches unbedachte Spontanverhalten erahnen sollte.

Es gibt viele Arten, wie man sehen kann.

Es gibt aber auch den »diagnostischen Blick«, mit dem man Stimmungs-, Antriebs- oder überhaupt Gesundheitsveränderungen feststellen kann, vorausgesetzt, man hat diese Begabung entwickelt. Die meisten Angehörigen von Gesundheitsberufen erwerben diese Kompetenz im Laufe ihrer Praxis. Aber auch der Normalbürger kann sich angewöhnen, Signale bewusst wahrzunehmen und nicht nur als unerwünschte Veränderung bei sich oder anderen zu kritisieren oder zu ignorieren.

Wenn man frühmorgens sein Aussehen im Spiegel kontrolliert, trifft es an manchen Tagen zu, dass man sich nicht gefällt. Die wenigsten Menschen denken dann nach, was sie am Vortag gegessen oder getrunken haben oder ob sie ausreichend geschlafen haben – denn Schlaf ist ebenso wie Sport eine Form, Giftstoffe aus sich herauszuschwitzen.

Ich erinnere mich, dass mich ein Jungianischer Kollege einmal Ende der 1980er-Jahre darauf hinwies, der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Alfred J. Ziegler4 habe in einem Vortrag gesagt, wir lebten derzeit im »Zeitalter der Gifthexe« – überall werde das Echte verunreinigt, verfälscht, durch Imitationen ersetzt, und die Folge wäre, dass man die ursprüngliche Form nicht mehr erkenne. Wenn man die Jahre danach überblickt mit ihren Bemühungen um Gütesiegel, Produktdeklarationen und Stoffinhaltsangaben, Schadbelastungsquoten, aber auch Abschlagszahlungen für Umweltsünden, wird sichtbar, wie sogar Regierungen und Staatengemeinschaften, die ja erfahrungsgemäß immer erst sehr spät auf Alarmsignale aus Umwelt und Bevölkerung reagieren und eher den Beteuerungen von Industrie und Kapitalmanagement vertrauen – oder wie auch immer man diese Form von »Hörigkeit« bezeichnen will –, die Augen nicht mehr vor den unübersehbaren Schäden und Negativprognosen schließen können.

Gift gibt es aber nicht nur in chemischer Form, sondern auch in mentaler – in gesprochenen oder geschriebenen Worten und Sätzen, aber auch in Blicken und Gesten, ja sogar in geplanten Beziehungskonstellationen. So gab es beispielsweise im antiken Römischen Recht das Verbot der sogenannten societas leonina; darunter versteht man einen Gesellschaftsvertrag, bei dem eine Person allein alle Vorteile gewinnt, während die anderen ausschließlich die Lasten zu tragen haben. Der Name »Löwengesellschaft« wurde von der Fabel des Äsop abgeleitet, in der etliche Tiere gemeinsam mit dem Löwen zur Jagd gehen, der dann aber die gesamte Beute für sich behält.

In Italien ist diese Vertragsform nach wie vor verboten, in Deutschland und Österreich hingegen nicht. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet nämlich, ob sich jemand in vollem Wissen um die Konsequenzen auf solch eine Vertragsbeziehung einlässt. »Informed consent« lautet der Fachausdruck dafür, und oft wird dann von den Apologeten als Entschuldigung vorgebracht, sie hätten ohnedies gefragt, ob der jeweils andere »Vertragspartner« einverstanden wäre – eben ohne auf das »Kleingedruckte« hinzuweisen oder es zu erläutern.

Dieser Begriff des »informed consent« taucht auch im Zusammenhang mit sexuellen Misshandlungen auf, wenn Täter etwa behaupten, sie hätten ohnedies gleich »zu Beginn« (!) gefragt, ob das »eh alles o. k.« sei. »Zu Beginn« stellt sich dann als Umarmung oder Kuss heraus – eine Handlung, die zwar im laienhaften Alltagsverständnis oft als unangenehm, nicht aber als Gewalt erlebt wird; wenn später dann der Gesamtverlauf eines sexuellen Übergriffs analysiert wird, stellt sich fast immer heraus, dass das als nur unangenehm verharmloste Empfinden der intuitive Hinweis auf die drohende Grenzverletzung war. Und genau diese Intuition ist es, die hilft, »Giftiges« von Gesundheitsförderndem zu unterscheiden – denn Vergehen und Verbrechen werden logischerweise nicht angekündigt, sondern verschleiert und verleugnet. Und genau damit führen sie zu »Seelenmord«5 – der Vergiftung des Wahrnehmungsvermögens.

Seelentoxikologie