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Bergsveinn Birgisson

Quell des Lebens

Roman

Aus dem Isländischen übersetzt
von Eleonore Gudmundsson

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© 2020 Residenz Verlag GmbH

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Umschlaggestaltung: Thomas Kussin / buero 8

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ISBN Printausgabe:

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

EPILOG

I.

Es war in jenen Tagen, als das Leben des isländischen Volkes an einem seidenen Faden hing. Zu Johannis des Jahres 1783 unseres Herrn riss die Erdkruste am Skaftárjökull westlich des mächtigen Vatnajökull, sodass die nahe liegenden Siedlungen von glühenden Lavaschlämmen überschwemmt wurden, und aus der Feuerwunde schoss ein Sturm aus Bimsstein und Asche, der die Sonne verfinsterte. Die flammenden Zungen streckten sich hoch in den Himmel, und es wird gesagt, dass man das Feuer schon sechs oder sieben Tagesreisen weit sehen konnte, obwohl alles von Aschedunst durchdrungen war. Und weil der Ausbruch die Luft mit glühender Asche erfüllte, wurde dieses Ereignis von allen die »Not des Dunstes« genannt. Eine andere Besonderheit war die beispiellose Dauer des Vulkanausbruchs, die Erde setzte fast ein Jahr lang fort, Feuer und Asche zu speien, sodass mit der Zeit viele glaubten, das Feuer würde niemals erlöschen.

Gelber Schneeharsch und eine kupferfarbene Kruste legten sich über das Land und hemmten in den südlichen Bezirken weithin den Graswuchs, im Osten kämpften die Menschen mit Feuer und Steinschlag, während im Nordland bei vorherrschenden Südwinden Bimsstein und Asche niedergingen und den Pflanzenwuchs erstickten; die Menschen gingen in Rauch gehüllt. In den nächsten Jahreszeiten blieb die Witterung kalt, der Sonnenschein schwarz, wie es in einem alten Gedicht heißt.

Und doch war es nicht so, dass ein solcher Vulkanausbruch hierzulande noch nie dagewesen wäre – als die Katastrophe begann, murmelten die Leute viel eher die verwunderte Frage vor sich hin, ob es nun auch »dort zu brennen begonnen hätte«. Denn Anfang dieses selben Jahrhunderts hatte es so gewaltige Vulkanausbrüche in den Grímsvötn, dann in den Ostgletschern gegeben, dass die Erde schwarzen Sand über die Þingeyjarsýsla und den Eyjafjörður spie mit Wetterdunkel und Krachen. Vier Jahre später kam es zu gewaltigen Eruptionen am Gletscherschlund der Katlaspalte mit Ascheschwaden, dichtem Rauch, Feuerdämpfen und einer gewaltigen Wasserflut über den Mýrdalssandur, die großen Schaden und Not brachten. Drei Jahre danach brach die Krabla aus, wie man sie damals schrieb, der Mývatn trocknete fast vollständig aus, und lange dauerte das Wüten des Feuers an, sei es in der Krabla, dem Leirhnjúkur oder im Bjarnarflag.

Und während dies geschah, barst auch der Öræfajökull mit entsetzlicher Heftigkeit, sodass Gletscherblöcke, kleinen Bergen gleich, über das Unterland rollten, gefolgt vom Speien glühender Asche. Diese Heimsuchungen setzten in der Mitte des Jahrhunderts erneut ein, als der Mýrdalsjökull mit gewaltigen Überschwemmungen eiskalten Wassers und Giftgaswolken aus dem Maul der Katla abermals explodierte. Dem folgten Erschütterungen, ein Bersten der Erde, Landbeben und loderndes Feuer aus einer Spalte, aus der glühende Steine auf die Bezirke ringsherum herniederschlugen. Zehn Jahre später, genauer 1766, begann dann die Hekla zu brennen und es ging wie mit der Katla – Ländereien mussten aufgegeben werden, Mensch und Vieh fielen auf der bimsstaubbedeckten Erde tot nieder, sobald der Berg kleine Wolken ausstieß, die Sonne schien blutrot durch den Staub und die aschegeschwängerte Nebelluft. Der Schaden war am ärgsten in den Bezirken Húnavatnssýsla und Skagafjarðarsýsla, denn dorthin trug der Südwind den meisten Aschenregen. Draußen vor Reykjanes begann es im selben Jahr auch zu brennen und eine Zeit der Not hob an. Da wölbte sich eine Insel aus dem Meer, die unser König Christian VII ohne Umschweife Nýey, neue Insel, taufte. Es ist ein königlicher Beschluss erhalten, in dem Kammerherr Levetzow und Magnús Stephensen aufgefordert werden, eine Landung zu versuchen und »dem König die Insel zuzueignen«, aber das war unmöglich wegen der andauernden Lavaeruptionen, und so bleibt es das einzige Beispiel dafür, dass ein Dänenkönig sein Hoheitsgebiet ohne den geringsten Krieg vergrößerte. Einige Zeit später brachen die bereits erwähnten Skaftárfeuer aus. Man wunderte sich weithin, dass »es auch dort zu brennen begonnen hätte« – aber was niemand im Vorhinein ahnen konnte, waren Ausmaß und Dauer dieser Naturkatastrophe, die alle früheren in den Schatten stellte.

Man darf auch nicht glauben, dass dieser Vulkanausbruch das einzige Übel gewesen wäre, das die Isländer in dieser Epoche heimgesucht hätte. Eher wäre die Redensart angebracht, dass ein Unglück selten allein kommt. Gewaltige Fluten wälzten sich bis zu fünfzehnhundert Klafter weit auf trockene, niedrig liegende Gebiete, Treibeis suchte das Land den Großteil des Winters über heim, und die Kälte war so klirrend, dass das Meer gefror – es wurde zum mare concretum, wie die Alten das Eismeer nannten. Die Leute gingen trockenen Fußes von Reykjavík direkt nach Akranes und genauso zwischen den Inseln im Breiðarfjörður umher. Das führte zu einem völligen Ausfall des Fischfangs von der September-Kreuzmesse 1783 weit bis ins nächste Jahr hinein, zusätzlich zu dem großen Viehsterben. Es gibt verblüffend genaue Aufzeichnungen der Wissenschaftler dieser Zeit über Bevölkerungsschwund und Viehtod. Grasmangel führte dazu, dass Pferde andere verendete Pferde fraßen, so wie auch Wände, Gebälk und das Bretterwerk aufgegebener Höfe, und die Schafe fraßen ihre Wolle – worauf sowohl die einen wie die anderen siech wurden und verreckten. Auch die Menschen aßen alte Pferdekadaver, wurden krank und starben, während die Rinder an Unterernährung und inneren Krankheiten oder verstopften Atemwegen eingingen. Mancherorts, wie etwa an der Skaftá, wird in der Lebensbeichte eines Pfarrers, der nicht aus dem Gebiet geflohen war, berichtet, dass in den Siedlungen die Leichen ohne Sarg in Massengräbern gestapelt wurden und man darüber Erde schaufelte.

Das nannte man Menschen einerden.

Die Zahlen sprechen für sich. Im Jahr 1784 wurde die Bevölkerung in Island um 4289 reduziert, die Pferde wurden um 28 000 weniger, das Rindvieh um 11 461, das Schafvieh um 190 488. Das sind beachtlich genaue Zahlen, und es ist höchst eindrucksvoll, wie viel wir angesichts des Ausmaßes der Katastrophe über den Tod und seine Opfer wissen.

Um das Maß der Zerstörung vollzumachen, grassierte eine der schlimmsten Pockenepidemien aller Zeiten, wie auch die Amöbenruhr, Skorbut, Mumps, und die Kleinkinder starben vor allem an Atemnot, Husten und Syphilis, Magenkrämpfen und Masern. Dazu kamen noch Rippenfellentzündungen als Folge der Pocken. Die Zahl der Leprakranken wuchs stark an, nach Meinung unseres Landesphysicus Bjarni Pálsson vor allem aus Unachtsamkeit und mangelnder Hygiene. All diese Plagen kamen mit ausländischen Schiffen in die Häfen des Landes; auch wenn deren Beladung viele vor dem Hungertod bewahrt hat, so töteten sie in Wirklichkeit noch mehr.

Man darf nicht vergessen, dass das gemeine Volk in seinem Elend schon im Jahr 1781 gezwungen war, von der Compagnie der Zinskammer billigere Gerste zu kaufen. Diese war verpflichtet, das sogenannte Notkorn zu liefern. Aber aus Hungerwahn und Nahrungsknappheit sowie aufgrund des allgemeinen Mangels an Aufklärung durch den Königlichen Handelsverein verabsäumten die Menschen, Grannen und Schalen der Gerste auszusieben und aßen das ganze Getreide, was in weiten Landstrichen zu Ruhr und Magenkrankheiten führte und die Menschen reihenweise niederstreckte. Zügelloser Genuss von Haifischfleisch tötete sodann viele im westlichen Teil des Landes und im Nordwesten – vor allem wegen des Mangels an Brennivín, des Schnapses, der ein zu dieser Speise notwendiger Trunk ist, vor allem wenn in Hungersnöten direkt von den Haufen Haifischfleisch, das in der Erde reift, gegessen wird. Zudem wurde die wenige Vegetation, die unter Asche und Bimsstaub des Jahres 1784 zu sprießen vermochte, von Würmern befallen, sodass die Birken abstarben. Obstbäume gingen ein. Versuche, Korn anzubauen, zeitigten keinen Erfolg, und niemand kümmerte sich um die Tabakbäume, die das einzige zu sein schienen, das sich in Asche und Rauch behauptete. Gestrandete Wale brachten nur kurze Erleichterung, denn die Kadaver heizen sich im Innern auf, wenn die Fäulnis einsetzt, die Gedärme explodieren, sodass Kot das Fleisch vergiftet, und so fielen den gestrandeten Walen manch gute Leute zum Opfer, die gedacht hatten, ihr Leben sei fürs Erste gerettet.

Während es die allgemeine Not und die Naturkatastrophen waren, die die meisten Armen und Nutzlosen dahinrafften, die hinfälligen Alten, unnötiges Drecksgesindel, Gierschlunde und Kranke, Rossfresser, Faulsäcke und Landstreicher, kümmerten sich die Seuchen um die besten Menschen in der Blüte ihrer Jugend, um Menschen, die am stärksten waren und die ärgsten Katastrophen überstanden hatten.

Leben war das keines.

Es war nicht möglich – zu leben.

Berichte über den Zustand unseres kleinen Landes erlangten Berühmtheit und wurden auch in jenen Ländern debattiert, die ebenfalls die Auswirkungen der dunklen Aschewolke spürten, die sich von Sibirien bis Alaska über die nördliche Hemisphäre gelegt hatte und gen Süden bis Italien, wo die Weintrauben in der Kälte nicht zu reifen vermochten. Von den allgemeinen Ernteausfällen auf der nördlichen Halbkugel behaupten manche, sie seien der Ursprung großer Revolutionen gewesen.

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Die Menschen waren sich nicht einig, ob hier Gott oder der Teufel am Werk sei, oder ob es sich vielleicht gar um deren Zusammenarbeit handle, als hätte der eine beschlossen, wegen der schlechten Lebensführung der Menschen die Segel der Gnade zu streichen und dem anderen so die Gelegenheit zu geben, sich nach Lust und Laune auszutoben. Dennoch meldeten sich jetzt auch Leute zu Wort, die meinten, dass weder der eine noch der andere dahinterstehe – Männer, die schrieben, dass Kirchen, die davongeweht worden oder unter der Lava verschwunden waren, »unnötig« gewesen seien, und die diese Zerstörung nicht betrauerten. Das waren die Männer der neuen Zeit, die wie ein frischer Wind durch unseren Teil der Welt brauste, es war der neue Mensch, der die Natur mit der harten Hand der Wissenschaft besiegen und mit seinem Verstand und seinem Einblick in die Gesetze von Gottes Räder werk zähmen wollte. Alles konnte man messen, verstehen und in passenden Paradigmen ordnen, und wenn jedem Ding die richtige Nische zugewiesen war, dann bestand, wie der große Wissenschaftsrevolutionär Descartes lehrte, die Aufgabe der Wissenschaft darin, das Wesen des Dings an sich zu erforschen, allderings nicht mehr in Verbindung mit anderen Dingen, denn die überlieferte »Signaturenlehre« wurde jetzt als veralteter Mönchsirrtum bezeichnet. Ihr hingen jene an, die nach den Zeichen Gottes in der Schöpfung suchten, die Gesetze dahinter aber nicht verstanden und Mittel gegen Kopfschmerzen aus Walnüssen herstellten, weil diese dem menschlichen Gehirn ähnelten. Nichts sollten die Menschen glauben, bevor es nicht empirisch nachgewiesen war, sie sollten alles Alte anzweifeln, dem die Leute bisher gedankenlos gefolgt waren. Die neuen Menschen meinten, dass die, die nicht dachten oder zweifelten, nicht existierten.

Diese neuen Menschen sagten: Es ist weder Gott noch der Teufel am Werk, sondern die Katastrophen einer blinden Natur! Vulkanologen sagten, die Welt werde durch innere Spannung aufgerissen und die Lavaströme schössen daher wie Blut aus einer tiefen Wunde, tief darunter sei einzig lodernder Magmaschlamm. Auf der Hekla gäbe es keinen Höllenschlund, sondern ein Loch hinab bis eben zu diesem Feuer, das dort lebte und durch die Schründe der Erdkruste ausbrach. Das seien Natur und Gesetz der Erde, deren blinde Kräfte keinen Unterschied machten zwischen den Menschen. Oder wie sollte man erklären, dass Unserer Lieben Frau Kirche in Kopenhagen bis auf die Grundmauern abbrannte, während das Hurenhaus unversehrt danebenstand? Armut und Übel waren Schuld des Menschen selbst, Katastrophen die einer blinden Natur. Gott hatte mit diesen Dingen nichts zu tun.

Wo war ich noch einmal?

Ja, doch, es schien in diesen Tagen, als sei das Leben, um es geradeheraus zu sagen, nicht möglich. Und es waren nicht nur die Isländer selbst, die sich dessen bewusst waren, auch andere hatten über gewisse Vorkehrungen nachzudenken begonnen, damit die Einwohner des Landes nicht für immer ausgelöscht würden.

II.

Pferdekutschen rattern geräuschvoll, jede aus ihrer Richtung, über gepflasterte Straßen zum Schloss Christiansborg, Kopenhagen. Die Stadt ist zur Abwehr gegen die Schweden von mächtigen Wällen und Kanälen umgeben, die sich wie Bordüren und Posamenten auf den Gewändern der Menschen schlängeln. Manche der Wägen kommen vom Westtor dieses Walls, dem sogenannten Vesterport, andere von den anderen Toren. Als sie an den fein herausgeputzten Freudenmädchen vorbeirasen, die unter den hohen, aus dem Schloss herausragenden Arkaden elegant gekleidete Männer charmieren, erinnern die Kutschen an Drachen, wenn bei Nieselregen die Sicht schlecht ist. Dort hängen Lebertranlaternen wie Sonnen im Nebel, grau an den Rändern, und die Hufschläge hallen in den Gängen wider.

Die meisten Männer haben während der Fahrt ihre Perücken abgenommen und entweder auf ihren Schoß gelegt oder an einen Haken im Wagenfond gehängt. Sie beginnen mit dem Aufsetzen ihrer Haarpracht erst, wenn das Gefährt in die Slotsholmsgade einbiegt. Entlang der Straße verläuft ein Wassergraben, der zum Schlossplatz vor Christiansborg hin, dem kleinen Viereck vor dem rötlichen Gebäude mit dem gewaltigen Relief über seinem Eingang, breiter wird. Christian IV. thront in der Mitte des Reliefs, umgeben von Waffen und Flaggen, Ankern, Tonnen und allem möglichen Plunder. Dies ist das berühmte Kanzleigebäude, worin sich die Königliche Zinskammer befindet.

Die Perücken sind so umfangreich geworden, dass die Beamten sie sich bei jeder Gelegenheit vom Kopf reißen, sobald sie nicht in der Öffentlichkeit sind, denn man schwitzt darin, und außerdem nisten sich mehr denn je Läuse und Flöhe ein, denn die Zeit der weißen Perücken ist angebrochen, mit dazugehöriger Puderung und dem Dressieren von Mehl und Kalk auf dem talggefetteten Haar.

Zitrusblütenduft und Lavendelgeruch steigen auf, wenn dieser Lebensraum, den eine Haarperücke darstellt, in Bewegung gerät. Die meisten tragen eine große Perruque de Campagne mit einem Schwall kolossaler Locken von der Stirn bis in den Rücken, oben zur Schmalzwelle frisiert und hinten zum Schweineschwanz gebunden, der bis zur Hüfte reicht. Die letzte Phase der Perücke dräut, und wenn sich etwas dem Ende zuneigt, wird es gern übertrieben, die Perruque de Campagne ist ein gutes Beispiel dafür.

Andere, insbesondere die Jüngeren, widert der Aufputz an und sie sind zu einer Mischung aus Haar und Perücke übergegangen, dem Toupee, wie es in Kopenhagen heißt, denn das meiste, was Mode, Theater, Künste, Wissenschaften oder Literatur betrifft, wird mit französischen Wörtern bezeichnet. Briefe beginnen mit monfrere oder amice, und die Epoche wird von jener geldschweren Kaufleute-Elite, die es genießt, sich in affigem Putz auf den Straßen und Plätzen der Stadt zu zeigen, florissante, blühend, genannt. Die Männer beginnen zumeist damit, sich den Perückenpuder von der Hose zu klopfen, wenn sie vor der Treppe aus dem Wagen steigen.

Sie fangen an, sich über die Witterung zu beschweren, über die beispiellose Kälte, eine Klage, in die so gut wie alle Europäer einstimmen könnten. Der Überzieherbedienstete nimmt Talare, Mäntel, Umhänge und Paletots in Empfang, aus denen sich die Männer wuchten. Gespräche kommen im Foyer in Gang, die Männer blicken weder auf die Rokokomalereien, die das Tor schmücken, noch auf die Skulpturen der Trinkhörner Christians VI., aus denen Goldstücke quellen. Es gibt so vieles zu besprechen. Die Männer lassen sich an Marmortischen mit vergoldeten Füßen nieder, ein Lakai steht mit Gewürzwein auf einem Tablett bereit. Einige diskutieren die Idee der Franzosen, von der neulich im Abendblatt berichtet wurde, Hunderte ausgehungerter Wölfe auf den britischen Inseln auszusetzen, um sie einen großen Teil der Bevölkerung fressen zu lassen.

Es würde sicher verschiedenes in unserem Interesse Stehendes verändern, wenn dies geschähe. Die Männer nicken. Gewürzwein. Laute Stimmen ertönen von einem der Tische, so störend, dass die anderen ihr Geplauder unterbrechen. Ein Artikel in den Kopenhagener Post-Nachrichten vom Vortag hat eine heftige Debatte ausgelöst. Dort wurde ein Auszug aus den Schriften des Naturwissenschaftlers de Buffon ins Dänische übersetzt, worin behauptet wird, die Erde sei 168 000 Jahre alt! Was, wenn sich dieser Irrglaube im gemeinen Volk verbreitete! Wie die Pest! Was käme als nächstes?

Bis jetzt war die Erde in einer Woche erschaffen worden, zweifellos inklusive Wochenende, und dies vor gerade dreitausendfünfhundert Jahren. Walknochen, die man auf einem Berg in Norwegen gefunden hatte, warfen ebenfalls Fragen auf, auf die es keine einstimmigen Antworten gab. Manche wollten diesen Fund als Zeichen deuten, dass die Welt älter als dreitausend Jahre sei, da die Auffaltung des Landes so langsam vonstattenging. Andere hielten an der Heiligen Schrift fest und fanden in dem bewussten Beispiel empirische Beweise für die Sintflut, der Wal war selbstverständlich eben über dem Berg geschwommen, als Gott das Wasser abdrehte und es zurückwich.

Es kann sein, dass unsere Heilige Schrift nicht wortwörtlich zu nehmen ist, wenn sie von Tagen spricht, sagt ein Mann mit spitzer Nase, hoher Stirn, roten Wangen und Kinnfurche. Und wenn zehntausend Jahre in einem Tag wären, dann ist das Alter der Erde nach de Buffon nicht so weit entfernt. Es ist der junge ehrgeizige Reventlow, die Älteren quittieren dies mit Murren und Stöhnen.

Ein Mann gesetzten Alters, mit Dreifachkinn unter dem kugeligen Kopf und mit mächtiger Perücke, antwortet mit heiserer Stimme: Und dann? Was kommt als Nächstes? Daran zweifeln, dass Gott existiert? Dass der Auszug Mose ins Verheißene Land ein Märchen ist und die Speisung des Volkes mit zwei Fischen durch unseren Herrn Jesus Christus eine reine Volkssage? Gäbe es nicht überall diese Liederlichkeit, hätte man diesen Gotteslästerer de Buffon längst wie den Dominikanermönch da verbrannt, wie hieß er doch gleich …?

Du meinst Bruno, sagt der Dritte, ein Mann mittleren Alters mit tiefer, gelassener Stimme und einer gewissen Ausstrahlung. Die Stickerei, die seine lange Jacke ziert, ist so gewaltig, dass es wohl Monate gebraucht hat, sie zu fertigen.

Die Gruppe im Foyer der Königlichen Kanzlei bricht nun auf, man geht durch den schwarzweiß gekachelten Flur, vorbei an den Büros der Deutschen Kanzlei und anderer bedeutender Institutionen des Dänischen Reichs, hier wird das Schicksal der Völker entschieden – ein Machtspiel auf dem Schachbrett. Am Ende des Ganges, nachdem sie das Gemach der Geliebten Seiner Majestät passiert hat und schließlich durch den geschnitzten Türstock ihr Entrée im Kollegiumssaal der Königlichen Zinskammer macht, ist die Gruppe immer noch ins Gespräch vertieft.

Beim Eintreten verneigen sich die meisten ein wenig vor dem Gemälde, das dort am Eingang an der Wand hängt. Es ist ihr höchster Herrscher: König Christian VII. Man kann sagen, dass einige verhalten grinsen oder sogar sanft durch die Nase seufzen, während sie den Kopf neigen. Auf den Straßen und Plätzen wird darüber geredet, dass der König in letzter Zeit miserabel geworden sei. Manche meinen, er sei schlicht und einfach dabei, sich in ein Tier zu verwandeln. Es gehe mit ihm bergab, seit Struensee wegen seiner Affäre mit der Königin enthauptet wurde. Er sei viel zu arg hinter dem weiblichen Geschlecht her und halte weder darin noch im Trinken Maß, und solches sei eines Königs unwürdig. Aus der Kanzlei hat man gehört, dass manche eine Gesetzesänderung befürworten, um ihn seiner Verpflichtungen zu entbinden und den jungen Kronprinzen Frederik an seiner statt einzusetzen.

Wir, die wir von weniger eleganten Orten stammen, können es nicht lassen, in diesem Saal so viel Schönes zu bewundern, auch wenn die Männer es nicht mehr sehen. Französisch inspirierte Gipsstuckatur in drückendem Barockstil breitet sich in den Ecken aus, mit Flügeln und Weintrauben. Die Decke ist in starken Farben gemalt, es ist die göttliche Vorsehung, dargestellt als vollbusige Frau aus dem Volke, die zuoberst thront und auf einem blauen Ball sitzt, der Weltkugel, umkränzt von weißen Wolken, und es wimmelt von dicken, weißhäutigen Putten, die aus den Wolken stieben. Darunter sieht man viele Frauen, sogar ein völlig nacktes Frauenzimmer, das die Liebe symbolisiert, aber am unteren Rand des Bildes befindet sich Kronos, der ein kleines Kind frisst, er hat dessen Hand tief in seinem Mund – die Zeit frisst ihre Kinder.

Wir wenden unsere Aufmerksamkeit zwei Männern zu, die ein wenig abseits der dänischen Herren stehen, an dem großen Kachelofen in der Ecke des Saales. Sie scheinen sich in einer anderen Sprache zu unterhalten als die Herren, wenngleich nicht frei von Wortfetzen in Latein, Dänisch und Französisch. Der eine der beiden steht kerzengerade und hell, mit roten Wangen wie ein Knabe, mit gelocktem Haar, einem weißen Seidentuch um den Hals und geklöppelter Hemdbrust, in einem eleganten Samtjackett, dessen Muster sich wie ein Relief von dem Stoff abhebt.

Der andere. Nichts ist wahrscheinlicher, als dass er sich dafür schämt, so groß zu sein, er steht ganz gekrümmt da. Weite, gaffende Ärmel an den Jacken der Männer, aufgestreckt an den Säumen und aufwendig bestickt. An der Haltung des großen Mannes mit den gesenkten Schultern, dem kleinen Buckel und der eingefallenen Brust kann man sehen, dass er ein unglücklicher Mann ist. Sein Antlitz ist weit jünger als der Körper, auch wenn in dem eingefallenen Gesicht dunkle Ringe die schwarzen Augen umgeben. Mager ist er wie ein Fisch. Er schaut den jungen, hellen Seidentuchmann an. An den Schläfen ist er grau geworden, grau auch die Haut, dennoch hat er nicht das Gesicht eines Alten – auch wenn solche Behauptung nicht bewiesen werden kann. Manches kann nicht bewiesen werden, so wie Intuition oder Gefühl – dieses Zeug ist nicht in Mode. Die beiden stehen an dem großen Kachelofen, sprechen leiser.

Als alle in den Saal gegangen sind, erblicken sie zwei lange Tafeln, die vor dem Rednerpult aus dunkler Eiche stehen, der Saal selbst ist holzvertäfelt bis zur mittleren Höhe der gekalkten Wand und Damast schmückt die Stühle und auch die Fenster. Noch mehr Herrscher mit Perücke prangen an der Wand, manche in grellen Farben gemalt, mit weiß gepuderten Wangen, roten Lippen, einem Muttermal auf dem Backenknochen. Das sind ältere Könige, wie Frederik der Dritte, der buchverliebte Antiquitätensammler, dann Christian der Dritte, der in Island den Lutherglauben und das Große Gericht einführte, Letzteres um zu erproben, ob strenge Zucht und Strafe wohl die Hurerei mindern und die Tugenden mehren könnten. Die harten Strafen scheinen den gegenteiligen Effekt gehabt zu haben, sie brachten wenig anderes hervor als einen ansehnlichen Anstieg der Zahl ertränkter isländischer Frauen und der Antlitze ausgesetzter Neugeborener am Fenster in Schlafliedern – aber jetzt schweifen wir ab. Wir waren dabei, die Versammlung in der Königlichen Zinskammer in der Dänischen Kanzlei in Kopenhagen im Winter 1784 zu schildern.

Herr Kammerherr Levetzow betritt das Rednerpult. Er ist gerade von einer langen Reise nach Island zurückgekehrt, wo er unter anderem in einem Zelt nahe dem Vulkanfeuer im Osten weilte. Er spricht mit großem Gestus und lauter Stimme nach der Art eines Mächtigen. Seine Nase ist nach vornhin platt, eine Entennasenform nennt man das, und der Ehrfurcht gebietende Backenbart reicht bis unter das Kinn und umrahmt sein Marzipangesicht. Er spricht mit Überzeugung und wälzt seine Wortgewalt gleichmäßig in Richtung einer wohlüberlegten Konklusion. Er spart mit Ausschmückungen und sein Latein ist knapp bemessen, was zeigt, dass er kein Gelehrter ist, auch wenn er dies aufgrund seiner Position sein sollte. Bald wird er Stiftamtmann sein, Gouverneur unseres kleinen Landes, wir zitieren aus seiner Rede:

62 000 Reichstaler, meine Herren, 62 000 Reichstaler, die unser König über der sogenannten neuen Gesellschaft von Skúli Magnússon, unserem Landvogt, ausgegossen hat – diese ganze Summe, um Manufacturen in Reykjavík aufzubauen, mit Färbereien und einer Walkmühle, und was hat es uns gebracht? Meine Herren, ich frage Sie: Wo ist jene Stofffabrik, die unserem König versprochen wurde und die den Isländern mehr Selbstständigkeit in ihrem Überlebenskampf geben sollte?

Der Mann mit dem eingefallenen Gesicht und den hängenden Schultern steht auf, jetzt kann man sehen, dass der Blick von lange schwelenden Sorgen verdunkelt ist, er spricht zurückhaltend, und die Kopenhagener hören, dass er von dieser feuerversengten Insel stammt, auch wenn ihn sein Vokabular nicht verrät. Die Perücke sitzt ein wenig schief und unvorteilhaft; ihm fehlt der Glanz des Adels. Der Mann wirft untertänigst ein, dass diese Gelder sich nicht in Luft aufgelöst haben, wie der hochwohlgeborene und allergnädigste Kammerherr dies andeute, das Vermögen sei bloß in mancherlei Hände innerhalb der Dänischen Compagnie und des königlichen Handels gelangt, da verschiedene Handelsbevollmächtigte hohe Instandsetzungskosten geltend gemacht hätten, 20 000 Taler gingen für die Fracht der Flottenadmiralität alleine drauf. Die Repräsentanten der Kopenhagener Krämervereinigung hätten das ganze Vorhaben mit Streit und Prozessen zerstört und die Überreste in die Hände der Handelsgesellschafter gelegt – es ist, als wollten sie gegen jeden Fortschritt ankämpfen …

Er wird von den Mitgliedern der Königlichen Zinskammer ausgebuht, eine Schlacht gelockter Perücken, ein menschliches Muhen, eine ganz andere Reaktion, als die Rede des Kammerherrn ausgelöst hat, der nun die Gelegenheit ergreift, fortzusetzen:

Hier wurde nur eines von hundert Beispielen genannt, Herr Erichsen, und du weißt genau wie ich, wie viel in diesem barbarischen Land hoch im Norden im Sand verlaufen ist, und wie oft sich an unserer Staatskasse vergriffen wurde – in den jüngsten und schwierigsten Zeiten, die Pflanzung von Obstbäumen für 5000 Reichstaler, alles eingegangen, Getreideanbau auf allen Feldern, der nicht eine Ähre hervorbrachte, die Gemüseanbaubroschüren und John Grimsen, der durch das ganze Land geschickt wurde, 4000, die Einfuhr feinwolliger Schafswidder um 7000 Reichstaler, auf die nichts anderers wartete als Tod durch Pestilenz, weil kein Isländer sich Gedanken über Schafskrankheiten machte …

Diesmal steht der Jüngere mit dem Seidenschal auf: Wenn ich den ehrwürdigsten Kammerherrn darauf hinweisen dürfte, dass es ein gewisser schwedischer Baron war, der diese Verbesserungen anleitete, seine Erlaucht Hastfer, der nicht aufpasste, dass die spanischen Schafswidder auf der Überfahrt nicht erkrankten, und dass auf seinen Befehl hundert Schafe zu diesen Widdern getrieben wurden – in diesem siechen und ansteckenden Zustand. Es waren die Repräsentanten der dänischen Handelsmarine, die meinen Landsleuten hierzu den Befehl gaben …

Versuchen Sie nicht, uns in die Irre zu führen, Herr Studiosus Stephensen! Wollen Sie jetzt uns Dänen die Schuld an der Schafspest geben? Der Mann am Rednerpult hat die Macht. Er sagt, dass alle Versuche des Aufbaus nichts als Schulden eingebracht hätten, alle Werke unseres gnädigen Königs hätten es nicht vermocht, die Arbeitsmoral unter den Menschen zu heben, die sich Diebstahl, Branntwein, Tabakgenuss und Faulheit hingäben, denn was hätte der Pöbel geantwortet, als er den Gemüseanbau lernen sollte und unser Abgesandter eigens dazu auf alle Höfe geschickt wurde? Sollen wir jetzt Gras fressen wie unser Vieh? Das war ihre Antwort in allen Landesteilen: Wir – Gras fressen wie unser Vieh! Und dann lachten die Leute ihren Lehrmeister aus!

Nein, nein, nein, das geht so nicht … hörte man die Männer murmeln.

Diese Dummheit und Ignoranz hat Tausende das Leben gekostet, denn hätten die Menschen Gemüsebeete gehabt in der Zeit der Hungersnot, wären sie gerettet gewesen. Und jetzt, meine Herren, nachdem die Erde in der Skaptafellsyssel entzweigerissen ist und Feuer und Asche sich nach allen Richtungen ausbreiten, wird das Durchhaltevermögen der Isländer nicht eben wachsen. Oder wie viele Tausende wurden etwa für Thoroddur und Olavius ausgegeben? Die Geografen wurden durch das ganze Land geschickt auf der Suche nach Holzkohleflözen, Porzellanerden und Bleivorkommen, die sie auch fanden, aber was dann?

Hunderte wäre richtiger, sagte der mit den eingefallenen Wangen.

Niemand tut etwas! Es werden keine Manufacturen etabliert, und unsere Leute bei der Compagnie wollen nicht das ganze Jahr über auf Island bleiben, weil sie, gemäß den mittelalterlichen isländischen Gesetzen, im Winter nicht ihrer Arbeit nachgehen dürfen, während die Isländer wegen ihrer angeborenen Antriebslosigkeit auf der faulen Haut liegen. Es ist gleichgültig, meine Herren, wo man den Fuß auf die Erde setzt, solange es keine gebildeten Menschen dort oben gibt, die dem Pöbel Halt und Zucht beibringen, und solange die Isländer ihre alten Gesetze nicht aufgeben, wird sich in diesem Land nie etwas zum Besseren wenden. Oder wie war es mit den Tabakbäumen, die tatsächlich überlebten? Niemand übernahm ihre Pflege oder kümmerte sich darum, sie von Asche zu befreien, und dennoch ist der Tabakkonsum des Volkes ums Dreifache angestiegen und ich habe so viele Tabakwütige gesehen, die zu keiner Arbeit taugten und auch nichts zu essen hatten. Die Leinsaat oder das Säen von Hanf – niemand tat es! Der Anbau von Erdäpfeln, die so viel wert sind wie Mehl – niemand rührt auch nur eine Hand, um sie anzupflanzen. Hunderte Kessel in alle Viertel des Landes verbracht, um das Pottaschebrennen zu lehren – die Leute verwenden die Kessel, um ihre Pferde daran festzubinden! Windmühlen hintransportiert – liegen noch immer in Kisten! Dieses ganze Volk ist hoffnungslos und schwach!

Der Kammerherr Levetzow zwirbelte seine Bartkoteletten, denn jetzt war er sehr aufgebracht. Und obwohl die Geldsendung unseres Königs, die der Bezirksvorsteher im Osten, wo der Vulkan tobt, verteilen sollte, versiegelt war, zerstörte ein schamloser Pfarrer, Pastor Steingrimsen, auf eigene Verantwortung das königliche heilige Sigillum und verteilte das Geld an alle möglichen Leute. Sogar die Geistlichen sind in diesem Land unverschämtes Diebsgesindel!

Oder die Kalkerzeugung, die man ihnen erklärt und für die man eigens Leute angestellt hatte – diese Leute wollen nicht folgen. Keine Züchtigung reicht aus, um sie zu bekehren. Es ist, als hätten sie nicht einmal Selbstachtung. Die Leinen-Manufacturen, die Leimproduktion, alles läuft auf dasselbe hinaus. Die Menschen in diesem Land pfeifen auf unser wohlmeinendes Bemühen und wollen keinen Erfolg zulassen. Die neue Sensenschleifmethode: Sie kommen und lernen, zu schleifen, und gehen dann zu sich nach Hause und machen nach ihrer alten Art weiter. Und die Sense wird stumpf!

Als die Funken seiner Rede verglüht waren, legte sich Innigkeit über den Kammerherrn Levetzow: Ehrenwerte hohe Herren. Große Katastrophen, große Katastrophen haben sich ereignet und diese Insel zu einer einzigen teufelsverbrannten Wohnstatt aus Feuer und Asche gemacht.

Menschen und Vieh fallen tot nieder, und wenn es früher schon schwierig war, den Bewohnern der Insel auf die Beine zu helfen, so ist es jetzt völlig undenkbar. Aus diesem Grunde und mit schwerem Herzen, aber aus nichts anderem als der Verpflichtung gegen die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, bitte ich um die Vollmacht zu einem Empfehlungsschreiben an unseren Herrn von höchsten Gnaden, Christian VII., das der Königlichen Kanzlei vorgelegt wird mit der Bitte um einen Königserlass, auf dass das sterbende Volk weggebracht werden dürfe von diesem unbewohnbaren Ort – nicht Hunderte, wie Bezirkshauptmann John Svendsen schreibt, nicht Tausende, wie wir vorhin besprochen haben, sondern 20 000 arbeitsfähige Menschen, die man dort immer noch finden kann. Ich bin überzeugt, dass sie hier in unserem Königreich ein besseres Leben erwartet und man sie zu ehrlicher Arbeit zwingen kann, ich weiß, dass viele von euch darunter wohl Arbeitskräfte für ihre Manufacturen finden könnten – gute und billige Arbeitskräfte stehen zur Verfügung, wenn die Züchtigung gelingt; auf dass ihr ihnen im Namen der Nächstenliebe, die wir unseren notleidenden Mitmenschen nicht vorenthalten dürfen, im Namen unseres Herrn Jesus Christus ehrliche Arbeit gebt. Unser Vorschlag ist bestrebt, das Elend und die Hilflosigkeit dieser Menschen zu beenden, und gleichzeitig die endlosen Geldzahlungen, die nichts in die Staatskasse zurückbringen, einzustellen, nachdem die Abgaben der dort tätigen Handelsgesellschaften in den Keller gefallen sind, da dort oben keine Waren mehr zu holen sind. Vulkane wüten im Osten der Insel seit eineinhalb Jahren, und es sieht nicht danach aus, als würden sie irgendwann erlöschen.

Diese Angelegenheit habe ich mit dem allergnädigsten Gouverneur Herrn Thodal besprochen, der den Plan mit ungeteiltem Wohlgefallen aufgenommen hat. Es haben ja auch die Engländer mit ihren Absiedlungen aus den unbewohnbaren Hochebenen Schottlands viele Menschen vor Hunger und Demütigung bewahrt und ihnen ehrenwerte Arbeitsplätze in den schönen, neuen Manufacturen in den Städten gegeben, womit sie Wohlstand von Land und Volk vergrößert haben und der Welt ein strahlendes Vorbild sind …

Die beiden Isländer, der Konferenzrat Jón Eiríksson und Magnús Stephensen, derzeit Student, aber bald königlicher Sekretär und Assessor, blicken einander an und lächeln gequält. Man kann die Schweißperlen, die unter der dicken Perücke hervorquellen, von Jóns Stirn über die Schläfen rollen sehen, so lange, bis die Mitglieder der Königlichen Zinskammer gemeinsam mit den Abgeordneten der Westindischen Gesellschaft bei Levetzows Rede so heftig applaudieren, dass die beiden erbleichen und eine unerklärliche Scham sich in ihnen ausbreitet. Warum oder woher diese Scham über sie kommt, ist unbegreiflich. Und dennoch ist sie greifbar.

Jón Eiríksson, der Graue, erhebt sich von seinem Stuhl, sein Blick ist stechend. Er fragt: Was wird aus jenen, die zum Dienst nicht taugen? Wer soll sie retten? Macht sich der Herr Kammerherr keine Vorstellung von der Verdoppelung des Schadens, wenn er die jungen und arbeitsfähigen Menschen aus dem Land abzieht? Dass dies die Zerstörung des Landes endgültig besiegeln wird?

Unter den Männern wird es laut. »Hvad med at flytte alle sammen!«, hört man im Chaos – warum nicht alle miteinander übersiedeln!, doch ein anderer weist darauf hin, dass in Kopenhagen jetzt schon gut 90 000 leben, es sei kein Platz für mehr Menschen, der Schutzwall, der gebaut wurde, als die Einwohner 50 000 an der Zahl waren, quetsche sie schon jetzt zusammen, ein anderer merkt an, dass in Jütland genug Platz sei, und was ist mit Norwegen? »Finnmark! Flytte dem til Finnmark!« – übersiedelt sie nach Finnmark!, ertönt die Stimme des Mannes am Fenster. Sie werden sowieso alle sterben! Das Feuer hört niemals auf! Ein paar versuchen, an das Rednerpult zu treten, aber jetzt sind es zu viele, die das Wort ergreifen wollen und schreien, und keine königliche Regel gebietet dem Wirrwarr Einhalt; diesen aufgeklärten Männern, die mit allen Wassern der neuesten Wissenschaft und der Vernunft gewaschen sind. Es gelingt ihnen nicht, zu verstehen, was den Mitgliedern der Königlichen Zinskammer den Verstand raubt und sie dazu bringt, herumzubrüllen wie Kinder. Es ist eine alte Tradition, am Schluss im Chaos zu versinken – niemand weiß warum, vielleicht sind die Leute vom Gewürzwein betrunken oder müde und drücken ihren Missmut auf diese Art aus, aber so ist es meistens, wenn über Island debattiert wird, und so ist es immer schon gewesen. Kann sein, dass die Männer an Barbarei denken, wenn die Sprache auf Island kommt, und sie sich daher weniger zivilisiert benehmen, herumschreien oder gierig werden.

Aber bevor die Sitzung aufgehoben wird, gelingt die Einigung: dass die Zinskammer das Ersuchen des Kammerherrn Levetzow an die Hofkanzlei unterschreibt, worin um einen Königserlass gebeten wird, der diese Rettungsmaßnahmen und die Übersiedlung nach dem Willen der allerhöchsten Majestät anordnet. Die Perücken werden im Foyer abgenommen, die Männer juckt es bereits und sie sind glücklich, wenn sie die verlausten Monstren vom Kopf nehmen können. Danach geht es hinaus zu den Pferdekutschen, die die Mächtigen über gepflasterte Straßen mit Hufdonnern und Quietschen fahren – sie verschwinden in dasselbe Grau hinein und werden wieder zu den Drachen, die sie vorher waren.

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Die beiden Isländer reden miteinander, als sie auf dem Schlossplatz vor Christiansborg nach einer Pferdekutsche Ausschau halten. Beide wollen Vogt Skúli beistehen, wenn er zu der Forderung des hitzigen Kammerherrn Stellung beziehen muss, es wird wohl umgehend eine Anhörung geben, sobald die königliche Behörde den Brief Levetzows empfangen hat. Sie wollen sich gleich am nächsten Morgen mit Skúli besprechen, der Gott sei Dank gerade in Kopenhagen weilt.

Ich bin es müde geworden, zu kämpfen.

Der Konferenzrat Jón Eiríksson nimmt seine Perücke ab und stöhnt, als sie im Wagen Platz nehmen. Er blickt mit leeren Augen auf den Kanal neben der schmutzigen, kopfsteingepflasterten Straße, der an dem Wagen vorbeizieht. Es hat zu regnen begonnen.

Das wird vielleicht das Ende unseres Kampfes sein, murmelt er geistesabwesend aus dem Fenster – für nichts haben wir gekämpft. Stephensen legt die Hand auf seine Schulter und wartet, bis ihm Konferenzrat Jón in die Augen schaut. Aber der Konferenzrat hat vor Langem aufgehört, Augenkontakt zu anderen Menschen zu suchen, da darin nichts zu finden ist:

Wir dürfen es nicht zulassen, Jón – wir werden mit den Argumenten aufgeklärter Menschen auftreten, und intelligente Menschen werden zuhören und verstehen. Es darf niemals geschehen!

Konferenzrat Jón wendet seine Augen von dem jungen Mann ab, er spricht wie in Trance, so als glaube er nicht, dass das Ohr der Welt noch zuhöre, weil er selbst seit Langem aufgehört hat, zu diesem Ohr zu sprechen – und wenn, dann nur mit leiser Stimme.

Du bist nur ein Kind, Magnús. Vernunft und Wissen haben keine Stimme, wenn es um die Begierden des Menschen geht – oder wann hast du je einen Mann getroffen, der einzig von der Vernunft geleitet ist?

Keine Antwort.

Tatsache ist, dass die Dänen seit Beginn der Vulkanausbrüche an der Skaftá mehr Briefe über die isländischen Falken als über das isländische Volk geschrieben haben. Der König hat solche Angst, seine Jagdfalken nicht zu bekommen, wenn auf Island eine Naturkatastrophe wütet. Das Falkenschiff, das im Frühjahr fährt, wird mit Rindern beladen sein. Diese sind Futter für die Falken, die man hierher nach Kopenhagen bringt, nicht Nahrung für die Menschen.

Der Graue stöhnt: Levetzow sprach mit solcher Vehemenz von all den misslungenen Unternehmungen auf Island. Er erwähnte jedoch nicht, dass er selbst über tausend Reichstaler an Verpflegungsspesen für die Tage auf Island letztes Frühjahr bezog. Mehr als Olavius, Thoroddur und Magnús Arason zusammen. Dreimal mehr, als für die Wiedererrichtung der Höfe nach dem Vulkanbrand zur Verfügung steht. Es wohnt eine unergründliche Begierde in ihren Herzen, schwarz und zähflüssig, die keine menschliche Macht zu bekämpfen vermag, und ich bin am Ende meiner Kräfte …

Jón stöhnt, nimmt dann den Satz auf wie einen Hut, der zu Boden gefallen ist: … jetzt schwinden die Kräfte, denn der Allmächtige Gott kann nichts mehr tun.

Die Kutsche wird langsamer, sie kommen an den Rand einer Menschenversammlung auf dem Nytorv-Platz, wo eine der Huren der Stadt an einem Pfahl ausgepeitscht wird, bis die Haut abgeht.

Der Junge sagt: Gott ist ein universaler primus motor, der das Uhrwerk der Welt aufgezogen hat. Aber der große Uhrmacher muss an vieles denken und kann sich um den Gang der Welt nicht kümmern. Ich glaube an die Vernunft und die Bildung, sie sind das Licht, das in seinem Namen zu verbreiten unsere Aufgabe ist. Die Kirche ist korrupt und wir brauchen ihr Sündengeschrei und die Demütigungspsalmen nicht mehr. Die Vernunft wird nicht zulassen, dass unser Volk zur Sklaverei in dänischen Manufacturen verschifft wird. Es würde einem Menschenraub gleichkommen, der den Raub der Türken, die vierhundert unserer Landsleute nach Nordafrika verschleppten, um vieles überträfe – ja, der Türkenraub wäre im Vergleich dazu ein harmloses Abenteuer!

Es wird nicht geschehen, sage ich, wiederholt Stephensen, er hat den Eindruck, sein Gegenüber mit Worten nicht zu erreichen.

Aber es ist so, als habe der Konferenzrat sowohl gehört als auch nicht gehört, vielleicht hat der Mund der Welt aufgehört, Sinnvolles zu sprechen, und warum dann zuhören? Er setzt fort:

Ich habe meinen Gott gefragt und mein Gott hat gesprochen: Für nichts hast du gelebt. Während dein Volk verhungert, stattest du eine Expedition nach Grönland aus, die Tausende Reichstaler kosten wird. Diese Summe hätte die Hälfte vor dem Hungertod bewahrt …

Dein Gott ist ein strenger Gott, antwortet der andere.

Und unvernünftig.

Nichts konnte ich bewirken und niemand wollte mich hören, als die verdammten Krämer der Handelscompagnie, diese seelenlosen Tiere, uns in der Hungersnot 1750 keine Lebensmittel brachten. Da gingen achttausend unserer Landsleute in den Hungertod, während ich von einem Obersten zum nächsten eilte und Schweinslenden aß und französischen Clairet trank, es dauerte über ein Jahr – bis das Handelsabkommen endlich gekündigt wurde …

Konferenzrat Jón Eiríksson setzt nach kurzer Pause fort: Ich erhielt einen Brief meines Stiefbruders in der Suðursveit. Er fragte an, ob ich ihm ein Fass Mehl senden könne, denn all sein Vieh war an Hunger verendet und das Pferd aufgegessen. Das war letzten Herbst zur Tag-und-Nacht-Gleiche, und die Winterkälte näherte sich unaufhaltsam. Die Kinder hätten aufgehört, das Bett zu verlassen, schrieb er, sie lägen oder säßen im Bett in der Stube mit hungerhohlen Augen. Die Jüngsten weinten nicht mehr. Er beschrieb sie so detailreich, dass es mich tief erschütterte. Er konnte ihnen nichts geben, die Ehefrau war seit Anfang des Sommers tot, gestorben an der Schwindsucht. Ich konnte bei einem dänischen Kaufmann in Hafnarfjörður vorauszahlen, der einen Mann mit einem Pferd, beladen mit Mehl und gesäuertem Fleisch, aussandte. Ich bekam jetzt, im letzten Wintermonat, Antwort …

Er verstummte. Seine schwarzen Augen blickten nach innen, der Mund begann zu zucken. Der Konferenzrat stöhnte mit großer Anstrengung hervor:

Mein Gott hat gesprochen … Niemanden habe ich retten können und bin weder meine Position noch meinen Talar wert. Pastor Jón Steingrímsson in Skaftáfell hat Menschen gerettet. Sie von ihren Krankheiten befreit und hunderte Seehunde im Netz gefangen, wodurch er seine Gemeinde vor dem Hungertod bewahrt hat. Ich habe nichts geleistet …

Der jüngere Mann mit dem Seidentuch hat kein Glühen mehr in den Augen. Die Verzweiflung des Konferenzrats hat sich wie Ruß auf seine Seele gelegt. Er verstummt und blickt auch durch das Fenster des Wagens. So fahren sie eine Weile dahin, bis sie auf die schlammigen Straßen der Vorstadt kommen, wo das Quietschen der Wagenräder aufhört und die Kutsche nicht mehr länger über Kopfsteinpflaster rumpelt.

Du bekommst nicht genug Ruhe, sagt er schließlich zu dem Lebensmüden.

Wer kann schon schlafen, wenn einen die Hungeraugen eines Kindes aus jedem Winkel anstarren? Da kommt man nicht zur Ruhe.

Magnús musterte den Mann ihm gegenüber. Er war Professor, hatte jahrzehntelang Bücher verlegt, die Isländersagas und andere altnordische Texte herausgegeben, ausführliche Vorworte geschrieben und sich der Edition wichtiger wissenschaftlicher Schriften über Island angenommen, jene von Eggert und Bjarni, die berühmte Reise durch Island, er hatte sie auf vielfache Art verbessert, war Leiter der Königlichen Bibliothek gewesen und hatte alles kategorisiert und katalogisiert, hatte die Lebensbeichte von Tormod Torfæus geschrieben, das Reisebuch von Olavius herausgebracht et cetera. Er war lange Vorsitzender der Isländischen Literaturgesellschaft gewesen, Mitglied der Dänischen wissenschaftlichen Gesellschaft, Justizrat und Etatsrat, später Konferenzrat in isländischen, färöischen und grönländischen Angelegenheiten. Dieser Mann, den ich ansehe, durchfährt es Stephensen, ist der fleischgewordene Kampf für eine bessere Behandlung der Isländer und anderer Kolonialvölker durch die Dänen. Er ist es, der durchsetzte, dass die übelsten Handelsgesellschaften, die in Zeiten des Hungers den Isländern das Notkorn verweigerten, ihre Islandlizenz verloren.

Wir sollten eine Büste von ihm anfertigen lassen, solange er noch lebt, denkt Magnús, während er beobachtet, wie der Schein der Tranlaternen von der Straße die Bartkoteletten des graubleichen Mannes im Wagen beleuchtet. Die Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst könnte sie finanzieren. Der Lebertran, der früher aus Island kam, denkt er plötzlich in die Büstenüberlegung hinein – so zeigt sich die Katastrophe: Das Lebertranschiff fährt nicht mehr nach Island, die Dänen kaufen ihren Lebertran anderswo. Oder hat irgendjemand ihm gedankt? Soll ich ihm danken? Diesem schwermütigen Professor. Diesem wertlosen Mann?

Disposition til tungsindighed