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Sien Volders

Norden

Roman

Aus dem Niederländischen
übersetzt von Bettina Bach

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© 2020 Residenz Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Inhalt

Prolog

Silber

I

1. Tauwetter

2. Dodge

3. Kaffee und Scham

4. Zigaretten

5. Jacob

6. Torun

7. Bier

8. Gemälde

9. Berg

10. Tanz

11. Aufbruch

12. Hafen

II

1. Charles und Seamus

2. Windspiel

3. Rick und Mary

4. Schmieden

5. Ausflug

6. Hütte

7. Rauch

8. Wrack

9. Schiff

III

1. Freeze-up

2. Marmor

3. Weiß

4. Triptychon

5. Punk

6. Runway

7. Klage

IV

1. Höllenfahrt

2. Kies

3. See

4. Sommersand

5. Stay gold

V

1. Das Jüngste Gericht

2. Thimister

VI

Kassette

VII

Little Mary

Epilog

Walker

Quellen

Liebster,

wir und unsere Norden

There’s a land where the mountains are nameless,

And the rivers all run God knows where;

There are lives that are erring and aimless,

And deaths that just hang by a hair;

There are hardships that nobody reckons;

There are valleys unpeopled and still;

There’s a land – oh, it beckons and beckons,

And I want to go back – and I will.

ROBERT W. SERVICE

Prolog

Silber

Vancouver, Februar 1982

Das Walzen des Silbers sollte ein Versprechen bergen. Jahrelang war das bei Sarah so gewesen. »Das Walzen des Silbers ist die Erwartung, das Hämmern die Bekräftigung.« So hatte ihr Lehrer es ausgedrückt, und so war es immer gewesen.

Sie drehte an der Kurbel und zog das Silberblech durch die Rollen, wieder und wieder, bis die gewünschte Stärke erreicht war. Das stetige, rhythmische Kurbeln, dann das Hämmern und die erste Handpolitur. Das Repetitive dieser Handlungen, die monotonen Geräusche, die sie erzeugten, versetzten ihre Gedanken in eine meditative Trance. Jede Drehung, jeder Hammerschlag drängte die Welt weiter in den Hintergrund, bis ihr Denken rauschfrei war.

An diesem Nachmittag nahm sie eine Halskette in Angriff, um den Sturm in ihrem Kopf zu beruhigen. Diesmal klappte es nicht. Das Walzen verlief stockend und das Hämmern nicht rhythmisch. Sie legte das Werkstück beiseite und machte mit der Gerätschaft das, was mit ihren Gedanken nicht gelang. Die Polierhämmer legt sie in Reih und Glied in die linke Ecke, die Sägen daneben. Den Brenner und die Handschuhe zusammen mit der Brille in die Mitte.

Als ihre verwitterte Werkbank perfekt aufgeräumt war, knipste sie die Schreibtischlampe aus und betrachtete sich im Spiegel. Den hatte sie hier aufgehängt, um die Stücke nach dem letzten Polieren zu begutachten. Wenn der Schmuck mit ihren Umrissen verschmolz, war er fertig, sonst machte sie weiter.

Heute wirkte der Blick in den Spiegel nicht befreiend. Sie sah nur die Linie zwischen ihren Augenbrauen. Die war neu.

Der Umschlag lag noch auf dem Küchentisch, wo sie ihn am Vormittag hingelegt hatte. Sie ging am Tisch vorbei zum Fenster, blickte in die Dämmerung. Als sie frühmorgens in Stiefeln durch den verschneiten Garten zum Briefkasten gegangen war, hatten zwei Briefe darin gelegen. Der eine in einer vertrauten Schrift, der andere auf dickem, teurem Papier. Die Einladung zu Anns Vernissage hängte sie an den Kühlschrank, danach öffnete sie zögerlich den zweiten Umschlag.

Ein Angebot. Sie wusste, dass es solche Angebote gab. Hätte sie jenen Weg weiterverfolgt, der an der Akademie gelehrt wurde, wäre sie eher darauf gefasst gewesen, ein solches Angebot zu bekommen. Hätte sie sich angepasst und sich jahraus, jahrein bemüht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber nicht jetzt. Nicht, nachdem sie ihren eigenen Weg gegangen war. Es war noch zu früh. Zu seltsam.

Draußen ragten die Sträucher wie dunkle Zeichen aus dem schmelzenden Schnee. Dahinter die verwitterte Holzgarage, deren Tor sich seit zwei Jahren nicht mehr richtig schließen ließ. Sie wusste, dass ihr Auto da stand, unter der grauen Decke. Es wartete. Sie war seit Monaten nicht mehr gefahren.

Erregung kroch ihr das Rückgrat hoch, ihre Nackenhaare stellten sich auf, ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. In der Diele schlüpfte sie in ihre Stiefel und legte sich den Mantel um die Schultern. So schwer sich die schlecht schließenden Garagentüren ganz öffnen ließen, so leicht glitt die Decke vom Auto. Im letzten Tageslicht war seine Farbe kaum zu erkennen, doch sie war auf der Stelle wieder hingerissen, wie beim ersten Mal, als sie ihn am Straßenrand gesehen hatte. Ihr Auto. Ein olivgrüner 1969er Dodge Challenger, rote Ledersitze, dreihundertdreißig PS.

Sie schob sich auf den Fahrersitz, spürte das eiskalte Leder durch die Kleidung, drehte den Zündschlüssel herum. Hustend und sprotzend erwachte der Wagen zum Leben. Die erste richtige Zündung war ein Vorspiel für das, was folgen würde.

Bald.

Morgen.

Dann kehrte sie ins Haus zurück und streifte ruhelos umher. Sammelte Sachen zusammen und warf sie in einen Rucksack, blieb zweifelnd vor dem Bücherregal stehen, griff nach dem Atlas und blätterte so lange, bis sie wusste, wo sie hinwollte.

Nordwärts.

Morgen.

I

1. Tauwetter

Forty Mile, Nordkanada, März 1982

Für Mary bedeutete Walkers Anruf zu Beginn des Frühlings dasselbe wie die erste Schneeschmelze für jeden anderen in Forty Mile: dass der Winter vorbei war. Dieses Jahr war Walker später dran als sonst.

Sie hatte angefangen zu warten, als die Sonne zum ersten Mal wieder auf die Dächer im Tal fiel, und wartete immer noch, als das Tauwetter kam und das Städtchen langsam und krachend aus dem Winterschlaf erwachte. Nur noch wenige Tage und das schmelzende Eis würde den Strom über Wochen in ein unbegehbares, unbefahrbares Niemandsland verwandeln und alles nördlich von Forty Mile von der bewohnten Welt abschneiden. Sie wusste, dass Walker das Tauwetter früher spürte als alle anderen, und machte sich keine Sorgen. Dann zog er ein Stück weiter auf dem letzten Eis nach Süden, verkaufte in Whitehorse seine Felle und die Arbeiten vom vergangenen Winter. Äxte und Messer, seine Schnitzereien. Er aß in der Stadt, trank und tanzte. Suchte sich eine Frau. Schlief. Danach rief er an.

Es war kurz vor sechs. Mary nahm den Besen und kehrte den alten Dielenboden zwischen den Regalen in ihrem Laden. Sie fegte den Schmutz zur Tür hinaus, über die Veranda, auf die Schotterstraße. Danach stapelte sie die Waren ordentlich, füllte, wenn nötig, die Vorräte auf und notierte sich die Bestellungen für den morgigen Tag. Auf der anderen Seite der Straße parkten die ersten Pick-ups vor der Kneipe gegenüber. In einer Viertelstunde begann die Happy Hour. Der Startschuss für den Abend.

Sie zählte das Geld in der Kasse und übertrug die Summe in ihr Heft. Dann nahm sie den alten Handbesen aus der Halterung und fegte die Ladentheke sauber. Sie lächelte. Seit hundert Jahren gab es den Kaufmannsladen schon, und die Einrichtung war unverändert. Dieselben Schränke, derselbe Fußboden, dieselbe Theke. Alles so alt wie die Stadt selbst. Als sie vor fast dreißig Jahren den Laden übernommen hatte, bot der frühere Besitzer an, die abgewetzte Holzplatte der Verkaufstheke auszutauschen. Sie hatte abgelehnt.

Mary hängte den Handfeger zurück, stemmte die Hände in die Hüften und streckte den Rücken durch. Stechende Schmerzen. Seit Ricks Tod fühlte sie sich alt. In diesem Winter hatte ihr Körper sie zum ersten Mal wissen lassen, dass das stimmte. Draußen dämmerte es schon eine Weile, sie sah ihre Spiegelung in der Scheibe der Ladentür. Immer noch schlank, nur hagerer. Die Haare genauso lang wie früher, aber inzwischen fast weiß. Mary war immer noch eine schöne Frau, fragte sich nur, für wen.

Als sie das Schild an der Tür umdrehte, Geschlossen, klingelte das Telefon. Ohne Eile nahm sie ab.

»Mary Calhoun, General Store, Forty Mile, guten Abend.«

»Marion.«

Sie schloss die Augen. Er war der Einzige, der sie noch so nannte.

»Walker.«

»Der Frühling kommt.«

»So ist das.«

Sie machten beide nicht viele Worte. Früher fragte er, wie Rick den Winter überstanden hatte, jetzt, wie es ihr ergangen war. Der Winter war mild gewesen. In der Stadt waren nur wenige Leute gestorben und auch die Pelztierjäger und Einsiedler in der Wildnis waren gut durch den Winter gekommen. Den Grund für seinen Anruf bewahrte er – wie immer – bis zum Schluss. Dann fragte er doch.

Ob Post gekommen sei.

Forty Mile war ein Goldsucherstädtchen. Aus dem Nichts war es vor beinah hundert Jahren zu einer Stadt explodiert, dem Paris des Nordens, danach genauso schnell wieder auf einen Bruchteil der Häuser und Einwohner zusammengeschrumpft, die es einst gehabt hatte. Man traf sich noch heute an den drei selben Orten: in der Kneipe, im Wartezimmer des Arztes und im Kaufladen.

Die Kneipe war das älteste Lokal im Ort. Das einzige, das den ganzen Winter über geöffnet blieb. Dort verbrüderte man sich, prügelte sich und hatte Spaß. Im Wartezimmer des Arztes bangte man und fluchte. In Marys Laden herrschten Leben und Betriebsamkeit.

Tratsch war nie etwas für sie gewesen, dafür gab es die beiden anderen Orte. Sie beschaffte das, worum man sie bat, und alles andere, an das keiner dachte, das aber trotzdem alle brauchten. Im Winter gab es manchmal Klagen über die leeren Regale, die ewig gleichen Lebensmittel oder das lange Warten auf Motor-Ersatzteile. Aber Mary und ihren Kunden war nur zu klar, dass sie diesen Preis gern dafür bezahlten, an dem Ort leben zu können, wo sie lebten.

Jeder der drei Treffpunkte hatte ein Telefon. Die drei einzigen in Forty Mile. Doch bei Mary wurden auch die Briefe für die ganze Stadt abgegeben, sodass sie die wichtigste Schnittstelle zur Außenwelt war. Wenn sich jemand vorübergehend woanders aufhielt, kümmerte sie sich gewissenhaft um seine Post. Stand ein Absender auf der Rückseite, teilte sie diesem in ihrer beherrschten, eleganten Schrift höflich mit, wie es dem Adressaten zuletzt ergangen war. Manchmal bekam sie eine Antwort. Dann schickte der Absender einen größeren Umschlag: Darin war ein Brief an sie und ein kleinerer Umschlag mit einem neuen Brief für den ursprünglichen Empfänger. Andere kritzelten ihre Wünsche an sie direkt auf den Umschlag. Nie öffnete Mary einen Brief, der nicht für sie bestimmt war.

Die Bewohner von Forty Mile riefen aus anderen Dörfern, Städten und Ländern an, um zu fragen, ob Post für sie gekommen sei. Die früheren Ladenbesitzer hatten die Briefe vorgelesen und waren so ungewollt zum Beichtvater oder zur Beichtmutter aller Leute im weiten Umkreis geworden. Das hatte Mary von Anfang an abgelehnt. Wenn ein Adressat wissen wollte, was in dem Brief stand, bat sie ihn, in einer halben Stunde wieder anzurufen. Dann stellte sie ihren Sessel neben die Ladentheke und holte Dawkins, ihren steinalten und stocktauben Nachbarn. Lesen konnte er, doch er war nicht gebildet. Wort für Wort buchstabierte er sich durch den Brief, ohne sich die Satzzusammenhänge zu erschließen.

Wenn jemand wollte, dass man ihm seine Post vorlas, kam Dawkins in den Laden geschlappt, setzte sich in den Sessel und riss den Umschlag auf. Dann holte er eine Lupe aus der Brusttasche seines Hemds und wartete mit der Hand auf dem Telefon, bis er das Klingeln spürte. Er nahm ab, räusperte sich und blaffte mit rauer Stimme den Brief Wort für Wort in die Leitung. Nachdem er den Namen unten auf der Seite vorgelesen hatte, fing er wieder von vorn an, um sicherzustellen, dass der Anrufer jedes Wort mitbekommen hatte. Nach der zweiten Lektüre bedankte er sich fürs Zuhören und legte auf. Jedes neue Wort löschte bei ihm das vorige aus. Zum Schluss erinnerte er sich nur noch an den Namen des Briefschreibers, weil dieser Name am Ende stand.

In der Zwischenzeit ging Mary nach draußen, um neben dem Laden Holz zu hacken, und sang dabei vor sich hin.

Wie jeden Winter hatte Walker einen Brief bekommen.

»Von deiner Mutter.«

Der Brief kam kurz nach Weihnachten. Walkers hochbetagte Mutter war einer der Menschen, mit denen Mary seit Jahren eine Brieffreundschaft pflegte. Zuerst hatten die Frauen sich nur Briefe über Briefe geschrieben. Flüchtige Worte über andere Worte. Allmählich wurde die Korrespondenz persönlicher. Inzwischen hatte Mary Walkers Mutter fast genauso gern wie ihren Sohn.

Walker fragte, ob Dawkins den Brief vorlesen könne, und Mary verabschiedete sich auf dieselbe Weise von ihm wie beim ersten Mal, vor achtundzwanzig Jahren.

»Bye, Walker.«

»Bye, Marion.«

Sie wusste, dass er jetzt nickte.

2. Dodge

Das Sonnenlicht an der Wand zeigte Sarah, dass es schon weit nach zehn Uhr sein musste. Sie hatte Kopfschmerzen und ihr war übel vom Nachgeschmack zu vieler Zigaretten. Sie stieg aus dem Bett, stellte sich unter die Dusche.

Das Motel lag an der Autobahn und ihr Zimmer blickte auf die Ebene. Die letzten schmutzigen Schneereste weigerten sich hartnäckig, zu schmelzen. Ihre Stirn lag an der Scheibe, die dunklen Locken fielen ihr wie nasse Pinsel auf die Schultern. In der Ferne konnte sie die Berge des Nordens sehen. Unruhe grummelte in ihrem Bauch.

Sie kniete sich neben ihren Rucksack, holte einen Waschbeutel aus dem vorderen Fach und kramte eine Weile darin herum. Schließlich wählte sie drei ältere Stücke. Ring und Armband, zum Armband passende Ohrringe. Den Schmuck vom Vortag nahm sie vom Nachttisch und verwahrte ihn. Dann wühlte sie zwischen den zusammengeknüllten Klamotten nach Unterwäsche, die noch frisch aussah, und zog saubere Kleidung darüber.

Als sie alle ihre Sachen wieder im Rucksack verstaut hatte, kam sie in die Lobby. Auch dort war alles sauber, aber alt und verschlissen, wie überall im Motel. Der Geruch nach vergangenen Jahrzehnten hing im Teppichboden, in der verstaubten Tapete und der Holzverkleidung. Es war das letzte Motel vor Forty Mile. Bald würde der Highway 37 in den Klondike Highway übergehen, die letzte Gerade in Richtung Norden. Noch dreihundert Meilen, dann war sie da. Einen Tag Fahrt, etwa sechs Stunden.

Bis spätabends hatte sie ein Stück weiter in einem Blueslokal an der Theke gesessen und die vorletzte Etappe ihres Roadtrips gefeiert. Ein Lokal wie viele andere, die sie unterwegs besucht hatte. Aber hier war das Publikum rauer, die Musik besser. Nach einer Weile setzte sich ein älterer Mann neben sie. Eine Mütze auf dem Kopf, um seine Glatze zu verbergen, mit Bart und einem eindrucksvollen Bauch. Alles andere als nüchtern, aber friedlich. Einen Ellbogen auf der Theke, ihr Bier vor sich, nickten sie sich zu.

»Nicht so redselig, was?«

Er war weniger begriffsstutzig, als sie gedacht hatte.

Als Thekennachbar war er die ideale Gesellschaft für einen Abend allein. Sie redeten mit langen Zwischenpausen. Über das Leben, die Straße und den Norden. Alles und nichts. Er bestätigte ihre Vermutung: dass sie sich den richtigen Ort ausgesucht hatte, um nachzudenken. Gute Leute. Raubeinig, aber gut.

Kurz nach Mitternacht verabschiedeten sie sich voneinander. Nach einer Woche unterwegs war der Mann an der Theke der Erste, mit dem sie ein paar Worte gewechselt hatte, und er hatte nicht mal nach ihrem Namen gefragt.

Sarah zahlte für Übernachtung und Frühstück. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Mit dem Rucksack über der Schulter ging sie zu ihrem Auto. Der olivgrüne Lack war unter der Schicht Schlamm und Schmutz kaum mehr zu erkennen.

Der Ledersitz war noch eiskalt von der Nacht. Auf der Rückbank das Schlachtfeld einer Woche auf der Straße, von Vancouver bis hierher. Jetzt noch der letzte Tag, dann war sie am Ziel. Noch dreihundert Meilen, dann kam sie zur einzigen und letzten Stadt nördlich von allem.

Sie befolgte ein mittlerweile festes Ritual, schnallte sich an, faltete die Landkarte an der richtigen Stelle auf, öffnete ihren Kassettenkoffer und fuhr mit den Fingern über die Hüllen. Den Höhenlinien und der Farbe der Karte nach zu urteilen, erwarteten sie heute die unterschiedlichsten Landschaften. Flachland, Wälder, niedrige Berge und Fernblicke. Gewundene Flüsse. Nur zwei Brücken.

In ihrer Gewohnheit, den Landschaften bestimmte Musikrichtungen zuzuteilen, hatte sie noch keine Gesetzmäßigkeit entdeckt. Aber es gab Konstanten. Berge vertrugen sich gut mit Punk, Täler und Flachland eher mit New Wave. Ihre Stimmung war während der ganzen Fahrt gleich geblieben: die eines Menschen, der sich mit aller Macht um eine anstehende Entscheidung drückt. Weg und Ziel waren eins.

Sie zweifelte. Wählte dann doch Punk. Hardcore. Erst Blackflag, dann NoMeansNo, danach Minor Threat. Sie legte die Kassetten in der richtigen Reihenfolge hin und ließ den Motor an. Bis zur letzten und einzigen Tankstelle vor Forty Mile bräuchte sie einen halben Tag. Im Kofferraum hatte sie zwei volle Benzinkanister. Der schlimmste Frost war vorbei, sie brauchte nicht mehr zu befürchten, dass der Motor streikte.

Die Straße schlängelte sich durch den Wald, führte manchmal ein paar Meilen geradeaus, bog vor einem gewundenen Fluss ab, folgte erst seinem Lauf und wich dann einem Bergkamm aus. Je weiter der Tag voranschritt, desto schneller fuhr sie. Hier bahnte sich der Frühling gerade erst seinen Weg durch den Schnee. Die Tundra lag vor ihr wie ein bizarres Schachbrett aus weißem Schnee und braunem Gras. Die Birkenwälder waren noch kahl. Zierliche weiße Stämme, geklöppelte braune Zweige drum herum.

Außer ein paar Trucks gehörte die Straße nach Norden ihr allein. Der ganze Norden gehörte ihr allein. Ihre Finger trommelten auf den Lenker, ihr Kopf nickte im Takt des synkopierten Geschreis des Sängers.

Hin und wieder zwang sie sich, an den Brief und das Angebot zu denken, an die Entscheidung, die zu Hause auf sie wartete. Sie legte die Möglichkeiten nebeneinander. Es gelang ihr nicht, hartnäckige Hintergedanken zu verdrängen. Doch die Landschaft rief, und bald ließ sie den Blick wieder über das Flachland und die Berge schweifen.

Vier Stunden später war das Frühstück verdaut und ihr Magen knurrte wieder.

Ein Truck stand an der Tankstelle. Sarah blieb im Auto sitzen, bis der Fahrer zurückkam, einstieg und davonfuhr. Dann tankte sie und ging ins Gebäude. Es roch süß, nach Kuchen. Altem Kaffee. Motoröl und Pisse. Schon beim Aussteigen hatte der Tankstellenbesitzer sie vom Fenster aus beobachtet. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen.

»Allein unterwegs?«

Sarah sah ihn an. Schäbig, dickbäuchig und in einem schmuddeligen Blaumann. Sie nickte und fragte, ob es eine Toilette gebe. Grinsend deutete er mit dem Kinn in die hintere Ecke.

»Mach dich auf was gefasst, Miss.«

Das Klo war schmutzig und stank, doch es kam gelegen.

Zurück in der Tankstelle, ließ sie sich Zeit. Sie nahm noch etwas Wasser, Schokolade, Dörrfleisch und Rosinen, trödelte vor dem Presseregal. Fernsehzeitschriften, zwei Zeitungen und viele Sexheftchen. Eine Vogue von vergangenem Jahr. Sie legte den Kopf schief, zögerte. Schaute zu dem Mann hinterm Schalter. Er beobachtete sie immer noch. Einen Moment lang war es ihr peinlich, dann riss sie sich zusammen. Sie legte die Dinge, die sie gerade aus den Regalen genommen hatte, auf die Theke, griff nach dem Magazin und blätterte darin, bis sie die Werbung der Schmuckfirma gefunden hatte. Eine Doppelseite, ziemlich weit vorne.

Sie seufzte.

Die Marke stand in Großbuchstaben darüber, im Übrigen sollte man anscheinend nur auf das Model achten. Das rekelte sich nackt auf einem Bett, halb unter einer Pelzdecke, mit schwülstigem Blick. Das Schmuckdesign fand sie nicht schlecht. Aber wie immer waren die Edelsteine zu protzig. Sie musste lange suchen, bis sie den Namen des Designers fand. Ganz unten rechts auf der Seite, in kleinen Lettern.

Aha.

War es das, was sie wollte?

Sie seufzte erneut und legte das Magazin zurück ins Regal. Bei der Kasse fragte sie, ob sie einen Kaffee bekommen könnte.

»Aber sicher.« Der Mann nahm einen Becher aus dem Regal hinter sich und schenkte ihr Kaffee aus der großen Thermoskanne auf der Ladentheke ein.

»Schickes Auto, Miss. Wo kommst du her?«

»Vancouver.«

Der Mann legte den Kopf in den Nacken, musterte sie. Schaute wieder zum Auto. Er hielt die Zuckerdose hoch, sie schüttelte den Kopf.

»Wie viele Tage?«

»Mit heute eine Woche.«

»Schicke Karre. Von deinem Alten bekommen?«

»Gekauft. Wollte ich schon immer haben.«

Der Mann schaute nochmals zum Auto. »Wie hat es sich in den Rockies gemacht?«

»Prima. Ist gut hochgekommen. Herrlich in den Kurven. Wie ist der Rest der Strecke?«

Der Mann kratzte sich den Nacken. »Geht so. Mach dich auf ein paar Kratzer gefasst. Nur noch ein paar Meilen, dann ist der Asphalt zu Ende. Permafrost. Alles Harte macht der Frost sowieso kaputt. Gute Straße, aber Schotter. Schade um den Lack. Zweihundertneunzig PS?«

»Dreihundertdreißig. Es ist der Vierzylinder.«

»Hmm. So schöne Autos sieht man hier selten.«

Sie trank den Kaffee aus, zahlte und verabschiedete sich.

Als sie bei der Tür war, rief er ihr noch etwas hinterher.

»Vorsicht in der Dämmerung, Miss, du willst keinen Elch auf der Windschutzscheibe!«

Sarah legte ihren Einkauf ordentlich auf den Beifahrersitz und hupte zum Abschied. Im Rückspiegel sah sie den Mann in der Tür stehen. Er hob die Hand.

Noch hundert Meilen.

3. Kaffee und Scham

Adam stieg die Stufen zu Jacobs Haus hoch. Seit die Sonne wieder ins Tal und auf die Veranda schien, traf man ihn und Jacob kaum mehr woanders an. Jacob meistens in dem abgewetzten Sessel, eine Decke auf dem Schoß, und der lange Adam mit einem Bein über dem Geländer, an einen Pfeiler gelehnt. Äußerlich waren sie gegensätzlich. Adam groß, mager und blond, Jacob klein, breitschultrig und dunkel. Beide trugen einen wilden Bart.

Den ganzen Weg von der Kneipe bis zu Jacobs Haus hatte Adam sich den Kopf darüber zerbrochen, was gestern Abend passiert war. Er brachte keinen logischen Ablauf zusammen. Er hatte rumgeschrien, das wusste er. Vielleicht hatte er sich sogar geprügelt. Er nahm den Geigenkoffer in die andere Hand und schob die freie Hand in die Tasche, zum Aufwärmen. Die altbekannte Scham bahnte sich ihren Weg zu seinem Magen. Es wäre hilfreich gewesen, zu wissen, wie die Nacht geendet hatte. Doch er wusste nur, dass er in einem Zimmer über der Kneipe aufgewacht war.

Es wollte ihm nicht einfallen. Nichts Neues, aber trotzdem ärgerlich. Weil es gerade mehrere Wochen gut gegangen war. Und er jetzt keine Ahnung hatte, wie Jacobs Laune sein würde. Am Abend hatten sie einen Auftritt, da wäre eine gewisse Harmonie schon förderlich.

Adam klopfte, wartete eine Weile und trat dann ein. Hinter dem Küchentisch hörte er das Ticken und Klackern von Krallen auf dem Holzboden. Muddy kam auf ihn zugestürmt. Streichelnd und flüsternd versuchte er, seinen Labrador zur Ruhe zu bringen. Er sah sich um. Jacobs Schuhe lagen neben der Tür, seine Jacke hing über einem Stuhl neben dem Küchentisch. Oben war noch nichts zu hören. Adam zog die Schuhe aus und ging zum Herd, um Kaffee aufzusetzen. Er pustete sacht, bis die schwelenden Kohlen wieder aufglommen.

Jacobs Haus war klein und schmal. Ein rotes Holzhaus mit weißen Regenrinnen, einer kleinen Veranda und einem verwilderten Stück Land drumherum. Vor drei Jahren hatte Jacob es selbst gebaut, von dem Geld, das er hier im Norden verdient hatte. Es war ein einfaches Haus. Unten gab es eine Küche und genau ausreichend Platz für einen Tisch, vier Stühle und den großen Sessel, in dem Adam normalerweise schlief. Muddys Korb stand neben dem Ofen. Von der Küche führte eine Treppe nach oben ins Schlafzimmer.

Das Haus lag am südlichen Ortsrand, etwas oberhalb der anderen Häuser. Hinterm Gartenzaun begann die steile Bergwand, die Forty Mile begrenzte und das Städtchen gegen die Mündung beider Flüsse drängte.

Adam schenkte sich einen Becher Kaffee ein, zog die Jacke aus und lehnte sich auf einem Küchenstuhl zurück. Muddy legte ihm den Kopf in den Schoß.

Sich aus dem Winterschlaf zu reißen, fiel ihm mit jedem Jahr schwerer. Er war vierunddreißig Jahre alt, doch der Norden und der Alkohol hatten ihn rasch altern lassen. In diesem Winter hatte es sich zweimal in seinem Kopf verfinstert und er war von Jacob weggegangen, hatte sich ein Zimmer über der Kneipe genommen. Beide Male stellte ihm Jacob wochenlang jeden Tag einen Teller mit warmem Essen vor die geschlossene Zimmertür. An manchen Tagen schaffte Adam es nicht einmal, die Tür zu öffnen. Wenn der Teller länger als vierundzwanzig Stunden stehen blieb, ersetzte Jacob ihn durch einen neuen.

Diese langen Phasen von Suff und Dunkelheit im Winter hatten nichts zu sagen, nicht gezwungenermaßen. Im Moment fürchtete sich Adam eher vor den anderen Jahreszeiten. Vor all dem, was nach den ersten zögerlichen Frühlingstagen auf ihn zukam. Monate, in denen er für ein ganzes Jahr arbeiten, seinen Platz behaupten, seinen Beitrag leisten musste.

Nur noch wenige Monate und der kurze, heiße Sommer wäre da. Dann war im Städtchen und in der Natur drum herum am meisten los. Es waren die Wochen, in denen Gold gesucht und gefunden wurde, in denen die Glücksjäger vorbeizogen. Die Sommergäste, die seit Jahren kamen, kehrten wie späte Schwalben zurück. Jeden Herbst, jeden Winter, jedes Frühjahr spürten sie bis in die Knochen, wie der Norden rief und lockte. Die Täler und die Tundra, die Flüsse und die Stille. Die Leere, die niederschmetternd sein konnte. Der Hunger nach Einsamkeit und nach einem Leben in der Wildnis, der die meisten in diesem letzten Städtchen im Norden der bewohnten Welt stranden ließ. Forty Mile. Wo jeder rumhing, jeder fieberte. Wo man einander am Rand der Einöde fand. Wo Kameradschaft durch die knallharten Winter brachte und es immer und überall genügend Alkohol gab, um die eigene Ohnmacht wegzusaufen.

Oben knarrte das Bett. Getrampel, kurz darauf sah Adam zwei bestrumpfte Füße die Treppe herunterkommen. In Unterhose und T-Shirt, die Augen noch verquollen vom Schlaf, warf Jacob ihm einen glasigen Blick zu.

»Hm.«

»Kaffee?«

»Hm.«

Nach ein paar Schlucken ging Jacob an Adam vorbei zur Spüle und hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Mit einem Handtuch rubbelte er sich Haare und Bart kräftig trocken.

»Verdammt noch mal, Adam, du warst nicht auszuhalten, gestern.«

»Hab’s mir schon gedacht. Entschuldigung.«

»Entschuldigung? Hast du sie noch alle? Benimm dich einfach mal normal.«

Bockig trank Jacob den Kaffee aus, schmierte sich ein Butterbrot und ging wieder hoch, um sich anzuziehen. Adam sah ihm nach und fragte sich, ob er heute so leicht davonkommen würde.

Als Jacob wieder vor ihm stand, merkte Adam, dass es noch nicht vorbei war. Er schnappte sich schon mal seine Geige und zog auf die Veranda. Durch die Kälte waren seine Geige und Jacobs Banjo bereits nach drei Liedern total verstimmt, aber die Frühlingssonne draußen war wichtiger.

Mit roter Nase und tränenden Augen spielten sie, bis ihre Finger taub waren. Dann verzogen sie sich kurz nach drinnen, um sich aufzuwärmen und die Instrumente zu stimmen. Nach dem fünften Stück verschwand der Ärger aus Jacobs Gesicht, das nahm Adams Scham die Schärfe, sie war nicht mehr so schneidend.

Beim Spielen musterte Adam seinen Freund. Jacob war vier Jahre jünger als er. Wie viele andere war er zunächst nur als Saisonarbeiter nach Forty Mile gekommen, für einen Sommer. Gleich am Tag seiner Ankunft, irgendwann Anfang Juni, war er Adam über den Weg gelaufen. Die Folge waren drei Tage ununterbrochenes Feiern in der Kneipe, am Lagerfeuer, Bootsfahrten, Alkohol und vor allem viel Musik. Jacobs Banjospiel passte perfekt zu Adams Geige, und die Klangfarben ihrer Stimmen verschmolzen wie Zucker mit warmer Milch. Nach einem Monat ließ sich Jacob einen Bart wachsen und beschloss zu bleiben. Er bekam einen Job nach dem anderen, während sich Adam seit Jahren kaum über Wasser halten konnte. Dafür war Adam der bessere Musiker, das schon. Immer, wenn er einen Job in den Sand gesetzt hatte und nach der soundsovielten faulen Ausrede so gut wie pleite war, rettete ihn das gemeinsame Musizieren.

Jetzt war es fast Frühling, und das Leben rief. Vielleicht würde ja diesmal alles anders werden. Vielleicht käme dieses Jahr alles ins Rollen. Heute Abend spielten sie das Eröffnungskonzert der Saison. Da kam die halbe Stadt, um sich den Winter aus dem Leib zu tanzen und zu trinken. Es war das letzte Wochenende, an dem die Kneipe das einzige offene Lokal in Forty Mile war.

4. Zigaretten

Mary arbeitete beständig weiter und ließ ihren Atem den Rhythmus bestimmen. Ein Holzscheit auf den Hackklotz, einen Schritt zurück, die Axt hoch in die Luft und den Scheit dann, ohne zu zögern, zerhacken. Das Splittern des Holzes als Auftakt zu einem jahrhundertealten Refrain.