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Uwe Schütte

Unter
welten

Zu Leben und Werk
von Gerhard Roth

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Danksagung
Der Verlag dankt dem Alfred-Schachner-Gedächtnisfonds für die Förderung. Nachdrücklicher Dank an erster Stelle gilt Gerhard Roth für seine Gastfreundschaft und die ausdauernde Bereitschaft, während meines Besuches im Juni 2013 in Kopreinigg alle Fragen zu seinem Werk zu beantworten und über seine Biografie ausführlich Auskunft zu geben. Die Reise aus England in die Steiermark ermöglichte eine großzügige Förderung der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung Kultur, die ebenso den Bildteil dieses Bandes durch eine Druckkostenunterstützung förderte. Außerdem unterstützten mich Petra Baumann, Luise Grinschgl, Martina Kempter, Simon Ryan und Charlotte Ryland auf unterschiedliche Weise – auch ihnen meinen herzlichen Dank.
Uwe Schütte, Birmingham, im Juli 2013

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Erster Teil Die Biografie

Zweiter Teil Das Frühwerk (1972–1978)

1 DENKEN IN DER SPRACHE DER VÖGEL – DIE AUTOBIOGRAPHIE DES ALBERT EINSTEIN

2 […] UND ANDERE KURZROMANE – KÜNSTEL / DER AUSBRUCH DES ERSTEN WELTKRIEGS / HOW TO BE A DETECTIVE / DER WILLE ZUR KRANKHEIT

3 DIE ENTDECKUNG DER WIRKLICHKEIT – DER GROSSE HORIZONT

4 TRANSATLANTISCHE REPRISE – EIN NEUER MORGEN

5 AM RAND DES VULKANS – WINTERREISE

Dritter Teil Die Archive des Schweigens (1980–1991)

1 IN EINER WILDFREMDEN GEGEND – IM TIEFEN ÖSTERREICH

2 DIE ENTDECKUNG DER PROVINZ – DER STILLE OZEAN

3 DIE GEHEIMNISSE DES BIENENKORBS – LANDLÄUFIGER TOD

4 BRÜCKENSCHLAG – AM ABGRUND

5 AUF DER SPUR DER WAHRHEIT – DER UNTERSUCHUNGSRICHTER. GESCHICHTE EINES ENTWURFS

6 PORTRAIT AUS SPLITTERN – DIE GESCHICHTE DER DUNKELHEIT. EIN BERICHT

7 VERMESSUNG DER METROPOLE – EINE REISE INS INNERE VON WIEN

Vierter Teil Orkus (1995–2011)

1 IM LAND DER MÖRDER – DER SEE

2 ZETTEL UND ZUFALL – DER PLAN

3 LABYRINTH DER FÄLSCHUNGEN – DER BERG

4 UNTER TOTEN – DER STROM

5 VERWIRRSPIEL DER HETERONYME – DAS LABYRINTH

6 URBANE EXPEDITIONEN – DIE STADT. ENTDECKUNGEN IM INNEREN VON WIEN

7 POETISCHER ENTWICKLUNGSROMAN – DAS ALPHABET DER ZEIT

8 UNTERWELTEN – ORKUS. REISE ZU DEN TOTEN

Anhang

Auswahlbibliografie

Es war mir von Anfang an klar, daß ich scheitern mußte, aber ich habe das Scheitern beim Schreiben, wie gesagt, von Beginn an in meine Arbeit miteinbezogen. (ZST 32)

Die Literatur ist ein Dialog mit den Ungeborenen, den Lebenden, den Toten und mit einem selbst. Beim Lesen von literarischen Büchern vereinen sich diese Möglichkeiten auf geradezu wundersame Weise. Die Literatur ist in der Lage, die Zeit aufzulösen. Ich arbeitete in meinen beiden Zyklen also auch an dem ewigen Projekt der Literatur mit, die Gegenwart in die Zukunft zu retten und die Vergangenheit in die Gegenwart. (ZST 26)

SIGLENVERZEICHNIS

Als Textgrundlage dienen die im S. Fischer Verlag erschienenen Taschenbuchausgaben. Diese sind im Fall der beiden Zyklen seitenidentisch mit den gebundenen Ausgaben.

AAE

die autobiographie des albert einstein (enthält auch Künstel, Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, How to be a detective, Der Wille zur Krankheit) (1972)

GH

Der große Horizont (1974)

NM

Ein neuer Morgen (1976)

WR

Winterreise (1978)

SO

Der Stille Ozean (1980)

LT

Landläufiger Tod (1984)

AA

Am Abgrund (1986)

UR

Der Untersuchungsrichter. Geschichte eines Entwurfs (1988)

Im tiefen Österreich. Bildtextband (1990)

GD

Die Geschichte der Dunkelheit. Ein Bericht (1991)

RIW

Eine Reise in das Innere von Wien. Essays (1991)

DS

Der See (1995)

DP

Der Plan (1998)

DB

Der Berg (2000)

ST

Der Strom (2002)

DL

Das Labyrinth (2004)

STA

Die Stadt (2009)

AZ

Das Alphabet der Zeit (2007)

RT

Orkus. Reise zu den Toten (2011)

MATERIALIENBÄNDE

MAS

Uwe Wittstock (Hrsg.): Materialien zu Die Archive des Schweigens. S. Fischer, Frankfurt am Main 1992.

OSZ

Daniela Bartens / Gerhard Melzer (Hrsg.): Gerhard Roth – Orkus. Im Schattenreich der Zeichen. Springer, Wien/New York 2003.

ZST

Jürgen Hosemann (Hrsg.): Die Zeit, das Schweigen und die Toten. Zum Werk von Gerhard Roth. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011.

Kristina Pfoser-Schewig (Hrsg.): Das doppelköpfige Österreich. Essays, Polemiken und Interviews von Gerhard Roth. S. Fischer, Frankfurt am Main 1995.

Erster Teil Die Biografie

Die Fiktion ist für mich eine Form der Realität. Schreiben heißt
fiktive Wahrheit erzeugen. Insofern ist die Fiktion nur eine andere
Form der Realität und die Realität eine andere Form der Fiktion
.

Gerhard Roth

 

Gerhard Roth ist ein Autor, der den Widerspruch nicht inszeniert, ihn aber in mancher Hinsicht verkörpert. Als er mit Anfang 30 die literarische Bühne seiner Heimatstadt Graz betrat, da fiel gerade dies vielen Beobachtern auf: der Widerspruch zwischen den psychische Extremzustände auslotenden Texten, mit denen er sich um 1972/73 schlagartig einen Namen machte, und seinem unauffälligen, bescheidenen Auftreten. Unvereinbar schien auch seine Existenz als dreifacher Familienvater und Leiter der Organisationsabteilung des Grazer Computerrechenzentrums, kurzum: seine bürgerliche Lebensform, mit der hedonistischen Bohème-Existenz seiner Grazer Autorenkollegen, die nicht nur die Literatur auf den Kopf stellten, sondern auch traditionelle Vorstellungen von dem, was und wie ein Schriftsteller zu sein hat.

Wer Roth persönlich kennenlernt, dem wiederum wird nicht der Kontrast entgehen zwischen der bärenhaften Gestalt des fast zwei Meter großen Mannes, der sich in der Öffentlichkeit mit nicht selten furioser Streitlust in die politischen Geschicke seines Heimatlandes einmischt, und seinem privaten Auftreten, das von entwaffnender Herzlichkeit und oft sogar von verletzlich erscheinender Zärtlichkeit ist. Roth sei »ein scheuer, diskreter, leiser Mensch, ein Einzelgänger«,1 schrieb eine Journalistin in einem 1998 entstandenen Porträt des Schriftstellers.

Roth hat sich ein eigentümliches, eigenwilliges Werk erarbeitet, das außer den zahlreichen Büchern, die neben einer stilistisch vielschichtigen Erzählprosa auch essayistische und dokumentarische Schreibweisen umfassen, ebenso aus einem umfangreichen Pool an Fotografien besteht und eine ansehnliche Zahl an Filmen inkludiert. Das Kernstück seines literarischen Schaffens bildet dabei der in über drei Jahrzehnten währender Arbeit entstandene Doppelzyklus aus den beiden Heptalogien Die Archive des Schweigens und Orkus. Beide sind so gearbeitet, dass jeder Band einerseits als Werk für sich gelesen werden und solchermaßen als Zugang zum gesamten Zyklus funktionieren kann, andererseits aber auch an einem ganz bestimmten Platz in der logischen Abfolge des Werks steht.

Das gleich einer Doppelhelix miteinander verknüpfte Gebilde ist ein veritabler Solitär im Korpus der Weltliteratur, in dem Roth seine nicht selten energiezehrenden Expeditionen in das Innere von Österreich und in die Tiefenschichten der menschlichen Existenz dokumentiert. Wie ein Gerichtsmediziner hat er den politischen Wahnsinn des zwanzigsten Jahrhunderts seziert, um so dem fatalen Magnetismus auf die Spur zu kommen, der den Menschen zum Verbrecherischen hinzieht. Mit diesem aufklärerischen Impetus einher geht das ethische Bestreben, jenen eine Stimme zu geben, die ausgegrenzt, zum Schweigen verurteilt und ermordet wurden. Es ist diese Verknüpfung, die seinem Schreiben eine besondere moralische wie politische Signatur verleiht.

Beendet ist sein Werk nun, nach Abschluss des Doppelzyklus, noch lange nicht. Das Schreiben, so Roth, ist für ihn wie ein Zwang und nicht selten eine Last. Dennoch ist es an der Zeit, einmal Rückschau zu halten auf Gerhard Roths literarische Forschungsreisen in die Unterwelten des eigenen wie des kollektiven Unbewussten, der österreichischen Geschichte und der europäischen Kultur.

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»Ich war nach der Geburt unsäglich dick, ein Riesenbaby von comichaftem Aussehen, eine Stopfgans in Babygestalt« (AZ 122) – so beschreibt er sich, zweifellos mit einer Prise ironischer Negativstilisierung, in seiner Kindheits- und Jugendautobiografie Das Alphabet der Zeit. An deren Anfang steht die früheste Erinnerung: Im Jänner 1945 flieht die Mutter mit Roth und seinen Brüdern, dem älteren Paul und dem jüngeren Helmut, vor der Roten Armee aus Graz in Richtung Deutschland. Der Vater war dort in Unterfranken als Stabsarzt in einem Lazarett stationiert und wollte seine Familie in Sicherheit bringen. Als der Zug mit den Flüchtenden jedoch die Stadt Mautern passierte, kam es zu einem Tieffliegerangriff durch die Royal Air Force.

In Panik fliehen die Passagiere aufs Feld, das Kleinkind spürt die ungeheure Angst der Mutter, sieht die überall einschlagenden Geschoße und erblickt seinen ersten Toten. Nach einer Ruhepause geht es am nächsten Tag weiter und als sich die Mutter im Laufe der chaotischen Reise einmal weigert, in einen Zug einzusteigen, erweist sich ihr Instinkt als richtig: Wie man später erfährt, ist dieser Zug, der über Linz nach Würzburg fahren sollte, im Bahnhof von Nürnberg bei einem Bombenangriff getroffen worden. Es gab Hunderte Todesopfer, darunter viele Mitreisende der Familie Roth.

Schon in frühester Kindheit verdankt Roth so dem Handeln seiner Mutter das Leben; auch sein Vater, den er beim Wiedersehen in Würzburg wie einen Fremden empfindet, wird es ihm später noch mehrmals retten. Bis Ende 1945 bleibt die zusammengeführte Familie in Bayern, bevor sie nach Österreich zurückfährt, das nun von der britischen Armee kontrolliert wird. In die Wohnung am Geidorfgürtel im Grazer Universitätsviertel aber darf sie nicht mehr zurückkehren, da diese von den Militärbehörden beschlagnahmt wurde.

Daher sucht die Familie zunächst Unterschlupf bei den Eltern der Mutter, die in einer Zimmer-Küche-Wohnung am Kirchweg 9 im Grazer Vorort Gösting wohnen. Neun Monate halten alle in der überfüllten Unterkunft aus, bevor die Familie schließlich eine eigene Wohnung am Weidweg 9 in Gösting findet. Als ehemaligem »Nazi-Parteigenossen« und aus Siebenbürgen stammendem »Staatenlosen« ist dem Vater eine Aufnahme in den öffentlichen Gesundheitsdienst zunächst verwehrt. Daher praktiziert er sozusagen heimlich in der Privatwohnung. Da allerdings viele der Patienten kein Geld haben, fallen für die Familie zumeist nur Naturalien an – »Zwetschgen und Eier, eingelegte Gurken oder ein paar Blumen« (AZ 75) sind die karge Gegenleistung für die medizinische Betreuung.

Durch die ärztliche Tätigkeit des Vaters wird Roth so früh schon mit Unfallwunden, schweren Krankheiten und Beschwerden aller Art konfrontiert. Die medizinischen Lehrbücher wiederum, die er insgeheim durchblättert, halten für das Kind ein wahres Horrorszenario an Verletzungen und körperlichen Abnormitäten bereit. Oftmals darf das Kind assistieren, da der Vater sich wünscht, dass sein Sohn einmal ebenfalls Arzt wird. Roth erlebt als Kind und Jugendlicher die Gebrechlichkeit des Körpers aber auch an sich selbst: »Auf eine Krankheit folgte eine Genesungsphase, auf eine Genesungsphase ein Unfall und so fort. Die Serie an Unglücken, Ansteckungen und selbst verschuldeten Unfällen hörte nie auf, nur die Abstände zwischen den Ereignissen wurden, als ich erwachsen wurde, größer und die Schwere nahm ab.« (AZ 144f)

Es ist also kein Wunder, dass Roth für das Phänomen der Krankheit zeitlebens Interesse hegt, wie seine Bücher nur allzu deutlich zeigen. Das betrifft vor allem die Welt der Geisteskrankheiten. Mit ihr gerät er erstmals in Berührung, als er mit seiner Mutter in die ›Irrenanstalt‹ am Feldhof geht, um »Onkel Fritzl«, den verrückten Cousin seiner Mutter, zu besuchen. Dessen merkwürdiges Verhalten irritiert das Kind. Auch ein wunderlicher Mann in der Göstinger Nachbarschaft schürt die Faszination für Menschen, die von der sogenannten Norm abweichen. Später wird Roth den Begriff des ›Normopathen‹ benutzen, um damit zu kennzeichnen, dass vielmehr die Einhaltung vorgegebener Verhaltensweisen eine Form der Pathologie ist, während die Geisteskranken, mit deren Kunst er sich ab den siebziger Jahren intensiv zu beschäftigen beginnt, eine Verbindung eröffnen zu dem, was die Gesellschaft aus Furcht verdrängt.

Für das Kind ist das Leben in Gösting geradezu ein Abenteuer: Die Eisenbahngleise des Rangierbahnhofs befinden sich in unmittelbarer Nähe, daneben steht ein Sägewerk, gegenüber liegt eine große Müllhalde, während im Garten aus unerfindlichen Gründen ein ausrangierter Rotkreuzwagen der englischen Armee steht. Die nahe gelegene Endstation der Straßenbahn ermöglicht später Ausflüge in die Stadt. Für die Eltern hingegen ist das Leben gegenüber der Mülldeponie, deren Gestank »bei Föhn oder einem Sturm in alle Poren einzudringen und den Körper zu vergiften« (AZ 78) schien, eine arge soziale Deklassierung, zumal die Jahre in Gösting auch eine Zeit wirtschaftlicher Not sind. »In der Stadt gab es alles, am Weidweg nur die Hölle, wie meine Mutter weinend sagte.« (AZ 88)

Der Krieg ist vorbei, hat aber seine Spuren in den Menschen hinterlassen, auf die das Kind in der Siedlung an der Peripherie stieß. »Damals begegnete man auf der Straße häufig Kindern und Erwachsenen mit Kriegsschäden – fehlenden Armen, Beinen – und auch Blinden« (AZ 105), aber, besonders am Land, auch Schwachsinnigen und Geisteskranken, von denen sich der junge Gerhard besonders fasziniert zeigt. Es kursieren Gerüchte über Nachbarn, die sich an Kriegsverbrechen beteiligt haben sollen, und wenn im Radio der Name Adolf Hitler genannt wird, heißt es nur kurzangebunden, dieser sei »ein Mörder« gewesen. Der Nationalsozialismus bildet so den schemenhaften Hintergrund der Zeit als ein Geheimnis, das die Erwachsenen von Gerhard und seinen Brüdern fernhalten.

Offen hingegen kämpfen die Eltern darum, die Streifzüge und Ausflüge ihrer Kinder in der nicht ungefährlichen Umgebung zu kontrollieren. Nichtsdestotrotz kommt es beispielsweise zu unerlaubten Exkursionen auf die Müllhalde, wo man nach brauchbarem »Spielzeug« und anderem Abfallmaterial sucht. Aus den Vorräten des Sägewerks entwenden die Kinder Holzscheite, um sich Spielzeuggewehre zu basteln, während man auf den Eisenbahngleisen lebensgefährliche Spiele mit den vorbeifahrenden Zügen treibt. Dabei wäre Roth einmal fast überfahren worden, hätte sein älterer Bruder ihn nicht im letzten Augenblick zurückgezogen.

Ein zentraler Einschnitt in Roths Leben vollzieht sich durch die Ankunft der Großmutter väterlicherseits. Nach dem Tod ihres Ehemannes – Roths Großvater, den Gerhard nie kennengelernt hat –, übersiedelt sie im Jahre 1947 aus Siebenbürgen nach Gösting. Die alte Frau erschreckt das Kind zunächst, denn sie leidet an einer Form des Tourette-Syndroms und daher an Gesichtszuckungen, außerdem gibt sie mit den Lippen »Schnalzlaute« von sich. »Sie war gleichzeitig sie selbst und ihre eigene Karikatur« (AZ 204), erinnert sich Roth. Schnell jedoch schlägt das Widerstreben gegen die sich bizarr verhaltende Großmutter in große Zuneigung um. Sie verteidigt den kleinen Gerhard gegen den Tadel der Eltern und erzählt ihm ausschweifende Geschichten, »mit Vorliebe vom österreichischen Kaiser Franz Joseph, dem guten Herrscher, und von der großen österreichischen Monarchie, dem Land, das für immer untergegangen sei«. (AZ 207)

Später weckt sie Roths Interesse für ferne Länder und seine Passion für Landkarten, sie zeichnet und entwirft mit ihm Pläne von Fantasiereichen oder erzählt ihm vom Ausbruch des Vulkans Vesuv und vom Schicksal der Stadt Pompeji – alles Dinge, die Spuren im Werk Roths hinterlassen werden, insbesondere im Roman Winterreise. Darin verarbeitet er nicht nur seine Besteigung des Vesuv, sondern auch den Besuch der Phlegräischen Felder, die rund 20 Kilometer westlich liegen und heute wegen verstärkter unterirdischer Aktivität gesperrt sind. (Später wird Roth noch drei weitere Vulkane – den Ätna sowie in Japan den Aso und den Sakurajima – besuchen.)

Der Großmutter, die selbst Gedichte schreibt, kommt vor allem das Verdienst zu, Roth auf die Spur des Künstlertums gesetzt zu haben. Zusammen basteln sie ›Bücher‹, der Enkel erfindet nach ihrem Vorbild fantastische Geschichten, die dann von ihr niedergeschrieben und illustriert werden. Sie begeistert sich für die rege Fantasie des Enkels, der im Prozess des Erzählens selbst Erlebtes mit frei Erfundenem vermischt, so »dass sie am Schluss bewundernd ausrief, ich sei ein ›Künstler‹! Diesen Satz wiederholte sie von da an immer wieder. […] Hatte ich etwas Schweres in Händen, rief sie sofort: ›Du darfst nichts tragen! Das ist zu schwer für dich!‹, und fügte hinzu: ›Du bist ein Künstler!‹« (AZ 217f) Im Laufe der Zeit entsteht so eine kleine ›Bibliothek‹ – das eigentliche ›Frühwerk‹ Gerhard Roths. Dieses ist zwar verloren gegangen, der schriftstellerische Auftakt jedenfalls war unwiderruflich gemacht: »Plötzlich wurden meine geheimen Gedanken, geschützt durch eine erfundene Geschichte, hörbar, und gerade sie erregten die Bewunderung meiner Großmutter.« (AZ 229)

Eine wichtige Bezugsperson ist auch der Großvater mütterlicherseits, der als Glasbläser gearbeitet hat. Er kam in Istanbul auf die Welt, weil sein Vater dort im selben Beruf als ›Gastarbeiter‹ tätig war. Der Großvater beeindruckt den Enkel durch die Erzählungen vom größten Abenteuer seines Lebens, der großen Walz, die ihn von Graz über Prag nach Bremen und von Deutschland aus durch fast ganz Europa geführt hat. Als blinder Passagier versuchte er sich nach Amerika einzuschiffen, ging aber in Cardiff an Land, im Glauben, die USA erreicht zu haben. Von Wales aus schiffte er sich mit Komplikationen wieder ein und bereiste das Meer von Norwegen bis Nordafrika auf dem Frachtschiff Anna. »Großmutter und Großvater waren die beiden Erzähler meiner Kindheit und – wenn sie Zeit hatte – auch meine Mutter, während mein Vater nichts von sich preisgab.« (AZ 276)

Seine Volksschulzeit hat Roth »nur als quälende Zeitverschwendung in Erinnerung« (AZ 311), dennoch ist er ein guter Schüler. Ein Lichtblick ist überdies die Klassenlehrerin Frau Prangl, zu welcher Gerhard eine unerfüllte Liebe entwickelt. Erotisch angezogen von ihr, stiehlt er eine Brosche seiner Großmutter, um sie der angehimmelten Lehrerin zu schenken. Die Angelegenheit nimmt später ein kurioses Ende. Als Roth ihr nach seiner Matura einen Besuch in der Volksschule Gösting abstattet, trägt Frau Prangl die Brosche.

Eine entscheidende Wendung in seinem Leben tritt ein, als die Mutter ihre ursprüngliche Wohnung am Geidorfgürtel im Universitätsviertel zurückerhält. Für die Großmutter ist dort nämlich kein Platz, sodass es zu einer räumlichen Trennung von ihr kommt, die sich im Laufe der Zeit zu einer emotionalen Distanz entwickelt. Roth selbst ist in der neuen Umgebung nicht unbedingt glücklicher und empfindet den Umzug als Entwurzelung und insofern auch als biografischen Bruch, der den Umschwung von der Kindheit zur Jugend markiert.

Nach der Übersiedlung, in der 4. Klasse Volksschule, leidet Roth auch unter einem neuen autoritären, autokratischen Lehrer, der seine Schüler schlägt und schikaniert. Es ist dies der angsteinflößende Oberlehrer Scherrer, »ein glatzköpfiger Dämon, der im Jähzorn, laut nach Atem ringend wie ein Erstickender, seine Schüler an den Haaren riss, bis ganze Büschel auf den Pulten lagen«. (AZ 417) Selbstmordgedanken bestimmen so nicht selten die Geistesverfassung des Schülers Roth.

Auch die Mittelschule wird als Tortur empfunden. Er ist jetzt ein entsprechend schlechter Schüler, wobei die Erniedrigungen und Verfolgungen durch verrohte Mitschüler in der Unterstufe eine wesentliche Rolle spielen. Wenngleich er sich als Jugendlicher für Philatelie und, wie schon als Kind, fürs Mikroskopieren interessiert, erweist sich Roth in seiner Schulzeit aber in jeder Hinsicht als ein begeisterter Sportler. Nicht nur spielt er jetzt bei Vereinen Fußball und Basketball, er geht mit dem Vater oftmals ins Fußballstadion und wird zu einem lebenslangen Fan des SK-Sturm Graz, dessen Spiele er nunmehr seit über sechzig Jahren unverbrüchlich besucht.

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Der Konflikt mit den Eltern wird mit fortschreitendem Alter ausgeprägter, nachdem Roth Mitte der fünfziger Jahre zufällig im Grazer Opernkino durch einen Dokumentarfilm über den Nürnberger Prozess das ganze Ausmaß der Verbrechen des Nationalsozialismus erfährt. Der Anblick der Leichenberge auf der Leinwand ist für ihn ein veritabler Schock. Irritiert suchte der Jugendliche in der Folge nach Fluchträumen jenseits der Wirklichkeit. Er findet sie zunächst im Kino, das er mit Hingabe besucht, die rigide kontrollierten Altersbeschränkungen dabei geschickt umgehend. Später entdeckt Roth dann den Rock’n’Roll als emanzipierende Macht gegen den Muff der Zeit:

Die Musik stellte meine Bücher, Filme, Zeitschriften und den Sport eine Zeitlang in den Schatten, sie schlug in mein Dasein ein wie ein Blitz […] Es war eine Energietransfusion, wie ich sie erst Jahre später wieder durch die Literatur erfahren sollte, und gleichzeitig die Bestätigung, dass ich mit meinem Unglück nicht allein war. (AZ 610)

Parallel zu diesen zeittypischen Auflehnungsversuchen läuft die Entdeckung der Sexualität, die sich unter den moralisch restriktiven Bedingungen der fünfziger Jahre weitgehend im Geheimen abspielen muss. Das hat Folgen: Mit 16 lernt er die um drei Jahre ältere Schauspielschülerin Erika Wolfgruber kennen, die von ihm ein Jahr später schwanger wird. Drei Tage vor seinem 18. Geburtstag wird Roth zum ersten Mal Vater. Zwar hat er die Unterstützung seiner Eltern, im sozialen Umfeld aber gilt die Geburt der Tochter Eva als Skandal und zieht etwa Schikanen des Lateinprofessors nach sich, der hinterhältig die Absolvierung der Matura verzögert.

Dem Wehrdienst entkommt Roth, wenn auch nicht ohne Komplikationen, durch Ausmusterung aufgrund gesundheitlicher Probleme. Entgegen seiner Neigung zur Literatur und seinem Berufswunsch Schauspielerei, den er durch Statistenrollen am Stadttheater auslebt, muss sich Roth angesichts seiner abhängigen Lage dem Druck des Vaters fügen und inskribiert Medizin an der Universität Graz. Er verfolgt das Studium jedoch nur halbherzig; seine eigentliche Passion gehört der Kunst. Roth hält Kontakte zur Grazer Kunstszene und schreibt seit circa 1965 an einem Manuskript, das den evokativen Titel Aufzeichnungen eines überflüssigen Menschen trägt.

Wie der Abdruck des ersten Kapitels im Studentenmagazin der Grazer Universität von 1967 zeigt, war der Text deutlich von Knut Hamsuns Hunger (1890) beeinflusst, in dem der Verfall eines jungen Schriftstellers geschildert wird. Lieber als im Studentenmagazin hätte Roth den Abdruck in der Grazer Literaturzeitschrift manuskripte gesehen, für Roth damals das A & O der Literatur. Dort jedoch lehnte man den Text ab. Zu sehr stand er noch im Schatten der realistischen Erzählnormen des neunzehnten Jahrhunderts, die man im Umfeld der Grazer Gruppe mit allen Mitteln zu überwinden trachtete.

Unter den weiteren Texten, die er bis Ende der sechziger Jahre im Studentenmagazin veröffentlicht, befindet sich ein Essay über Henry Miller. Dessen Bücher Der Wendekreis des Krebses (1934) und Der Wendekreis des Steinbocks (1939) waren damals in den Buchhandlungen nur erhältlich, wenn man mit seiner Unterschrift auf einem beigelegten Formular bestätigte, älter als 21 Jahre und mithin nach damaligen Gesetzen großjährig zu sein. Roth zeigte sich in seinem Aufsatz fasziniert von der Offenheit, mit welcher der amerikanische Autor die Sexualität behandelte. Sie erschien ihm wie ein Protest gegen die als bedrückend erfahrene moralische Enge seiner Zeit. Später verarbeitete Roth in Winterreise auf seine Weise die Lektüre der »Wendekreis«-Romane.

1967 bricht er sein Medizinstudium schließlich nach zwölf Semestern ab, noch bevor er das erste Rigorosum abgelegt hat. Es ist ein Befreiungsschlag, doch die Zwänge bleiben: Da nach der Heirat mit Erika Wolfgruber (1963) noch zwei weitere Kinder geboren werden – die Tochter Petra und der Sohn Thomas –, muss Roth eine schließlich fünfköpfige Familie ernähren. Er nimmt daher eine Stelle als Operator im Grazer Rechenzentrum an. Die Arbeit dort erlebt Roth als anstrengend, entfremdend und konfliktreich. Er sieht, welche privaten Folgen die Umstände eines Erwerbslebens, etwa der rigide Schichtbetrieb, haben. Dennoch machte er im Rechenzentrum schnell Karriere und wird schon 1968/69 zum Abteilungsleiter befördert. So steigerte er durch ein innovatives Ablaufverfahren die Effizienz der Organisationsvorgänge und führte noch weitere, kostbare Computerzeit sparende Reformen ein.

Für sein literarisches Werk waren die knapp zehn Jahre im Rechenzentrum durchaus eine Art Propädeutikum: Die Datenverarbeitung etwa erwies sich als eine Schule der Genauigkeit und eine Anleitung zur Vermeidung von Redundanz. Im Kontext seiner Arbeit mit dem Riesenrechner lernt Roth die Schriften von Norbert Wiener über Kybernetik kennen, beschäftigt sich mit binärer Mathematik und verfasst 1971 mit seinem Kollegen Bernhard Lernpeiss eine Einführung in die elektronische Datenverarbeitung – seine erste Buchveröffentlichung.

Doch Roth hat anderes im Sinn als ein vom Großrechner diktiertes Leben: Neben der Brotarbeit, an Wochenenden und in der Nacht, schreibt er weiter an den Aufzeichnungen eines überflüssigen Menschen. Literarisch fruchtbar werden diese Ausgangsfaktoren nach einem (un)glücklichen Zufall: Ein Wasserrohrbruch beschädigt 1967 das Manuskript in weiten Teilen. Roth reagierte auf diesen Rückschlag mit einer Mischung aus Rekonstruktion und Neuansatz. Erhalten gebliebene Fragmente ergeben überraschende Verknüpfungen. Anstatt die nun bestehenden Lücken zu füllen, probierte er neue Schreibformen aus, um dem Thema der Andersartigkeit und den dargestellten Fremdheitsgefühlen eine formal innovative Gestalt zu geben. Das Manuskript wurde so geradezu revolutioniert.

Ein Kollege im Rechenzentrum, Fritz Königshofer, schickt das Manuskript der gänzlich überarbeiteten Version, die nun den Titel die autobiographie des albert einstein trägt, ohne Roths Wissen an den Suhrkamp Verlag. Dieser nimmt es prompt zur Publikation an. Unverhofft erfüllt sich so 1972 sein großer Wunsch – Roth dankt es dem Vermittler, indem er dessen Namen als Hommage sowohl im Debüt wie späteren Texten en passant einfließen lässt. Bis zum Status des freien Schriftstellers ist es aber noch ein steiniger Weg.

Auf den Vertrag mit Suhrkamp ergibt sich ein weiterer Erfolg, der Roth ebenso viel bedeutet: Die bewunderten manuskripte drucken noch vor Erscheinen seines ersten Buches den Text Künstel ab. Er war damit in den Kreis der Grazer Gruppe aufgenommen, empfindet sich aber trotzdem eher als Einzelgänger denn als Gruppenmitglied. Zugleich ermöglicht sein erstes, von der Landesregierung Steiermark verliehenes Stipendium eine Reise in die USA, die er zusammen mit Wolfgang Bauer unternimmt. Die erstmalige Begegnung mit Amerika legt den Grundstock für weitere Reisen dorthin und später für einen Wandel in der schriftstellerischen Haltung.

Ebenso prägend zu dieser Zeit ist die enge Freundschaft mit Wolfgang Bauer, den er schon aus der Mittelschule kannte. Er übernimmt dann als Medizinstudent in dessen Stücken Maler und Farbe und Schweinetransport, die im Forum Stadtpark uraufgeführt wurden, zwei große Rollen. Im Jahre 1975 kam es im Gefolge der legendären Fernsehausstrahlung von Bauers Skandalstück Gespenster samt anschließender Diskussion zu einer Intervention Roths: Dieser verteidigte seinen Freund gegen den Kritiker der Grazer Tagespost, Wolfgang Arnold, in einem offenen Brief. Arnold klagte Roth daraufhin wegen »Verspottung«, und dieser wurde im Verlauf der Gerichtsverhandlung zu einer substanziellen Geldstrafe und zur Übernahme der Kosten für den Abdruck des Urteils auf den Kulturseiten mehrerer Zeitungen verurteilt. Allerdings verzichteten bis auf die Grazer Tagespost alle Blätter auf die hohen Beträge.

Die Freundschaften, die Roth zu dieser Zeit im Umfeld des Forum Stadtpark schloss, waren prägend für seinen Lebensweg. Intensive Kontakte pflegte Roth außer mit Wolfgang Bauer mit den Schriftstellerfreunden Alfred Kolleritsch, Klaus Hoffer und Reinhard P. Gruber. Später kommen auch noch Kontakte mit Barbara Frischmuth hinzu. Mit Peter Handke wurde Roth 1972 bekannt und schätzte an ihm nicht nur seine Werke und seine Rolle als Rebell – etwa im Hinblick auf den Widerspruch zur Gruppe 47 –, sondern auch seine Großzügigkeit: Der Kärntner Kollege hat ihn in Frankfurt wie in Paris bei sich aufgenommen und freigiebig bewirtet.

Aber auch mit den älteren Mitgliedern der Wiener Gruppe wie H.C. Artmann, Gerhard Rühm oder Friedrich Achleitner unterhielt Roth seit den frühen siebziger Jahren Kontakte. Die Bedeutung ihrer sprachkritischen Texte als Anregung und Ermunterung seines eigenen Schreibens kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Ähnliches gilt für Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Insbesondere die freundschaftliche Beziehung zu H.C. Artmann ist hervorzuheben. Artmann war für ihn einige Zeit lang eine Art innerer Prüfstein, da Roth sich damals in Bezug auf seine eigenen Texte immer wieder fragte, was der Dichterkollege wohl dazu sagen würde.

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Dem allgemeinen Leserpublikum jedenfalls gefielen Roths Texte: Seit seinem spektakulären Eintritt in den Literaturbetrieb mit die autobiographie des albert einstein wurde Roth durch die in schneller Abfolge erscheinenden avantgardistischen ›Kurzromane‹ über die Grenzen von Österreich hinaus als Verfasser experimenteller Texte bekannt, die er einmal als »meine Form der Sprachreinigung sozusagen«2 bezeichnete. Zugleich war sich Roth der inhärenten Problematik experimenteller Schreibweisen bewusst: »Ich habe gemerkt, daß ich jetzt Bücher fabrizieren konnte«, bekannte er später und suchte nach neuen Ansätzen.3

Schreiben bedeutet für Roth, wie er sagt, ein Abenteuer und die Möglichkeit, sich auf Neues einzulassen. Auch empfand er die von Peter Handke mit Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) vollzogene Wendung vom Experiment zum Erzählen als eine dezidierte Ermutigung, dem innerlich längst vorhandenen Bedürfnis dazu nachzugeben, hatten ihn doch realistisch geschriebene Bücher wie Knut Hamsuns Romane Hunger (1890) und Mysterien (1892), Albert Camus’ Der Fremde (1942), August Strindbergs Romane Inferno (1897) und Plädoyer eines Irren (1888), Dostojewskis Der Idiot (1869) sowie die Romane Henry Millers stark beeindruckt.

Eine Art Brückenschlag von den experimentellen Texten, die Roth wegen der nächtlichen Arbeitszeit insgeheim auch als »Nachtstücke« bezeichnet hat, zu den späteren »Reiseromanen« mag das 1974 erschienene Kinderbuch gewesen sein, das er mit der Malerin und Illustratorin Ida Szigethy verfasst hatte. Die Geschichte von Herr Mantel und Herr Hemd spielt im Jahr 1909 und erzählt von einem Detektiv und seinem Freund, die in einem Luftballon mit Blumenmuster zu einer ereignisreichen Expedition rund um die Welt aufbrechen, ihre wahren Abenteuer aber erst nach der Heimkehr erleben. Bereits in diesem Buch finden sich zentrale Motive aus dem späteren literarischen Werk wie der Vulkanausbruch oder biografische Anspielungen auf die Glasbläserei als Referenz auf den Großvater.

Im selben Jahr wie das Kinderbuch erschien mit Der große Horizont der erste der »Reiseromane«, die Roths literarische Produktion in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre prägen sollten. In der Geschichte des Wiener Buchhändlers Daniel Haid, der die USA auf der Flucht vor einem eingebildeten Verbrechen durchreist, wechselt Roth von der Avantgarde zum Erzählen. Bei der Arbeit an dem Buch hatte er über dem Schreibtisch ein Schild angebracht, auf dem die Ermahnung »Einfach!« zu lesen war. Manchen seiner Leser kam der Umschwung ins realistische Fach fast wie ein Verrat vor. Für Roth hingegen war es eine durchaus folgerichtige Fortführung seiner Anfänge; die vielen positiven Rezensionen samt der Verfilmung des Romans bestätigten jedenfalls, dass er auf dem richtigen Weg war. 1976 folgt mit Ein neuer Morgen ein zweiter USA-Roman, der ebenfalls primär positiv aufgenommen wurde.

Roth hatte sich nun als Autor etabliert, doch privat kriselte es in seiner Ehe. Auch die Doppelbelastung durch den Brotberuf und das Schreiben setzte ihn unter Druck. 1976 kam es zur Trennung von seiner Frau, er behielt aber engen Kontakt zu seinen drei Kindern. Im Frühjahr kündigte er auch den Job im Rechenzentrum, um eine Existenz als freier Schriftsteller zu beginnen. Damit einher ging – im Gefolge seines Lektors Thomas Beckermann – der Wechsel von Suhrkamp zum S. Fischer Verlag, in dem seine Bücher bis heute erscheinen. Zwar kam es während der langen Zusammenarbeit zwangsläufig zu Konflikten, die sich aus dem Verhältnis von Autor und Verleger ergeben, doch es entwickelte sich andererseits auch eine persönliche Bindung an den Frankfurter Verlag, zu dessen wichtigen Hausautoren er heute gehört.

In die Zeit der Veränderungen Mitte der siebziger Jahre fallen die beiden Theaterstücke, mit denen Roth – im Anschluss an sein Bühnendebüt 1973 mit dem Stück Lichtenberg – erneut das Drama als Form erprobt. Zunächst mit Sehnsucht, das 1977 eine Doppeluraufführung in Graz und am Stadttheater in Basel erlebt. Nur ein Jahr später folgte die Grazer Uraufführung von Dämmerung. In beiden Dramen geht es »um die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft, um Isolation, Einsamkeit, Desorientierung und Entfremdung, um die Unsicherheit über die eigenen Gefühle.«4

Bald machen sich jedoch wieder gesundheitliche Probleme bemerkbar, die Roths Leben seit Beginn prägen: Wegen akuter Herzbeschwerden verordnen die Ärzte Ruhe. Roth übersiedelt zusammen mit seiner neuen Lebensgefährtin und späteren Frau Senta Thonhauser, die er 1975 im Rechenzentrum kennengelernt hatte, in das abgelegene Dorf Obergreith. Dort schreibt er zunächst an der Winterreise und beginnt auf ausgedehnten Spaziergängen Material über die ländliche Umgebung zu sammeln. 1978 erscheint der Roman, der auf einer Italien-Reise beruht, die er im Vorjahr mit Senta Thonhauser unternommen hatte. Das Buch wird ein großer Erfolg – Roth erhält dafür den erstmals vergebenen Preis der SWR-Bestenliste.

Obergreith liegt in jener grünen Hügellandschaft im Südosten der Steiermark, die Roth bereits von den Hamstertouren kennt, welche er nach dem Krieg mit seinem Vater unternommen hatte. Viel hat sich dort in den vergangenen 30 Jahren nicht verändert. Im Vergleich zur Arbeit im Computer-Rechenzentrum fiel er in ein »Zeitwellental, wieder zurück in die Zeit meiner Kindheit«. (MAS 82) Für Roth ist es wie die Entdeckung einer archaischen Welt, die in einem ähnlich kreativen Produktionsschub resultieren sollte wie rund ein Jahrzehnt zuvor die erste Reise in die USA. Ein Jahr lang ging er nun täglich dieselbe 15 Kilometer lange Rundstrecke von Obergreith nach Oberhaag und von dort über St. Ulrich zurück nach Obergreith. Unterwegs suchte er fast jedes einzelne Haus auf und ließ sich vorzugsweise von den anwesenden Frauen und den Alten die Geschichte des Landstrichs seit 1900 erzählen – die Männer arbeiteten zumeist tagsüber in Fabriken.

Eine besondere Freundschaft verband ihn mit der Witwe Juliane Rannegger, die eine außergewöhnliche Erzählgabe besaß und ihm viele Monate lang Geschichten und Ereignisse aus der Gegend erzählte. Sie vertiefte seine Kenntnisse über den Landstrich, da er von ihr Einzelheiten über den Alltag, die Arbeit und das Leben der Menschen erfuhr. Erstes Resultat seiner gleichsam ethnologischen Expedition ins »tiefe Österreich« war die dreiteilige Fernseh-Dokumentarreihe Menschen in Österreich (ORF, 1979). Neben Juliane Rannegger porträtierte Roth darin noch zwei weitere Auskunftgeber, nämlich den Gastwirt Finsterl sowie den alten Bauern Mautner, in dem sich die ganze Archaik und das ›wilde Denken‹ der Provinz spiegelte.

Mit dem Roman Der Stille Ozean begann Roth dann auch die literarische Verarbeitung des erzählerischen Fundus, auf den er so unverhofft gestoßen war. Die Vielzahl an Notizbüchern, deren Inhalt er noch nicht als literarische Texte betrachtet, sind damals wie heute die Materialbasis, aus der in einem akribischen Prozess Roths Bücher entstehen. Ausgehend von den ursprünglichen Notizen, schreibt er seine erste Textfassung in ein Moleskine-Heft. Von dort überträgt er den Text dann handschriftlich auf A4-Schreibpapier.

Bis Mitte der neunziger Jahre fertigte Roth aus den Notizen mit der Schreibmaschine selbst das Typoskript an. Ab 1988/89 – den Essays Eine Reise in das Innere von Wien und der Geschichte der Dunkelheit – beginnt Roth nach dem Aufschreiben der Notizen sowie der Niederschrift der ersten und zweiten Fassung des Manuskripts eine dritte Fassung auf ein Diktiergerät zu sprechen, das die befreundete Grazer Informatikerin Ingrid Prettenthaler in den Computer eingibt. Das Diktieren erweist sich für Roth als wichtiger Schritt in der Entwicklung der Texte, da nun Wortklang, Satzmelodie und Rhythmus eine größere Rolle spielen. Auf Basis der Korrekturen der ersten Typoskriptversion entsteht die nächste Fassung, die wiederum von Roth korrigiert und der Informatikerin abgeschrieben wird. Unter fünf solcher Überarbeitungsstufen der Typoskriptfassungen ist noch kein Text Roths geblieben, oft sind es mehr und beim Labyrinth (2004) sogar zehn Versionen, bevor Roth das Manuskript zum Lektorat gibt.

Der Stille Ozean erzählt die semi-autobiografische Geschichte des Arztes Ascher, der sich nach einem ärztlichen Kunstfehler und einem darauffolgenden Prozess auf das Land flüchtet, zunächst als Fremder eine existenzielle Krise durchlebt, dann aber schrittweise in die Dorfgemeinschaft integriert wird und zuletzt beschließt, als Arzt dort zu bleiben. Der Titel des Buches ist eine Anspielung auf die grüne Hügellandschaft, die aussieht »wie ein gefrorenes Meer«. Roth stellt dem Roman daher ein Zitat aus einem Brief von Herman Melville voran, das eine ähnliche Parallele zieht: »Jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, habe ich hier auf dem Lande das Gefühl, als wäre ich auf See. Morgens, wenn ich aufstehe, schaue ich aus meinem Fenster wie aus dem Bullauge eines Schiffes auf den Atlantik.« (SO 5) Der Roman ist mittlerweile ein Klassiker der österreichischen Literatur und sogar zur Vorlage eines Wanderwegs geworden, der zu Schauplätzen der Handlung führt.

Vor allem aber sollte sich das Buch als erster Band des siebenbändigen Projekts Die Archive des Schweigens erweisen, mit dem Roth eine literarische Anatomie seines Heimatlandes vorlegt, die am Ende Provinz wie Hauptstadt, literarische wie realitätsverpflichtete Schreibweisen, Erzählwerke wie Bild- und Essaybände umfassen sollte. Bei Abschluss des Projekts stellt sich der Zyklus als ein literarischer Triumph dar, aber auch als eine persönliche Leistung besonderer Art. Die sich über ein Jahrzehnt erstreckende Arbeit an der Heptalogie nämlich war ein körperlich anstrengender wie nervlich belastender Prozess gewesen, der sich im Winter, wenn es Senta Thonhauser wegen starkem Schneefall und Nebel nicht möglich war, aufs Land zu fahren, nicht selten unter extremen Bedingungen und in tagelanger Einsamkeit ohne Auto oder Telefon vollzog. Da kein fließendes Wasser verfügbar war, mussten Senta Thonhauser und er schwere Wasserkanister ins Haus schleppen; eine Zentralheizung fehlte ebenso, was im Winter bei Temperaturen von bis zu 15 Minusgraden das Leben in dem abgelegenen kleinen Bauernhaus mit Plumpsklo erschwerte, da die beiden Räume mit Holzöfen beheizt werden mussten.

Nach Beendigung des Stillen Ozeans im Herbst 1979 verließ Roth Obergreith, um in Hamburg ein Jahr als Stipendiat zu verbringen. »Ich hab mein gesamtes Notizmaterial mitgenommen und einen Teil der Fotografien – weil ich hab gespürt, daß ich nur einen sehr geringen Prozentsatz erfaßt hab im Stillen Ozean von dem, was ich weiß und was ich erzählen will.« (MAS 84) Über mehr als ein Dutzend Seiten kam er bei der angestrebten Fortsetzung des Erzählprojekts jedoch trotz wiederholter Anläufe nicht hinaus. Was ihm nicht gelingen wollte, war ein überzeugendes Erzählmodell zu finden, das den fast unerschöpflichen Stoff gebündelt und die ländliche Welt aus der Innenperspektive dargestellt hätte.

Mit nahezu leeren Händen kehrte er also nach Obergreith zurück, aber der Writer’s block verhinderte auch dort monatelang den Arbeitsbeginn. »In meiner Verzweiflung hab ich dann begonnen, das Buch Moby Dick von Melville abzuschreiben, ich hab die ersten hundert Seiten mit der Hand abgeschrieben und war irgendwie befriedigt darüber, daß der Papierstapel immer größer wird.« (MAS 85) Dieses Abschreiben, zunächst als eine Art selbst auferlegter ›Strafarbeit‹ intendiert, wurde letztlich zur ›ästhetischen Vorschule‹ für den Landläufigen Tod, dem nächsten Romanwerk und Zentralstück der Archive des Schweigens.

Als eines Tages der Imkermeister Zmugg mehrere Dutzend Bienenstöcke vor seinem Haus aufstellte, kam Roth auf die Idee, den Roman in Anlehnung an ein Bienenvolk als einen sozusagen fluiden Organismus aus einzelnen Einheiten zu gliedern. Besonders merkwürdig erschien Roth, dass auf den weißen Wal Moby Dick in seiner Literatur und seinem Leben nun Bienen folgten. Die Welt der Bienen fasziniert Roth bis heute unverändert. In Nachahmung von Franz Lindner, der Hauptfigur des Landläufigen Tods, verwandelte er sich sogar mehrmals in den so genannten »Bienenmenschen«: Einen schützenden Imkeranzug tragend, wurde ihm in der Schwarmzeit die Bienenkönigin in einer Kapsel unter dem Kinn befestigt, worauf sich das bis zu 70 000 Bienen umfassende Volk auf Roth niederließ.

Nachdem dank der Bienen die kreativen Dämme gebrochen waren, dauerte die Niederschrift des Romanwerks dreieinhalb Jahre lang. Roth bediente sich einer vielseitigen, multiperspektivischen Verarbeitungsstrategie: Dem immensen Erfahrungsschatz und unerschöpflichen Materialfundus rückte er mit variablen Schreibansätzen und Erzählweisen zu Leibe und bändigte die überbordende Produktivität, indem er mehrfach Teile ausgliederte, um sie separat zu publizieren. Für unveröffentlichte Auszüge aus dem Romanwerk erhält er 1983 in Berlin aus der Hand von Günter Grass den renommierten Alfred Döblin-Preis, und als das Buch dann 1984 erscheint, steht eigentlich von Anfang an fest, dass es sich um ein Meisterwerk handelt.

Nach Vollendung der erzählerischen Gewaltanstrengung wendet Roth sich erneut dem Theater zu: Das 1985 uraufgeführte Erinnerungen an die Menschheit ist eine imaginationsreiche Revue surrealistischer Bilder, die in manchem auf die im Landläufigen Tod geschilderten schizoiden Visionen verweist. Mit dem phantastischen Bilderbogen wendet sich Roth völlig von allen Bühnenkonventionen ab, um suggestive Traumlandschaften zu erschaffen, die die Imagination des Zusehers zu stimulieren suchen. Dazu bediente er sich der unterschiedlichsten Stile und Formen, um in 28 Szenen sprunghaft und alogisch eine quasi alternative Weltgeschichte zu erzählen, die aus dem Unterbewussten, dem Traum und dem Wahnsinn gespeist wird.

Nichts wird dabei ausgeschlossen: Neben den Menschen agieren Tiere, Pflanzen und Dinge gleichberechtigt in dem anarchischen Bilderbogen aus verrückten Astronomen, jähzornigen Dompteuren, philosophierenden Schimmeln, singenden Schlangen und sprechenden Frühstücken. Strukturiert werden die märchenhaften Tableaus durch Darstellungen von Aggression und Gewalt (etwa in Form regelmäßiger Exekutionen), aber auch durch Szenen von häuslicher Grausamkeit oder individuellem Leiden. Der Mut, mit dem Roth dem Theater einen neuen Weg zu eröffnen suchte, stieß freilich auf heftige Kritik in der Presse, sodass er bis heute von der Dramatik Abstand nimmt.

Unabdingbar zum Verständnis des Traumdramas sind die opulenten Bühnenbilder, die der ehemalige Aktionist Günter Brus, den Roth 1982 kennengelernt hatte, gemeinsam mit dem Autor auf nächtlichen Wanderungen durch die Grazer Gaststätten entwarf. Zeichnungen von Günter Brus – die hier der schizophrenen Hauptfigur Franz Lindner zugeschrieben werden – finden sich auch im Landläufigen Tod sowie auf den Umschlägen weiterer Bände des ersten Zyklus. Nicht zuletzt die kongeniale Kooperation bei Erinnerungen an die Menschheit war ein Ausdruck der sehr intensiven Freundschaft, die beide Künstler lange Zeit verband.

Österreichische Malerei seit 1945