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Peter Rosei

Wien Metropolis

Roman

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Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© 2016 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin

Lektorat: Jessica Beer

ISBN Printausgabe 978-3-7017-1664-7

ISBN eBook 978-3-7017-4610-1

Inhalt

I. Teil

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

II. Teil

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

III. Teil

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

I. Teil

1. KAPITEL

In der Schönborngasse, im achten Wiener Gemeindebezirk, steht ein fünf Stock hohes Haus an der Ecke zur Josefstädterstraße. Das Haus ist schönbrunnergelb gestrichen und unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den Nachbarhäusern, die allesamt aus der Gründerzeit herstammen. Weibliche Köpfe im Halbrelief – es sind die Köpfe von Göttinnen, deren Namen und Treiben bloß in Vergessenheit geraten sind – schmücken den Fries, der oben, oberhalb der letzten Fensterreihe, als zart gerieftes Band um das Gebäude herumläuft, und aus dem Haar dieser Göttinnen entwirren sich Bänder und Girlanden aus Stuck, die in tändelndem Rhythmus, wie materialgewordene Töne einer leichtfüßigen, etwas abgedroschenen Musik, die Hauswände überspielen. An der Ecke zur Josefstädterstraße, etwa in Höhe des Mezzanin, ist als weitere Dekoration ein überdimensionierter Männerkopf mit wallendem Prophetenbart postiert, dessen weise verschlossene Lippen im Zusammenspiel mit den weit geöffneten, aber blind starrenden Augen keinerlei Botschaft verkünden, es sei denn die einer sich selber verlustig gegangenen Seele mit ihrer heiteren, ja glücksversessenen Adaption an das Dasein.

In dem Haus, in einer kleinen Wohnung im vierten Stock, mit Blick auf die Josefstädterstraße, wohnten die beiden Herren Franz Joseph Pandura und Georg Oberkofler. Vor dem Krieg hatte Oberkofler, schon damals Soldat, allerdings beim noch österreichischen Militär, in der Wohnung zusammen mit seiner Frau gelebt. Noch war den anderen Hausparteien erinnerlich, wie der fesche, großgewachsene Oberleutnant, sein blondes, vielleicht ein bißchen grell aufgemachtes Frauchen am Arm, die breiten Treppen hinuntergestiegen und in einen einladenden, vielversprechenden Abend, einen Sommerabend etwa, zeremoniell und förmlich, wie es sich für einen Offizier gehört, aber nicht unelegant hinausgetreten war.

Die Wohnung bestand nur aus zwei großen Zimmern samt Nebenräumen wie Bad und Küche und stellte in dem Haus an der Schönborngasse eigentlich eine Ausnahme dar. Die Wohnungen zählten nämlich in der Regel vier Zimmer oder mehr und waren herrschaftlich.

Es war auf dem Rückzug der deutschen Armeen in der Gegend von Allenstein in Masuren in Polen, also eher schon dem Ende der Schlachtereien des Großen Krieges zu – die kommenden Monate sollten allerdings besonders blutig werden –, daß im Wohntrakt eines Herrengutes, erst kurz zuvor war es von seinen Bewohnern geräumt worden, sich folgendes zutrug: Die Soldaten einer in Auflösung befindlichen deutschen Kompanie entdeckten ein erleuchtetes Fenster in der Nacht. In der Eile der Flucht hatten die Gutsleute wohl vergessen, gerade diese eine und letzte Lampe zu löschen. Die Soldaten brachen mit ein paar Kolbenschlägen das Hoftor auf und drangen ins Haus ein. Im Kamin im großen Salon fanden sich unter einer dünnblättrigen, brüchigen Schicht von grauer Asche – man hatte wohl Papiere verbrannt – noch Knollen von roter, wärmespendender Glut. Bald hatte einer der Männer die Treppe, die zum Vorratskeller hinunterführte, entdeckt. – Als endlich die Nachhut eintraf, angeführt von keinem anderen als dem Oberleutnant Oberkofler, der Pandura, seines Zeichens Stabswachtmeister, war bereits bei der ersten Gruppe dabeigewesen, da fand der Oberkofler seine Leute und also auch den Stabswachtmeister Pandura schon beim Plündern. Zwar hatte der Pandura alle vorgefundenen Fässer durch gezielte Pistolenschüsse zuschanden geschossen, er hatte aber im Durcheinander nicht verhindern können, daß der eine oder andere sein Kochgeschirr oder sonst ein Gefäß unter den kalt und dunkel herauspritschelnden Weinstrahl gehalten hatte. Der Oberkofler machte auch gar kein Aufhebens von der sich anbahnenden Sauferei, er sagte nur in Richtung Pandura, aber so laut, daß alle es hören konnten: »Wer morgen liegen bleibt, wird eben vom Russen erschossen.« Dann warf er seine Handschuhe auf einen Tisch, setzte sich und streckte die Beine breit aus.

Später am Abend, die Soldaten waren ruhiger geworden, manche hatten sich schon auf dem Boden zusammengerollt oder waren auf irgendeinem Möbel in voller Montur eingeschlafen, saß der Pandura mit einer Flasche klaren Schnapses, die er beiseitegebracht hatte, am jetzt dunklen und vor Kälte knirschenden Fenster und schaute in die Nacht und den seltsam bleich im Mondlicht sich streckenden Garten hinaus: Schnee und Eis bedeckten die Wiesen, die Bäume mit ihrem schwarzen Astwerk glichen Peitschen, die, von unsichtbarer Hand geschwungen, im Frost erstarrt waren. Von hinten trat der Oberleutnant Oberkofler, der, am Kaminsims lehnend, schon die längste Zeit den Pandura betrachtet und beobachtet hatte, an ihn heran und legte ihm, was ganz ungewöhnlich und eigentlich unausdenkbar war, die Hand auf die Schulter und sagte mit rauher Stimme: »Geh schlafen!« – Die Stimme klang freundlich, und rauh nur vom langen Schweigen. Der Pandura fuhr wie elektrisiert herum, sein Erstaunen war aber bloß gespielt, denn eigentlich und im Grund hatte er, wie er da so vor dem Fenster saß, auf ein Herantreten des Oberkofler gewartet.

Die beiden, der Oberkofler und der Pandura, eigentlich von Pandura, kannten einander schon lang: Im Verband der deutschen Wehrmacht hatte man sie bald nach Kriegsanfang derselben Einheit zugeteilt. Allerdings waren sie erst durch eine der Umgruppierungen innerhalb des Regiments, wie sie die großen Verluste notwendig machten, in einen direkten Zusammenhang miteinander gekommen: Über die Jahre hatte der eine nach dem anderen, der andere nach dem einen Ausschau gehalten, sei es an der Feldküche oder bei der Befehlsausgabe, sei es im Kasernenhof oder auf der Bahn, wenn sie zufällig einmal gleichzeitig nach Wien, auf Heimaturlaub abkommandiert gewesen waren. Die Tatsache, daß der eine, Oberkofler, Offizier, der andere, Pandura, bloß Unteroffizier war, hatte natürlich ihrer Bekanntschaft von Anfang an – wenn man denn bloße Blicke schon als Bekanntschaft bezeichnen will – eine zusätzliche Scheu und Wunderlichkeit beigemischt.

Einmal war der Pandura, es war auf dem Vormarsch in der Ukraine, also über zwei Jahre her, von dem Vorfall in Allenstein gerechnet, da hatte der Pandura beim Vorrücken in der Straße irgendeines staubigen Städtchens kurz vor der schmalen Auslage eines Geschäftes gehalten, weil dort – wie ein Mahnmal aus einem anderen Leben – ein Paar Schuhe ausgestellt gewesen war: Im Spiegeln der schmalen Scheibe hatte er den Oberleutnant Oberkofler, der im Dreck der Straße marschiert war, anhalten sehen – und wie der lang und eindringlich zu ihm herübergeschaut hatte. – Später, so gestand zumindest Oberkofler es sich ein, hatte er es sich als Ausrede zugute gehalten, daß der Pandura ja auch aus Wien stammte, ein richtiger Landsmann war, um sich sein auffälliges Interesse für den zu erklären und zu rechtfertigen, denn im Großen und Ganzen war kaum etwas an dem Mann, das die Attraktion plausibel und landläufig hätte erscheinen lassen können.

Eigentlich wirkte der Pandura schmierig, mit seinem breiten, dunkel getönten Gesicht, das fast ein Vollmondgesicht war, mit der pummeligen, untersetzten Figur, mit seinem breitbeinigen, walzenden Gang. Er hielt sich schlecht, was Schmiß und Auftreten anlangte, offenbar aus Bestemm. Er war aber schneidig, wenn es drauf ankam. Ja, der Pandura war tapfer, und er hatte ein Herz. Bei den besonnenen, älteren Soldaten, die oft auch Familien in der Heimat hatten, galt er als Narr. In Momenten der Tollkühnheit verwandelte sich der ganze Mann, wurde der Pandura ein anderer – gerade so, als wenn man einen Löwen aus einem Ochsen hervorgezogen hätte: Besser konnte der Oberkofler es nicht ausdrücken. Der Pandura wurde dann klein und gedrungen vor Kraft, alles an ihm spannte sich und wurde hart; zugleich war der Mann leicht und beweglich, wie die Nadel einer Bussole, wie der Flaum einer Schneeflocke – aber es war klar, daß bei ihm kein Durchkommen sein würde. – Ging es nach vorn, war der Pandura wie ein Schild, hinter dem man sich verstecken konnte.

Die Schlachtfelder stanken nach Leichen. Es war dem Pandura in solchen Momenten offenbar gleichgültig, was denn der Preis sein würde.

In Ruhestellung war er meist verschlossen und in sich gekehrt. Nur der Glanz der großen, braunen Augen verriet, daß etwas in ihm vorging, in seiner Seele. Ein Spieler und ordentlicher Säufer – dieser Pandura! – Es war wohl dieses dunkle und manchmal, stöberte oder störte man den Mann auf, feindselig wild und heiß funkelnde Augenpaar, das den Oberkofler für den Pandura ursprünglich eingenommen hatte.

Bei der Mannschaft war der Pandura wenig beliebt; ganz im Gegensatz zum Oberleutnant Oberkofler. Das Wesen des Pandura war einfach zu unausgeglichen und schroff, sein Hang zur Absonderung zu groß, seine Launen zu jäh, seine Vorlieben zu extrem.

»Eigentlich bin ich auf einem Bergbauernhof im Pinzgau aufgewachsen. Von dem Hof aus hat man zum Wiesbachhorn, zum Schwarzkopf und zum Glockner hinübergesehen. An schönen Sommertagen, vormittags, wenn die Luftmassen über dem Tal noch rein und ungetrübt waren, blitzte und glänzte aus der Tiefe des Tals der Zeller See herauf. Drüben die Ortschaften Bruck und Fusch, als bunte Flecken oder Flicken – wo sie später die Glocknerstraße gebaut haben.«

Der Oberkofler erzählte und schaute den Pandura an.

»Die Verarmung der Arbeiter im Tal unten ist schließlich auch auf die Bauernwirtschaften übergesprungen. Mitten in der großen Krise brachte mich mein Vater an den Zug in Taxenbach: Am Schalter löste er mir eine Fahrkarte nach Wien. Von dort sollte es dann weitergehen gegen Osten, nach Bruck an der Leitha. Dort war die Militärschule damals. Unser Herr Pfarrer aus der Kirche in Sankt Georgen hat mir den Freiplatz vermittelt.« – Der Oberkofler erzählte dem Pandura im Hinterzimmer eines Ausflugslokales im Prater, wo sie trotz des schönen, ja herrlichen Wetters saßen. In der warmen Frühlingsluft, die durch die offenen Fenster hereinströmte, tanzten die Staubkörner, die aus den schlecht geölten, knarrenden Dielen aufstiegen, und sie, die beiden Herren, bestellten sich ein Krügel Bier miteinander und tranken abwechselnd davon.

»Als der Zug bei Lend in die Schlucht hineinrollte und außer den Felsen mit den herunterhängenden, schwarzen Fichtenästen und der finsteren, brausenden Ache neben dem Gleiskörper nichts zu sehen war, kam es mir vor, als führe ich fort von mir selber und in die Hölle hinein. Zumindest hab ich mir als Bub die Hölle so vorgestellt.«

Der Pandura stammte da aus vergleichsweise brillanten und ehemals hochmögenden Verhältnissen. Sein Vater, ein in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, im Ersten Weltkrieg, nobilitierter Großgrundbesitzer, ursprünglich aus Rumänien heraufgekommen und im Handel mit agrarischen Produkten reich geworden, hatte sein Vermögen als Börsenspekulant in den Boomjahren um die Jahrhundertwende noch vervielfacht. Er heiratete eine schöne, aber verarmte Adelige und legte sein Geld in Grundstücken an. Er hatte das Genie oder den Riecher, ganz wie man will, gerade die trostlosen und öden Landstriche, südlich der Haupt- und Residenzstadt gelegen, aufzukaufen, wo auf den kargen Hügelflanken Ziegen- und Schafherden weideten. Gerade sie sollten sich wenig später als wahre Goldgruben erweisen: In den Ziegeleien, die dort errichtet wurden, schlug und brannte man Ziegel zum glänzenden und großartigen Ausbau der aufstrebenden Metropole Wien.

»Ich meine, was ist schon groß dran?!« fragte der alte von Pandura rhetorisch, biß von einem Stück Mandelgebäck ab und trank einen kräftigen Schluck Schampus aus einem schön geschliffenen Kelch mit gedrehtem Stiel nach, um dann fortzufahren: »Wenn eine von euch im Wasser liegt, so in der Badewanne – da kenn’ ich mich aus! – hingestreut das Haar übern Rand – das könnt’s ihr, ihr Luder! – dann schwimmen die feinen Haar um die halb offene Rosen herum, als wenn’s das Herz von der Muttergottes wär! – Als Bub hab ich übrigens einmal die Hostie in der Kirchen beim Abendmahl nicht verschluckt, wie’s Vorschrift ist – das muß noch in Koloschvar gewesen sein, in Rumänien – ja, ich bin mit der Hostie auf der Zunge, den Mund zu, auf den Bahndamm hinaus, es war Sommer und irgendwelche Käfer haben gebrummt, und hab die Hostie, den Leib Christi, auf die Schienen gespuckt. – Und nichts, nichts ist passiert! – Das war vielleicht was, damals.« – Der alte Herr von Pandura schiebt sein Glas über die glatte, reich intarsierte Fläche des in orientalischem Stil ausgeführten, schwarzglänzenden Tischchens mit dem bläulichen Perlmuttstich, lächelt seiner Gespielin, einem prächtigen Rotschopf, zu und schaut dann, an den in der Zugluft tändelnden Stores vorbei, auf den abendlich leeren Graben hinunter.

Der alte Baron liebt nicht nur seine Comtesse, die Gemahlin, bei jeder Gelegenheit, sonders alles, was ihm an Weiblichem in die Quere kommt. Außer Hündinnen und Hendln, wie er gern sagt. – Heute ist eine Arbeiterin aus der Ziegelei, aus dem Ziegelwerk dran. – Je älter er wird, desto lieber hat es der Pandura, wenn die Weiber jung sind. – Eine pummelige Schwarzhaarige ist es heut’, mit einem dicken Watschengesicht. »Aus Bosnien vielleicht? Du – Mostar?« – Sie versteht nicht einmal das. Der alte Pandura stößt sie gegen die Mauer, den Kittel hinauf, und hinein ins Vergnügen.

Die Arbeiterin winselt zuerst ein bißchen; aber dann tut sie brav mit, so richtig; und dann zittern, im Stehen, sogar ihre Schenkel: Der kommt’s, der kommt’s ja wirklich!

Als ihr der Pandura die zehn Schilling hinhält, nimmt sie das Geld mit gesenktem Blick, und ohne Dankschön zu sagen geht sie, am Gürtelband ihres jetzt schief sitzenden und zipfenden Kittels herumnestelnd, zwischen den Unkrautstauden auf dem Weglein fort.

In der ersten Zeit in Wien gehen Oberkofler und Pandura in Ermangelung einer Beschäftigung und eines Budgets für andere Unterhaltungen uferlos spazieren und unterhalten sich beinah Tag und Nacht miteinander. Bei ihren Berichten und Erzählungen kommt das ganze Leben vor, sie überbieten einander an Ehrlichkeit, jeder will offensichtlich dem anderen tatsächlich die Wahrheit über sein Leben, seinen Charakter und seine Absichten offenbaren – aber zu welchem Zweck? Nur und gerade das bleibt im Dunklen.

Wenn endlich der Strom ihres Gesprächs versiegte und sie schwiegen, so doch nur, um nachzudenken, was denn etwa noch fehlte und noch nicht gesagt und berichtet war. Atemlos waren diese Unterhaltungen, vorwärtsdrängend, zerfahren und rücksichtslos. – Sie gehen die Hauptallee im Prater hinunter, nur auf Armlänge getrennt nebeneinander her, über ihren Köpfen verschwimmen die weißen und rosigen Kerzen der Kastanienblüten mit den Massen der prächtig herauswuchernden, im leichten Lüftchen bald hell, bald dunkel wogenden, schon Schatten versprühenden Laubwedel.

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Die drei Herren stießen miteinander an. Während zwei von ihnen, der eine so kerzengerad und großgewachsen, daß er auf die beiden anderen herunterschauen konnte, der zweite von eher kleinem Wuchs, während sie ihre Schnapsgläser, wohl in Erwartung einer neuerlichen Füllung, vor der Brust hielten, hatte der Dritte im Bund, ein abgehetzt wirkender, grauer Mensch, sein Glas schon wieder abgestellt und schaute, das Gesicht dem nur trüb einfallenden Licht zugewendet, zum Gassenfenster hin.

»Das Wetter könnte auch besser sein – für die Eröffnung!« meinte er.

»Wann wollen die Pforten denn auftun?« fragte der Gedrungene mit schmalziger, höhnisch klingender Stimme, indes der Großgewachsene und Aufrechte sich wie verlegen abwandte und, da und dort mit den Fingerspitzen antupfend, an den Wänden entlangging. – Der Graue, im nagelneuen Geschäftsanzug übrigens, aus schimmerndem, noch weich sich faltendem Stoff, ging auf die Frage aber nicht ein, sei es, daß er mit seinen Gedanken schon weitergeeilt und längst ganz woanders war, sei es, weil er sich an der Anrichte, die beinah die ganze Schmalseite des Raumes einnahm, zu schaffen gemacht hatte: Und er holte eine ordinäre Bierflasche ohne Etikett hervor, in der oben, anstelle eines Stoppels, ein Pfropf aus zusammengedrehtem Zeitungspapier steckte.

»Was ist denn das? – Strychnin vielleicht? Oder Dieselöl?«

»Na, ihr werdet schon sehen! – Ihr werdet gleich sehen!«

»Gib schon her«, sagte der Gedrungene barsch und hielt dem Grauen mit ausgestrecktem Arm sein leeres Stamperl hin.

Wo haben die drei Herren einander kennengelernt? – Auf dem Wiener Naschmarkt gibt es stadtauswärts einen leeren Platz, der eigentlich für die Abhaltung von Bauernmärkten angelegt ist. – Mit dem psychologischen Scharfsinn, der ihn auszeichnet, erkennt der Leitomeritzky sofort, daß er mit den beiden Typen, die er da am Rand der weiten, holprigen Fläche stehen sieht, gegen das Geländer zum vorbeiführenden Wienfluß zu, daß er mit den beiden weiterführende Geschäfte wird einfädeln können, nicht nur den Ankauf von ein paar vergoldeten Damenohrringen, einer etwas abgenutzten Persianerstola oder eines Opernguckers, der nur mehr so halb und halb funktioniert.

Die beiden Herren, Oberkofler und Pandura, streifen da auf und ab, unruhig hin und her, der Oberkofler hat einen passablen Anzug aus gutem Homespun an, der Pandura trägt seinen alten Wehrmachtsmantel und verrät damit ungewollt ihrer beider letzte Profession. Die Distinktionen am Mantel hat er abmontiert, den Kragen gegen den noch frischen, zugigen Frühlingswind, der vom Westen herüberweht, aufgestellt – unscharf und wolkig kann man hinter ansteigenden Häuserlasten die Kuppen des Wienerwaldes erkennen.

Der weite und blasse Himmel mit den profund geformten und lebhaft sich abzeichnenden Wolken darauf, die Schatten dieser Wolken schraffierten flüchtig den weitläufigen Platz: Das Himmelsblau bricht sich momentweise in vom Wind immer wieder aufgewühlten Lacken, im Gold an den Gründerzeitfronten der Straße.

Während der Oberkofler in seinem für die Jahreszeit ein wenig zu leichten Gewand mit hochgezogenen Schultern herumhüpft – aber warum, in Gottes Namen, hat er auch nichts Wärmeres angezogen? –, läuft sein Gefährte, der Pandura, wie von der Leine gelassen neben ihm her, bald ist er ein paar Schritte voran, dann wieder eine paar Schritte zurück, und seine Augen suchen gierig die Umgebung und die Gesichter der Leute ab.

Der Leitomeritzky kam schon, zwischen den anderen Passanten und Kontrahenten sich durchschlängelnd, langsam und siegesgewiß herüber.

Später, beim Essen im Zwielicht eines Kellerbeisels – der Leitomeritzky hatte Gulasch, und Bier noch dazu, spendiert – gaben die beiden Herren denn auch unumwunden zu, daß sie hungrig gewesen waren.

»Was heißt da: Hunger?! – Einen Riesen-Flameau hab ich g’habt!«

»Aber, ich mein’ – mit den paar Groschen, die ich euch heut’ für die Uhr da geben kann, da springt’s ihr nicht weit«, sagte der Leitomeritzky.

Die Uhr, das Handelsobjekt, lag auf dem Tisch: eine Herrenarmbanduhr mit abgerissenem Lederband.

»Sind Sie öfter – sind Sie öfter da auf dem Markt? Vielleicht – in ein paar Tagen wieder?!« – Der Oberkofler schaute den Leitomeritzky erwartungsvoll an: »Einen Pelz, einen Mantel vielleicht?«

»Ich wüßt’ euch was Besseres!«

Im Westen wird die Stadt vom grünen Wienerwald eingefaßt. Die Geographen sprechen gern von einem Becken, von einer Muschel, in die die Stadt gebettet ist. Und in der Tat, schaut man von der Anhöhe des Wienerwaldes auf die Stadt hinunter, liegt sie, was ihre Hauptmasse betrifft, tatsächlich geschmiegt in diese weiche, gegen Osten hin offene Form, die eingegrenzt wird von flachkuppigen Hügeln gegen Süden und dem schroffen Kahlenberg im Norden, der hart an den Donaustrom grenzt. – Es gibt freilich Tage, im Frühling oder dem Herbst zu, da schwimmt die Stadtmasse mit ihren Dächern, Kuppeln und Türmen in einem Geschiller aus blauer Luft und braunem, ja goldenem Laub – oder sind es die braungrünen Triebe des noch jungen Weins, der sich um Drähte und aufrecht stehende Stöcke windet? Es geht dann, schaut man auf die Stadt hinunter – oder streift man durch ihre besonnten und bekannten Straßen –, alles bald in einem Durcheinander, wirr und weich, das Untere kommt bald zuoberst, und das Obere kippt nach unten.

Es ist, als wenn die ganze Stadt nicht da draußen wäre, auf diesen zuletzt doch nur temporären Klippen und Kuppen und Hügeln aus Kalk und Lehm, nein, als ginge und schwankte sie im Inneren drinnen wie Wellen eines großen Meeres: Und die braungrünen Eichenbäume, die sanften Linden, die tolpatschigen Kastanien stehen da als wirre Notate, als flüchtige Einzeichnungen auf den schwarzen Linien einer Partitur: Und was du da hörst und empfindest, sind Klang und Wesen einer unerhörten, einer noch nie dagewesenen Musik!

Naturgemäß ist das Stadtgebiet, weil von Bergen begrenzt, von zur Tiefe fließenden Tälern oder Talungen durchzogen. Die Bäche selber rinnen jetzt freilich in unterirdischen Gewölben der Donau zu oder, in den meisten Fällen, einem Donauarm, dem Donaukanal. In die Oberflächenform der Stadt sind die Rücken der Hügel eingeschrieben. In den Taleinschnitten rollt der Verkehr, und erst gegen das Zentrum zu, etwa in der Josefstadt, wo der Höhenunterschied zwischen Berg und Tal sich ausgeglichen hat, vermischt sich alles und wird zu einem einzigen, grauen und im Grauen wieder bunten, hin und her wogenden, scheinbar ziellos sich regenden Ganzen.

Noch in derselben Woche, nach dem Naschmarktrencontre, saßen die Herren wieder beisammen: Oberkofler, Pandura und Leitomeritzky. Leitomeritzky hatte die Feinheit besessen, Oberkofler und Pandura in ein bürgerliches Wirtshaus zum Abendmahl zu bitten – so war die Stimmung von Anfang an entspannt.

Bei der Suppe, einer echten Rindsuppe mit dicken, offensichtlich unter Zugabe von etlichen Eiern hergestellten Frittaten – weiß Gott, wo der Wirt die aufgetrieben hatte?! – schwieg Leitomeritzky sich noch aus. Er aß hastig und unkonzentriert.

»Oberkofler und Pandura – sind das nicht wundervolle Namen?!« sagte er dann.

»Was haben Sie gegen Leitomeritzky?« fiel ihm Pandura ins Wort.

»Aber Oberkofler und Pandura – das ist doch einfach ganz was anderes! Das müssen Sie schon zugeben.«

Über den Tafelspitz weg, der mit Apfelkren und Petersilerdäpfeln, ganz wie es sich gehört, aufgetragen worden war, eröffnete der Leitomeritzky mit gewinnendem Lächeln: »Gleich wie wir uns auf dem Naschmarkt miteinander bekanntgemacht haben – als ich Ihre Namen das erste Mal gehört habe –, da hat’s bei mir gefunkt! Ich hab mir gedacht: Das darf doch nicht wahr sein! Ein Wink des Schicksals! Und Offiziere dazu!«

»Ich war nur Unteroffizier«, stellte Pandura richtig.

»Aber – ich bitte Sie!« – Leitomeritzky lehnte sich in seinem Sessel zurück und stieß deutlich hörbar die Luft aus. Dann beugte er sich wieder über sein Essen und schnitt sorgfältig ein Stück vom Fleisch ab. Nachdem er den Bissen gekaut und schließlich verschluckt hatte, fuhr er gemütlich fort, »also, ich plane die Eröffnung einer Tanz- und Benimmschule. Und das ist der Punkt: Gerade in Zeiten wie diesen – der Krieg und die Kriegsjahre haben uns ja doch eine Verwilderung der Sitten hinterlassen – jetzt ist der Augenblick gekommen, ein solches Institut zu eröffnen. Was meinen Sie?«

Oberkofler, der Leitomeritzky, während der sprach, angeschaut hatte, nickte eifrig und fragte: »Aber – was sollen wir dabei?«

Der Pandura mischte sich an der Stelle laut und fast giftig ein und rief, das Besteck in den Händen kerzengerad aufgerichtet, dem Leitomeritzky zu: »Was hast denn du im Krieg gemacht?«

Leitomeritzky hatte diese Frage nicht erwartet. Bestimmt nicht jetzt und an der Stelle. Aber er faßte sich gleich und erzählte lebhaft von Frankreich, von der Etappe – und daß er ein absolut herrliches Leben gehabt hat.

»Das hab ich mir schon gedacht«, murmelte der Pandura, senkte den Kopf und widmete sich wieder seinem Essen.

Der Vorschlag des Leitomeritzky an die beiden Herren lief im Großen und Ganzen darauf hinaus, daß er sie in sein Tanzschulprojekt hereinnehmen wollte, einerseits ihrer Namen wegen – OBERKOFLER & PANDURA: Das klingt nach was, nicht wahr?! –, andererseits als Lehrer für den Unterricht.

»Aber ich kann doch gar nicht besonders gut tanzen!« war alles, was der Oberkofler herausbrachte.

Der Pandura sagte nichts. Er süffelte von dem Wein, den der Leitomeritzky auffahren hatte lassen, und schaute versonnen, für einmal besänftigt, vor sich hin.

Sie gingen heim und unterhielten sich. Sie hielten auf der schlecht beleuchteten Straße schön Abstand voneinander – dabei war die Josefstädterstraße doch eine Hauptstraße – und so schlecht beleuchtet!

Der Pandura, er schwankte ein wenig, erzählte von Polen: »Es war eine Rast, irgendwo, ich weiß nicht mehr – irgendwo östlich der Weichsel. Wir kommen in einem Dorf an und lagern auf dem Hauptplatz. – Du kennst das: An einem Wassergraben entlang etliche Häuschen, niedrig – und Enten, die durch den Staub watscheln. Mit der Menage kommt der Troß.« Pandura blieb mitten auf der Straße stehen und überlegte: »Es ist immer so schwer, daß einem das Zutreffende einfällt. – Ich gehe hinter eins der Häuser, schlage mich in die Büsche – scheißen! Da ist eine Wiese, wo ich mir unter den Weiden ein Plätzchen suche. – Wie ich mich hinhocke, liegt da einer im Wasser, das Bächlein, einen Schuh tief vielleicht, ein junger Kerl, mit einem Anflug von Bart, eingefallene Wangen, die Hände über der Brust gekreuzt, barfuß – und mausetot!«

Vor der Haustür, der Oberkofler, der zur Geschichte des Pandura nichts, kein einziges Wort gesagt hatte, sperrte umständlich auf, setzte der Pandura wie abrundend hinzu: »Dem Leitomeritzky glaub’ ich kein Wort. Der war gar nicht im Krieg. Der war, wenn du mich fragst – das ist ein Jud!«

Wenn der Oberkofler in der Früh – und das heißt neuerdings gegen elf, halb zwölf – in die Küche in der Wohnung in der Josefstädterstraße herauskommt, sitzt dort meist schon der Pandura, nur mit seiner Hose bekleidet, mit nacktem Oberkörper, barfuß, und raucht. Er hat so seine spezielle Art zu rauchen, er zieht sehr stark an seiner Zigarette und stößt dann eine dichte Rauchwolke aus. Den Gürtel offen, am Tisch lümmelnd, zusammengesunken, oder weit in den Küchenstuhl zurückgelehnt und breit grinsend, so empfängt er den Oberkofler, wenn der aus seinem Zimmer herüberkommt.

Die Wohnung haben sie sich so aufgeteilt, daß der Oberkofler, der ja der Hausherr ist, im Schlafzimmer schläft, im Ehebett, das von seiner Ehe übriggeblieben ist, während Pandura auf einem Sofa im geräumigen Wohnzimmer nächtigt.

»Was ist denn eigentlich mit deiner Frau los?« – Pandura hat die Frage schon gleich damals am Südbahnhof gestellt, wie sie – der Krieg war aus – nach ihrer Entlassung zwischen den Ruinenmauern des Bahnhofes zum Vorplatz hinuntergegangen sind. Er hat die Frage noch mehrfach gestellt, wenn sie sich gemeinsam ihr Frühstück aus Ersatzkaffee und Marmeladebroten zubereiten, manchmal gibt es auch ein Stück Wurst – aber eine Antwort hat er nie bekommen.

»Sie ist weg; wie du ja siehst!« – Das ist stets die Antwort des Oberkofler; und er versucht tapfer dabei zu lächeln. – Kommt ihm aber wieder einmal die Schnapsflasche vom Pandura unter, sie steht für gewöhnlich auf der Kredenz oben, und er sieht, wieviel da wieder fehlt, schimpft er: »Was säufst denn schon in aller Früh?!«

»Ich sauf’ ja gar nicht!« – Die rot umflorten Augen des Pandura verraten das Gegeteil.

»Mich geht’s nichts an.«

»Natürlich geht’s dich was an.«

»Schad’ um dich!«

Der Pandura beginnt daraufhin zu lachen und kann sich vor Lachen kaum halten.

Bislang ist es in ihrer Wohngemeinschaft zu einem einzigen Zwischenfall gekommen: Nachts, sie waren wie üblich angesäuselt und spät aus der Leitomeritzkischen Tanzschule und von anschließenden Nachtcafébesuchen heimgekommen und gleich jeder in sein Bett gefallen, da hörte der Oberkofler den Pandura im Salon drüben, wie sie das Wohnzimmer nannten, laut reden, und zwar so laut, daß er, Oberkofler, darüber aufgewacht ist. – Was sagt der Pandura da? – »Paris! Paris!« ruft er, und er ruft das Wort, als riefe er geradezu um Hilfe; was in der leeren Wohnung und nachts fast schaurig klingt: »Ich war’s nicht! Nein! Nein!«

Der Oberkofler tappte im Pyjama hinüber und rüttelte den Pandura wach. Da schlang der Pandura, vom Schlaf noch völlig übertäubt, seinen Arm um den Hals des Oberkofler und zog ihn mit Macht zu sich herunter. So viel Kraft hätte der Oberkofler, der doch kräftig und gut in Form ist, dem Pandura gar nicht zugetraut.

Da küssen sie sich.

Nach dem Frühstück räumt Oberkofler ab. Ein auffälliger Unterschied besteht auch in der Aufführung der beiden Herren in der Tanzschule: Während Oberkofler zwar tadellos seinen Dienst als Lehrer tut, und zwar besser, weit besser, als er es sich selber zugetraut hat, und schon gar als der Pandura, der vom Leitomeritzky eher nur als Anhängsel und Zuwaage zum Oberkofler geduldet wird, so ist der Pandura ganz speziell und eifrig für Damen auch über den Tanzschuldienst hinaus ansprechbar und da. Die einschlägigen Besuche und Treffen, naturgemäß in der Schule angebahnt, finden für gewöhnlich nachmittags, am späten Nachmittag statt, und der Pandura putzt sich nach dem Frühstück ordentlich dafür heraus; der Oberkofler schaut ihm neugierig, aber mürrisch und mißbilligend zu.

Manchmal gehen sie gleich nach dem Frühstück ins Kaffeehaus auf eine Kartenpartie. Nachts wird auch gespielt. – Wenn der Pandura keinen Damenbesuch vorhat, fängt er meist schon gegen zwei Uhr zu trinken an.

»In Paris, da haben wir in der Avenue Friedland angefangen«, erzählte der Pandura, »das liegt in der Verlängerung vom Boulevard Haussmann, in der besten Gegend. Mein Vater hatte dort ein kleines Palais gemietet. – Mein Vater – ein glühender Monarchist – ist dem jungen Kaiser gefolgt, dem Otto – auch wenn der freilich längst keinen Thron mehr hatte. – In Paris versuchten die Monarchisten den Widerstand gegen Hitler zu organisieren, und da mein Vater, der alte Baron, außer über Geld über nichts verfügte, von seiner Lebensart einmal abgesehen, so gab er eben Geld, Geld, Geld! Was da nicht alles initiiert und gefördert wurde! – Ich hab den Papa chauffiert. Horchwagen. Als Legitimisten waren die österreichischen Faschisten, die Dollfußleute, meinem Vater genauso verhaßt wie die deutschen Brüder. Er hat sie alle gehaßt, die Mischpoche, von Grund auf! – Außer Schaumschlägerei ist aber bei der Österreichischen Liga nichts herausgekommen. – ›Man hat mir meine Heimat gestohlen!‹ hat der Papa nach dem Einmarsch vom Hitler in Österreich gesagt. Aber da waren wir selber, nach allerhand Umzügen und Übersiedlungen, schon in einer Hinterhofwohnung an der Gare du Nord gelandet. Das ganze große Vermögen vertan und verjuxt! Wenig Gescheites, was da herausgekommen ist. – Von meinem Vater hab ich kaum was gelernt außer Prassen. Und gerade dazu hab ich jetzt so gar keine Gelegenheit!« – Pandura unterbrach sich und lächelte. Dann tippte er sich schnell an die Stirn: »Das Leben ist ein Witz!«

»Mein Vater – als Rumäne und Katholik war er Antisemit durch und durch«, erzählte er weiter: »Ich hab das zuerst nicht verstanden. – Ich bin 39 nach Wien zurück, in die Armee. Das legitimistische Getue ist mir einfach zu viel geworden! Bei Festbanketten, in irgendwelchen Hotels, die Ansprachen vom Kaiser! Da war mir der Hitler noch lieber. – Wenn du meinen Vater gesehen hättest, wie der, auf seinen Stock gestützt, abgetragen und schäbig, aber immer noch ganz großartig den Gehsteig heruntergehumpelt ist, umgeben von allerhand Getreuen oder Schmarotzern, die sich wohl gesagt haben, irgendwas wird ja wohl doch noch zu holen sein! – Er war einmal einer der reichsten Männer von Wien! Und jetzt hatte er gerade noch einen Strohhut auf! Wenigstens war der Frühling schön. Mit Weibern war es längst vorbei. – Er ist immer an die Gare du Nord gegangen, weil dort mit den Flüchtlingen frische Nachrichten aus Deutschland, aus Österreich eingelaufen sind. Seinen Frieden mit Gott hat er bestimmt gemacht, katholisch, wie er war. Er ist beim Einmarsch gestorben. – Ich bin auch auf Paris marschiert. Aber nicht zu ihm.«

Als Arbeitgeber war der Leitomeritzky leger. Er hatte es auch, mit überlegener Strategie, verstanden, das Verhältnis zwischen sich und den beiden Tanzlehrern so zu gestalten, daß niemand genau hätte sagen können, wie es denn genau war: Einerseits trug die Tanzschule in der Piaristengasse, unweit der Josefstädterstraße, die Namen Oberkofler und Pandura nicht nur als Firma, sondern auch in Form eines teuer ausgeführten Geschäftsschildes: OBERKOFLER & PANDURA TANZSCHULE, in Glasdruck, goldene Lettern in Schreibschrift auf dunkelgrünem Grund, andererseits hatten die Herren keinerlei Einblick in die Gebarung des Unternehmens, über Kosten und Gewinn, und was zuletzt übrigblieb, darüber wußten sie nicht Bescheid.

Den großen Saal der Tanzschule hatte Leitomeritzky ausweißen lassen. Die prächtige Anrichte aus Kirschholz füllt eine der Breitseiten beinahe aus. Kleine Lampen mit Seidenschirmchen erhellen, zusammen mit dem obligaten Kronluster in der Mitte, den Raum. – Tritt man an eins der Fenster und schiebt die dichten, weißen Stores zurück, die wohl nicht ohne Absicht an Hochzeitsschleier erinnern, schaut man auf das schiefe Kopfsteinpflaster einer kleinen Gasse, in die das gelbe, warme Licht aus den Fenstern der Nachbarhäuser fällt.

Das Publikum der Schule besteht zum Gutteil aus Bürgerkindern aus dem achten Bezirk, aus der näheren Umgebung, dazwischen gibt es das eine oder andere ältere Paar, das seine Tanzkenntnisse wieder auffrischen will – und dann sind da, vor dem Krieg ganz undenkbar, auch einige alleinstehende Damen und Herren, die die Tanzschule als Klub benutzen und unverhohlen auf ihr Vergnügen, was das auch immer sein mag, aus sind.

Vor der Tür, am Eingang, macht der Leitomeritzky im dunklen Anzug, die Lackschuhe auf Hochglanz gewienert, die Honneurs. Wenn er auch den Damen die Hände küßt, die Herren allesamt mit Namen begrüßt und hin und dann auch ein Scherzwort einzustreuen versucht, so wirkt er doch mit seinem schiefen, gelblichen Gesicht, das ganz ungesund ausschaut, mit der großen Nase, den bereits angegrauten Schläfen und den roten, stets feuchten Lippen irgendwie überfordert und deplaziert. – Da ist es etwa beim Pandura doch etwas anderes! Zwar nachlässig angetan und bereits zu Anfang des Abends leicht derangiert, bewegt er sich doch, trotz seiner stockigen Figur, selbstverständlich und lässig, bestimmt hilft der Alkohol mit, und hat er dann beim Tanzen etwa gepatzt oder einen Fehltritt getan, hebt er das durch eine witzige Bemerkung oder eine spaßige Geste mit links wieder auf.

Auf dem Weg zur Arbeit, für gewöhnlich treten sie so um sechs herum an, unterhalten sich die Herren oft über den Leitomeritzky, und meistens schimpfen sie über ihn. »Aber im Vertrag steht doch, daß wir Teilhaber an dem Laden sind!« – Das zum Beispiel ist ein häufiger Ausruf, er hat aber wie alle ihre diesbezüglichen Reden keine Folge und Auswirkung.

Wenn es zum eigentlichen Unterricht geht und im Saal drinnen der Pandura den in einer Reihe angetretenen Debütantinnen etwa erklärt, wie eine Dame ihre Hand beim Handkuß halten soll und was ein Handkuß überhaupt im Umgang mit einer Dame und in der Beziehung zwischen einer Dame und einem Herrn bedeutet, oder wenn der Oberkofler, den Blick konzentriert und gradaus nach vorn gerichtet, die Rechte erhoben, mit der Linken eine imaginäre Tänzerin umfassend, mit Verve die Anfangsschritte eines Tangos vormacht, dann hat sich der Leitomeritzky längst in den kleinen, weißlackierten Verschlag in der Nähe der Garderobe zurückgezogen, den er sein Büro nennt und von dem aus er, durch ein kleines, in die Stirnwand eingelassenes Fensterchen, dem Betrieb folgen oder ihn auch kontrollieren kann. Meist kümmert er sich aber nicht darum und telefoniert.

Ob es jetzt der Kauf von einem Posten USIA-Rum aus der russischen Zone ist oder ein Schwung gebrauchter Armeehemden von den Amis, ob es sich um ein tadelloses, nur im Moment nicht fahrtüchtiges Auto, um schwere Seidenvorhänge, Augarten-Porzellan oder eine Rolle Linoleum handelt – bei Leitomeritzky ist man immer richtig. Er handelt auch mit den Bauern aus dem Umland der Stadt, da dreht es sich dann um Kartoffeln, Kirschen, Eier oder um frisches Sauerkraut – was jahreszeitlich ansteht. Auch Kinderwägen, Bügelbretter oder eine warme Tuchent samt Überzug, der Leito hat es an der Hand. Es wäre freilich falsch, zu glauben, daß er sich in derlei Kinkerlitzchen und Spielereien erschöpft. Er erledigt das alles eher nebenher und ziemlich gelangweilt. Die Moccatasse in der einen, die brennende Zigarette in der anderen Hand, sitzt er die meiste Zeit in seinem Verschlag und brütet vor sich hin.

In der letzten Zeit ist auch eine Frau Strnad in die Tanzschule eingetreten. Sie und der Leitomeritzky kennen einander, scheint es. Jedenfalls, der Leitomeritzky wirkt ein bißchen gehemmt im Umgang mit ihr. Als es ums Bezahlen der Kursgebühr geht, er kassiert das Kursgeld immer in bar, und die Schüler reichen ihm die Scheine durch das kleine Fensterchen ins Büro hinüber, braucht die Frau Strnad nichts zu bezahlen, er macht ihr nur mit der Hand ein Zeichen, und sie darf eintreten.