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Georg Fraberger

Erfolgreich lieben

Wie man ein glückliches Paar wird und es bleibt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Umschlagfoto: Aleksandra Pawloff

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Arnold Klaffenböck

ISBN ePub:

978 3 7017 4600 2

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3467 2

Inhalt

Vorwort

1. Liebe geht uns alle an

Was ist Liebe?

Der Beginn der Liebe: das Verliebtsein

Liebe zulassen

Der Wert der Liebe

Nähe versus Distanz

2. Die Macht der Liebe

Ohne Liebe ist alles nichts, oder?

Wozu so viel Liebe?

Liebe hart erarbeitet

»Wenn-dann« in der Liebe

Freude am Arbeiten?

3. Liebe als Kompass

Echte und unechte Beziehung

4. Der Unterschied zwischen Seele und Liebe

Zur Akzeptanz des Körpers

Liebe als Gefahr für die Seele

5. Leib, Seele und Liebe

Liebe und Kränkung

Partnerwahl und Denkstil

Die Liebe ist für alle gleich

6. Sexualität in der Liebe

Sex als Grundbedürfnis

Sexualität noch einmal überdacht

Liebe und Sexualität

Sexualität und Identität

Sexualität – vom Drang zum Gefühl

Langzeitbeziehungen sexuell gestalten

Sexualität und psychische Erkrankung

7. Problemzonen der Liebe

Eifersucht

Ist es Liebe?

Liebe und menschliche Grundbedürfnisse

Problemzone Liebesfaulheit

Problemzone Verantwortung

Beziehungsproblem oder Liebesproblem?

Liebe allein genügt nicht

8. Leben, lieben, sterben

Rezept für die große Liebe

Vorwort

Eigentlich könnte das Buch »Erfolgreich lieben« den Untertitel tragen: »Wie man an Wunder glauben lernt«. Für viele Menschen ist der Alltag so stressig und sind Beziehungen derart kompliziert, dass sich eine erfolgreiche Liebe wie ein Wunder anhört. Überhaupt in Zeiten wie diesen, in denen wir aufpassen, uns vor anderen nicht schwach zu zeigen, um nicht ausgenützt zu werden, ist es schwierig, jemandem zu vertrauen. Für all jene, die noch an die Liebe glauben, ist klar, dass es die Liebe ist, die einen Menschen dazu bringt, seine eigenen Grenzen zu überschreiten und das zu erreichen, was einem niemand zutraut. In welche Richtung die Grenze überschritten wird, bleibt stets unklar, denn die Liebe beziehungsweise das Fehlen von Liebe kann auch jemanden buchstäblich in den Wahnsinn treiben.

Mit erfolgreich lieben ist gemeint, dass man etwas Positives erreicht und damit eine Grenze in Richtung Glück überschreitet. Es ist möglich, harmonische Beziehungen zu führen, vertrauensvoll auf andere Menschen zuzugehen und eine intime Liebesbeziehung zu gestalten, zu erleben. Die Liebe braucht keinen Verzicht und keine Exklusion. Um die Grenze in Richtung Glück zu erreichen, ist es wichtig, eine genaue Vorstellung von der Liebe zu haben. Nicht von einer Liebe, die wir als erotisch bezeichnen, und einer anderen, die wir amikal nennen. Es geht um eine einzige Vorstellung von Liebe, als eine Art Grundstimmung, die den Rest der Welt als das erkennt, was er immer gleichzeitig ist: bitter, süß, grausam, herzlich – aber stets liebenswert.

1.Liebe geht uns alle an

Wen fragt man am besten um Rat, wenn es um die Liebe geht? Den Kardiologen, den Psychologen, den Soziologen, den Philosophen oder gar den unverheirateten Priester, der im Zölibat lebt? Man kann alle fragen, denn die Liebe geht alle an und betrifft alles, angefangen von den eigenen Gedanken bis hin zu den eigenen körperlichen Reaktionen sowie den Reaktionen der geliebten Person oder des Umfeldes. Das Thema Liebe zeigt, dass es nicht genügt, sich ausschließlich auf die Gefühle zu konzentrieren, sondern alle Lebensbereiche angeht, mit denen man als Mensch konfrontiert ist. Die Liebe beginnt mit vielen Fragen, die das eigene Ich-Sein ebenso betreffen wie ein Du, welches zum eigenen Ich passen soll.

Bereits in meiner Kindheit war ich zum ersten Mal verliebt, wie die meisten Buben, denke ich. Jedes Mal habe ich mich in diesem beflügelnden Ausnahmezustand gefragt, ob ich genüge. In dieser Situation wurde mir bewusst, dass es nur mich und meine engste Familie nicht störte, dass ich keine Arme und Beine hatte. In der Verliebtheitsphase hoffte ich stets, dass meine Auserwählte ebenfalls von meiner körperlichen Situation unbeeindruckt blieb. Ich ahnte damals schon, dass die Liebe nicht davon abhängt, wie ich im Vergleich zu anderen Menschen bin. Es war nur wichtig, jemanden zu finden, der das sieht, was mich ausmacht. Und das ist nicht meine Behinderung. Als die Liebe anfing, ernst zu werden, begann ich plötzlich, mich mit anderen Männern meines Alters zu vergleichen, und ich bemerkte, dass mein Körper für eine Beziehung eine Rolle spielen könnte. Wie ich heute weiß: Nicht nur mein Körper, sondern jeder Körper spielt innerhalb einer Beziehung eine große Rolle. Ob ich behindert bin oder nicht, war nebensächlich, jedoch verstand ich, dass es wichtig ist, wie Menschen über Behinderung denken – genauso wichtig, wie sie über sich selbst denken. Seit der Pubertät war mir klar, dass die Liebe das Hauptthema in meinem Leben sein würde, und nicht meine Behinderung. Mittlerweile habe ich zahlreiche gescheiterte Beziehungen hinter mir, und eine nicht gescheiterte mit einer Frau, mit ihr bin ich heute glücklich verheiratet und habe eine eigene Familie mit fünf Kindern.

Mir wurde klar, dass ich in der Liebe auf mich allein gestellt bin. Allein im Sinne von ohne meinen Rollstuhl, ohne meine Prothese, ohne Menschen, die mir helfen, wenn ich etwas brauche, sowie ohne andere Accessoires und Statussymbole, wie eine teure Uhr, ein flottes Auto mit hoher PS-Zahl oder ein modisches Outfit. Ich wusste, dass jener Mensch, der mich liebt, nur auf mich sieht, und daher fragte ich mich: Bin ich genug? Nachdem diese Frage für mich außer Zweifel stand, war ich mir sicher: Die Behinderung ist kein Mangel. Dennoch habe ich mich in einer Beziehung als fehlerhaft erlebt. In meinem Rollstuhl bewegte ich mich selbstsicher und schnell, und ebenso schnell tauchten meine Ideen auf und meine Pläne, die ich in einer Beziehung verwirklichen wollte. Deshalb erlebte ich meine Fehlerhaftigkeit anhand der Fragen: Bin ich vielleicht zu viel für eine Beziehung? Was mute ich meinen Frauen zu?

Mit »zu viel« meinte ich meinen Tatendrang in Zusammenhang mit den Umständen, die der Rollstuhl und die Behinderung mit sich bringen. Diese Art von Überforderungen oder auch das Gefühl, fehlerhaft zu sein, kann in einer Liebesbeziehung Druck ausüben. Ich befürchtete, niemals eine Frau zu finden, die mich und meine tausend Wünsche, all das, was mich ausmacht, lieben könnte. Ich hatte die Sorge, entweder unausgefüllte Stunden mit einer Frau zu verbringen, oder, im Gegenteil, sie einfach nur zu überfordern. Und das in einer Zeit, als ich jung war und ich mir selbst schon nach fünf Minuten Reden nicht mehr zuhören wollte!

Heute habe ich Gewissheit und darf sagen: Ja, für meine Frau bin ich weder zu wenig noch zu viel. Nicht nur andere Menschen sind liebenswert, sondern auch ich bin es. Körperlich bin ich immer noch behindert, doch habe ich in mir eine Identität entdeckt, die von meiner Behinderung unabhängig ist. Ich kann mich reich fühlen, ohne viel Geld zu besitzen, sportlich sein ohne viele Muskeln und mich elegant bewegen – auch im Rollstuhl. Ich bin älter geworden, aus Liebe zum Menschen habe ich Psychologie studiert, ich arbeite. Krankheiten oder die Folgen von Behinderung haben mich stets weit weniger interessiert als das, was man überwinden kann, sobald man gefunden hat, was das Leben ausmacht: die Liebe für etwas beziehungsweise zu einem anderen Menschen. Mittlerweile habe ich eine Frau getroffen, die ich liebe. Ich fühle, sie liebt mich auch. Wir leben zusammen und haben mehrere Kinder. Sowohl meine Erfahrungen mit der Liebe als auch das Fach der Psychologie geben mir die Möglichkeit, mich viel mit der menschlichen Seele, mit Beziehungen und vor allem mit dem Thema Liebe sowie den Sorgen rund um dieses Thema auseinanderzusetzen. Dieses Wissen möchte ich hier wiedergeben.

Die Liebe ist ein Thema, über das zu schreiben nur sinnvoll erscheint, sofern man in diesem Zusammenhang gleichzeitig das, was uns alle antreibt, den Sinn des Lebens und die Zustimmung zum eigenen Körper, berücksichtigt und mit einbezieht. Manche Aspekte lassen sich nicht separat behandeln. Selbst als naturwissenschaftlich orientierter, nüchtern denkender Mensch ist das Thema Liebe relevant, denn die Liebe bestimmt nun mal den Wert aller menschlichen Geschöpfe. Das tut sie, ohne dass unser konzeptgesteuertes Wenn-dann-Denken hierbei funktioniert: »Wenn ich genügend Geld hätte, wenn ich Arbeit habe, wenn ich schlank bin, dann …« – all das kümmert die Liebe nicht. Vielmehr verfährt sie mit uns nach ihrer ganz eigenen Logik. Liebe beinhaltet nicht nur die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Wert von Anstrengung oder Arbeit, sie kann mitunter auch die Antwort darauf sein.

Was ist Liebe?

Als Psychologe glaube ich an die Macht der Gedanken und daran, dass menschliche Individuen einen freien Willen haben. Wir sind nicht Sklaven unserer Triebe und Gefühle, sondern wir können durch Gedanken mitbestimmen, was wir fühlen. Geht es freilich um die Liebe, so weiß ich nicht, wie frei wir wirklich sind. Die Liebe macht unfrei, schließlich können wir dem Herzen nicht befehlen, wen beziehungsweise was es mag oder wen / was eben nicht. Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe, ganz zweifellos. Doch was ist Liebe?

Liebe ist das Gefühl einer tiefen Verbundenheit und Freude in Bezug auf einen Menschen, Gegenstand oder eine Beschäftigung. Diese Verbundenheit und Freude streben wir an und verbinden damit Vollkommenheit oder auch das Ziel des Lebens. Die Liebe als Freude an körperlicher Berührung findet ihren Höhepunkt in der Sexualität. Sobald die grundlose Freude an einer Person verbunden ist mit der Freude, von diesem Gegenüber körperlich berührt und begehrt zu werden, sprechen wir von wahrer Liebe. Dann erlebt man die Welt als WIR. Werden körperliche Freuden auch mit anderen Menschen erlebt, so steht das Erleben des Genusses des ICH im Vordergrund, dann hat man Sex – ohne uneingeschränkte Liebe.

Die wahre Liebe lässt das eigene Leben erträglich werden und steuert jedes Tun. Schon allein die Suche nach der wahren Liebe und die Hoffnung, sie zu finden, bestimmen unser Leben. Auf der Suche nach der wahren Liebe wirken wir offen und grenzenlos. Das kann dazu führen, dass uns Personen, die wir nicht wirklich lieben, zu nahe kommen wollen. Doch niemand möchte mit einem Menschen, den man nicht wirklich liebt, grenzenlos leben. Um jemanden nicht zu nahe an sich heranzulassen und die eigene Grenze aufzuzeigen, unterscheiden wir zwischen romantischer Liebe, platonischer Liebe, amikaler Liebe, Nächstenliebe und so fort. Überschreitet jemand eine bestimmte Grenze, wird einer aus seinem Umfeld oder sein Gegenüber gleich darauf hinweisen: »Du weißt aber schon, dass wir nur eine platonische Beziehung haben.« Von dieser Art Abgrenzung, von diesen Unterscheidungen ist in meinem Buch freilich nicht die Rede, denn es geht um das Wesen von Liebe an sich. Erst wenn man das erfasst, kann man alle weiteren Einteilungen treffen.

Als Grundsatz für die Liebe und Sexualität ist es wichtig, folgende Dinge klarzustellen, die ich als Psychologe voraussetze beziehungsweise von denen ich selbstverständlich spreche:

Erstens, der Mensch besteht neben dem Körper und der Psyche (oder hier oft Geist genannt) auch aus einer Seele. Diese ist meiner Ansicht nach eine Art Motor, Antrieb und Sinn für unser Leben. Darf sich der Kern des Menschen, die Seele, frei entfalten, ist es möglich, ein sinnvolles, glückliches Leben zu entwickeln und scheinbare Grenzen von Körper und Geist zu überwinden. Das Grundprinzip der Seele lautet, erkannt zu werden oder zu erkennen. Doch die Erkenntnis unterliegt den Regeln, was gut und was böse ist. Sigmund Freud unterteilte die Inhalte der Psyche in unbewusst, bewusst und vorbewusst. Gut und Böse werden hier gelernt und sortiert. Das heißt: Wir verfügen über Wissen, von dem wir wissen. Wir tragen aber auch Wissen in uns, von dem wir nichts wissen. Der Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut Joachim Bauer nennt dies »das Gedächtnis des Körpers«. Vom Inhalt her unterscheiden wir zwischen dem Über-Ich (Regeln, Normen und Werten), die mit dem Es (den Gefühlen, Emotionen und Trieben) und dem Ich (dem Bewusstsein) so weit in Einklang stehen müssen, damit ein friedlicher Alltag erlebt wird. Keinen Konflikt zu haben bedeutet: Das, was ich will, ist gut und kann getan werden. Die Seele bedient sich allen Wissens und versucht das, was sie erkennt, auf vielfältige Weise darzustellen. Das geschieht entweder in Form von wissenschaftlichen Beiträgen, durch Kunst, Sport, aber auch in Gestalt von Alltagsbegegnungen oder in Form des Kleidungsstils, wie Anzug, Krawatte, Stöckelschuhe etc.

Zweitens, jeder Mensch hat ein bestimmtes Ausmaß an Energie, seine eigene »Kraft des Lebens«, mit der er den Tag überstehen muss. Die Freude als eine Ausdrucksform der Liebe beeinflusst diese Energie und veranlasst etwa, dass man sich akzeptiert. Die Liebe bewirkt, seinen eigenen Körper und die Art, zu sein, wie man ist, auszuhalten und sich sogar darüber zu freuen. Die Kraft des Lebens, die Energie, mit der ich jeden Morgen aufwache, ist immer dieselbe – mit und ohne Liebe. Auch die Gefühle sind stets die gleichen. Nur die Liebe bewirkt, dass alles, was getan wird, sich auf etwas Gutes ausrichtet. Ich kann beispielsweise schlecht gelaunt aufstehen, in die Arbeit gehen und dort aus Liebe zu den Menschen freundlich sein. Ohne Liebe richtet sich die Kraft des Lebens gegen sich selbst und dadurch auch gegen andere. Ein Mensch, der nicht liebt, kann ebenso schlecht gelaunt aufstehen, jedoch hält er das Gute nicht aus und er freut sich am Schaden und Verlust des anderen Menschen. Ohne Liebe macht das Leid der anderen die eigene Situation erträglich, deshalb lohnt es sich für einen Freudlosen, den eigenen Frust an seinen Mitmenschen auszulassen. Die Liebe, diese Freude, kommt nicht automatisch, sondern muss täglich neu gestaltet werden.

Drittens, die Liebe ist nicht nur ein Gefühl unter mehreren, sondern sie bildet jenes Gefühl, an dem sich alle anderen Gefühle orientieren. Die Liebe ist nicht wie die Angst eine Gefühlsreaktion auf das Bild einer Gefahr. Liebe stellt die Antwort auf das Bild einer idealen Beziehung dar. Auf die Liebe muss man sich einlassen, und das bedeutet Kontrolle und Kontrollverlust gleichzeitig.

Der Beginn der Liebe: das Verliebtsein

Die Liebe beginnt mit der Sehnsucht, jemanden zu treffen, mit dem man die Freuden des Lebens, aber auch das Leid, Interessen, Freizeitaktivitäten, kurz: eine gemeinsame Zukunft gemeinsam erleben kann. Trifft jemand einen Menschen, der ihm gefällt, entwickelt sich bei ihm automatisch und manchmal vollkommen überraschend das Gefühl des Verliebtseins. Der spanische Philosoph und Soziologe José Ortega y Gasset nennt diesen Zustand »Aufmerksamkeitsanomalie« – ein Begriff, der eigentlich alles beschreibt. Man lenkt seine gesamte Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Menschen. Man beginnt in Gedanken eine Beziehung zu ihm aufzubauen, ohne das begehrte Wesen wirklich zu kennen. Urlaube, Theaterbesuche, Kino, alles wird in der Phase des Verliebtseins möglich und geplant.

Der Verliebte richtet sein Leben darauf aus, möglichst viel Zeit mit der geliebten Person zu verbringen. Gelingt es, Gemeinsamkeiten zu finden, geistige und körperliche Freuden zusammen zu erleben, so wird aus der Verliebtheit Liebe. Der Zustand des Verliebtseins kann ab dem frühen Kindesalter auftreten. Liebe wird sich erst mit der Pubertät voll entwickeln, denn ab dieser Zeit darf man sein Leben zunehmend selbstständiger gestalten.

Mit dem Erwachsenwerden erlangen wir Kontrolle über das Leben. Wir entscheiden, was wir tun oder wie wir leben möchten, was wir essen wollen und was alles nicht. Mit dem Aufkommen der Liebe, der Freude an einer anderen Person ändern sich unsere Entscheidungen. Wir beginnen etwas zu tun, um dem geliebten Menschen nahe zu sein, und nicht mehr um des Wollens wegen. Beispielsweise kann sich ein konservativ denkender Mann zu einem Kochkurs für Vegane anmelden, nur weil die Person, in die er sich verliebt hat, einen solchen Kochkurs absolviert. Weil er die Nähe zu ihr sucht, begibt er sich in Situationen, in denen er die Kontrolle verlieren kann. Kontrollieren lässt sich ja lediglich die Nähe zu dem geliebten Menschen, aber nicht das, was den Mann in der bestimmten Situation erwartet. Das bedeutet nicht, dass er im Kochkurs die Kontrolle über sich selbst verliert, sondern lediglich, dass er nicht weiß, worauf er sich einlässt. Das heißt nicht, dass die eigene Freiheit, Wünsche oder gar Freunde aufgegeben werden. Es bedeutet aber sehr wohl, dass eine neue Art von Freiheit entsteht, eine Situation, in der die Eigenständigkeit gleichzeitig mehr und weniger wird. In der Phase der Verliebtheit wird selbst die Mathematik romantisch interpretiert. Ich wage zu behaupten, dass für eine Rechnung ohne Liebe 1 + 1 = 2 gilt, jedoch mit Liebe 1 + 1 = 1. Diese Art der mathematischen Romantik betrifft unkontrolliert jeden Lebensbereich. Körperlich bemerkt man die Phase des Verliebtseins anhand von mehr Energie, am Bedürfnis nach weniger Schlaf, an Überdrehtheit sowie am starken Verlangen, dem Partner alles mitzuteilen.

Wird aus der Phase des Verliebtseins eine erfolgreiche Liebesbeziehung, verliebt man sich nicht mehr. Erst wenn für die Liebe sowie alle damit verbundenen Freuden und Leiden zu wenig Zeit bleibt oder zu wenig Gemeinsamkeit, kann sie wiederkehren, die Verliebtheit. Dann findet der Körper eine Möglichkeit, mit einem Menschen alles, was er erleben möchte (sexuell, intellektuell, sozial), zu teilen. Im Idealfall besteht der Wunsch, sich in den Lebenspartner erneut zu verlieben. Wird dieser Wunsch jedoch nicht geäußert oder nicht möglich sein, richtet sich seine Liebe auf andere Menschen, mit denen er sich vorstellen kann, all das zu erleben, was man von einer wahren Liebe erwartet. Die körperlichen und intellektuellen Bedürfnisse lassen sich nicht aufschieben oder verdrängen. Jene Energie, die hinter diesen Bedürfnissen steht, können wir entweder ausleben oder in Form einer Krankheit ausbaden. (Auf die psychischen Belastungen beziehungsweise Erkrankungsformen aufgrund misslungener Liebe gehe ich im sechsten Kapitel dieses Buches ein.)

Wie jedes Gefühl spüren wir auch die Liebe im Körper. Es ist eine kraftvolle Freude, die allein beim Anblick eines Menschen beziehungsweise bereits beim Gedanken an ihn entsteht. Die Freude stellt nicht immer eine Ausdrucksform der Liebe dar. Liebe ist das Gefühl von Risiko, Traurigkeit und Freude gleichzeitig. Es wird einem bewusst, wie machtlos man dem Gefühl ausgeliefert ist: Versucht man dem Gefühl von Liebe, der Freude an jemandem nicht zu folgen, entsteht Sehnsucht. Ob man sich auf dieses Gefühl einlässt oder nicht, alles dreht sich plötzlich um jene eine Person, und alles, was man sagt und tut, bezieht man auf sie. Es folgt unmittelbar die Beobachtung von sich selbst, etwa die Beachtung des eigenen Körpers und wie man sich gegenüber der Person, nach der man sich sehnt, verhalten und gezeigt hat. In dem Film »Dirty Dancing« etwa verliebt sich die 17-jährige Frances Houseman in Johnny. Sie kennt ihn nicht und hat nur Blickkontakt mit ihm. Bei ihrer ersten Begegnung hilft sie Johnnys Cousin, indem sie eine Wassermelone in eine Bar trägt. Johnny, der später ihr Tanzlehrer wird, sieht sie ebenfalls und beginnt sie anzuflirten. Er fragt seinen Cousin: »Was macht sie hier?« Während der Cousin antwortet: »Sie ist mit mir hier«, erwidert sie Johnnys Flirt und sagt: »Ich habe eine Wassermelone getragen.« Johnny sagt nichts und geht auf die Tanzfläche. Gleich daraufhin schämt sich Frances für diesen Satz, schüttelt den Kopf und blickt zu Boden. Sie beschäftigt sich mit ihrer Äußerung, ärgert sich darüber und fragt sich: »Wie konnte ich nur so etwas sagen?« Um mit Johnny in Kontakt zu treten, folgt sie ihm schließlich auf die Tanzfläche.

Überträgt man diese Situation auf unseren Alltag, so bleibt nicht immer die Möglichkeit, jemandem auf die Tanzfläche zu folgen, um die Kommunikation herzustellen. Im Sinne der Entwicklung von Liebe ist es notwendig, dem Bedürfnis nach Kontakt nachzugeben. Jede weitere Kontaktmöglichkeit darf bedacht werden. Man darf also im Voraus denken, was man beim Anblick der geliebten Person zum Beispiel anzieht. Wenn man sich im eigenen Körper wohlfühlt, denkt man sich: »Zum Glück habe ich ein schönes Hemd an.« Fühlt man sich unsicher und sieht die geliebte Person, denkt man vielleicht: »Hoffentlich sieht er meinen Bauch nicht.« Oder man sagt sich selbst sogar: »Ich habe eine Wassermelone getragen.« Auf jeden Fall setzt man sich, ohne dies steuern zu können, sofort mit der ersehnten Person in Beziehung. Jedes Mal, wenn man die ersehnte Person sieht, jedes Mal, wenn man mit ihr spricht, versucht man, auf die verspürte Freude einzugehen und hofft, dass der- oder diejenige ebenfalls Freude empfindet.

Das Gefühl des Verliebtseins zuzulassen, kann großen körperlichen und emotionalen Stress bedeuten. Dieses Gefühl zeigt einem, wie machtlos man mitunter der Liebe ausgeliefert ist und wie kompliziert eine Beziehung von Anfang an sein kann. Deshalb entscheiden sich viele Menschen dafür, keine Beziehung einzugehen. Bei ihnen wehrt sich der Verstand dagegen, was vom Körper signalisiert wird. Das Gefühl der Freude, der Liebe, kann sich auf etwas Reales, eine Hoffnung und auf etwas Vergangenes beziehen. Über das, was wir lieben, was uns erfreut, definieren wir uns. Dafür, was uns Freude bereitet, sind wir sowohl kritisierbar als auch liebenswert. Das können banale Dinge sein, etwa wie ich mich kleide oder wie sich jemand bewegt.

Erfüllende Liebe ist eine Antwort auf das Gefühl von innerer Leere, auf ein Ungleichgewicht, auf eine unbestimmte Sehnsucht im Leben. Jene Leere und die mit ihr einhergehende Sehnsucht sind zu erklären dadurch, weil sich die Kraft des Lebens ein Ziel, einen Nutzen, einen Sinn sucht. Klienten in meiner Praxis beschreiben diese Leere und Unruhe folgendermaßen: »Als wir zusammen waren, war ich um 22 Uhr müde und konnte gut schlafen. Jetzt, wo er weg ist, bin ich bis ein Uhr wach und kann anschließend schwer einschlafen.« Solange Menschen also nach Nähe und Bestätigung suchen, besteht eine Leere in ihnen. Sie wird nicht nur bei der Suche nach Beziehungen spürbar, sondern auch, wenn jemand nach Bestätigung und Freude in anderen Lebensbereichen sucht. Beispielsweise verliert ein Wissenschaftler diese Leere und Sehnsucht erst, sobald er eine Antwort auf seine wissenschaftlichen Fragen erhält. Das bedeutet, nur die Liebe kann die Sehnsucht füllen. Die Liebe ermöglicht eine körperliche Ausgeglichenheit, ein Zur-Ruhe-Kommen trotz eines stressigen Alltags. Aber auch der Konsumrausch, Erfolg, Alkohol und andere bewusstseinserweiternde Substanzen stellen für viele Menschen eine Antwort auf die ungestillte Sehnsucht dar. Liebe ist jedoch jene Antwort, die uns guttut. Damit ist gemeint, dass sie tolerant werden lässt, das Gefühl von Zufriedenheit vermittelt und das Gefühl des Ankommens entstehen lässt.

Liebe wird gelebt, indem eine Beziehung eingegangen wird. Dies muss nicht notwendigerweise eine Beziehung zu einem Menschen sein, sondern kann sich auch auf eine Sache oder eine Handlung beziehen. Meistens betrifft die Liebesbeziehung sowohl eine Person als auch Gegenstände und Handlungen. Folglich sucht ein Mensch, der liebt, auch einen Menschen, der dieselben Dinge, ähnliche Handlungen beziehungsweise Arbeiten liebt.