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Konrad Kramar

Neue Grenzen,
offene Rechnungen

Eine Reise durch Europa und
seine unbewältigte Geschichte

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Salzburg – Wien

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Umschlaggestaltung: Thomas Kussin / Buero 8

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4611 8

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3482 5

»Man kann die Geschichte nicht überspringen.
Man kann sie nur vollziehen. Wenn man ein Kapitel
überspringt, fängt sie einen mit Gewalt wieder ein.«

GIWI MARGWELASCHWILI

Inhalt

Auschwitz, und ein Gedanke …

Einleitung: Unsere Geschichte, ihre Geschichte, wessen Geschichte?

Der Balkan: Exerzierplatz des Nationalismus

Kleine Engländer, große Briten, böse Europäer

1000 Jahre missgünstige Nachbarschaft

Ein Trauma als Machtinstrument

Opfermythos, gekränkter Stolz und Sündenböcke

Katalonien: Franco, die Habsburger und das Torero-Verbot

Kärnten: Ein Grenzland fühlt sich verlassen und bedroht.

Südtirol: Nebeneinander statt miteinander

Zwischen Region, Nation und Europa: Die Suche nach der Gemeinsamkeit

Auschwitz, und ein Gedanke …

Die ursprüngliche Idee zu diesem Buch hatte ich vor einigen Jahren an einem Ort, in den die Geschichte einen Krater geschlagen hat wie nirgendwo anders in Europa: Auschwitz. Oświęcim heißt das Städtchen auf Polnisch und es kämpft seit Jahren gegen seine Vergangenheit und kommt doch nicht gegen sie an. Als ich Oświęcim vor einigen Jahren besuchte, führte ein Mann diesen Kampf an – und zwar genau gegenüber dem Haupttor zum Konzentrationslager. Eigentlich war Janusz Marszaleks Idee nichts Besonderes. Ein Supermarkt, ein paar Boutiquen, ein Café und Gasthaus: Das wäre, so hatte es sich der damals 40-jährige Geschäftsmann vorgestellt, genau das Richtige dort am Stadtrand, wo so viele Touristen vorbeikommen.

Doch der Bauplatz war kaum eingezäunt, als das Projekt schon internationale Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht etwa von Investoren, sondern von Opferverbänden. Man könne nicht so einfach Geschäfte machen gegenüber dem Haupttor des Konzentrationslagers Auschwitz. Das Bauvorhaben wurde auf internationalen Druck gestoppt. Doch Marszalek blieb hartnäckig. Er zog gegen den Baustopp vor Gericht – und bekam schließlich recht. Als ich den fließend deutsch sprechenden Marszalek in Oświęcim kennenlernte, stand dort bereits ein kleines Einkaufszentrum samt Parkplatz. Besucher konnten im Restaurant »Art Deco« traditionelle polnische Küche genießen, mit Ausblick auf das Konzentrationslager. Wo vor 60 Jahren SS-Männer lange Kolonnen von Häftlingen vor sich her trieben, wo jene, die stolperten, erschossen liegen blieben, bot der Baumarkt »Dein Haus« alles von Ziegeln bis zu Blumentöpfen an.

Marszalek wurde bald danach Bürgermeister von Oświęcim – und er sollte es viele Jahre bleiben. Er knüpfte enge Kontakte nach Deutschland. Statt über den Streit mit den jüdischen Opferverbänden erzählte er lieber von der Umgestaltung der Altstadt, in der die jüdische Tradition wieder ihren Platz bekommen habe. Eine ehemalige jüdische Synagoge wurde neu aufgebaut, mit dem Geld einer Stiftung aus New York. Bald gab es wieder Gottesdienste, zumindest an den Gedenktagen, wenn Gäste aus aller Welt kommen.

Man muss sich seiner Geschichte stellen, sonst bleibt man in ihr gefangen: Das war der Gedanke, den ich damals aus Oświęcim mitnahm. Von da an begann ich auf meinen Reportage-Reisen immer auf diese Spuren aus der Geschichte zu achten – und darauf, welche Rolle sie im Heute spielen: Tragische Hauptrollen wie in Oświęcim, komische Nebenrollen wie die Wegweiser in den Südtiroler Bergen, die über Jahre für politischen Streit sorgten, traurige Randfiguren wie die Roma in Nordböhmen, die heute in den Häusern der einst vertriebenen Deutschen wohnen. Während ich diese Bilder und Geschichten in den letzten Jahren zusammengetragen habe, ist Europa in eine zunehmend dramatische Identitätskrise gestürzt – und der Brandherd dieser Krise ist seine unbewältigte Geschichte. Es war Zeit geworden, dieses Buch zu schreiben …

Einleitung: Unsere Geschichte, ihre Geschichte, wessen Geschichte?

»Europadämmerung« nennt es der bulgarische Politologe Ivan Krastev, »Europa, Krise und Ende?« fragt sich der französische Philosoph Etienne Balibar, und spricht von der »Zwickmühle«, in der sich die EU befände, dazu verurteilt, enger zusammenzurücken, und unfähig, den eigenen Zerfall aufzuhalten. Der Wiener Schriftsteller und überzeugte Pro-Europäer Robert Menasse zieht aus derselben Zwickmühle ein ironisches Resümee: »ein bisserl Europa und dann gleich ein bisschen zu viel nationaler Egoismus« nennt er es.

Europas Intellektuelle leiden zurzeit mit Leidenschaft am Zustand ihres Kontinents. Man sieht Europa in Nationalismus, Chauvinismus, Massenarmut und zuletzt Krieg abrutschen, fragt sich verzweifelt oder sarkastisch, wo denn die europäische Idee auf einmal hingekommen sei – und bemüht dann die derzeit ständig strapazierten Antworten: Der Neoliberalismus, beschleunigt von der Finanzkrise, habe die sozialen Ungleichheiten vertieft, eine Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern habe sich geöffnet, und jene, die verloren hätten, würden sich auf einmal hinter nationalen Grenzen, populistischen Politikern und der Sehnsucht nach einer Vergangenheit in einer homogenen Wohlstandsgesellschaft verschanzen. Wir seien, meint etwa Krastev, auf dem Weg zurück in einen neuen Nationalismus.

Doch was ist dieser neue Nationalismus tatsächlich? Welche Identität schafft er für jene, denen der globalisierte Kapitalismus scheinbar alle Identitäten geraubt hat? Auf einmal tauchen in der politischen Propaganda, auch der Linken, wieder Begriffe wie »Heimat« auf. Doch ist diese Heimat tatsächlich der Nationalstaat, wie ihn die Populisten vor allem in Ost- und Südosteuropa propagieren? In den deutschen Feuilletons und in politischen Streitschriften treten nun Verteidiger des Nationalstaates auf. Es sei einseitig und oberflächlich, diesen als Bollwerk für Protektionismus und Ausgrenzung abzutun. Der Nationalstaat sei einst der Hort der Demokratie gewesen – und sei auch heute noch der Ort, wo Bürger und Politik miteinander wirklich in Beziehung treten könnten. Ganz anders eben als in einem in Gipfelkonferenzen konstruierten gemeinsamen Europa. Die Identität, die die Bürger suchen würden und die sie in der Gesellschaft verankere, sei nur im Nationalstaat zu finden.

Doch die nationalen Identitäten in Europa sind zum allergrößten Teil Schöpfungen des 19. Jahrhunderts, wie der große englische Historiker Eric Hobsbawm in seinem Buch »The Making of Tradition« in seltener Klarheit analysiert. Die neu entstandenen Industriegesellschaften hatten den Menschen ihre Identität, ihre klare Zuordnung in der Gesellschaft genommen. Zuvor war der Einzelne, vereinfacht gesagt, entweder Bauer und damit Untertan eines Fürsten – der übrigens oft nicht einmal dieselbe Sprache sprach –, städtischer Handwerker und damit Mitglied einer Gilde oder Zunft, oder Adeliger und damit durch Abstammung definiert: All diese bisher starren Strukturen lösten sich auf. Sie wurden durchlässig, aber auch instabil.

Die Französische Revolution wurde zur Initialzündung für eine neue nationale Identität der Bürger, die jetzt auf einmal der Souverän waren. Eine wahre »Massenproduktion« an Identitäten, so beschreibt es Hobsbawm, setzte ein, und in ihrem Mittelpunkt standen die neu entstehenden Nationalstaaten wie Deutschland, Italien, oder auch jene Völker, die einen eigenen Nationalstaat plötzlich als politisches Leitmotiv betrachteten. Die Tschechen, die anfangs noch der Habsburgermonarchie Gleichberechtigung für sich und ihre Sprache abringen wollten, forderten einen eigenen Staat ein. Die Schotten schwelgten auf einmal in einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hatte. Aus Kilts mit Tartanmustern, Dudelsack und keltischen Mythen entstand die Idee einer schottischen Nation, die sich vom verfeindeten England distanzierte, in dessen Politik schottische Dynastien über Jahrhunderte mitgemischt hatten. Das wilhelminische Kaiserreich, de facto Preußens Machtübernahme in Deutschland, schlug willkürlich die Brücke zum mittelalterlichen Reich der Ottonen, um sich selbst eine historische Rechtfertigung zuzuschreiben.

Der Nationalstaat also, die Nation im Geist des 19. Jahrhunderts, beruft sich auf eine konstruierte Identität. Ganz genauso übrigens wie das vereinigte Europa, das außer den Spitzenvertretern in Brüssel niemandem so recht in den Kopf gehen will. Europa wird als Friedensprojekt verkauft, an Generationen, die zumeist nie einen Krieg erlebt haben und mit diesem Begriff daher nur wenig anfangen können.

Doch Identitäten in Europa sind vielschichtiger als die pompöse Nationalstaaten-Inszenierung, die jetzt viele so gerne neu aufführen möchten. Sie sind aber auch zu sperrig, zu widersprüchlich, um sie einfach in ein großzügig vereintes Europa zu stecken. Diese Identitäten sind das Produkt von Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden gegensätzlicher Entwicklungen. Entwicklungen, die den einfachen Menschen nicht nur ununterbrochen neuen Herren vorsetzten, sondern sie auch kreuz und quer durch Europa ziehen und siedeln ließen. Manchmal folgten sie ökonomischer Notwendigkeit, manchmal den Befehlen ihrer Herrscher, die irgendwo da draußen tüchtige Bauern und Handwerker brauchten, die auch noch irgendwelche Feinde abwehren konnten. Manchmal flohen sie vor politischer oder religiöser Verfolgung.

Zum Beispiel die Schwaben, die Maria Theresia ins rumänische Banat schickte: Wer ist die schwindende Volksgruppe heute, die dort jetzt ihre Heimat sieht: eine rumänische Minderheit? Volksdeutsche, wie sie die Nazis nannten, um diese Territorien leichter vereinnahmen zu können? Spätaussiedler, wie sie das moderne Deutschland nannte, das ihnen aufgrund ihrer Herkunft die deutsche Staatsbürgerschaft versprach? Nicht nur Rumänien, der ganze Balkan ist bis heute ein exemplarisches Produkt dieser widersprüchlichen europäischen Geschichte: Voll von den unterschiedlichsten Völkern, die wild durcheinandergewürfelt und oft gewaltsam vermischt die ganze Region besiedeln. Zugleich aber ist der Balkan ein Druckkochtopf des Nationalismus, des aggressiven, kriegerischen Nationalismus. Dort fing man früher an als im Rest Europas, Menschen aus rassischen Gründen zu diskriminieren, zu vertreiben, abzuschlachten und im großen Maßstab auszusiedeln. Dort hängt man – vielleicht auch nur aus Perspektivlosigkeit – diesen Wahnideen bis heute an, klammert sich förmlich an sie. Dort wehen die Fahnen nicht-existierender Großreiche in Fußballstadien, streiten Politiker jahrzehntelang über den Namen eines Staates. Dort steht man als Reporter vor nationalistischen Denkmälern, wird Augenzeuge skrupelloser politischer Willkür und erlebt, wie rasch von Politikern geschürte Wut auf der Straße hochkocht.

Wo also fängt nationale Identität an – und wo wird sie zur gefährlichen Farce? Was bedeuten deutsche Märchen, Tiroler Schihütten und tschechischer schwarzer Humor für die Identität der Menschen von heute? Sind sie ein wichtiger Teil dieser Identität oder nicht mehr als nostalgische Gefühle zum Ankuscheln im marktwirtschaftlichen Einheitsbrei einer kalten, globalisierten Welt? Wo und wie finden diese Bausteine europäischer Alltagskultur, deren Reihe man endlos fortsetzen könnte, ihren Platz in einem modernen Europa? Oder aber können sie nur in einer Schutzzone, im kulturellen Reservat Nationalstaat, überleben? Wer durch Europa reist, erlebt, wie diese Alltagskultur und ihre Geschichte die Menschen prägt. Sie lässt uns Europäer von Region zu Region so unterschiedlich denken, scherzen, Werturteile fällen, wie das begeisterte Pro-Europäer nur ungern wahrhaben möchten.

Dieses Buch vertritt keine These. Es will nicht an die derzeit unaufhörlich geführte Debatte über Europa und seine Krise anknüpfen. Andere mögen dafür berufener sein, und außerdem gibt es ohnehin schon genügend Vor- und Nachdenker, die sich an Schreibtischen und auf Podien an dieser Frage abarbeiten. Dieses Buch, auch weil es das Buch eines Journalisten, eines Reporters ist, wagt sich stattdessen hinaus in dieses Europa und mitten hinein in all den Ärger und die Frustration, unter die Fahnenschwinger und Parolenschreier, in die Dörfer, wo der Rassismus Mauern wieder in die Höhe wachsen lässt, und in die Vorstädte, wo Politiker irgendein Erbe aus irgendeiner großen Zeit beschwören. Dieses Buch beginnt mit dem Blick nach draußen, überall dorthin, wo die Identitätskrise des Kontinents im Alltag auftaucht, wo sie Politik wird. Dort finden sich, so meine Überzeugung, keine Lösungen für diese Krise, aber man bekommt einen realistischen Blick auf das, was die Wortführer in allen Lagern so gerne für sich beanspruchen: zu wissen, was Europa heute ausmacht.

Der Blick fällt dorthin, wo diese Widersprüche an die Oberfläche drängen, Gräben mitten in Europa aufreißen, die die politische Debatte in einer Region beherrschen und den Blick auf viele andere Probleme verstellen: In Katalonien lässt der Kampf um die Unabhängigkeit eine der wohlhabendsten Regionen Europas politisch kopfstehen, in Großbritannien wacht im Streit um den Brexit die uralte Angst vor der deutschen Übermacht in Europa auf. Österreichs Regierung liebäugelt mit der Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler und zündelt damit in einem von Wohlstand zwar zugeschütteten, aber keineswegs gelösten Konflikt. In Ungarn bedient sich Viktor Orbán aller historischen Traumata des Landes als Rechtfertigung für seine Politik. Europa ist heute, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, weniger geeint denn je. Jeder Versuch der EU, die Staaten näher zusammenrücken zu lassen, scheitert an Engstirnigkeit und Eigensinn. Warum also steht die Geschichte der Weiterentwicklung dieses Kontinents ständig im Weg?

Geschichte wird heute nicht weniger als in der Vergangenheit als politisches Werkzeug missbraucht. In Europa wurden und werden Identitäten aus der Vergangenheit definiert. Man beansprucht, etwas zu sein, weil man etwas war. Das ist zwar jahrhundertealte politische Praxis und lieferte schon in der brüchigen, von ständig wechselnden Grenzen, Konflikten und Konstellationen geprägten europäischen Vergangenheit unweigerlich Anlass für neue Konflikte. Gerade das 20. Jahrhundert mit seinen großen Kriegen und gigantischen territorialen Verschiebungen hat viele dieser Widersprüche unaufgelöst hinterlassen. Oft sind sie bis heute tabuisiert. Nur so ist es möglich, dass von Schottland bis Spanien sogenannte Freiheitsbewegungen Nationalstaaten infrage stellen und diese damit in tiefe politische Krisen stürzen. In Krisen wie diesen stehen zwei Identitäten, zwei Vorstellungen von Nation und Staat einander völlig verständnislos gegenüber, weil sie auf zwei unterschiedlichen Geschichtsbildern aufgebaut sind. Ich bin unterwegs gewesen, um die Bruchstücke dieser Geschichtsbilder aufzusammeln und zusammenzusetzen. Und manchmal stand ich mittendrin in diesen Bruchstücken, als wäre niemand da gewesen, um sie wegzuräumen. In Dörfern im Norden Tschechiens, wo heute – 70 Jahre nach Kriegsende – bettelarme Roma in den immer noch halbverfallenen Bürgerhäusern der vertriebenen Deutschen wohnen; wo das Schild »Gasthaus« bis heute über einem Tor hängt.

Ich möchte erzählen, wie mir Geschichte in Begegnungen, Beobachtungen und Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen überall in Europa begegnet ist: von ungarischen Pilgern in Siebenbürgen, die 100 Jahre alte Friedensverträge infrage stellen, bis zu einem Portier in Barcelona, der die Habsburger für alles verantwortlich macht.

Region für Region, Krise für Krise möchte ich versuchen, aus diesen Beobachtungen die historischen Konflikte dahinter zu destillieren, aber auch deren politische Inszenierung und die Verantwortlichen dafür sichtbar zu machen. So wie aus einer wechselhaften Geschichte Identitäten, Staaten, Völker entstehen, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, so erzeugt der willkürliche Rückgriff auf die Geschichte wiederum politische und gesellschaftliche Krisen oder steht zumindest ihrer Lösung bis heute im Weg. Geschichte wird als Werkzeug politischer Manipulation benützt. Diese produziert runderneuerte nationale Identitäten und die Feindbilder gleich dazu, was ihr im ideologischen Vakuum schwächelnder liberaler Demokratien, in der Frustration, die eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich schafft, in Gesellschaften, die zwischen autoritärer Vergangenheit und oberflächlichen demokratischen Strukturen stecken geblieben sind, entsprechend leichtfällt. Die Auswahl der Krisenregionen in diesem Buch mag vielen Lesern willkürlich und natürlich unvollständig erscheinen: Wo ist die Ukraine, die zwischen Russland und Europa zerrissen wird, wo Italien, das bis heute seine staatliche Identität sucht? Die Antwort ist simpel: Dieses Buch fußt auf persönlichen Eindrücken eines Reporters, auf Erfahrungen, die ich gemacht, und Gesprächen, die ich über Jahre geführt habe. Die Regionen, in die die Reise dieses Buches geht, sind auch jene, in denen ich die tief greifendsten Begegnungen hatte und wo es mir gelang, selbst vor Ort einen persönlichen Blick auf die Situation zu finden.

Am Ende steht die Frage nach einem Ausweg, nach der Möglichkeit, neue Identitäten zu schaffen, auch indem das eigene Geschichtsbild offen infrage gestellt wird. Das gemeinsame Europa der Regionen als zukünftige Landkarte der EU? Sind diese Regionen – wie zum Beispiel Südtirol, Katalonien, Schottland – nicht wieder nur aus der Geschichte entliehene Konzepte? Können in ihnen wirkliche neue Identitäten entstehen? Oder ruft man damit nur Geister der Vergangenheit wach, die man ohnehin so schwer los wird?

Dieses Buch ist keine historische Abhandlung, keine wissenschaftliche Analyse. Es will anhand von konkreten Recherchen und persönlichen Erlebnissen vor allem Denkanstöße liefern. Es will zeigen, wie viel uns in Europa heute trennt – mag es nur ein Streit über die mangelnde Qualität von Nutella und Fischstäbchen bei unseren östlichen Nachbarn sein, ein Aufmarsch von Bürgerwehren in Uniform oder eine Grenze, die auf einmal infrage gestellt wird. Es ist ein Versuch, das Trennende offen anzusprechen, damit es sichtbar wird, als Stoff für offene Diskussionen statt für politische Manipulation. Und es ist eine Reise durch Europa und seine Geschichte: faszinierend, widersprüchlich, ganz alltäglich und stets neu auszuverhandeln – wie in dem Streit über den Frieden von Trianon von 1919, in den ich mit der Tankwartin an einer Tankstelle in Westungarn geriet, wo die Karte des alten Großungarn am Auslagenfenster klebte.

Der Balkan: Exerzierplatz des Nationalismus

Es sieht ein bisschen nach zu groß geratener Hochzeitstorte aus: ein steinerner Präsentierteller auf einer schwarz-weißen Säule, umgeben von den Wasserfontänen eines Springbrunnens. Nur dass oben auf dem Podest kein verliebtes Pärchen aus Zuckerguss, sondern ein Reiter aus Bronze posiert, auf Hochglanz poliert. Der Reiter reckt sein Schwert angriffslustig in die Luft, während sein Pferd gerade beängstigend hochsteigt. Andere Reiter würden da schon längst auf der Nase liegen. Der hier natürlich nicht. Auf der Plakette am Rande des Springbrunnens wird er zwar bescheiden als »Krieger zu Pferd« bezeichnet. Doch nach einem »Krieger zu Pferd« muss man hier im Zentrum von Skopje erst gar nicht fragen. Erst wenn man sich nach der »Alexanderstatue« erkundigt, wird man verlässlich zu diesem Platz geschickt. Mehr als zwanzig Meter hoch ist die Skulptur, und wenn man abends daran vorbeigeht, sind die Wasserfontänen in buntes Licht getaucht, und aus einem Lautsprecher tönt Wagners Walkürenritt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt weiß man dann nicht mehr, ob man staunen oder lachen soll.

Alexander der Große ist nicht die einzige Leihgabe aus der Antike, mit der das Zentrum der mazedonischen Hauptstadt aufgeputzt wurde. Fünf Minuten Fußweg von hier entfernt steht Alexanders Vater Philipp, Gründer des antiken Makedonierreiches, auf das sich Politiker und Meinungsmacher hier so gerne berufen. Diese Statue heißt übrigens offiziell »Krieger zu Fuß«, obwohl natürlich auch da jeder weiß, um wen es sich handelt. Aber Alexander den Großen und seinen Vater Philipp so ganz offiziell in der Hauptstadt postieren, das war sogar der nationalistischen Regierung in Skopje diplomatisch etwas zu heikel. Das alte Makedonierreich liegt zwar knapp 2500 Jahre zurück, aber der chronische Streit mit dem EU-Nachbarn Griechenland über den Anspruch auf das antike Erbe ist noch ziemlich aktuell. Und da es dabei nicht nur um goldene Statuen, sondern auch um Mazedoniens NATO-Beitritt und um Beitrittsgespräche mit der EU ging, wurden die goldenen Statuen eben lieber namenlos errichet.

Der Streit um die Geschichte liefert am südlichen Ende des Balkans tägliches Futter für die Realpolitik, für Feindschaften und Bündnisse, für pathetische Reden und blutige Konflikte: Manchmal nimmt dieser Streit fast komische Formen an wie der goldene Alexander in Skopje, oft tragische wie bei den Massakern der Jugoslawienkriege und manchmal bedrohliche, wenn an einem Frühsommertag im kärntnerischen Bleiburg / Pliberk die Fahnen der kroatischen Ustascha-Faschisten wehen. Nirgendwo anders in Europa kochen nationalistische Wahnideen so heftig hoch wie hier. Hier verschanzt man sich hinter Grenzen, gegen illegale Einwanderer wie gegen verfeindete Nachbarn, hier benützt man diese Grenzen, um Minderheiten auszuschließen, oder sie für sich und die eigene Nation zu beanspruchen. Am Balkan, wo Rassismus und Nationalismus vor 25 Jahren noch in Krieg und Vertreibung mündeten, zieht zumindest die politische Propaganda heute noch immer neue Grenzen, wehen die Fahnen imaginierter Großreiche, stellen Politiker das Existenzrecht des jeweiligen Nachbarstaats infrage, nur um politische Stärke zu demonstrieren. Auf dem Balkan, wo der Nationalismus schon blutige Kriege auslöste, als er anderswo in Europa noch eine romantische Idee war, sind die Risse, die derzeit überall in Europa aufbrechen, schon jetzt grabentief – und daher umso klarer erkennbar. Darum beginnt die Spurensuche dieses Buches im Südosten Europas, entlang dieser Gräben.

Vorerst aber spazieren wir noch eine Runde auf weißen Pflastersteinen durch das Kitsch-Disneyworld in der Altstadt von Skopje und treffen nicht nur auf Prachtgebäude, die auch auf der Wiener Ringstraße gute Figur gemacht hätten, sondern auch auf eine Unzahl weiterer Statuen, die die Stadtplaner als zusätzlichen Aufputz quer über ihre architektonische Inszenierung verstreut haben: Herrscher, Märchenhelden, Freiheitskämpfer, alles ein bisschen durcheinandergeraten, aber mit jeder Menge Marmor, Bronze und antikisierendem Dekor ausgestattet. Die Statuen sind Teil eines Projekts, das sich Skopje 2014 nannte, und mit dem die damalige rechtsnationalistische Regierungspartei VMRO – die sich auf die einst nach dem Ersten Weltkrieg gegründete revolutionäre nationalistische Bewegung IMRO beruft – der Hauptstadt endlich zu einem standesgemäßen Format verhelfen wollte. Allzuviel echte steinerne Geschichte ist Skopje, das in den 1960er-Jahren von einem Erdbeben zerstört wurde, ja nicht geblieben.

Es ist ein gerade einmal einen Quadratkilometer großes Areal, in das man eine Kombination aus Regierungs- und Museumsbezirk gesetzt hat, inklusive einem Regierungssitz, der wie eine etwas plumpe Mischung aus Weißem Haus, Archäologiemuseum und antikem Tempel aussieht. Hier wird der Name Griechenland, auch wenn es ausführlich um die Antike und Alexander den Großen geht, weitgehend vermieden. So viel historische Würdigung wollte die Regierung dem verfeindeten Nachbarn doch nicht gönnen.

Für das alles hat der bettelarme Balkanstaat Summen ausgegeben, die das Budget bis heute überfordern und einen gigantischen Korruptionsskandal hinterlassen haben. Ob es nun, je nach Schätzung, 500 Millionen oder eine Milliarde Euro sind, die hier in Stein, Marmor und Bronze aufgegangen sind, ist letztlich egal.

Von der Alexanderstatue sind es nur ein paar Schritte zu den Überresten der jüngeren und im Vergleich dazu ziemlich realen Geschichte Mazedoniens: verfallende sozialistische Wohnbauten, denen es nicht an Dekor, sondern oft schlicht an Verputz und Dachziegeln mangelt. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wo die vergeudeten Millionen besser investiert worden wären.

Man kann sich über dieses Disneyland in der mazedonischen Hauptstadt ärgern, wundern oder ihm doch einen eingehenderen Blick schenken, denn diese bizarre Installation führt geradewegs in die chronische Krise dieses Landes, das sich seit dem Zerfall Jugoslawiens in den Neunzigerjahren alleine durchzuschlagen versucht und dabei immer wieder in politische Konflikte taumelt, die es in seiner Existenz bedrohen. Mazedonien liegt, wie so viele Balkanstaaten, an einer Schnittstelle von Völkern und Kulturen und hat in seiner Geschichte ständig Mühe gehabt, sich gegenüber Nachbarn zu behaupten, die seine Existenz, zumindest als Nation, eigentlich gar nicht wahrhaben wollten. Etwa drei Viertel der Bevölkerung sind Slawen, die aus der Sicht des benachbarten Bulgarien eigentlich Bulgaren sind, und natürlich auch Bulgarisch, oder bestenfalls einen bulgarischen Dialekt sprechen. Nicht umsonst gibt Bulgarien, das seit 2007 EU-Staat ist, großzügig Staatsbürgerschaften an slawische Mazedonier aus. Diese nehmen die Eintrittskarten in die EU natürlich bereitwillig an. Für bulgarische Nationalisten wie Boschidar Dimitrow, langjähriger Direktor des bulgarischen Nationalmuseums, geht das noch nicht weit genug. Er plädiert in seinen populären Geschichtsstunden im bulgarischen Fernsehen offen dafür, gleich einer halben Million Mazedoniern auf einmal die Staatsbürgerschaft zu geben, diese seien ohnehin seit Hunderten von Jahren Bulgaren: »Dreizehn Jahrhunderte lang haben in Mazedonien Bulgaren gelebt. Und eines herrlichen Tages sagte man ihnen, dass sie keine Bulgaren, sondern Mazedonier seien. Sie hätten mit Bulgarien nichts zu tun, man würde ihnen einen Staat konstruieren, eine eigene Geschichte schreiben und eine Sprache schaffen. Und das wurde getan. Wer damit nicht einverstanden war, wurde unterdrückt.« So geht man am Balkan mit der Identität von Nachbarstaaten um.

Geht es nach Nationalisten wie Boschidar, wäre das Zwei-Millionen-Land gleich einmal ein Viertel seiner Bevölkerung los, das also einfach zu Bulgaren erklärt würde. Um zu begreifen, in welche noch glosenden Konflikte man mit solchem nationalistischen Gerede eingreift, muss man in Mazedonien nur ein paar Jahre zurückblicken. Um die Jahrtausendwende taumelte das Land in einen Bürgerkrieg, der aus dem benachbarten Kosovo herüberschwappte. Ähnlich wie dort eskalierte auch in Mazedonien der Konflikt zwischen der slawischen und der albanischen Bevölkerung, die etwa ein Viertel der zwei Millionen Mazedonier umfasst. Die albanische Minderheit forderte Rechte wie die Anerkennung ihrer Sprache ein. Die NATO-Invasion des Kosovo 1999, der Luftkrieg gegen Serbien, das Bombardement von Belgrad – all das war gerade erst zwei Jahre her. Im Kosovo prallten die serbische und die albanische Bevölkerung vor den Augen der KFOR-Friedenstruppen weiterhin ständig gewaltsam aufeinander und konnten nur durch schwer bewaffnete Soldaten und Straßensperren samt Panzern getrennt werden. Ich erinnere mich an die Proteste der serbischen Bevölkerung in Mitrovica im Norden des Kosovo um die Jahrtausendwende. An der mit KFOR-Panzern gesicherten Zonengrenze der streng in ein albanisches und ein serbisches Viertel geteilten Stadt kochte der Hass in Sekundenschnelle hoch. Wegen einer Nichtigkeit flogen Steine, dann Fahnen, dann Kugeln. Die Serben konnten nicht begreifen, dass sie auf einmal nicht mehr das Sagen hatten, dass Mitrovica auf einmal nicht mehr ihre Stadt war.

Die Kämpfer der albanischen UÇK-Guerilla, die im Kosovo über Jahre einen Untergrundkrieg gegen die brutale serbische Polizei geführt hatten, sickerten jetzt bei den Nachbarn in Mazedonien ein, tauchten in den von Albanern bewohnten Dörfern auf, in denen jetzt auf einmal die orthodoxen Kirchen brannten …

Der Konflikt wurde rasch unter massivem internationalem Druck befriedet. Die NATO befürchtete, in den nächsten blutigen Krieg am Südbalkan hineingezogen zu werden. An der Oberfläche wurde also relativ rasch der Frieden und zumindest die Fassade eines Rechtsstaates wiederhergestellt. Zehntausende Menschen, die während der Kampfhandlungen vertrieben worden war, vor allem slawische Mazedonier, kehrten allmählich und mit internationaler Hilfe in ihre Heimatdörfer zurück.

Doch die aufgestaute Wut setzte sich in den Dörfern fest, verschaffte den Nationalisten und Radikalen auch in Mazedonien auf beiden Seiten massiven Zulauf. In Skopje spülte diese Entwicklung bei den Wahlen 2008 endgültig die VMRO im Bündnis mit anderen Nationalisten an die Macht – und damit auch jenes Geschichtsbild, das in Skopje 2014 buchstäblich in Stein gehauen werden sollte.

Um dieses Geschichtsbild zu begreifen, geht man im Regierungsviertel am besten in das »Museum des Mazedonischen Kampfes«. Dort hat man die letzten 150 Jahre mazedonischer Geschichte kurzerhand auf einen Nenner gebracht: den Kampf um die Unabhängigkeit einer mazedonischen Nation. Das alles mag in der europäischen Geschichtsschreibung kaum mehr als eine Randnotiz sein. Einer von vielen Aufständen, die am Ende des 19. Jahrhunderts im zerfallenden Osmanischen Reich tobten. In den chaotischen Balkankriegen, die das Vorspiel zum Ersten Weltkrieg werden sollten, wurde daraus die »mazedonische Frage«. Die nationalistischen Interessen Griechenlands, Bulgariens und Serbiens prallten aufeinander, jeder betrachtete das mazedonische Territorium, das gerade noch zum Osmanischen Reich gehört hatte, als das eigene – und jeder hatte schon damals seine eigene historische Begründung dafür.

Im Geschichtsbild der mazedonischen Nationalisten füllt das ein ganzes pseudobarockes Museum. Und weil es an Artefakten, an Originaldokumenten mangelt, wird die Historie einfach inszeniert: Mithilfe von Wachsstatuen, die kämpfende Revolutionäre darstellen, und Ölgemälden – die interessanterweise meistens von russischen Künstlern gemalt wurden –, auf denen Freiheitskämpfer hinterhältig erschossen werden, werden die Schrecken gezeigt, denen die Mazedonier ausgesetzt waren. Was in dieses Geschichtsbild nicht passt, wird ignoriert – etwa dass die VMRO während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis kooperierte.

Doch das sind historische Details aus einem Kleinstaat am Südbalkan, um die es in diesem Buch nicht gehen soll. Skopje und seine bizarre, neu erfundene Altstadt stehen am Anfang dieses Buches, weil sie so beängstigend wie lächerlich den Missbrauch von Geschichte für politische Zwecke illustrieren, der in Europa derzeit um sich greift. Die unter Premierminister Viktor Orbán gebauten historischen Museen erzählen die ungarische Geschichte im Auftrag der von oben verordneten Wahrheiten. Im Kapitel über Ungarn werden wir sie besuchen. Jedenfalls gilt: Je trister die politische Realität, desto willkürlicher der Rückgriff auf eine zurechtgebogene Geschichte. Je willkürlicher dieser Rückgriff, desto dramatischer die Auswirkungen auf die politische Realität. Die Geschichte, die Mazedoniens Nationalisten in ihren neu gebauten barocken oder antikisierenden Museen ausstellen, ist die Geschichte, mit der sie ihre politischen Parolen unterfüttern, und es ist die Geschichte, in deren Namen jederzeit neue Konflikte vom Zaun gebrochen werden können.

Und genau diese Willkür im Umgang mit der Geschichte ist es, die den Balkan bis heute zum Spiegelbild europäischer Verhältnisse machte und macht. Zwischen Athen und Zagreb kann man die Spannungen, die Europa heute zu zerreißen drohen, wie an einem Modellfall studieren. Der Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien, der in den Neunzigerjahren in einen Krieg mündete, der bis heute nicht überwunden ist, dient Politologen nicht umsonst als Muster für die europäische Krise. So schreibt Joachim Becker in seiner Arbeit »The yugoslav model, the EU disintegration crisis«: »Eine tiefe wirtschaftliche Krise verstärkte in beiden Fällen die Zentrifugalkräfte. Der politische Streit wurde immer mehr von der Frage dominiert, wer wen ausbeutet. Während die zentralen Behörden auf neoliberale Reformen drängten, die ihre Glaubwürdigkeit bei den Menschen untergruben. So wie einst in Jugoslawien versuchen die Nationalregierungen in der EU, die Belastungen durch die Krise auf die anderen zu schieben.«

Der Balkan zeigt, welche zerstörerischen Kräfte diese historischen Reste hatten und jederzeit wieder haben können. Es bedarf dafür als politische Gemengelage nur einer wirtschaftlichen und in Folge politischen Krisensituation, in der man Verantwortliche, Schuldige braucht, an denen eine Bevölkerung ihre Frustration über die herrschenden Verhältnisse abarbeiten kann – und diese Frustration wächst überall in Europa.

Was sich in Mazedonien in goldenen Statuen widerspiegelt, wurde auf dem Balkan oft zum ideologischen Unterbau für Krieg und Massenmord. Auch im bosnischen Srebrenica lebten Serben und Bosnier als Nachbarn nebeneinander, wie Slawen und Albaner in Mazedonien. Diese Nachbarschaft konnte das Massaker an Tausenden Muslimen durch serbische Milizen 1995 nicht verhindern. Die Wunden, die diese Verbrechen aufgerissen haben, sind bis heute nicht verheilt. In Srebrenica sitzt heute ein Serbe als Bürgermeister, verwaltet eine Stadt, in der jedes zweite Haus leer steht. Gerade einmal 5000 Einwohner sind geblieben, mehrheitlich Serben. Von einem Völkermord will Bürgermeister Grujicic heute nichts mehr wissen. Er müsse sich um die örtliche Wirtschaft kümmern, Arbeitsplätze schaffen. Doch auf diese Arbeitsplätze will von den Jungen keiner mehr warten. Wer kann, geht in die großen Städte wie Sarajevo oder gleich ins Ausland. Wenn es Bosnier gab, die nach dem Massaker nach Srebrenica zurückgekehrt sind, dann waren es die Alten. Mütter, die auf die Frage, warum sie ihre Heimat nicht endgültig hinter sich gelassen haben, eine schlichte Antwort haben. Sie wollen bei ihren toten Kindern sein. Sie sind heute wieder nur die bestenfalls geduldeten Außenseiter in einer Stadt, die von ihrer jüngeren Vergangenheit ohnehin erdrückt wird und sie nicht überwinden kann. In serbischen nationalistischen Internet-Foren werden heute, mehr als zwanzig Jahre später, gerne Scherze über Srebrenica gemacht und geschrieben, dass es doch wieder einmal Zeit für so was wäre.

In Mazedonien wurde das Morden 2001 vom Westen gestoppt. Die Konflikte aber schwelen weiter, und sie werden von den Nationalisten auf beiden Seiten geschürt, wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Allein die Grundsteinlegung für eine orthodoxe Kirche trieb die Albaner des Bergdorfes Oktisi im Südwesten des Landes vor ein paar Jahren zu Hunderten auf die Straße. In den Moscheen riefen die Imame zum Protest gegen die Kirche auf. Die Polizei musste ausrücken, um die ohnehin bescheidene Feierlichkeit zu schützen. Am Tag darauf aber zogen schon mazedonische Nationalisten durch die Straßen, auf die Wohnhäuser der Muslime wurden Beschimpfungen gesprayt. Die Kirche wurde gebaut, die Proteste verschwanden, der Konflikt blieb – bereit, irgendwo, irgendwann aus irgendeinem nichtigen Anlass wieder auszubrechen.

Die nationalistische VMRO in Mazedonien ist wegen ihrer Korruptionsaffären – nicht nur die rund um Skopje 2014 – inzwischen politisch zu Fall gebracht worden. Den derzeit, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches, regierenden Sozialisten ist es sogar gelungen, den langjährigen Streit mit dem Nachbarn Griechenland zumindest vorläufig zu schlichten. Seit der Unabhängigkeit Mazedoniens konnten sich die beiden Länder ja nicht auf einen offiziellen Namen für die ehemalige jugoslawische Teilrepublik einigen. Griechenland, dessen nördlichste Provinz Makedonien heißt, wollte nicht akzeptieren, dass sich ein anderer Staat diesen Namen und damit natürlich auch die ganze dazugehörige Geschichte inklusive Alexander dem Großen und seinem bis an den Ganges reichenden Imperium aneignete. Die Regierung in Skopje wiederum ließ es sich nicht nehmen, den Namensstreit als politisch-historischen Schaukampf zu inszenieren. Nicht nur stopfte man die Altstadt von Skopje mit den bereits erwähnten Statuen voll, auch auf dem dazugehörigen Flughafen wurde eine goldene Alexanderstatue errichtet, mitten in der Abflughalle. Die Regierung in Athen blockierte daraufhin alle Versuche Mazedoniens, politisch in Richtung Westen zu rücken. Die Aufnahme des Landes in die NATO und auch nur die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU waren bis zuletzt am Veto Griechenlands gescheitert. Ich erinnere mich noch an NATO-Gipfel, etwa in Prag oder in Bukarest, bei denen abwechselnd der griechische und der mazedonische Außenminister in dem sonst von allen politischen Aktivitäten strikt getrennten Pressezentrum mit ihrer ganzen Beratertruppe einmarschierten, um dort ihre jeweiligen Standpunkte im Namensstreit und die Fehltritte der Gegenseite deutlich zu machen. Mazedonien musste auf allen internationalen Parketten über Jahre unter der schwer entschlüsselbaren Abkürzung FYROM (former yugoslav republic of macedonia) auftreten. Der derzeit gültige Kompromiss gönnt dem kleinen Balkanstaat den Namen »Nordmazedonien«. Ob er hält, wird aber auch weiterhin davon abhängen, wer in Skopje und in Athen politisch das Sagen hat. Schließlich kam es in beiden Ländern zu Protestkundgebungen gegen die als schändlich empfundene Namensregelung, die griechische Regierung musste sich deshalb sogar im Parlament einem Misstrauensantrag stellen. Als kleine Geste der Versöhnung ließ Skopje übrigens die Alexander-Statue auf dem Flughafen entfernen und verzichtete auch auf dessen bisherigen Namen, der natürlich Alexander der Große lautete.

Ob die Konflikte in und mit Mazedonien damit auf Dauer beigelegt sind, lässt sich vorerst nicht beantworten. Die abgewählten Nationalisten jedenfalls versuchen ständig, Öl ins Feuer zu gießen. So stürmten ihre Anhänger 2017 das Parlament in Skopje, um dort eine blutige Schlägerei mit den Abgeordneten der anderen Parteien vom Zaun zu brechen. Außerdem soll die VMRO enge Verbindungen nach Russland unterhalten, das ja an jedem politischen Konflikt, der den Weg Mazedoniens in Richtung NATO und EU bremst, interessiert ist. Moskau unterhält ein großes russisches Kulturzentrum in Skopje, finanziert Dutzende Freundschaftsgesellschaften im ganzen Land und kümmert sich großzügig um den Bau orthodoxer Kirchen im russischen Stil.

Gotteshäuser und die dazugehörigen Spielarten von Religionen sind gerade auf dem Balkan ein beliebtes politisches Werkzeug für internationale Mächte, die ihren Einfluss geltend machen wollen. Saudi-Arabien hat in Bosnien-Herzegowina mehr als 100 Moscheen finanziert, darunter auch die größte des Balkans, die König-Fahd-Moschee in Sarajevo. In einer Region, in der Moscheen traditionell im osmanischen Stil gebaut werden, sind diese Gebäude im Stil der arabischen Halbinsel ein unübersehbarer Ausdruck architektonischer und politischer Willkür. Die völlig überdimensionierten Shopping Malls in der Stadt sind allesamt mit Geld von der arabischen Halbinsel finanziert worden. Aber das versteht man als argloser Spaziergänger erst, wenn man in den dortigen chromblitzenden Bars unschuldig nach einem Bier fragt. Das Achselzucken der bosnischen Kellnerin und der karge Kommentar »Khatar« erklärt ohnehin alles.

Saudische Hilfsorganisationen sind seit den Balkankriegen in bosnischen Bergdörfern wie Osve oder Bocinje engagiert. Dort, so berichten internationale Medien seit Jahren übereinstimmend, fördern sie nicht nur Schulen und Moscheen, sondern vor allem eine radikale Spielart des Islam. Kämpfer von islamistischen Terrorgruppen wie dem IS oder Al-Qaida sollen in den Moscheen und Koranschulen dieser Dörfer herangezogen worden sein.

Doch auch die Türkei benützt gezielt historische Bezüge, um ihren Einfluss auf dem Balkan wieder zu verstärken. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hielt im Frühjahr 2018 eine Wahlkampfveranstaltung in Sarajevo ab, zu der türkische Gastarbeiter aus Österreich und Deutschland in Bussen angekarrt wurden, um dort ihrem »Sultan Erdogan« zuzujubeln. Auch die bosnischen Muslime, die sich schon seit den Balkankriegen in den 1990er-Jahren und den Massakern wie jenem von Srebrenica vom Westen im Stich gelassen fühlen, finden Gefallen an Erdogans Anspielungen an die gemeinsame Vergangenheit. »Wir müssen überall sein, wo einst unsere Vorväter waren«, ist eine von Erdogans Maximen, mit denen er direkt Bezug auf das Osmanische Reich nimmt, das sich ja einst über den ganzen Balkan erstreckte.

Für die Regierungen in Belgrad, Skopje oder Sarajevo liegen die politischen Bezugspunkte auf einmal wieder in den weit entfernten Hauptstädten Russlands oder der Türkei. Auf dem Balkan kehrt die Geschichte als Leitmotiv der Machtpolitik zurück. Gerade der russische Präsident Wladimir Putin spielt offen mit der Idee des Panslawismus, die das russische Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Gegenspieler der Habsburgermonarchie auf dem Balkan machte. Und er hat dabei wichtige Verbündete: Der serbische Präsident Aleksandar Vučić reist gerne nach Moskau, um dort demonstrativ Rat bei Putin einzuholen, etwa im weiterhin schwelenden Streit mit der ehemaligen serbischen Region Kosovo. Vučić spielt dabei natürlich gezielt mit den Ängsten der EU vor einem wachsenden russischen Einfluss auf dem Balkan, vor allem dann, wenn in Brüssel wieder einmal Stillstand bei den Gesprächen mit den Balkanländern über eine zukünftige Mitgliedschaft herrscht. Doch der serbische Präsident, ein inzwischen zum EU-Freund mutierter radikaler Nationalist, weiß genau Bescheid über die Nähe, die viele seiner Landsleute zu Russland empfinden. Putin führt bei Umfragen in Serbien verlässlich immer die Liste der vertrauenswürdigsten internationalen Staatsmänner an. Ein skurriles Beispiel für diese Russland-Liebe findet sich unweit von Belgrad: Ein kleines Dorf, das ursprünglich Adzince (ein Name türkischen Ursprungs) hieß, hat sich vor ein paar Jahren in Putinovo umbenannt. Aus tiefer Verehrung für den russischen Präsidenten, wie die Einheimischen dort übereinstimmend betonen. Der würde nämlich für Frieden in der Welt sorgen und den amerikanischen Kapitalismus aufhalten.

Ost-West-Spiele lassen sich also auf dem Balkan auch Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall Jugoslawiens mühelos inszenieren. Russland wirkt an dieser Inszenierung tatkräftig mit, nicht nur mit Kirchenbauten in Mazedonien oder pompös in Szene gesetzten Einladungen für den serbischen Präsidenten in Moskau. Auch ein missglückter Sturz der Regierung in Montenegro 2016 soll mit Unterstützung russischer Geheimdienste geplant worden sein. Montenegro ist zwar inzwischen in die NATO aufgenommen worden, aber »Russland wird weiter versuchen, Druck auszuüben und den politischen Prozess zu beeinflussen«, analysierte kürzlich der montenegrinische Politologe Zlatko Vujović gegenüber dem britischen »Guardian«.

Doch die Sympathie für das orthodoxe Russland ist in Serbien nicht nur in Dörfern wie Putinovo tief verwurzelt, sondern findet sich auch bei prominenten und international bekannten Stimmen aus der serbischen Kulturwelt. Filmregisseur Emir Kusturica ist überzeugter serbischer Nationalist, der in Interviews gerne über seine Liebe zu Russland und zu Putin spricht, der seinem Land endlich wieder die Größe und Bedeutung gegeben habe, die es verdiene. Wenn Kusturica über die kulturelle Nähe und die tiefe Verbundenheit Serbiens und Russlands spricht, schwingt darin unverhüllt der Panslawismus des 19. Jahrhunderts mit, als sich Historiker wie der 1798 in Mähren geborene František Palacký frustriert von den Habsburgern ab- und Russland zuwandten.

Kusturica selbst hat ja auch ein sichtbares Beispiel dafür abgeliefert, wie auf dem Balkan Geschichte, Nationalismus, politische Willkür und blühende Fantasie in merkwürdigen Kopfgeburten zueinanderfinden. Offiziell als Kulisse für einen Film, hat der Regisseur im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas, in der bis heute mit dem Rest des Landes verfeindeten Republika Srpska, ein Dorf bauen lassen. Das bei Višegrad gelegene Andrićgrad, benannt nach dem bosnisch-serbischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Ivo Andrić, ist eine Art architektonische Idealisierung der serbischen Geschichte in der Region: ein Stilgemisch aus alten osmanischen Häusern, mittelalterlichen orthodoxen Kirchen und Denkmälern serbischer Nationalhelden. Ein künstlich geschaffenes, in Wahrheit gerade einmal ein paar Jahre altes Stück südosteuropäischer Geschichte, in dem die Idee einer serbischen Nation, die einen Großteil des Balkan umfasst, verkörpert wird. Natürlich darf da ein Denkmal für die wahrscheinlich liebsten unglücklichen Helden der Serben nicht fehlen: die Gefallenen der Schlacht vom Amselfeld von 1389, als eine Koalition von Heerführern diverser Balkan-Fürstentümer gegen die Osmanen verlor und damit die türkische Machtübernahme auf dem Balkan einleitete. Kusturica erinnert natürlich nur an die serbischen Helden. Ein historischer Willkürakt, den vor fast 30 Jahren schon ein anderer serbischer Nationalist vollführte, allerdings mit weit fataleren Folgen als Kusturicas Kitschdorf. 1989, zum 600. Jahrestag der Schlacht, hielt der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević auf dem Amselfeld eine Rede. Hunderttausende Zuschauer waren damals auf das Schlachtfeld im heutigen Kosovo, unweit der Hauptstadt Priština, gekommen, um zu hören, wie Milošević den Mythos des Kosovo als die Urheimat der Serben beschwor. Für viele Historiker gilt diese Rede als Initialzündung für den blutigen Zerfall Jugoslawiens und für zehn Jahre Krieg.

Dass dieses Spiel mit Nationalismus, Revanchismus und einem völlig willkürlichen Missbrauch von Geschichte in einen Krieg mündete, macht den Zerfall Jugoslawiens mit all seinen Konsequenzen bis heute zu einem vorerst einzigartigen Ereignis in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts. Der Umgang von Geschichte aber, das Zurechtrücken, Verfälschen und ideologisch Einfärben von historischen Ereignissen zu aktuellen politischen Zwecken, folgt im gesamten Raum zwischen Wien und Istanbul immer dem beängstigend gleichen Schema und – wie ich im Laufe dieses Buches auszuführen versuchen werde, im Rest von Europa, von Kärnten bis nach Katalonien, ist es nicht viel anders.

Die Geschichte der Staaten Südosteuropas – manche sprechen geografisch großzügig vom Donauraum – ist so eng verzahnt, dass nicht nur diese Strategie des politischen Missbrauchs, sondern auch deren Motive sich immer und immer wieder wiederholen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem großen Osteuropa-Kenner und ehemaligen Vizekanzler Erhard Busek, in dem dieser zum Scherz anmerkte: Um all die vergangenen Reiche, auf die sich am Balkan die verschiedenen Staaten berufen, auf einer Karte unterzubringen, würde man wohl einige Balkanhalbinseln brauchen.

Tatsächlich ist Mazedonien mit seinen Träumen von glorreichen Zeiten, die unweigerlich auf Kosten anderer Länder und Völker gehen, in der Region kein Einzelfall. Auch wenn diese vergoldete Rückbesinnung auf den antiken Herrscher eine gewisse Komik birgt, so biegen sich andere Balkanstaaten ihre Geschichte ähnlich abenteuerlich zurecht. Das serbische Großreich etwa, dessen schon leicht zerfledderte Reste schließlich auf dem Amselfeld untergingen, mag nur wenige Jahrzehnte im 14. Jahrhundert tatsächlich ein Großreich gewesen sein, doch das hindert unzählige mehr oder weniger professionelle Historiker nicht daran, es in den Nischen des Internet zu verherrlichen. Zu pathetischer Musik breitet sich auf Landkarten ein rot eingefärbtes serbisches Reich Schritt für Schritt über den Großteil des Balkan aus, dazu gibt es Bilder von Herrschern wie Dušan dem Mächtigen. In den Kommentar-Plattformen wird dann über die einstige Größe gescherzt, inklusive halblustiger Bildchen leicht bekleideter Mädchen, die man anzüglich »Wow, das ist aber groß!« sagen lässt.