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Nikolaus Harnoncourt

Über Musik

Mozart und die Werkzeuge des Affen

Herausgegeben von Alice Harnoncourt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Liebe Sophie

Aufführungspraxis

Phänomene des Musiklebens – Über das Musikhören

Über Authentizität und Werktreue

Warum immer Vibrato?

Von den Wurzeln der abendländischen Musik zur Revolution um 1600

Der 5. Oberton

Von der »Mitteltönigkeit« zur »Wohltemperierten Stimmung«

Zur Klangästhetik Monteverdis: Ist häßlich schön?

Barockmusik in Europa – das Barockorchester

Die vielen Arten von Cembalo

Wolfgang Amadeus Mozart, der rätselhafte Genius

Mozart und die Werkzeuge des Affen

Zeitgeist, Mode und Wahrheit

Ein Griffel in der Hand Gottes

Vorwort

Mein Mann hat ständig über Musik und Musizieren nachgedacht, über seine Konzerte und Opernprojekte, geforscht, aber auch geschrieben.

Nun bin ich seit langem dabei, seine Schriften und Arbeiten zu sichten, zu ordnen und zu archivieren.

Die Geschichte der Aufführungspraxis der Musik beinhaltet sehr viele verschiedene Aspekte und berührt auch die ganze umfangreiche Kulturgeschichte des Abendlandes – so sind immer wieder interessante Erkenntnisse und spannende Entdeckungsreisen möglich.

Ich würde mir wünschen, daß die folgenden, für die originelle Denkweise meines Mannes typischen Essays zu vertiefenden Überlegungen führen können und Inspirationen beflügeln zu neuen Einsichten.

Unser Leben war ja darauf fokussiert, die Kraft der Musik lebendig und befeuernd wirken zu lassen und dadurch auch weitere Wege für Neues zu ermöglichen.

Wir alle brauchen doch die Musik für unser Leben!

Alice Harnoncourt

Liebe Sophie

ich höre, daß Sie auf Ihrem bisherigen Lebensweg von der Kunst, mit der ja wohl jedes Kind irgendwie in Berührung kommt, so angerührt worden sind, daß Sie sie als Lebensziel erkannt haben.

Vor fast 70 Jahren hatte ich eine vielleicht vergleichbare Entwicklung (mitten in der Nazizeit und im Krieg). Ich wußte nicht, was »Kunst« ist, und doch war alles für mich Wichtige aus heutiger Sicht Kunst. – Holzscheiter wurden zu Köpfen geschnitzt, Bücher weckten die Phantasie – eines Tages Kleist’s Büchlein über das Marionettentheater. Das war es!

Mir war Theater eher fremd, Kunst war für mich Musik, Malerei und Zeichnen. Ich war 12 oder 13 Jahre und machte Marionetten – ich hatte nie so etwas gesehen – einfach angeregt von Kleist. Viele Kinder mußten mitmachen – schließlich, kurz nach dem Krieg, wurde es etwas ganz Großes: »Faust«. Ich war 16, hatte alles selbst gemacht, die Figuren, das Theater, das Licht, 8 Monate Proben in der Schulzeit (oft war schulfrei, weil es nichts zum Heizen gab), 23 Mitwirkende von 7 bis 50 Jahre. Ich wollte, daß es ernstgenommen wird, also Jugendverbot unter 18 Jahren! Dann über 20 ausverkaufte Aufführungen, Begeisterung, tolle Kritiken. Das war mein Lebensberuf! – Eine Stunde Realität brachte mich auf den Boden: Berechnungen zeigten mir, daß ich davon nicht leben kann, gerade weil ich nur höchste Ziele akzeptierte – also Schluß. Alles verpackt und weggesperrt – ich blieb bei der Kunst und wurde Musiker. Aber wenn ich auch keine Marionetten je mehr anrührte, es war das bestimmende Erlebnis.

Wer die Kunst als wichtig(st)e Lebensquelle erkannt hat, den nimmt sie in Besitz, mit Fleisch und Blut, von Kopf bis Fuß – ganz.

Alles Gute wünscht

P.S.: Niemand weiß, wie stark der Musenkuß ist, den wir bekommen haben. Er treibt uns zum Höchsten und immer weiter noch zum Unerreichbaren. Aber wenn wir spüren, daß es doch nicht reicht … mit dem Zweitbesten geben wir uns nicht zufrieden … dann Schluß und was anderes! (Die Kunstwelt wimmelt von Gescheiterten, die nicht aufgeben können.)

2011

Aufführungspraxis

Seit der Musiker nicht mehr ausschließlich die Musik der Gegenwart spielt – wie noch vor zweihundert Jahren –, breitet sich nach und nach eine immer drückendere Unsicherheit aus, wie diese oder jene Musik gespielt werden solle. Was ist stilistisch richtig, wie hat man das damals gemacht und vor allem: Was hat das alles für uns zu bedeuten?

Wenn, wie noch bis in das 19. Jahrhundert hinein, nahezu ausschließlich zeitgenössische Musik gemacht wird, gibt es zwischen den Komponisten, deren Interpreten und dem Zuhörer weitgehende Übereinstimmung. Es gibt keine Stilfragen, weil es ja nur einen Stil gibt – den der Gegenwart. Die Probleme einer richtigen Interpretation stellen sich überhaupt nicht, was zählt, ist allein der Geschmack. – Wenn nun in einer kulturell derart in sich ruhenden Zeit dennoch einmal ein älteres Werk aufgeführt wurde – meist im Bewußtsein, etwas sehr Ungewöhnliches zu tun, mit starkem musealen Beigeschmack –, dann musizierte man selbstverständlich nach den stilistischen und ästhetischen Maßstäben der Gegenwart, weil sie ja die einzig bekannten waren, aber auch für die ganz zweifelsfrei fortschrittlichsten und besten gehalten wurden. Mozarts Händel-Aufführungen, Mendelssohns Bach-Aufführungen oder die Mozart-Aufführungen der Jahrhundertwende waren wohl Beispiele dafür.

Nun aber hat sich nach und nach unser Musikleben, unser Kunstverständnis überhaupt, gewandelt. Das gesamte Repertoire abendländischer Musik steht uns ständig zur Verfügung, die Musik der unmittelbaren Gegenwart spielt dagegen eine eher bescheidene Rolle. Somit ist aber der stilistische Bezugspunkt verlorengegangen und der Musiker will nun die Musik der verschiedenen Epochen in einem adäquaten Stil darstellen; der Hörer will sie ›stilistisch richtig‹ hören und so gleichsam ein Musikmuseum durchwandern. Dieser nun fast allgemein anerkannte Wille nach einer sozusagen ›werkgetreuen‹ Wiedergabe von historischer Musik – und aus solcher besteht unser Musikleben ja nahezu ausschließlich – ist im Grunde unnatürlich und letzten Endes nicht realisierbar. Man kann nicht so tun, als wäre man ein Mensch aus einer anderen Zeit; das Musikverständnis läßt sich ja nicht vom allgemeinen Denken und Fühlen loslösen. Die Gegenwart wird jede Interpretation und auch deren Aufnahme immer entscheidend mitbestimmen, ob man dies nun wahrhaben will oder nicht. So könnte man meinen, daß alle Bemühungen um historische Aufführungspraxis oder auch nur um ein Werkverständnis, das der Entstehungszeit entspricht, müßig wären – es werde ja doch alles in die Gegenwart transplantiert.

Ich meine aber, daß wir gerade heute, wo wir Musik des 16. Jahrhunderts ebenso aufführen wie Werke von Monteverdi, Mozart, Brahms und Bartók, den einzelnen Komponisten und seine Zeit in einer ganz neuen Weise verstehen können. Wir interessieren uns ja nicht aus oberflächlicher historischer Neugier für diese Werke, sondern weil wir instinktiv empfinden, daß sie uns über die Jahrhunderte hinweg etwas zu sagen haben, was immer aktuell bleibt, und was für uns sehr wichtig ist – gerade, weil uns etwas in unserer Gegenwart zu fehlen scheint. Wenn wir also die Werke der letzten Jahrhunderte verstehen wollen, dann müssen wir uns wohl für alles interessieren, was dieses Verständnis erleichtert. Wir werden sehen, wie sehr die verschiedenen Künste ineinander verzahnt sind, wie sehr sie mit dem Leben, der Religion und Philosophie der jeweiligen Zeit verknüpft sind. So werden wir die Äußerungen der Musiker mit anderen Augen lesen, wie auch die Beschreibungen der Reaktionen der Zuhörer. Aus dieser Kenntnis kann unsere Interpretation sehr vieles von der ursprünglichen Werkidee bekommen; freilich wird es immer eine Interpretation unserer Zeit sein.

Wir verlangen also heute von einem Musiker, daß er die Werke in ihren Originalen (also im »Urtext«) studiert, und nicht in irgendwelchen Bearbeitungen, und daß seine Interpretation soweit wie möglich von der Werkidee des Komponisten ausgeht. Ob er die dabei gewonnenen Erkenntnisse dann realisiert oder nicht, ist seinem Geschmack überlassen. In jedem Fall werden sie – so oder so – in seine Interpretation eingehen.

Nun gibt es zahllose Zeugnisse über das Musizieren in den letzten Jahrhunderten: vor allem Schulwerke, theoretische Schriften, Dichtungen mit Abschnitten über Musik und ihre Wirkungen, Vorworte zu Kompositionen usw. Wie wichtig und interessant ist es für den Musiker wie für den Hörer, jede Information über die Musik, über die Kunst, über Kunst im Leben zu bekommen, die sich erreichen läßt? Es gibt nur wenige Menschen, die ihr brennendes Interesse und ihre persönliche Zeiteinteilung dahin führt, ja geradezu dahin zwingt, all die vielen Originaldokumente selbst zu lesen; die Briefe der Komponisten, der Maler, der Bildhauer und Architekten, die Dokumente der Mäzene, die Unterrichtswerke, die philosophischen Schriften, die Vorworte der Notenausgaben … und all das andere, was nur irgendwie auf Musik Bezug nimmt. Es sind ganze Bibliotheken in allen Sprachen Europas geschrieben aus vielen Jahrhunderten unserer Vergangenheit. Eigentlich ist ja nur der, der all diese Quellen selbst liest, imstande, sich ein Bild über unsere geliebte Kunst zu machen, sich eine wahrhaft persönliche Meinung zu bilden … aber wer kann, wer tut das schon? Wir, die wir unserer Leidenschaft nicht diese totalen Opfer bringen können, müssen also sehr dankbar sein, wenn dies jemand für uns tut. Wir bekommen dann sozusagen die Essenz aller Studien und damit auch deren persönliche Auslegung. Wir liefern uns zwar mit Haut und Haaren, und in fast blindem Vertrauen, dem Autor aus – aber es erwartet uns ein spannendes und höchst informatives Komprimat. Natürlich können Auszüge niemals die Quellen als Ganzes ersetzen, aber sie zeigen in vielen Details, was beschrieben ist und wo man es finden kann, und so wird sich wohl mancher Interpret angeregt fühlen, das eine oder andere ganze Werk zu studieren.

Noch ein Wort zu den Quellen als solche: die Autoren schrieben prinzipiell für ihre Zeitgenossen, nicht für uns. Das bedeutet, daß sie alles, was sie für allgemein bekannt hielten, gar nicht niederschrieben – oft wären aber gerade das die Informationen, die wir am nötigsten hätten. Wir müssen uns also gleichsam in ›gebildete Zeitgenossen‹ hineindenken, um zu verstehen, warum der Autor gerade das beschreibt und jenes nicht. So begeben wir uns auf die Spur der alten Meister und vieles, das wir aus ihrer verschlüsselten Notenschrift nicht begreifen konnten, wird uns verständlich werden.

Vorwort für ein Buch von Uli Molsen

Phänomene des Musiklebens – Über das Musikhören

Wenn wir die enorme Wirkung betrachten, die Musik auf den Menschen, das Publikum hat, wird uns klar, daß Musik – so wie jede kulturelle Äußerung, auch Malerei, Architektur oder Dichtung – für das menschliche Zusammenleben eine große Rolle spielt. Man kann an der Art, wie Musik geschrieben ist, wie bildende Kunst ausgeführt wird, erkennen, auf welcher Lehre die Kunst beruht, auf welcher Philosophie, und an welchen Abnehmerkreis, an welches Publikum sie sich wendet. Kunst kann so elitär sein, so esoterisch, daß sie sich nur an eine kleine Schicht von Kennern wendet, die ein Spezialvokabular beherrschen, das niemand sonst versteht. Eine solche Haltung kann so kultiviert werden, daß diese Kunst schließlich nur mehr für einen abgezirkelten Kreis der Wissenden da ist. Das findet man immer wieder in gewissen Perioden mancher Kulturen, wo überhaupt nur die Wissenden eine Rolle spielen. So eine esoterische Kulturenklave dürfte wohl im 14. Jahrhundert in Avignon gewesen sein. Abgesehen von den übrigen kulturellen Äußerungen kann ich mir nicht vorstellen, daß die dort gepflegte Musik eine größere Verbreitung und Wirkung hatte. Sie ist derart kompliziert, daß sie dem winzigen Kreis wahrer Kenner ein Gefühl höchster kultureller Besonderheit und feinsten geistigen Genusses gegeben haben muß, eine unendliche Überlegenheit und Emporgehobensein über alles ›Minderwertige‹.

Musik, die sich nur an den Kenner wendet, der mit dem Gefühl sehr bewußt operiert, nachdem er die Sprache verstanden hat, wird von ›gewöhnlichen‹ Menschen ungefähr so aufgenommen, wie wenn jemand in einer einigermaßen verständlichen Fremdsprache zu uns spricht. Ein Fachvortrag – etwa über Soziologie – ist meist nur dem Eingeweihten verständlich, die anderen werden das, was der Vortragende sagt, für sehr klug halten, aber was er wirklich sagt, können sie nicht verstehen. Es handelt sich dann wohl um eine Zunftsprache, wie es sie auf allen Gebieten gibt. Es gibt Vorträge von Kunsthistorikern, die so unverständlich sein können, wie Vorträge von Ärzten, die zur Hälfte auf Lateinisch sind; das ist dann eine Art von Geheimsprache, die ihren guten Grund hat. Ähnlich ist es in der Musik, die in ihrer Sprachlichkeit, in ihrer Diktion ein Vokabular verwendet, das sowohl der Musiker, der es anwendet, als auch der Hörer verstehen muß. Dies ist für uns, die wir im Geist der Romantik ausgebildet sind, gar nicht so leicht zu glauben.

Wir haben heute, sozusagen in der Endzeit unserer Kultur, die ganze Geschichte des Abendlandes zugleich vor Augen, die Kunst der großen Architekten, Maler, Dichter und Musiker aus vielen Jahrhunderten, und können dies gleichzeitig überblicken. Das ist natürlich ein Gewinn für uns. Diesem Gewinn ist aber ein Verlust an Einheit vorausgegangen. Es gibt in der Kulturgeschichte einen Punkt, wo die Einheit von Kunst und Leben nicht mehr gegeben ist und wo Kunst etwas ist, das man im Museum bewundert und nicht mehr Bestandteil des wirklichen Lebens ist. Die Gründe für diese Diskrepanz aufzuzeigen wären wert, näher erkundet zu werden.

Es ist für uns als Musiker, aber auch als Hörer sehr wichtig, über die Rolle der Musik in unserer Gesellschaft nachzudenken, sonst stehen wir eines Tages als Musiker vor einem Musikleben, das reine Historie ist, das es eigentlich nicht mehr gibt, und wissen dann nicht, wie wir das Leben und die Musik überhaupt wieder in Einklang bringen können. Ob es auch in Zukunft noch Symphonieorchester im herkömmlichen Sinn geben wird?

Welche Bedeutung die Musik im zukünftigen Gesellschaftsleben haben wird, daran arbeiten wir mit unserer heutigen Einstellung, das formen wir mit. Es ist eine Frage der Evolution, genauso wie der Musikunterricht als solcher. Wahrscheinlich wird der rein technische Musikunterricht immer eine gewisse Ähnlichkeit mit dem bisherigen haben müssen, weil sonst der technische Standard nicht erreicht werden kann, aber wir müssen über die rein technologische Beherrschung der Musik hinausgehen – das genügt nicht mehr.