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Evelyn Grill

Der Begabte

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn
Lektorat: Jessica Beer

ISBN Printausgabe 978 3 7017 1709 5

ISBN eBook 978 3 7017 4605 7

Die Menschen können nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, nur wie sie meinen, daß sie sich zugetragen hätte.

Georg Christoph Lichtenberg

Sein Anwalt sagt, er geht in Berufung. Das Strafmaß ist zu hoch. Aber der Opa hat noch mehr gekriegt. Um ein Drittel. Geht der auch in Berufung?

Er hat ein Bett, das kann er tagsüber hochklappen, dann hat er mehr Platz. Doch er braucht nicht mehr Platz, er setzt sich auf das Bett oder legt sich hin und denkt nach. Einen kleinen Tisch, einen Sessel und einen Spind hat er auch und eine Toilette und ein Regal über seinem Bett. Er glaubt, er darf auch Besuch erhalten, wie oft, weiß er nicht, auch nicht, wer ihn besuchen möchte. Seine Oma lebt ja nicht mehr. Aber seine Mutter könnte kommen und Katharina, mit der er einmal eng befreundet war, er war, glaubt er sich zu erinnern, sogar in sie verliebt, oder sie in ihn, er meint, sie waren beide ziemlich ineinander verliebt, geschlafen haben sie nicht miteinander, kein Sex, sie sind beide sehr katholisch, Sex wäre erst nach der kirchlichen Trauung gestattet gewesen, so ist er erzogen. Aber heute kann er sich vorstellen, daß es doch dazu gekommen wäre, wenn sie länger miteinander befreundet geblieben wären. Sein Opa hatte dazwischengefunkt, der glaubte, festgestellt zu haben, daß er, seit er diese Freundin hatte, nicht mehr bei der Sache war, damit meinte er das Klavier und die Orgel. Und er erinnerte ihn daran, daß er der junge Mozart sei beziehungsweise sein Nachfolger. Freunde hatte er keine, denn er hatte keine Zeit für Freunde. Er hat täglich mehrere Stunden Klavier geübt. Besonders, seit er mit Katharina Schluß gemacht hat oder sie mit ihm. Der Opa sagte immer, er sei der junge Mozart. Daran hat er geglaubt und er glaubt immer noch daran, obwohl der Opa irgendwann aufgehört hat, das zu behaupten. Der Opa war streng, aber er glaubte an ihn, und sie glaubten beide an Gott und an die Jungfrau Maria. Er fragt sich, er hat ja jetzt Zeit, sich zu fragen, in seiner Zelle, da lenkt ihn nichts ab, also er fragt sich, ob er noch glaubt an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde. Warum soll er sich das fragen, was bringt denn das, der Richter hat ihn auch nicht gefragt, und auch nicht sein Anwalt. Sein Anwalt hat versprochen, ihn zu besuchen, ja, stimmt, sein Anwalt kommt. Das ist sicher. Er hat Vertrauen zu seinem Anwalt. Vielleicht kommt sogar seine Mutter. Eigentlich weiß er gar nicht, ob er sie sehen will, und eigentlich ist sie ja nicht mehr seine Mutter vor dem Gesetz, hat der Anwalt gesagt. Wahrscheinlich würde sie wieder weinen, wie sie vor Gericht geweint hat, geschluchzt, das war ihm peinlich. Sie wurde dann abgeführt, nein, nicht abgeführt, weggeführt von einer Art Krankenschwester. Er saß ja neben dem Opa in der ersten Reihe und hat ihr zugewinkt, das heißt, er hat nur eine Hand leicht erhoben, eine Handfläche eigentlich. Aber sie schaute ihn nicht an, sie konnte seine erhobene Hand auch nicht sehen, weil sie die Schürze von ihrem Dirndlkleid vor die Augen gehalten hat. Der Opa schaute ihn auch nicht an. Er ist überzeugt, daß er es gespürt hätte, wenn der Opa ihn angeschaut hätte. Er hätte gerne einen Blick von ihm erhascht. Eigentlich hatte er einen Blick von ihm erwartet, einen Seitenblick. Sie saßen stundenlang nebeneinander, nur durch einen freien Sitz voneinander getrennt. Vielleicht hätte er seine Hand nehmen sollen, er hätte über den freien Sitz hinübergreifen können, vielleicht hätte der Opa den Druck seiner Hand erwidert. Vielleicht wäre das auch nicht gestattet gewesen. Manchmal saß ja auch ein Polizeibeamter zwischen ihnen. Vielleicht hätten sie sich wortlos verständigen können, sie hatten ja immer wortlos ein Einvernehmen erzielt. Der Opa hat seine Gedanken lesen können, wenn er ihn angeschaut hat, wußte er genau, was es geschlagen hat. Das heißt, er konnte nichts vor dem Opa verbergen. Jedenfalls hat er das so in Erinnerung. Er hatte sein großes Talent gefördert, war streng gewesen, manchmal sogar grausam, aber er hat ihn schließlich zu dem gemacht, der er ist. Natürlich ist die musikalische Erziehung noch nicht ganz zu Ende gekommen. Trotzdem, er war im ganzen Bezirk bekannt, in jedem Pfarrsaal in der Umgebung hat er gespielt, Schubert, Mozart, Beethoven, Haydn. Und in der Kirche zum Sonntagsgottesdienst die Orgel. Präludien zur Kommunion und Großer Gott, wir loben dich am Schluß. Immer der Opa bei ihm, neben ihm, hinter ihm. Und im Kirchenraum die Menschen, das ganze Dorf.

Manchmal hatte er Angst vor dem Opa, denn wenn er danebengegriffen hat beim Üben am Klavier, schlug der Opa ihn manchmal mit dem Stock auf die Finger. Das hat ihm scheußlich wehgetan, aber er hat den Schmerz verbissen und weitergespielt. Am Schluß wurde er dann häufig gelobt. Der Opa klopfte ihm auf die Schulter wie einem Kollegen und sagte: gut. Eigentlich gutt. Ganz knapp gutt. Das war wie ein Schuß. Dann war alles wieder gut.

Trotzdem gab es manchmal Probleme. Die meisten Probleme gab es eigentlich schon früher, wahrscheinlich schon immer, da hat er sie noch nicht so mitgekriegt, und sie gingen ihn eigentlich auch nichts an. Seinen Opa hatten die Frauen gern. Nicht, daß er das gemerkt hätte, doch manche Leute, die er kannte, sagten zu ihm, dabei strichen sie ihm über das Haar: Gelt, deinen Opa haben die Frauen gern. Er wußte nicht, was es darauf zu sagen geben könnte, deshalb hat er einfach mit den Schultern gezuckt. Und er wollte auch nicht, daß man ihm über den Kopf strich bei diesen Worten. Er war ja damals noch ein Kind und hat das nicht verstanden, 10–12 Jahre vielleicht oder jünger. Seine Oma hat sich immer furchtbar aufgeregt, wenn sie es mitgekriegt hat, dann gab es Streit, und er verkroch sich. Er mag keinen Streit. Er mag auch nicht, wenn die Oma den Opa beschimpft, und der Opa dann zurückschreit; einmal hat er sie gestoßen, da ist sie gegen den Wohnzimmerkasten gestürzt und hat sich die Stirn blutig geschlagen. Da ist er davongelaufen, er kann kein Blut sehen. Am nächsten Tag kam die Oma dann mit einem Verband um den Kopf, und seiner Tante hat sie erzählt, daß sie gestürzt sei, einfach von selbst, irgendwie gestürzt. Die Tante tat ganz erschrocken. Da mußt du aber aufpassen, da könntest du dir ja etwas gebrochen haben. Die meisten älteren Frauen, die stürzen, brechen sich den Oberhalsschenkelknochen und kommen dann nicht mehr auf die Beine.

Er hat ja gesehen, wie der Opa sie fest gegen den Schrank geworfen hat, daß die Gläser geklirrt haben und der ganze Eichenkasten gewackelt hat. Der Opa ist ja ziemlich kräftig. Er sieht selbst aus wie ein Schrank. Aber auch wie ein Künstler, mit seinen langen, grauweißen Haaren, die sich im Nacken auf dem Kragen leicht kräuseln. Er glaubt, daß der Opa stolz auf seine Haare ist, er hat sie auch täglich gewaschen. Jedenfalls sagte die Oma manchmal, um ihn lächerlich zu machen, auch vor anderen Leuten: der wäscht sich ja jeden Tag seine Haare wie ein Weib. Das sagte sie auch, wenn er selbst dabei war, und dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und verzog seinen Mund verächtlich. Und mit dem Lächerlichmachen war es wieder nichts, denn die Leute bewunderten seinen Opa und wollten ihn nicht lächerlich gemacht haben. Manche sagten dann auch, besonders die Frauen, deswegen hat er so schöne, glänzende Haare, und manchmal fragten sie auch nach dem Shampoo, das er benützte. Aber das verriet der Opa nicht, er tat, als würde er die Frage nicht hören. Auch er fand, die Frage gehörte sich nicht, man kann doch den Opa, den Herrn Oberschulrat, nicht fragen, welches Shampoo er benützt. Er hat eben schöne Haare, obwohl er in letzter Zeit gemerkt hat, daß sie ihm schon auszugehen beginnen.

Der Opa kann sehr gut verächtlich und überlegen lächeln, eigentlich grinsen. Da sieht er unsympathisch aus, fast zum Fürchten. Irgendwie teuflisch. Nein, das will er nicht sagen, aber er hat einen Film gesehen, da hat ein Schauspieler so gegrinst, und den hat er sofort für einen Bösewicht gehalten, doch das war der dann gar nicht, das war in Wirklichkeit ein Guter. Da hat er gelernt, daß man sich nicht täuschen lassen darf vom Lächeln. Der Opa antwortete nichts, wenn jemand dabei war von der Nachbarschaft oder eine Tante.

Er wollte immer so kräftig werden wie der Opa, aber er wurde nur dick. Und er ist auch nicht so großgewachsen wie der Opa. Die Leute haben zu ihm immer gesagt, dein Opa ist ja ein Hüne. Da mußt du dich beeilen, wenn du so groß werden willst. Die Oma hat immer gesagt, du mit deinen neunzehn Jahren, du kannst ja noch wachsen, du bist ja noch nicht ausgewachsen. Darauf hofft er. Der Opa sagte, du bist ein anderer Schlag, du bist ein Schubert-Typ, und tatsächlich, er hat wirklich im Gesicht Ähnlichkeit mit dem Komponisten und in der Figur auch.

Seine Großeltern haben zwei Töchter, die eine ist auch Lehrerin in der hiesigen Volksschule, das ist seine Tante Helga. Sein Opa war Direktor der Hauptschule, ein Oberschulrat. Seine Tante Helga wohnt mit ihrem Mann ein paar Häuser weiter weg in einem Einfamilienhaus. Hier im Dorf haben fast alle Leute Häuser, größere und kleinere. Der Opa und die Oma haben ein größeres mit einem oberen Stockwerk. In dem wohnt er. Die zweite Tochter, die ältere, ist seine Mutter, die nicht im Dorf wohnt. Er ist bei seinen Großeltern aufgewachsen. Es heißt, daß der Opa die Mutter aus dem Haus gejagt hat. Verstoßen, sagt man. Ihr Lebenswandel hat ihm anscheinend nicht gefallen und hat auch nicht ins Dorf gepaßt. Ihr Lebenswandel habe Schande über die Familie gebracht. Aber ihn haben sie behalten, damit er anständig aufwächst und damit was aus ihm wird, und es ist ja auch etwas aus ihm geworden. Das hat man ihm erzählt, denn er kann sich ja nicht daran erinnern, weil er da noch ein Säugling war.

Er sieht seine Mutter fast nie, sie wohnt weit weg, er glaubt, in der Landeshauptstadt. Er hat keinen Kontakt zu ihr. Eigentlich kennt er sie nicht. Zu seinem Geburtstag schickt sie ihm Glückwünsche und Schokolade und ein Foto von sich, deshalb weiß er ungefähr, wie sie ausschaut. Von seinen Großeltern erfährt er nichts über seine Mutter, er fragt auch nicht nach ihr, sonst sind seine Großeltern böse und fragen, geht es dir nicht gut genug bei uns? Tun wir dir nicht schön genug? Er will keine Unannehmlichkeiten und keinen Unfrieden. Seine Mutter ist auch zuerst nicht vor Gericht erschienen. Er war eigentlich gar nicht darauf vorbereitet, daß sie erscheint. Aber sie ist wahrscheinlich vorgeladen worden. Sie ist ja auch nicht mehr seine richtige Mutter, denn seine Großeltern haben ihn adoptiert, damit etwas aus ihm wird. Wenn ihn seine Schulkollegen manchmal fragen, wo ist denn deine Mutter? oder hast du keine Mutter?, sagt er nur, daß sie gestorben ist. Oder: In Amerika, sagt er, das klingt interessant, und die Mitschüler fragen dann nicht mehr weiter. Aber das hat er früher gesagt, als er noch ein Kind war, so was wie zehn Jahre oder jünger. Später hat er überhaupt keine Antworten mehr gegeben, doch er wurde auch nicht mehr danach gefragt, es war alltäglich geworden, auch für ihn. Seine Mutter fehlt ihm nicht. Wenn der Opa sie verstoßen hat, dann wird es seine Berechtigung haben, denn der Opa ist ein Ehrenmann. Hochangesehen im Dorf. Der Angesehenste wahrscheinlich, noch vor dem Bürgermeister. Manchen von seinen Mitschülern, vor allem den Mädchen, tut er leid, weil er keine Mutter hat, aber er vermißt sie nicht. Wo sein Vater ist, fragt ihn niemand. Angeblich ist er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Oder bei einem Motorradunfall. Der Opa ist auch sein Vater, das sagt der Opa immer, das heißt, er hat es früher immer gesagt, bis es schließlich überflüssig war, es zu sagen, weil er sich ohnehin nichts anderes vorstellen konnte. Einige von seinen Schulkameraden haben Eltern, die ihre Kinder grün und blau schlagen, das erzählt sein Opa ihm manchmal. Das weiß der Opa, weil er Schuldirektor ist. Der Opa erzählt ihm aber mehr über Musik und daß er sehr begabt sei und daß er ihn fördere und er alles tun solle, was der Opa ihm aufträgt, denn der wird dafür sorgen, daß sein Enkel berühmt wird. Daß er in der ganzen Welt herumreisen wird. Und dann legte der Opa den Arm um die Schulter seines Enkels, d. h., er griff herunter auf seine Schulter, denn er war ja damals noch viel größer, und so gingen sie oft durch den Ort. Von allen Seiten wurden sie gegrüßt. Zu gewissen Zeiten gingen sie durch das Dorf wie durch ein Spalier, weil da viele Leute unterwegs waren, und die Leute traten zur Seite und machten ihnen Platz. Seither weiß er, daß er etwas Besonderes ist.

Der Justizbeamte klirrt mit seinem Schlüssel an der Zellentür und öffnet sie. Er hat den Beamten nach seinem Namen gefragt. Er fragte ihn, mein Herr, wie darf ich Sie ansprechen? Das hat er einmal gelesen in einem Roman, und er dachte, er müsse hier besonders höflich sein und seine gute Erziehung zeigen, damit man weiß, mit wem man es zu tun hat. Aber der Beamte gab ihm keine Antwort, sondern sagte nur: Hofgang.

Er macht also zum ersten Mal einen Hofgang. Auf etwas Neues ist er immer neugierig. Jedenfalls eine Abwechslung. Vielleicht sieht er seinen Opa beim Hofgang. Er weiß ja nicht, wie ein Hofgang aussieht, er hat sich nie für Kriminalfilme interessiert, in denen vielleicht Strafanstalten und Hofgänge gezeigt werden. Der Justizwachebeamte sagt, daß nicht gesprochen werden darf. Jedenfalls nicht beim Herumgehen. Die Sträflinge gingen schön im gleichen Schritt im Hof herum. Es machte ihm nichts aus, daß sie nicht sprechen dürfen. Er wüßte auch nicht, mit wem er was zu reden anfangen sollte, in welchen Rücken er sprechen sollte. Außerdem hat er viel zu denken. Beim Gehen kommen ihm immer Gedanken. Er denkt auch daran, daß er hier nicht mehr Klavier spielen kann oder darf. Und daß seine Finger ganz steif und unbeweglich werden. Das Klavier fehlt ihm. Und seine Klavierlehrerin fehlt ihm auch. Ob sie an ihn denkt? Vielleicht könnte er ihr schreiben, daß sie und das Klavier ihm fehlen. Ob er einen Antrag stellen kann, daß er manchmal Klavier spielen darf? Schließlich ist er der junge Mozart. Das Gericht soll seinen Opa fragen, der wird es ihnen bestätigen, der muß es ihnen bestätigen. Alle im Dorf sprechen von ihm als vom kleinen Mozart, das heißt, sie haben von ihm als vom kleinen Mozart gesprochen, als er noch wirklich klein war. Heute müßte man von ihm als vom großen Mozart oder von Schubert sprechen, aber er glaubt, das macht man jetzt nicht mehr. Er kennt ja die Gebräuche hier nicht.

Es ist alles so über ihn hereingebrochen. Das heißt, es gab ja immer die Möglichkeit, daß so etwas passiert, also über ihn hereinbricht. Und jetzt ist er im Gefängnis. Mit seinem Opa hat er nicht mehr gesprochen. Er weiß nicht, durften sie nicht miteinander sprechen oder wollte der Opa nicht, jedenfalls hat er ihn vor Gericht nicht angeschaut. Nicht einmal angeschaut. Wir saßen ja nebeneinander, denkt er. Er hat Zeit zu denken, soviel Zeit, wie er sie noch nie in seinem Leben hatte.