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Margarete Schütte-Lihotzky

Warum ich
Architektin
wurde

Herausgegeben von Karin Zogmayer

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2004 Residenz Verlag, Salzburg

2. aktualisierte Auflage © 2019, Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Boutique Brutal

ISBN e-Book 978 3 7017 4619 4

ISBN Print 978 3 7017 3497 9

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin

I. Studienzeit

Die Kunstgewerbeschule 1915–1920

Die Klimt-Anekdote

Oskar Strnad, der große Lehrer

Zu Josef Hoffmann und Rudolf Larisch

Heinrich Tessenow

Die Umwelt 1918

Warum ich Architektin wurde?

II. Zwischenspiel Holland

III. Die erste Hälfte der zwanziger Jahre in Wien

Grundlage – Ein Wettbewerb

Der städtische Wohnbau der ersten Hälfte der zwanziger Jahre

Baugeschichte

Industrialisierung und Wohnungselend

Stadtanlage und Bevölkerungsstruktur

Die Zeit des Ersten Weltkriegs

Grundlagen des städtischen Wohnungsbaus

Persönlichkeiten der Siedlerbewegung

Max Ermers

Adolf Loos

Ernst Egli

Josef Frank

Otto Neurath

Die Kleingarten- und Siedlerbewegung

Arbeiten im Baubüro der Baugilde

Vorträge

Die Haustypen

Rationalisierung der Hauswirtschaft

Die Kleingarten-, Siedlungs- und Wohnbauausstellungen der Stadt Wien

Die Kernhäuser

Die »Warentreuhand«

Siedlung Heuberg

Die großen Wohnkomplexe

Der Winarsky-Hof

Erste Begegnung mit May

Zwischenzeit 1925

Die TBC-Siedlung

Das vorgebaute, raumangepasste Möbel

Resümee der Wiener Jahre

IV. Die zweite Hälfte der zwanziger Jahre in Frankfurt am Main

Ernst May

Meine politische Haltung in den zwanziger Jahren

Organisation des Frankfurter Hochbauamts 1925–1930

Vergleich des Wohnbaus Wien–Frankfurt

Die Wohnungstypen

Die Siedlung Praunheim

Der große Baukasten, die Frankfurter Plattenbauweise

Der Dachgarten

Kleinstwohnungen, Einliegerwohnungen, die Wohnung für das Existenzminimum

Die Musterkleingartenkolonie in Praunheim

Zur Frankfurter Küche – Einleitung oder Grundsätzliches

Die Frankfurter Küche

Die Kojen-Schul- und Lehrküchen

Kinderanstalten in Frankfurt

Projektsystem als Grundlage zur Herstellung von Kinderanstalten in vorgefertigten Bauteilen

Die Wohnung der alleinstehenden berufstätigen Frau

Möblierung der Frankfurter Wohnungen

Arbeiten außerhalb des Hochbauamts der Stadt

Frankfurt am Main, kulturelles Zentrum der zwanziger Jahre

Die neue Baugesinnung und ihre Ausdrucksform, der »Funktionalismus«

Resümee der Frankfurter Jahre

Politische Einstellung bis zur Abreise in die Sowjetunion

Wir verlassen Deutschland

Anhang

Editorische Nachbemerkung

Anmerkungen

Biographisches

Personenregister

Abbildungsverzeichnis

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Margarete Schütte-Lihotzky, Karlsbad 1935

(…) im übrigen habe ich immer sehr ungern geschrieben
und wollte immer nur bauen.
Margarete Schütte-Lihotzky

Vorwort der Herausgeberin

Ihren Drang »immer nur zu bauen« konnte Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) im Wien der Nachkriegszeit nicht ausleben. Denn ihre Heimatstadt verzichtete ganz bewusst auf die Expertise der international renommierten Expertin für sozialen Wohnbau. Und so konnte eine der ersten und prominentesten Architektinnen Österreichs in jener Stadt, in der sie 80 ihrer über 100 Lebensjahre verbrachte, nur wenige Bauten hinterlassen.

Was Schütte-Lihotzky allerdings hier hinterlassen hat, ist ein umfangreiches Konvolut an Originalplänen, Zeichnungen, Fotos und Schriften. Als Zeichen ihrer lebenslangen Verbundenheit mit ihrer Ausbildungsstätte verfügte sie die Übertragung ihres architektonischen Nachlasses an die Universität für angewandte Kunst Wien, ehemals Kunstgewerbeschule. In deren Sammlung steht er seither zu Forschungszwecken zur Verfügung. Als ich dort im Herbst 2002 in einem mit Erinnerungen und Betrachtungen betitelten Manuskript las, war mir schnell klar, dass mir eine Aufgabe in die Hände gefallen war: den Text seiner ursprünglichen Bestimmung zuzuführen, ihn in Buchform zu bringen. Die Sammlung begrüßte und unterstützte dieses Vorhaben.

Mit dieser ausformulierten Darstellung ihres Verständnisses von Bauen, Wohnen und Leben ist nun zumindest ein Teil von Schütte-Lihotzkys architektonischem Vermächtnis für eine breite Öffentlichkeit zugänglich.

Zur Entstehung des Textes: Ab dem Ende der siebziger Jahre wurde die damals 80-jährige Margarete Schütte-Lihotzky vermehrt dazu gedrängt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen: ihr Mitwirken im österreichischen kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime, ihr Mitgestalten in der Wiener Siedlerbewegung, im Neuen Frankfurt und beim Aufbau der sowjetischen Arbeiterstädte in den dreißiger Jahren, ihre Zusammenarbeit und Freundschaft mit Adolf Loos, Josef Frank, Otto Neurath und anderen.

Sie, die das gesamte 20. Jahrhundert erlebt hat, machte sich also weder aus Eitelkeit noch als Zeitvertreib an das Verfassen ihrer Memoiren, sondern sah in ihrem autobiographischen Projekt eine gewisse Verpflichtung. Wie immer ging sie auch an diese Aufgabe systematisch heran und ließ den Inhalt die Form bestimmen. So plante sie nicht eine chronologische, auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit fokussierte Autobiographie, sondern bereitete zwei getrennte Publikationen zu ihren beiden Lebensthemen Politik und Architektur vor. Denn es ging Schütte-Lihotzky in erster Linie um die Vermittlung der entstandenen Werke und Inhalte und damit um zwei Artikulationen von ein und derselben Überzeugung: dem Agieren als sozial verantwortlicher Mensch. Wie weit ihr Gesellschafts-Begriff reicht, zeigt ein möglicher Titel, den sie sich für ihre Lebenserinnerungen notiert hatte: »Die Menschheit – eine Familie«.

Schütte-Lihotzky setzte klare Prioritäten und widmete sich zuerst den Jahren 1938 bis 1945. In diesem Teil ihrer Lebensgeschichte berichtet sie detail- und pointenreich, ohne Pathos und mit ihrer kräftigen, lebensbejahenden Stimme, wie sie sich in Istanbul für die Verbindung des österreichischen Widerstands mit dem Ausland anbot, dass sie 1941 kurz nach ihrer Ankunft in Wien verhaftet wurde und nur durch einen gefälschten Brief aus der Türkei dem Todesurteil entging, und wie sie die Jahre als politische Gefangene erlebte. Aus diesen 1985 in Buchform erschienenen Erinnerungen aus dem Widerstand stammt die so charakteristische Aussage:

»Oft fragten mich nach 1945 verschiedenste Leute, auch solche, die keineswegs Nazis waren, warum ich denn aus dem sicheren Ausland nach Wien gefahren bin. Immer wieder empört mich diese Frage, immer wieder bin ich entsetzt über die mir so fremde Welt, in der diese Frage überhaupt eine Frage ist.«*

Sozial Leben bedeutete für Schütte-Lihotzky in der Zeit des Nationalsozialismus, im österreichischen Widerstand aktiv zu werden. Zu Beginn ihrer Studienzeit mit der Wohnsituation der Wiener Arbeiter konfrontiert, hieß das für sie, sich als Architektin für eine Verbesserung der Lebensumstände einzusetzen. Ihr Handeln entsprang also stets der Konfrontation ihres Selbstverständnisses als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft mit der gegenwärtigen Situation.

Der zweite Teil ihrer Lebensgeschichte mit dem Fokus Architektur ist aus verschiedenen Gründen nicht zu Lebzeiten erschienen. Zwar korrespondierte Schütte-Lihotzky Anfang der achtziger Jahre über einen längeren Zeitraum mit einem deutschen Verlag, der ihr Manuskript publizieren wollte, aber schließlich erhielt sie doch eine Absage. Davon unbeirrt und trotz zunehmender Augenprobleme arbeitete sie bis zu ihrem Tod weiter an ihren Erinnerungen und Betrachtungen, die mit ihrer Studienzeit beginnen und bis in die sechziger Jahre führen sollten. In einem handschriftlich skizzierten Kapitel über ihre Zeit in der Sowjetunion klingt die nachgelassene Erzählung aus. Der von Schütte-Lihotzky eingehend redigierte, aus meiner Sicht publikationsfertige Text endet allerdings mit ihrer Abreise nach Moskau im Jahr 1930. Deshalb schließt damit auch diese Ausgabe.

Margarete Schütte-Lihotzky war ein ausgesprochen vitaler Mensch. Ihr bewusstes Leben in der Gegenwart und ihre Verachtung für alles Oberflächliche zeigen sich auch in ihrem Umgang mit Sprache, der Genauigkeit und Lebendigkeit ihres Erzählens, die diesen kulturhistorisch interessanten Text zu einer anregenden und vergnüglichen Lektüre machen.

Karin Zogmayer, Wien 2019

Wozu, wofür, für wen schreibe ich diese »Erinnerungen«? Was kann die nächste und übernächste Generation daran fesseln? Was kann man aus der Vergangenheit berichten, das zum Nachdenken führt und für die Gegenwart wichtig ist?

Die Antwort ist schwierig. Ich bin 84 Jahre alt. Der Stoff umfasst zeitlich eine fünfzigjährige Praxis als Architektin. Örtlich ist er weit gespannt. Er reicht von Europa bis Japan, von China bis Kuba.*

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Wien 1992

I. Studienzeit

Die Kunstgewerbeschule 1915–1920

Trotzdem muss ich mit meiner Studienzeit beginnen, denn ich habe sie an einer Schule verbracht, die damals eine der bedeutendsten Kunstschulen Europas war. Bis zum 15. Lebensjahr hatte ich nur eine Volks- und Bürgerschule besucht. – Keine Mittelschule, keine Reifeprüfung, keine weitere Allgemeinbildung. Nachher ein Jahr Lehrzeit bei einem Maler, dann zwei Jahre Besuch der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien mit Kopf-, Akt- und ornamentalem Zeichnen. Als ein künstlerisch völlig unverbildetes Wesen nahm ich alles, was mir begegnete, zwar aufgeschlossen, doch kritiklos in mich auf. 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, kam ich als Achtzehnjährige in die Kunstgewerbeschule, heute Hochschule für angewandte Kunst* am Stubenring in Wien. Hier lehrten die Maler Oskar Kokoschka, Kolo Moser und Berthold Löffler, der große österreichische Bildhauer Anton Hanak und Rudolf von Larisch, der die Schönheit der Schrift für Europa entdeckt hat. Hier lebte noch etwas vom Geiste der Wiener Secession, und hier leiteten Josef Hoffmann, Oskar Strnad und Heinrich Tessenow die drei Architekturklassen. All diese Persönlichkeiten prägten zu meiner Zeit die Atmosphäre an der Schule, die einen starken Einfluss auf junge Menschen und ihr späteres Leben haben musste. Obwohl ich noch keine Ahnung hatte, welchen Beruf ich ergreifen wollte, obwohl mir alle die oben Genannten völlig unbekannt waren, so war es doch mein größter Wunsch, in diese Schule aufgenommen zu werden. Der Zustrom der Schüler war groß. Es gab eine Aufnahmeprüfung. 200 kamen zur Prüfung, doch nur 40 konnten aufgenommen werden. Im Zusammenhang damit verdient eine kleine Anekdote über den großen Maler Klimt, festgehalten zu werden.

Die Klimt-Anekdote

Alles in der Monarchie ist Protektion, so dachten meine Eltern. Meine Mutter war mit den drei Schwestern Flöge befreundet, bekannt durch ihren Modesalon für Kleider secessionistischer Prägung. Eine von den dreien war Klimts Frau,* und meine Eltern dachten, mir durch diese »Beziehung« zur Aufnahme verhelfen zu können. Man zeigte Klimt Arbeiten von mir. Er versprach, sich bei seinem Freund Roller, dem bekannten Bühnenbildner und damaligen Direktor der Schule, für mich zu verwenden. Doch die Aufnahmeprüfung kam, und das versprochene Billett blieb aus. Ich war glücklich darüber, denn Protektionswirtschaft war mir in der Seele zuwider. Ich hatte kaum die Wohnung verlassen, als ein Brieflein gebracht wurde. Es war von Gustav Klimt. Auf der Visitenkarte stand in Klimts schöner, ornamental-dekorativer Handschrift: »Lieber Roller! Zu meinem Leidwesen bin ich gezwungen, die Überbringerin dieses Schreibens Dir zu empfehlen. Bitte handle ganz nach Deinem Gutdünken. Dein Klimt.« Das Billett, das so ein sympathisches Licht auf seinen Schreiber wirft, wurde achtlos weggeworfen – heute wäre es museumsreif.

Oskar Strnad, der große Lehrer

Im großen Saal der Schule am Stubenring erwarteten aufgeregt 200 junge Menschen die Aufnahmeprüfung, unter ihnen auch ich, ganz hinten im Saal. Im Vordergrund erschien ein kleiner Mann, den ich zwar hören, aber kaum sehen konnte: Oskar Strnad. Er stellte uns eine einzige Aufgabe: »Zeichnen Sie eine Gartenlaube!« Ich kaute ratlos an meinem Bleistift. Einige fragten mutig: »Wie sollen wir das machen? Grundriss, Aufriss, Schnitt oder eine perspektivische Zeichnung? In welcher Technik?« usw. »Machen Sie das, wie Sie wollen, wie Sie sich eine Gartenlaube vorstellen«, war die Antwort. 200 junge Leute zeichneten und malten drauflos. Auch ich brachte schließlich eine mit Bleistift schattierte, perspektivische Zeichnung einer Gartenlaube zu Papier, obwohl ich von Perspektive keine Ahnung hatte. Ich blickte mich um und fand, dass alle anderen viel bessere und schönere Gartenlauben zusammengebracht hatten. Hoffnungslos trat ich einige Tage später vor das schwarze Brett in der Eingangshalle. Kaum zu glauben, da stand mein Name. Ich konnte nicht begreifen, dass andere, die viel mehr konnten als ich, nicht aufgenommen worden waren. Viel später habe ich das Strnad erzählt. Er lachte. »Ja, das ist es gerade. Ich will nur junge Menschen in die Hand bekommen, die noch nicht durch irgendwelche ›Kunst‹schulen verbildet worden sind. So, wie man nur weichen Ton kneten kann.« Die Schule war damals so aufgebaut: Erst drei Jahre Vorbereitungsklasse, dann wählte man seinen Beruf und wurde in die entsprechende Fachklasse eingewiesen: Architektur, Bildhauerei, Keramik, Textil, Mode usw. Automatisch kam ich nach der Prüfung in die erste Vorbereitungsklasse, die Klasse für allgemeine Formenlehre, die Strnad leitete. Ich war ahnungslos, welch großem Lehrer ich da in die Hände geraten war.

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Zu Studienbeginn

Oskar Strnad war einer jener Architekten, die sowohl in Österreich wie auch international viel zu wenig gewürdigt werden, im Vergleich etwa zu Adolf Loos oder Josef Frank. Das kommt zum Teil wohl daher, dass Strnad fast nichts geschrieben hat, und Schreiben macht den Architekten erwiesenermaßen weit populärer als »bloß« Lehren oder Bauen. Strnad war voller Phantasie, voller Einfälle, zeichnerisch außerordentlich begabt, sensibel, musikalisch – er spielte gut Geige –, umfassend gebildet und ein großartiger Lehrer. Seine Gedanken trug er mit hinreißender Lebendigkeit vor. Wenn er zum Beispiel nur eine halbe Stunde, sprühend vor Geist und Humor, über griechische Architektur sprach – viele Zusammenhänge zwischen historisch-gesellschaftlicher Situation und baulich-künstlerischem Ausdruck bloßlegend –, dann hatte man mehr davon als von einem ganzen Semester Unterricht bei manchem Kunsthistoriker.

Wäre ich damals nicht bei Strnad in die Vorbereitungsklasse eingewiesen worden, ich wäre nie auf die Idee gekommen, Architektin zu werden. Vor allem aber wäre ich ein anderer Mensch geworden. Das sage ich nicht nur von mir selbst, so denken auch viele andere seiner ehemaligen Schüler, und das ist wohl das Beste, was man von einem Lehrer sagen kann.

Für mich, die ich ein künstlerisch naives und unwissendes Geschöpf aus bürgerlich-halbintellektuellen Kreisen war, gab es zur Zeit, als ich an die Schule kam, kein anderes Kriterium über Formen als: Das gefällt mir oder das gefällt mir nicht. Das genügt aber nicht für Menschen, die selbst Formen zu schaffen haben. Ich sah alles nur statisch, urteilte über die Dinge, wie sie eben gerade aussahen, nie dynamisch in ihrer Entwicklung. Dass Formen primär auch einen Inhalt haben, wodurch sie entstehen, dass gesellschaftliche und wirtschaftliche Grundlagen, Technik, Material und Funktion bestimmend für sie sind, darüber hatte ich vorher nie nachgedacht. Strnad aber brachte uns sehr bald dazu, uns über Beziehungen zwischen Material und Form, über Schein, Lüge und Wahrhaftigkeit bei Formen Rechenschaft abzulegen. Langsam ging einem ein Licht darüber auf, dass Formen nichts Äußerliches sind, das dem Hirn eines Einzelnen entspringt, sondern dass jeder künstlerische Ausdruck, von der Form eines Glases angefangen bis zur Gestaltung einer Stadt, etwas ist, das mit Gesinnung, mit Charakter, mit Weltanschauung zu tun hat. Das war wie eine Offenbarung! Ist man davon einmal durchdrungen, dann ist man fürs Leben gegen alles Modische, zufällig Vorübergehende in der Architektur gefeit.

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Oskar Strnad

Die Beschreibung der ersten Tage in der Vorbereitungsklasse bei Strnad ist aufschlussreich. Jeder Schüler bekam zuerst einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem er vermerken sollte, welchen Beruf er ergreifen wollte. In großer Verlegenheit und nach langer Überlegung, nur damit etwas auf dem Papier stand, schrieb ich »Illustrieren«.

In der ersten Unterrichtsstunde rief Strnad einen Burschen nach vorne:

»Wo haben Sie bis jetzt gearbeitet?«

»Ich war in einer Keramikschule.«

»Was haben Sie zuletzt dort gemacht?«

»Ich habe einen Hasen gemacht.«

»Und warum haben Sie einen Hasen gemacht?«

Keine Antwort.

»Wollten Sie vielleicht damit Geld verdienen?«

»Nein.«

»Wenn Sie einen Hasen gemacht haben, dann müssen Sie doch wissen, warum. Also warum?« Keine Antwort.

Er quälte den armen Jungen, und ich verstand weder, wozu das gut war, noch, worauf er hinauswollte. Er rief einen zweiten: »Was ist ein Stuhl?« Welche Frage? Es folgten die verschiedensten Definitionen eines Stuhls. »Nein«, sagte Strnad, »unter all dem kann sich ein Mensch, der noch nie einen Stuhl gesehen hat, nichts vorstellen.« Und dann präzise: »Ein Stuhl ist ein Prisma in der Höhe der Unterschenkel.« Strnad wollte zuerst einmal alles in unseren Gehirnen ordnen und auf die Grundformen Kugel, Kegel, Prisma, Pyramide etc. zurückführen, auf die Formen, die man sofort erkennt und versteht. Alles sollte von Grund auf überlegt und analysiert werden. Damals tat mir der Junge da vorne leid, ja uns allen, denn ich begriff nichts. Was sollte werden? Deprimiert ging ich von der ersten Unterrichtsstunde nach Hause.

Bald wurde es konkreter. Warum ist ein Schnapsglas schmal und hoch, ein Champagnerglas aber breit und flach oder ein Kelch mit oben ausladendem Rand? Die Antwort: Weil man Schnaps rasch in die Kehle schüttet, Champagner aber in kleinen Schlucken trinkt. So einfach ist das, und doch, niemand von uns wusste es, niemand von uns hatte je darüber nachgedacht. Das packte mich. Und ich fing an, wo ich ging und stand, über alle Dinge, die ich sah, nachzudenken, ganz fanatisch, auf der Straße und im Haus, in der Wohnung und in Geschäften, einfach über alles und jedes, an dem ich vorher achtlos vorbeigegangen war.

Im Zimmer neben unserer Vorbereitungsklasse lag der Raum der Strnad’schen Fachklasse für Architektur. Vom ersten Tag an steckte ich meinen Kopf da hinein und sah fasziniert Baupläne an. Nach all dem »freien Zeichnen« von Akt und Köpfen und sinnlosen Ornamenten in der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt erkannte ich, dass bei dem Plan eines Hauses oder einer Baukonstruktion jedes Strichelchen, jeder Millimeter Sinn und Bedeutung hat und Verantwortung trägt für die Umsetzung in die Realität – in den konkreten Bau, in Architektur, die den Menschen täglich umgibt und sein Wohlbefinden, sein Glücksgefühl mindern oder steigern kann. Ich erkannte, dass in jedem dieser Strichelchen und Millimeter etwas vom realen Leben der Menschen steckt. Der Plan für einen aus Holzbalken gut und elegant konstruierten Dachstuhl hat mich damals ästhetisch mehr bewegt als das schönste Gemälde.

Nach einem halben Jahr Vorbereitungsklasse erklärte ich Strnad, ich wolle Architektin werden. Offensichtlich hielt er das für eine vorübergehende Idee eines unreifen Mädchens, die er mir auszureden hatte. Humoristisch und mit allen nur möglichen, phantasievollen Ausschmückungen schilderte er, mit welchen Schwierigkeiten er als Mann zu kämpfen hatte und wie schwer dieser Beruf für ein junges, weibliches Wesen sein müsste. Auch bei meiner Familie gab es Schwierigkeiten. Niemand würde jemals eine Frau ein Haus bauen lassen. Als Strnad aber feststellte, dass ich unerbittlich bei meinem Entschluss blieb, nahm er sich sehr meiner an und stellte mir dauernd neue Aufgaben.

Die erste war, eine Kassette für die Gegenstände einer feinen Dame zu zeichnen, für Schleier, Handschuhe, Schmuck usw. Als Neuling glaubte ich, mir so viel wie möglich ausdenken zu müssen. Die Kassette spielte alle Stückerln, wie man auf Wienerisch sagt. Sie konnte nach oben und nach allen Seiten aufgeklappt werden, hatte Schiebe- und Drehfächer und sogar ein Geheimfach. Ich hatte kaum gelernt, eine Reißschiene zu halten, und musste nun alles in Grundriss, Aufriss und Schnitte auflösen und das mit allen genauen Maßen, damit ein Tischler nach meinen Plänen die Kassette auch herstellen konnte! Als zweite Aufgabe kam der Entwurf eines Hauses für einen Schuster, mit Wohnung, Werkstatt und Lager. Einmal ließ mich Strnad aus einem Gipsblock ein Gesimse schneiden. Mit Hilfe von vielen Hohleisen und Messern schnitt ich, schnitt und schnitt und der Block wurde immer kleiner und kleiner. Strnad kam täglich vorbei, lächelte und sagte nichts. Drei Wochen ließ er mich zappeln. Er wollte, dass ich mit eigener Hand etwas herstellte, dass ich mich mit handfestem Material abplagte und die richtige Wertung und das Gefühl dafür in die Finger bekam. Irgendetwas Gesimseähnliches kam schließlich bei der Sache auch heraus.

Strnad war ein großer Architekt, hätte man ihn nur bauen lassen! Das aber war nicht der Fall! Gehörte er doch mit manchen anderen seiner Zeitgenossen wie Karl Kraus, Loos, Schönberg, Frank und Kokoschka nicht zur institutionalisierten, offiziellen Kunstwelt der Monarchie, sondern zum weit in die Zukunft blickenden »anderen Österreich«.

Mit ihnen zusammen wirkte er in der außergewöhnlichen Atmosphäre des damaligen Wien, in der ich, als seine Schülerin, aufwuchs.

Einmal zeigte er mir eines der wenigen Häuser, die er hatte bauen dürfen – eines der schönsten und wohnlichsten, die ich je gesehen habe. Es war die Villa des Schriftstellers Jakob Wassermann, mitten in den Weinbergen der Südhänge des Wienerwaldes. Zwei wesentliche Gesichtspunkte lagen der Anlage zugrunde. Immer, wenn ich später einen Entwurf in Angriff nahm, dachte ich an diese stets wiederkehrenden zwei Forderungen Strnads. Die erste: Es ist von grundlegender Bedeutung, wie man in ein Haus hineinkommt. Man soll allmählich hineingehen können und dann direkt auf den zentralen Punkt zugeführt werden. Im Hause Wassermann explizierte mir das Strnad selbst in all seiner Lebhaftigkeit. Durch einen langen Gang, der sich mit Glastüren zum Gartenhof öffnet, ging man zum Wohnraum und dort gerade auf den Kamin zu, um den sich die Familie in ihren Mußestunden versammelte. Die zweite Forderung: Architektur und Natur, Haus und Garten, sollen miteinander verschmelzen, die Trennung zwischen beiden möglichst aufgehoben werden, indem man viel von menschengeformter Architektur, von geraden Linien in die Natur hinausbringt und möglichst viel Natur ins Haus hineinträgt und so einen Übergang schafft. Diese zwei Prinzipien hat Strnad beim Hause Wassermann aufs Glücklichste verwirklicht.

Da man Strnad nicht bauen ließ, flüchtete er in die Theaterarbeit, um als durch und durch schöpferischer Mensch produzieren zu können. Er war mit Royaards, dem großen holländischen Regisseur, ebenso wie mit Max Reinhardt befreundet. Mit ihnen als Bauherren arbeitete er an einem Theaterprojekt. Es war ein Dreibühnentheater. Der Zuschauerraum wurde von diesen Bühnen umfasst, und man konnte auf einer, zwei oder allen drei Bühnen gleichzeitig Theater spielen. Darunter waren nochmals drei Bühnen, die mit den oberen einen ständigen Umlauf bilden konnten, anstatt des Umlaufs der üblichen Drehbühne. Es war das Bestreben, vom Bühnenrahmen, der von der alten Ballettbühne stammt und Bühne und Publikum voneinander trennt, loszukommen. In den Ferien 1917 arbeitete ich in Strnads Atelier. Meine Aufgabe war, dieses Projekt, das Strnad eigenhändig in kleinem Maßstab skizziert hatte, vergrößert und so vereinfacht umzuzeichnen, dass ein Tischler danach ein Modell anfertigen konnte. Was ich bei dieser Gelegenheit zum Beispiel über eine Faustinszenierung voller neuartiger, phantasievoller Einfälle erfuhr, was ich an Gesprächen zwischen Reinhardt, Royaards und Strnad über Regie mitbekam, hat meine Beziehung zum Theater für das ganze Leben beeinflusst.

1918, gleich nach Kriegsende, kam Professor Hanslik, ein Freund Strnads, mit einer interessanten Idee zu uns in die Schule. Statt das Geld für die üblichen Kriegerdenkmäler, die nun in ganz Österreich wie Pilze aus der Erde schießen würden, zu verzetteln, sollte man doch alle Beträge zusammenlegen und ein großes Kulturwerk für die Lebenden, zum Gedenken an die Toten, schaffen – ein Kulturwerk in Form einer umfassenden Anlage, bestehend aus Konzerträumen, Theatern, Museen, Bibliotheken, Wandelgängen für Diskussionen, Klubräumen usw. Das war natürlich ein Luftprojekt. Strnad wollte es nicht selbst in Angriff nehmen, doch war es den Gedanken wert, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und er stellte mir diese Aufgabe. Das Hanslik-Projekt habe ich in der Schule ausgearbeitet. Die meisten Ideen stammten natürlich von Strnad und boten Gelegenheit zu den interessantesten Gesprächen über kulturelle Probleme. Schon damals hatte Strnad die Idee, ein Museum in Form eines riesigen vierzehneckigen Turms zu bauen, an dessen Außenwand sich eine flach ansteigende Rampe in die Höhe windet. Der Besucher geht allmählich die Rampe empor, auf der er aufsteigend vom frühen Altertum bis zur Gegenwart die Ausstellungsstücke betrachten kann. 35 Jahre später wurde ein solcher Museumsturm von Frank Lloyd Wright für das Guggenheim Museum in New York gebaut. 1918 war ein Museumsturm Mittelpunkt der von mir projektierten Kulturanlage. Dahinter hatte ich überdeckte Wandelgänge vorgeschlagen, rund um Gartenanlagen, Räume der Konzentration im Freien, ähnlich antiken Anlagen oder mittelalterlichen Kreuzgängen. Strnad war sofort darauf eingegangen. Dieser Gedanke hat mich auch später für den modernen Städtebau nie mehr losgelassen. Leider konnte ich ihn nirgends verwirklichen. Es ist meine Überzeugung, dass er heute aktueller ist denn je. Unser hektisches Großstadtleben mit Automobil- und Radiolärm, mit all dem Stress in Arbeits- und Freizeit, fordert kategorisch ein Gegengewicht, das sich städtebaulich in stillen Freiräumen ausdrücken sollte, in denen die Menschen in Ruhe nachdenken und sich abseits vom Trubel des kollektiven Lebens sammeln können, in denen sie mit einem oder zwei Menschen ihre Gedanken austauschen, abgeschlossen von Hast und Unruhe, in Verbindung mit körperlicher Erholung innerhalb gärtnerisch gestalteter Natur. Keine Gartenhöfe, in die man aus Hunderten von Fenstern einer Wohnanlage blickt, sondern erdgeschoßige, von außen abgeschlossene Wandelgänge, Anlagen, wie sie schon die Menschen der Antike und des Mittelalters als notwendigen Kontrast zum kollektiven Leben verwirklicht haben. Das eine darf das andere keineswegs ausschließen. Eine solche Anlage war an den Kulturpalast des Projekts von 1918 angeschlossen. Dieses Projekt hat viel dazu beigetragen, dass ich für meine Arbeiten in der Schule 1919 den Lobmeyr-Preis erhielt, was nur deshalb von mir hier erwähnt wird, weil dieser Preis damals das erste Mal an eine Frau verliehen wurde.

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Kulturpalast, »Hanslik-Projekt« Isometrie der Gesamtanlage, Wien 1918

Zu meinem endgültigen Entschluss, Architekt zu werden, trug schließlich folgende, für Strnad bezeichnende Begebenheit bei. An der Schule war ein Wettbewerb für Arbeiterwohnungen ausgeschrieben. Ich wollte mich daran beteiligen. Strnad sagte: »Gut. Aber bevor Sie damit anfangen, gehen Sie hinaus in die Arbeiterbezirke und sehen Sie sich an, wie die Arbeiter bei uns heute wirklich wohnen und leben.«

Ich ging, ich sah und ich erfuhr von der unvorstellbaren Wohnungsnot der Wiener Arbeiter vor und während des Ersten Weltkriegs. Nicht selten hausten acht oder neun Menschen in einem Zimmer, und ich fand kaum ein Kind, das nicht mit ein oder zwei Geschwistern in einem Bett schlafen musste. Ich kannte noch nicht den großartigen Ausspruch Heinrich Zilles: »Man kann einen Menschen mit einer Wohnung ebenso töten wie mit einer Axt«, aber genau das empfand ich. Ich entdeckte immer deutlicher: Neben meiner Schicht von Bürgerlich-Intellektuellen und neben den Menschen, die sich jenseits der Klassen als eine Elite betrachteten, lebte in Wien eine riesige Volksschicht von Hunderttausenden Menschen ihr angespanntes, mir bis dahin unbekanntes Leben. Über die Ursachen ihres Elends war ich mir damals nicht im Klaren, doch wollte ich einen Beruf ergreifen, durch den ich zur Linderung dieser Not beitragen konnte. Mein Entschluss, Architekt zu werden, stand endgültig fest. Und so verhalf mir der kleine Mann, der 1915 in den Saal mit den 200 erwartungsvollen Prüflingen trat, zu wesentlichen Erkenntnissen und wurde damit bestimmend für mein ganzes Leben. Was doch ein großer, wahrer Lehrer und Erzieher alles vermag! Welche Schlussfolgerung für die jetzige Situation kann man aus solcher Lehrzeit ziehen? Kann ein Lehrer an einer Hochschule über die Vermittlung des Wissens im engeren Sinn hinaus bei der heutigen Spezialisierung, der Differenzierung der Planung, der rapide wachsenden Technik noch solch allgemeinen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung seiner Schüler haben? Wir waren wirklich Schüler eines Meisters, der unser Gesamtwesen formte.

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Zu Studienbeginn

Ich fühle mich außerstande, diese Frage zu beantworten, da ich nie gelehrt habe. Doch möchte ich sie in diesen »Erinnerungen« nicht unerwähnt lassen und zur Diskussion stellen.

Zu Josef Hoffmann und Rudolf Larisch

Josef Hoffmann, der zu meiner Zeit auch eine Architekturklasse in der Schule leitete, lehnte ich damals ab. Zuerst einmal, weil er Mädchen nur in seine Modeklasse, aber nicht in die Architekturklasse aufnahm. »Die heiraten sowieso, und dann hören sie mit dem Architektsein auf. Das lohnt nicht der Mühe.« So seine Einstellung. Obwohl ich mich nicht als Frauenrechtlerin fühlte, in der Realität war ich es wohl. Eine solche Einstellung empfand ich als ungerecht und reaktionär. Auch die Arbeiten der von Hoffmann gegründeten und geleiteten Wiener Werkstätte lehnte ich damals, lange bevor ich den großen Gegner Loos kannte, ab. Ihre Erzeugnisse waren nur für die oberen Zehntausend erschwinglich. Ich betrachtete es als unsozial, wenn zum Beispiel ein Dagobert Peche ein Jahr lang an einem Intarsien-Tisch arbeitete. Und wurde dieser noch so »schön«, mich interessierte er nicht. »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort«, so war es damals jedenfalls bei mir in Bezug auf Josef Hoffmann. Zehn Jahre später erkannte ich beim Erleben des berühmten Stoclethauses in Brüssel das erste Mal, dass Hoffmann ein großer Architekt seiner Zeit war, aber eben ein Architekt nur seiner Zeit, im Unterschied zu Strnad oder Loos, die ihrer Zeit vorausgeeilt sind. Er ist, wenn auch mit großem Können, ein Architekt des Dekors, des Ornaments, der Secession geblieben.

Rudolf Larisch unterrichtete Schrift und Heraldik. Durch diesen leidenschaftlichen Meister der Schrift (sein Buch ist heute noch das grundlegende zu diesem Thema) lernte ich Gesetz und Ordnung wie Rhythmus und Musikalität in den mittelalterlichen, europäischen, wie auch in den asiatischen Schriften, insbesondere der chinesischen, zu empfinden. Ich selbst verfertigte damals bei Larisch mit unendlicher Mühe und Geduld handschriftlich ein ganzes Buch.

Heinrich Tessenow

Tessenow war von 1900 bis 1919 Professor an meiner Schule. Er hatte eine Fachklasse für Architektur, außerdem lehrte er für alle Architekturstudenten des Hauses Baukonstruktion. Dadurch wurde auch ich seine Schülerin. Er war einer der bedeutendsten Lehrer der Anstalt. Ein größerer Gegensatz als der zwischen Tessenow und Strnad war kaum vorstellbar. Trotzdem ergänzten sich die beiden in ihrem Unterricht ganz ausgezeichnet. Strnad, klein und zart, ein quicklebendiger, geistsprühender Intellektueller voll Witz und Charme, Tessenow ein körperlich etwas steifer und kräftig wirkender Norddeutscher, seine Vorfahren waren mecklenburgische Bauern und Handwerker, er war gelernter Zimmermann gewesen – dabei ebenso sensibel und bescheiden wie Strnad. Jede Art von Publicity war beiden fremd, Kompromisse in der Arbeit waren für sie undenkbar, Tessenow sah den Wohnbau zutiefst als soziale Aufgabe an. So schrieb er gerade damals, als ich bei ihm lernte: »Wir brauchen heute mehr denn jemals das, was sich unserer großen Allgemeinheit mitteilt …«, oder: »Wir haben viel zu viel Sonderbares … Intellektuell-Erdachtes, das weg vom realen Leben führt …«, oder: »Wir haben das für uns ganz Wesentliche, oder das Einfach-Notwendige festzuhalten.« »Keine Angst vor Einfachheit«, predigte er uns immer wieder, und »es dauert sehr lange, bis man zur Einfachheit kommt«. Ja, das ist es eben, »das Einfache, das so schwer zu machen ist«, wie Bertolt Brecht 25 Jahre später sagte. Wie Loos gebrauchte auch Tessenow das Wort Kunst nur mit äußerster Vorsicht. Immer wieder setzte er sich im Unterricht mit der Frage der Symmetrie auseinander, die ihn damals offenbar sehr beschäftigte. Doch wollte er keine aufdringliche Symmetrie, die man den Menschen mit dem Holzhammer einbläut. Von ihm stammt der schöne Satz: »Die Symmetrie ist umso besser, je schwerer man ihre Achse findet.«

Heute, nach 70 Jahren rasanter technischer Entwicklung, kann man sich kaum vorstellen, dass der Wohnbau damals ausschließlich Handwerk war, wenn auch schon etwas verschlamptes Handwerk. Aber unter den Arbeitern in Wien gab es damals noch viele vortreffliche Handwerker, die der alten Tradition verpflichtet waren. Und Tessenow baute seinen Unterricht in Baukonstruktion ganz auf das Wissen über dieses Handwerk auf. Seine Kenntnis um alles Handwerkliche, verbunden mit seiner außergewöhnlichen Feinfühligkeit, wie das seine Handzeichnungen beweisen, das alles ging an uns Schülern, wenn wir auch »nur« Baukonstruktion bei ihm hörten, keineswegs spurlos vorbei.