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Kaśka Bryla

Roter Affe

Roman

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Überlappungen mit Personennamen,
Institutionen oder Orten sind rein zufällig.
Diese Geschichte ist pure Fiktion.

© 2020 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Umschlaggestaltung: Eva Grün, https://eva.einfach.org

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4644 6

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1732 3

Für Władysława Monika Sułkowska Bryła

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Zweiter Teil

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Dritter Teil

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Dank

Prolog

Mania lief die Straße entlang. Sie war fünf Jahre alt und wusste, dass sie fünf Jahre alt war. Es war Sommer, später Nachmittag, vielleicht schon Abend. Die Uhrzeit kannte sie noch nicht, aber in diesem Sommer würde Mania von ihrem Vater die erste Uhr geschenkt bekommen.

Eine warme Windböe blies ihr ins Gesicht. Unter den nackten Füßen glühte der Asphaltboden. Sie sprang immer wieder von der Straße auf den Gehweg, wo Pflastersteine die verbrannten Fußballen kurz abkühlten. Die Arme hatte sie weit ausgestreckt. Rechts und links standen Einfamilienhäuser einer Reihenhaussiedlung, abwechselnd gelb und weiß. Hinter Mania rannte Tomek. Sie hörte das Klappern seiner Sandalen.

Es war ein Moment, in dem alles stimmte, und Mania beschloss, dass sie ihn für alle Zeit behalten wollte. Bisher war es so: Die Momente kamen und gingen. Aber ab jetzt bestimme ich. Ich, der Sommerwind, die Häuser, die Straße und Tomek hinter mir. Dieses Bild soll bleiben, bis ich sterbe.

Tomeks verschwitzte Hand klatschte auf ihre Schulter. »Hab dich!«, brüllte er ihr ins Ohr und rang nach Luft. Sie drehte sich um und kicherte. Dann streifte sie seine Hand ab. »Gar nicht!«, antwortete sie und rannte weiter. »Bis zum Badeteich! Wer zuerst ist, hat gewonnen.«

»Du bist gemein!«, hörte sie die Stimme von Tomek, der hinter ihr zurückfiel. Er würde nicht aufgeben, obwohl beide wussten, dass Mania die Schnellere war. Bei der Kreuzung hielt sie kurz an. Sie zögerte. »Das darfst du nicht!«, rief Tomek außer Atem. »Das darfst du nicht!«, schrie er noch lauter. Mania sah auf die Kreuzung. Alles war still, wie in einem ihrer Bilderbücher. Ihr Herz klopfte heftig. Sie kniff die Augen zu und rannte los. Es war nicht weit. Als sie die Kieselsteine unter den Füßen spürte, öffnete sie die Augen. Tomek stand noch immer auf der anderen Seite, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet. »Feigling!«, rief Mania und lachte. »Jetzt komm schon! Ich will schwimmen!« Tomek schüttelte den Kopf. Die blonden Locken wirbelten über sein Gesicht. »Bitte, bitte!« Sie wusste, er würde nachgeben. Ein Auto fuhr langsam über die Kreuzung und versperrte ihr für einen Augenblick die Sicht. Tomek hatte jetzt die Hände zu Fäusten geballt. Mania klatschte. Tomek lief los.

Dann schwammen sie gemeinsam so weit hinaus, wie sie konnten. Ein feuerroter Sonnenball verschwand zügig hinter der Reihenhaussiedlung.

»Und nun?«, fragte Tomek, als sie wieder am Ufer saßen, und warf einen Kieselstein ins Wasser. »Ich hab Hunger«, antwortete Mania. »Ich auch«, sagte Tomek, »aber wie kommen wir zurück?« Erschrocken blickte Mania auf. Das hatte sie nicht bedacht. Sie mussten noch einmal über die verbotene Kreuzung laufen. »Du immer und deine Ideen«, murmelte Tomek. Mania stand auf und schmiss eine Handvoll Kieselsteine ins Wasser. »Was denkst du? Wenn wir auf die andere Seite des Sees schwimmen und dann weiterlaufen? Sind wir dann in einem anderen Land?« Tomek zuckte mit den Schultern. »Ich möchte nach Hause«, sagte er, ohne sich zu bewegen. Mania setzte sich und legte den Arm um ihn.

Ganz plötzlich war es dunkel, und viele Schritte auf einmal näherten sich. Auch Stimmen, die ihre Namen riefen. Bevor sie antworten konnte, spürte Mania, wie sie von den Händen ihres Vaters hochgezogen wurde und auf den Beinen stand. Sie konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein. Tomeks Vater kniete vor Tomek und schüttelte ihn so lange, bis Tomek zu weinen anfing. Mania sah zu ihrem Vater hoch. Sie wollte schnell sagen, dass es ihr leidtat, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Er hielt ihr das Kleid hin und befahl nur: »Zieh dich an!« Sie hörte Tomek schluchzen, und das machte, dass sie sich elend und schlecht fühlte. Es war meine Idee, wollte sie sagen, aber wieder kamen die Worte nicht heraus. Immer brachte sie Tomek und sich in Schwierigkeiten, dabei hatte sie nur kurz ins Wasser tauchen wollen. Jetzt war alles mies. Sie würde nicht bei Tomek schlafen dürfen. Und Tomek weinte. Sie wollte sich losreißen und Tomek das Weinen aus dem Gesicht wischen. Er sollte nicht weinen, nicht wegen Mania und am besten überhaupt nie. Morgen würde er wütend auf sie sein. Das war schlimmer als der Blick ihrer Mutter, die zu Hause auf sie wartete. Mania überlegte, womit sie es bei Tomek wiedergutmachen konnte. Das eine Auto, das ihm so gut gefiel. Mania hing ohnehin nicht daran. Das würde sie morgen mitbringen und so tun, als ob es sehr wertvoll für sie wäre. Dann würde Tomek ihr verzeihen und alles wäre gut. Ihr Vater schob sie durch die Tür. »Agatha! Ich hab deine Tochter gefunden!« Manias Mutter kam ins Vorzimmer. Ihr Gesicht war müde. Sie hielt eine Zigarette zwischen den Fingern und sah Mania aus ihren müden Augen so böse an, dass diese zu zittern begann. Heiße Tränen flossen ihr die Wangen hinab. »Es tut mir leid«, sagte sie sehr leise. Ihre Mutter sagte nichts. Sie zog an der Zigarette. Dann ging sie in die Küche. »Siehst du«, sagte ihr Vater. »Siehst du, was du angerichtet hast?« Mania nickte und konnte nicht aufhören zu weinen. »Geh ihr nach und entschuldige dich.«

»Aber«, wollte Mania protestieren. »Mach es einfach«, sagte ihr Vater. Mania setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und merkte, wie schmutzig ihre Füße waren. Durch das Glas der Küchentür drang Licht und sie hörte das Radio. Als sie die Klinke hinunterdrückte und die Tür zu sich zog, kam ihr eine graue Rauchwolke entgegen. Ihre Mutter saß am Küchentisch. Sie sah nicht auf. Mania blieb im Türrahmen stehen. »Es tut mir leid«, sagte sie und konzentrierte sich darauf, dass ihre Stimme nicht brach. »Was tut dir leid?«, fragte ihre Mutter. Zuerst wollte Mania sagen, dass es ihr leidtat, dass Tomek geschüttelt worden war und deshalb weinte, aber sie ahnte, dass es die falsche Antwort war. Was tat ihr leid? Jetzt sah die Mutter Mania direkt ins Gesicht. »Was tut dir leid?«, fragte sie noch einmal, und diesmal schwang Gefahr in ihrer Stimme. Mania überlegte panisch. Es gab den richtigen Satz, das wusste sie, sie musste sich nur an ihn erinnern. Wo war er nur hin, dieser Satz? Gleich war es zu spät, und sie würde so schlafen gehen müssen, mit diesem kalten Blick ihrer Mutter auf ihr. »Es tut mir leid«, wiederholte sie, weil sich der Satz einfach nicht finden ließ. »Wenn du nicht weißt, was dir leidtut, ist deine Entschuldigung auch nichts wert.«

Mania nickte und sah zu Boden. »Geh jetzt ins Bett. Ich will dich nicht mehr sehen.« Erleichtert darüber, dass es vorbei war, drehte Mania sich um und ging an ihrem Vater vorbei in ihr Zimmer. Sie schlüpfte unter die Bettdecke, die sie bis zur Nasenspitze hochzog. Durch das Fenster sah sie den Mond und überlegte, ob Tomek den Mond auch sah, ob er noch immer weinte, ob er sich wirklich über das Auto freuen würde, ob sie heute Nacht davon träumen konnte, mit Tomek auf die andere Seite des Sees zu schwimmen, um dann in einem anderen Land zu sein. Nicht mehr in Österreich, aber auch nicht in Polen, sondern in einem Land, das sie noch nicht kannte, einem Land, wo alles anders war, wo es überall Eiscreme gab, wo selbst Grillhuhn und Leberkäse aus Eiscreme waren.

Tomek saß auf der Stufe vor der Haustür und versuchte umständlich, seine Schnürsenkel zu binden. Er hatte noch nicht bemerkt, dass Mania vor ihm stand und ihn beobachtete. Sie nutzte den Schatten, den die Hauswand warf. Schließlich beugte sie sich hinunter, schob seine ungeschickten Hände beiseite und band ihm die Schuhe zu. »Laufen wir zum Feld?« Tomek nickte.

Wenn sie die Straße der Einfamilienhäuser bis ans Ende liefen, begannen die Felder. Łąki nannten Mania und Tomek sie. Das polnische Wort für Felder, ohne genauere Angaben, um was für eine Art Felder es sich handelt. Eigentlich waren die Łąki nur Brachen, von Sträuchern und hohen Gräsern durchsetzt, verwildert. Die echten Mais-, Erdbeer- und Spargelfelder lagen dahinter.

Die Reihenhaussiedlung mit den Łąki und den echten Feldern befand sich auf der Westseite des Teichs. Auf der Ostseite, in dem anderen Land, das weder Tomek noch Mania bisher betreten hatten, standen hohe Wohnblöcke, grau, hässlich und vertraut, weil sie wie Zwillinge der Wohnblöcke in Warszawa waren.

Jelonki hieß der Stadtteil mit den Wohnblöcken in Warszawa. Dort wohnte im ersten Wohnblock von der Straße aus Manias Großmutter. Drei Blöcke weiter lebten Tomeks Großeltern. Eine riesige Łąka lag vor den Wohnblöcken in Jelonki, so groß, dass sich Tomek und Mania darin verlieren hätten können, wären dort nicht die anderen Kinder gewesen. Diese Kinder lebten das ganze Jahr über in den Wohnblöcken. Sie kannten ihre Łąka in- und auswendig und nahmen Tomek und Mania immer wieder in ihr Rudel auf. Die Łąki in Wien gehörten nur Mania und Tomek, obwohl es auch dort andere Kinder gab.

»Lass uns noch mehr Äste holen«, sagte Mania. Sie hatten vor einiger Zeit begonnen, um den schiefen Baum herum, der in der Mitte der Łąka mehr zur Seite als zum Himmel wuchs, eine Höhle zu bauen. Dort war es kühl. Mania legte sich auf den Boden. Mit einem spitzen Stein ritzte sie ein Herz in die Erde. Tomek legte die Äste vor die Höhle. »Was machst du da?« Er legte sich zu ihr und schob einen Grashalm in ihr Nasenloch. Mania kicherte. »Ist das für mich?«, fragte er und zog mit dem Grashalm die Herzform nach. »Für uns«, antwortete Mania. »Es fehlen noch unsere Namen.« Sie sah zu Tomek, der ebenso wenig schreiben konnte wie sie. »Dann schreib sie doch hin«, schlug Tomek vor. »Warum nicht du?«, warf Mania zurück. Er zuckte mit den Schultern. »War doch deine Idee.«

»War doch deine Idee«, äffte Mania ihn nach. Sie nahm den spitzen Stein und ritzte Zeichen unter das Herz, die sie mit einem Plus verband. Das Plus war überzeugend. Ihre Mutter hatte es Mania vor Kurzem erklärt. Minus und Mal kannte sie auch. »Das sind unsere Namen?«, fragte Tomek ungläubig. Mania nickte. »Ich kann nämlich schreiben«, fügte sie stolz hinzu. »Woher kannst du schreiben?« Sie spürte, dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er ihr glauben sollte. »Weil ich’s kann«, behauptete Mania und sah ihm dabei ernst in die Augen. »Das ist nicht wahr!« Sie freute sich, dass Tomek sich ärgerte. »Beweis, dass es nicht wahr ist«, forderte sie ihn heraus. Tomek kniete sich vor das Herz und starrte auf die Buchstaben, dann sah er Mania an. In seinen Augen standen Tränen. »Es ist nicht wahr!«, beharrte er. Jetzt rollten die Tränen seine Wangen hinunter und fielen auf die Buchstaben. Mania stand auf. »Hör auf zu heulen«, sagte sie so streng, dass sie kurz vor ihrer eigenen Stimme zurückschrak. »Hör auf zu heulen«, wiederholte sie und trat ihm mit dem Fuß ins Gesicht. »Aua!«, schrie Tomek und hielt sich die Nase. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. »Hör auf zu heulen!«, schrie Mania, schubste ihn nach hinten und setzte sich rittlings auf seinen Brustkorb. »Aua! Aua!«, schrie Tomek, aber er wehrte sich nicht. »Tu doch, dass ich aufhöre! Mach doch!« Tomek ließ die Arme zur Seite sinken. Mania wollte noch einmal zuschlagen, ihm noch einmal die Faust auf die schon blutige Nase hauen. Ihr Arm schwang empor und blieb beim Runterpreschen mitten in der Bewegung stehen. Stattdessen sammelte sie Spucke in ihrem Mund und ließ sie langsam auf seine Nase tropfen. Tomek drehte sein Gesicht nicht weg. »Du bist ein Tschusch«, sagte Mania kalt und ließ von ihm ab. Sie nahm den Stein und verwischte die Zeichen und das Plus. Das Herz ließ sie stehen. »Selber Tschusch«, entgegnete Tomek und setzte sich auf. »Du bist gar kein Tschusch«, korrigierte sie sich, »du bist ein Feigling.« Tomek sagte nichts. »Ich geh Äste sammeln.« Sie ließ ihn in der Höhle zurück und hörte, dass er wieder zu weinen anfing. »Tschuschen heulen nicht«, sagte sie laut und hob einen Ast nach dem anderen vom Boden auf.

Wenn Mania Streit mit ihrer Mutter hatte, floh sie zu Tomeks Mutter, Kaja. Kajas Haut roch nach Rosenblüten. Das hatte Mania eines Nachmittags verwundert festgestellt, als sie auf Kajas Schoß gesessen hatte. Gemeinsam sahen sie einen Spielzeugkatalog durch. Tomeks Geburtstag stand kurz bevor, und Kaja hatte sie, Mania, um Rat gefragt. Vor lauter Stolz war Mania erst rot angelaufen und hatte dann, ohne die Miene zu verziehen, genickt.

Tomeks Mutter war Malerin. Überall im Haus hingen Bilder, aus denen Mania die Farben leuchtend entgegensprangen. Im Esszimmer hing eines, auf dem Tomek und Mania zu erkennen waren. Ein Foto von einem der gemeinsamen Urlaube an der polnischen Ostsee hatte als Vorlage gedient. Im Hintergrund waren Meeresschaum und Wolken. Beide trugen sie weiße Kappen und sonst nichts. An den Urlaub erinnerte sich Mania kaum, außer an die Maikäferplage am Strand und den Ärger darüber, stundenlang in der Sonne baden zu müssen. Sie begriff nicht, worin der Sinn bestand, braun zu werden, wenn es ohnehin wieder wegging. Für diese kurze Phase der Bräune diese Stunden der Langeweile? Aber das Bild mochte sie, weil Kaja es gemalt hatte. Alles, was Kaja malte, gefiel ihr, und sie versuchte, es ihr nachzumachen. Ganze Blöcke kritzelte sie voll, ohne dass auch nur eines der Bilder an die von Kaja heranreichte. Das war nicht schlimm, solange es Kaja auch nicht schlimm fand, solange Kaja ihre Bilder gefielen.

Kaja war viel kleiner als Manias Mutter. Sie war sehr dünn, und Mania fand sie wunderschön. Braune Stirnfransen hingen dicht über ihren grünen Augen, die Mania immer weich ansahen, egal, was sie sagte oder tat. Selbst wenn Kaja schimpfte, stellte sie dem Tadel immer ein »Kochanie« oder »Słodycze« voran, sodass der Tadel nie mitten ins Herz traf. Sie nannte Mania auch nicht Mania, sondern Niunia, und Mania suhlte sich in dem Klang dieses Kosenamens, weil sie selbst sich dann auch warm und weich vorkam.

»Was meinst du, Niunia? Lego Technik?« Mania schüttelte entrüstet den Kopf. Sie presste ihren Rücken fester gegen Kajas Bauch und bohrte die Nase in ihren Hals. In diesem Moment roch sie die Rosenblüten. Es war genau der gleiche Duft wie auf der Terrasse, ganz leicht und trotzdem so verführerisch, dass Mania wie automatisch danach griff. Sie fuhr mit ihrem Finger an der Ader entlang, die sich am Hals abzeichnete. Das plötzliche Bedürfnis, alles an Kaja anzufassen, nahm sie völlig ein. Etwas, das so gut roch und so weich war, musste auch unglaublich gut schmecken. Mania fuhr ihre Zunge raus und tastete sich am Hals nach oben. »Das kitzelt, Niunia.« Kaja lachte und zog die Schultern hoch, aber Mania ließ sich nicht aufhalten. Sie umfasste Kajas Kopf und fuhr ihr mit der Zunge über die Wange. »Nicht, du machst mich ja ganz nass.« Jetzt zwickten Kajas Finger sie unter den Achseln. Mania presste die Arme dicht an den Oberkörper und quietschte. »Nicht kitzeln! Nicht!« Gemeinsam rutschten sie vom Stuhl auf den Boden, der Spielzeugkatalog mit ihnen.

»Er wünscht sich eine Babypuppe«, sagte Mania und grapschte ziellos weiter an Kajas Körper herum. »Eine Babypuppe, wirklich?«

»Mhm. Die, die so Laute macht und weinen kann.«

»Aha.« Mania blätterte durch den Katalog. »So eine.« Sie zeigte auf das Bild. »Und du, Niunia?«, fragte Kaja. »Wünschst du dir auch so eine?«

»Nein.« Mania rollte sich zusammen, presste ihren Rücken gegen Kaja. »Was wünschst du dir denn?«

»Aber ich hab doch noch gar nicht Geburtstag.«

»Na und?« Mania versuchte nachzudenken. Es gab so vieles, das sie sich wünschte, aber jetzt war ihr alles entglitten. Alles war hier, wo es gut roch, und Kajas Hände auf ihrem Rücken machten diesen ganz warm. Nur, plötzlich schlich sich in diese Wärme ein Unbehagen. Es kam so unerwartet, dass Mania davon ganz überrumpelt war. Sie entzog sich der Umarmung und stand verwirrt auf. Was war geschehen? Eben war noch alles gut und jetzt nicht mehr. Eine heiße Kugel schwoll in ihrem Bauch zu einem riesigen Ball an. »Gar nichts wünsche ich mir«, schrie sie, »gar nichts!«

»Ist ja gut.« Kaja kniete vor ihr und sah sie ruhig an. In Mania bebte es. Gleich darauf begann sie zu schluchzen. Kaja streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus, aber Mania wich zurück. »Ich hasse dich!«, schrie sie, ohne es zu begreifen. »Ich hasse dich!« Jeder Muskel in ihrem Körper hatte sich verkrampft und ließ sich nicht erweichen. Sie rang nach Luft. Da packte Kaja sie und hielt sie fest, in einer Umarmung, die sie wie Meeresrauschen einschloss und nach und nach beruhigte. Noch immer schluchzend wurde sie in Tomeks Zimmer getragen und aufs Bett gelegt. Kaja hörte nicht auf, Manias Kopf zu streicheln, bis der Sturm in ihr zu toben aufgehört hatte und eine schier unendliche Müdigkeit ihr die Augen zudrückte.

Als sie die Augen wieder aufmachte, saß Tomek neben ihr und strich ihr über den Kopf. Sie blinzelte durch die von Tränen verklebten Lider. »Es gibt Abendbrot«, sagte er, und: »Warum schläfst du hier?« Sie setzte sich auf und zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht.«

Mania versuchte sich zu erinnern, aber bis auf den Duft von Rosenblüten war da nichts mehr. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster auf Tomek und ließen ihn aussehen wie einen Heiligen. »Eigentlich siehst du gar nicht aus wie deine Mama«, stellte Mania fest. »Du siehst mehr aus wie meine Mama.« Tomek studierte Manias Gesicht zurück. »Meinst du«, mutmaßte er, »sie haben uns im Krankenhaus vertauscht?«

»Schon möglich, oder?«

»Aber vielleicht ist dann überhaupt wer ganz anderer deine oder meine Mama, und sie lebt auf der anderen Seite vom Teich in den grauen Betonblöcken. In dem anderen Land.«

»Nein«, entgegnete Mania bestimmt, »ich glaube, in Wirklichkeit ist deine Mama meine Mama und meine Mama deine Mama.« Tomek bohrte versonnen in der Nase. »Das heißt, wir müssen Zimmer tauschen. Du ziehst hier ein und ich bei dir.«

»Das müssen wir wohl.« Mania seufzte. »Aber was ist dann mit unseren Vätern?« Tomek holte einen Popel heraus und steckte ihn in den Mund. Mania verzog angewidert das Gesicht. »Am besten, mein Papa zieht mit zu dir und dein Papa kommt mit zu mir.«

Bevor sie sich einigen konnten, wurde nach ihnen gerufen. Es war die Stimme von Tomeks Vater, und sie klang genervt. »Gleich!«, riefen beide, ohne Anstalten zu machen, sich zu bewegen. »Wenn wir Zimmer tauschen, bekomme ich dann deine Spielsachen?«, fragte Tomek angetan. »Klar«, antwortete Mania großzügig. »Alles, was du willst.«

»Dann machen wir es.«

»Versprochen?«

»Versprochen.« Sie verschränkten zur Besiegelung die kleinen Finger und überkreuzten dabei ihre Arme zum Zeichen des absoluten Schwurs. »Essen!«, schrie Tomeks Vater. Erschrocken sprangen beide auf und liefen die Treppe hinunter.

Auch Manias Eltern saßen bei Tisch und warteten. Manias Vater sah sie streng an, während ihre Mutter auf den leeren Teller starrte. Sofort spürte Mania, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie setzte sich. »Hunger?«, fragte Tomeks Vater und lud ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, Kartoffelpüree, Sauce, ein Schnitzel und Erbsen auf. Sie hatte keinen Hunger, sie fragte sich, ob es an ihr lag, dass ihre Mutter so traurig aussah? Hatte sie etwas falsch gemacht? Mania durchforstete ihr Gedächtnis, aber es fand sich nichts, wofür sie sich hätte schuldig fühlen können. Tomek stocherte in seinem Kartoffelpüree, während ihm sein Vater das Schnitzel in kleine Stücke schnitt. »Niunia, soll ich dir das Schnitzel kleinschneiden?«, fragte Kaja. »Das kann sie selber«, mischte sich Manias Vater ein, »nicht wahr, Mania?« Sie nickte. »Entschuldige, Niunia. Du bist ja schon ein großes Mädchen.« Mania lächelte Tomeks Mutter verlegen an. Sie nahm Messer und Gabel und schnitt ein Stück des Schnitzels herunter. Es war zäh, und beim Kauen entdeckte sie einen Knorpel. Die Vorstellung des gallertartigen Fleischklumpens löste einen Brechreiz aus. Angestrengt kaute sie weiter und hoffte, der Brechreiz ließe sich überwinden.

»Hör zu, Mania«, setzte ihr Vater an. »Deine Großmutter ist sehr krank. Deshalb fährst du morgen mit deiner Mutter nach Warschau.« Mania verschluckte den Bissen. Jetzt war der Brechreiz nicht mehr aufzuhalten. Der Fleischklumpen landete mit einem Schuss Gallenflüssigkeit mitten im Püree und legte sich als grüner Schleim auf den hellgelben Untergrund. Danach schien alles Blut aus ihrem Kopf zu verschwinden. Tomeks Mutter hatte den Teller weggetragen und legte ein nasses Tuch in Manias Nacken. Mania sah zu ihrem Vater. »Kommt Tomek mit?«, fragte sie. Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Dann fahr ich auch nicht.«

»Täubchen, ich muss den ganzen Tag arbeiten. Du kannst nicht alleine zu Hause bleiben.«

»Aber«, wollte sie einwenden. »Und außerdem muss sonst deine Mama ganz alleine fahren.« Mania sah zu ihrer Mutter, die schweigend ihren Teller leeraß, und ein großes Verantwortungsgefühl überkam sie. Wer sollte auf ihre Mutter aufpassen, wenn sie alleine fuhr? Was, wenn sie einen Unfall hatte? Was, wenn ihr beim Autofahren plötzlich schlecht wurde und sie sich erbrechen musste? Das konnte Mania nicht zulassen. Sie hob den Kopf und blickte ihren Vater ernst an. »Ist gut«, antwortete sie. »Ich passe auf Mama auf.«

»Erzähl! Erzähl!« Mania spielte mit dem Rosenkranz ihrer Großmutter. »Ist ja gut, Puppe. Ist gut.« Ihre Großmutter saß auf dem Bett und hielt das einzige Buch, in dem Mania sie immer lesen sah, in den Händen. Es hatte einen schwarzen Stoffeinband und ein aus Goldfaden gesticktes Kreuz darauf. Wenn ihre Großmutter nicht in ihrem Zimmer war, schlich Mania manchmal heimlich hinein und fuhr mit den Fingern über den Einband und blätterte durch die hauchzarten Seiten. Lieber hätte sie selbst gelesen. Mittlerweile konnte sie schon das Alphabet und ein Märchenbuch wusste sie auswendig, sodass sie sich vorstellte, dass sie las, während sie die Bilder ansah und vor sich hin murmelte.

»Oma!«, ermahnte Mania ihre Großmutter, die eingeschlafen zu sein schien.

»Also gut. Also gut.« Ihre Großmutter ließ die Bibel geschlossen. »Es war einmal ein großes Reich, in dem regierte ein weiser König mit dem Namen Saul.« Ihre Großmutter gähnte.

»Weiter, Oma!«

»Aber du kennst doch die Geschichte. Warum willst du immer dieselbe Geschichte?«

»Weil es meine Lieblingsgeschichte ist.« Mania zwirbelte an dem Rosenkranz. Schulterzuckend fuhr ihre Großmutter fort.

»Eines Tages bedrohte ein fremder Herrscher das Land Gottes. Der fremde Herrscher war sehr mächtig und seine Soldaten groß und furchteinflößend.« Mania hielt die Luft an, als würde sie die Geschichte zum ersten Mal hören. »Der größte und mächtigste der fremden Soldaten mit dem Namen Goliat trat vor König Saul und sprach: Wenn einer deiner Soldaten mich besiegen kann, werden ich und alle Soldaten meines Herrn deine Knechte sein.« Vor sich sah Mania einen Riesen in eiserner Rüstung mit einem mächtigen Schwert in jeder Hand.

»Und was, wenn Saul verliert?«, fragte sie entsetzt.

»Dann verliert er alles und das Reich Gottes Israel geht unter.«

»Das wäre schrecklich!« Ihre Großmutter nickte.

»Deshalb schickte König Saul Boten in sein ganzes Land: Es mögen die besten und tapfersten Krieger heraneilen, um für das Land Gottes gegen Goliat anzutreten.«

»Aber woher wussten sie, wer der beste und tapferste Krieger war?« Kurz schwieg ihre Großmutter und überlegte.

»Der würde der beste und tapferste Krieger sein, der einen Bären und einen Löwen zugleich töten konnte.« Mania schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. »Das dachten alle und es gelang keinem. Nur ein Schafhirte trat mit Löwenkopf und Bärentatze vor Saul und sprach: ›Sieh, Herr. Dieser Löwe hatte eines meiner Lämmer bereits in seinem Rachen, ich aber entriss es ihm und hackte gleichzeitig dem Bären, der auf das Muttertier einschlug, mit der Holzaxt die Pratze ab. Ich werde gegen Goliat kämpfen und Israel retten.‹« Mania klatschte begeistert. Ein kleiner Junge mit blondem Lockenkopf, der aussah wie Tomek, stand vor dem mächtigen König und hielt stolz in der einen Hand einen Löwenkopf und in der anderen eine Bärentatze. Anmutig sah er zum Thron hinauf. In seinem Blick lag kein Zweifel darüber, dass er siegen würde. »Und so ließ König Saul David gegen Goliat antreten und legte damit das Schicksal seines Landes in die Hände eines jungen Schafhirten.«

»Aber Oma. Warum hatte David keine Angst?« Ihre Großmutter fuhr sich mit den Fingern über die Lippen und wischte den Speichel aus den Mundecken. »Weil Gott mit ihm war, Puppe.«

Gott war groß. Das wusste Mania, und wenn er auf ihrer Seite war, dann brauchte auch sie vor nichts Angst zu haben. »So wie er war, trat David vor Goliat.« Mania zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze und hielt sich an ihr fest. »Goliat holte mit seinem Schwert nach David aus, aber noch bevor er diesen treffen konnte, hatte David seine Steinschleuder gespannt und traf Goliat direkt zwischen den Augen. Tief sank der Stein in Goliats Stirn. Er fiel zu Boden und David schlug ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab.« Ohne zu zögern, dachte Mania. Ohne zu zögern, hatte David die Steinschleuder gespannt und beim ersten Versuch getroffen. Der Riese war zusammengebrochen, weil David ihn dort getroffen hatte, wo Goliat verletzlich war. Dort, wo er keine Rüstung trug. Mania massierte die Stelle zwischen ihren Augenbrauen. »So rettete David Israel und wurde dafür von König Saul reich beschenkt.« Dieser Teil interessierte Mania nicht mehr. Sie legte sich auf die Seite und schloss die Augen. »Hast du denn schon gebetet, Puppe?«, fragte ihre Großmutter, und Mania nickte. Sie legte den Rosenkranz auf das Nachtkästchen. »Wenn ich groß bin, Oma, dann werde ich wie David.«

»Natürlich, Puppe. Schlaf jetzt.« Sie machte das Licht aus und verließ das Kinderzimmer. Das letzte Bild, bevor Mania einschlief, war das von David, der aussah wie Tomek, der sich anfühlte wie sie.

Erster Teil

1.

Mania starrte auf den Bildschirm des Smartphones, ohne entscheiden zu können, was sie mit Tomeks Bericht anfangen sollte. Schließlich wischte sie ihn weg und steckte das Gerät zurück in den Rucksack. Dann zog sie die Akte von Roland K. aus dem Schrank.

Sie hatte ihren Überstundenausgleich kurzfristig eingereicht, also würde Sobowitz jeden Moment anrufen. Die Telefone in der Justizvollzugsanstalt Moabit hatten einen quengelig schrillen Ton, und auch nach drei Jahren fuhr Mania wie immer beim ersten Klirren zusammen.

»Was soll denn das?«, raunzte Sobowitz in die Leitung. Sie hörte im Hintergrund Geraschel, Piepen und Stimmen, die sich über Gartengeräte unterhielten.

Einige Sekunden überlegte sie, ob sie ihm die Situation erklären sollte: Dass sie, gerade als sie dabei gewesen war, die JVA zu verlassen, ihr Smartphone aus dem Kästchen geholt und eine Sprachnachricht von Zahit darauf vorgefunden hatte. Zahit rief nie an. Gab es etwas zu besprechen, meldete sich Tomek bei ihr. Noch ohne sich die Nachricht angehört zu haben, war sie verbotenerweise mit dem Smartphone in ihr Büro zurückgelaufen und hatte Zahit zurückgerufen.

»Es liegen ein paar Zettel auf dem Tisch. Keine Ahnung, was darauf steht! Keine Adresse! keine Nummer!«, brüllte Zahit. Gleich darauf versuchte er, vorzulesen, und scheiterte dabei an seinem Deutsch. »Es tut mir leid«, schluchzte er.

»Fotografier die Zettel und schick sie mir«, befahl Mania. »Ich nehme den nächsten Zug.«

»Zug? Wieso Zug?!«, hörte sie die Ausläufer seiner Stimme.

Sie stellte sich vor, dass Sobowitz im Baumarkt stand und wartete, das Smartphone ans Ohr gepresst, als wäre es ein Telefonhörer aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Dann warf sie die Akte, die sie in der Hand hielt, in die Luft. Wenn das Deckblatt mit dem Foto von Roland K. beim Aufprall herausrutschte, würde sie ihm die Wahrheit sagen. So war Mania. Die Mappe knallte auf den Boden. »Was machen Sie denn da?«, fragte Sobowitz gereizt. »Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit«, antwortete Mania wahrheitsgemäß und ergänzte: »Mein Bruder wurde als vermisst gemeldet.« Die halbe Wahrheit für ein halbes Foto.

»Ach. Das tut mir leid«, stammelte Sobowitz. »Ich wusste nicht, dass Sie einen Bruder …«

»Genau. Ich hoffe, er taucht bald wieder auf.«

»Ja, natürlich. Das hoffe ich auch.« Sie schob die herausgerutschten Blätter in die Aktenmappe und betrachtete für einen Moment das Foto des Insassen Roland K., den sie drei Jahre lang therapeutisch begleitet hatte. Plötzlich begriff sie, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.

»Wissen Sie. Eines der Gutachten eilt. Könnten Sie? Wie lange?«