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Undinė Radzevičiūtė

Das Blut ist blau

Roman

Aus dem Litauischen
übersetzt von Cornelius Hell

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Die Arbeit des Übersetzers
wurde mit einem Stipendium
der Stadt Wien gefördert.

Dieses Buch wurde mit Unterstützung
des Lithuanian Literature Institute
herausgegeben.

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© Undinė Radzevičiūtė, 2017

Die litauische Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel

»Kraujas Mėlynas« im Verlag des litauischen Schriftstellerverbandes erschienen.

© 2019 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Kussin/buero 8

Lektorat: Jessica Beer

ISBN eBook 978 3 7017 4604 0

ISBN Print 978 3 7017 1700 2

Meiner lieben Mutter
und meinen Tanten Liucina und Irena
gewidmet

Inhalt

BERNHARD VON DER BORCH

DIE GEBIETE LIVLANDS

WIR WISSEN, WOHIN WIR GEHEN

AUF WESSEN SEITE STEHT GOTT?

FRIEDRICH VON DER BORCH

DIE GEBIETE LIVLANDS

WENN MAN VETTER DES LANDMEISTERS IST

HILDEBRAND KANN ALLES RICHTEN

DAS LIVLAND DER WESTFÄLISCHEN RITTER

AUCH EINE GUTE ABSICHT KANN BÖSE FOLGEN HABEN

LORINGHOVEN

WIRD ES ZUR HINRICHTUNG KOMMEN?

DIE GRIECHISCHEN PRINZESSINNEN

ZOË UND HELENA

FAST WÄRE ES ZUM SCHLIMMSTEN GEKOMMEN

DIE EINE NACH OSTEN, DIE ANDERE NACH SÜDEN

WORAN DENKT DER LANDMEISTER?

HILDEBRAND BEIM ERZBISCHOF

DIE PRINZESSIN ZIEHT WIEDER DAS SCHWARZE KLEID AN

DAS TURNIER DES HEILIGEN ROLAND

DIE HOCHZEIT

DIE KONSUMATION DER EHE

SIMON VON DER BORCH

DIE GEBIETE LIVLANDS

ZWISCHEN FAMILIE UND KIRCHE

RIGA

ENDLICH – ROM

RODRIGO BORGIA

DEN PAPST SIXTUS IV. BERÜHREN

EIN SCHICKSALHAFTER MORGEN, EIN SCHICKSALLOSER TAG

DAS LETZTE ABENDMAHL

ABWARTEN

ZURÜCK NACH LIVLAND

VETTER RODRIGOS SCHATULLE

DER BOTE

DIE SCHWEDEN

KOKENHUSEN

EINZUG IN RIGA

DAS GESCHENK DES LANDMEISTERS FÜR DIE STADT RIGA

EINE NACHRICHT VOM PAPST

EINE NACHRICHT AUS KOKENHUSEN

DIE BEISETZUNG DES ERZBISCHOFS

DER BRIEF DES PAPSTES

KEIN HALBES JAHR IST VERGANGEN

HILDEBRAND ERZÄHLT VON ENGLAND

WEM KANN MAN IN LIVLAND VERTRAUEN?

DER KRIEG

DIE GEBIETE LIVLANDS

VORBEREITUNG AUF DEN KRIEG

BELLUM JUSTUM

IN DER REPUBLIK PSKOW

WENDEN

DIE KOMTURE IN FELLIN

EINE BURG AUS DER SCHENKE VON FELLIN

DIE RUSSEN GREIFEN AN

DIE RUSSEN GREIFEN WIRKLICH AN

WOVOR IST DER LANDMEISTER AUF DER FLUCHT? WOVOR IST BERNHARD AUF DER FLUCHT?

RIGA

DIE GEBIETE LIVLANDS

ZWEI BRIEFE

FRIEDEN MIT RIGA?

BORCH UND TIESENHAUSEN

KRIEG GEGEN RIGA?

LANDMEISTER – ODER AUCH NICHT

DIE GEBIETE LIVLANDS

LANDMEISTER – ODER AUCH NICHT

SIMON UND GRIMMERT

BERNHARD VON DER BORCH AUF BURG PERNAU

LORINGHOVEN, STELLVERTRETER DES LANDMEISTERS

SIMON IN REVAL

FRIEDRICH IN REVAL

DAS ENDE? IST DAS DAS ENDE?

EPILOG 1

EPILOG 2

GLOSSAR

Meine Tante Liucina ruft meine Mutter an und sagt, dass Undiiine, das bin ich, auf alles pfeift.

Zu Hause nennt man mich so. Aus unbekannten Gründen dehnen alle dieses kurze i zu einem langen iii.

Die anderen sprechen meinen Namen anders aus, daher fällt es mir nicht schwer, meine Sippschaft von den Fremden zu unterscheiden.

Tante Liucina ruft also meine Mutter an und erklärt:

»Undiiine pfeift auf alles.«

»Nicht auf alles«, sagt meine Mutter.

Ich weiß nicht, warum sie das sagt.

Weil sie mich besser kennt?

Weil Mütter ihre Kinder verteidigen müssen, was auch immer geschieht?

»Auf alles!«, ereifert sich Tante Liucina. »Sie schert sich überhaupt nicht um ihre Familie. Soll sie doch ihren ganzen Unsinn …«

Danach sprechen sie zwei Monate nicht miteinander.

Obwohl das nicht gerade sehr vernünftig ist: Sie sind beide über siebzig, und jedes Gespräch kann das letzte sein.

Wenn Tante Liucina sagt, ich schere mich überhaupt nicht um die Familie, dann meint sie, dass ich keine Ahnenforschung betreibe.

In unserer Familie bedarf es nicht vieler Worte, um zu begreifen, wer was sagen will.

»Sie hat es doch am meisten nöt …«, versucht Tante Liucina zu argumentieren.

Nachdem sie gesagt hat, dass ich das alles doch am meisten nötig hätte, sprechen Mutter und Tante zwei weitere Monate nicht miteinander.

Wenn meine Mutter sehr böse auf mich ist, sagt sie, ich sei eine »richtige« Liucina!

Eine richtige!

In jeder Hinsicht.

Und jeder Tag sei ein neuer Beweis dafür.

Dass es nun einmal so ist.

Und ich verteidige mich, dass es nicht so ist, nicht in jeder Hinsicht, denn im Gegensatz zu Tante Liucina verschwende ich gerne Geld.

Ich spüre es ständig: Im Blut und in den Beziehungen unserer Familie sind Spuren eines eigenartigen Gifts, und es ist nicht so, dass uns jemand vergiftet hätte, sondern eher, dass wir das schon selbst tun.

Und dieses Gift ist vor langer Zeit in unser Blut gelangt. Vor so langer Zeit, dass es sogar zu einem Teil unserer Gene geworden ist.

Ich wundere mich ständig über zwei Sachen.

Die erste: In unserer Familie hat sich nie jemand wegen »Was werden die Leute sagen?« aufgeregt.

Das lag nicht daran, dass alle Familienmitglieder darauf aus gewesen wären, irgendwelche Grenzen zu überschreiten, sondern daran, dass wahrscheinlich der Ausgangspunkt ihrer Weltsicht ein anderer war.

Die zweite, traurigere Sache: Jeder in der Familie hatte seine ganz eigene Vorstellung vom Leben, jeder ging seinen eigenen Weg und wollte die Gefühle der übrigen Familienmitglieder überhaupt nicht verstehen.

Wenn ich zurückdenke, so scheint mir, als führte mein ganzes Leben zum Zusammentreffen mit meinen Vorfahren, und viele Details meines Lebens erscheinen mir jetzt als Vorzeichen dafür.

Ich weiß nicht, wann das alles begonnen hat: vielleicht, als die Großmutter ein altes Fotoalbum aufschlug und mir meine Mutter zeigte?

Damals war ich fünf.

Oder als ich träumte, ich sei ein alter Mann. Etwa vierzig Jahre alt. Ich liege auf einem Schlachtfeld in einer Rüstung und einem Panzerhemd.

Ich liege auf der linken Seite, sterbe und weine.

Damals war ich sechs.

Meine Familie ist aus Kurland nach Litauen gekommen. Aus Mitau. Im Jahr 1919.

Mitau war bis dahin die Hauptstadt von Kurland gewesen, eine Stadt, für die sich so berühmte europäische Abenteurer wie Casanova und Graf Cagliostro eigentlich nicht interessierten. Doch sie hatten in Mitau etwas zu tun.

Jetzt wird das Gebiet von Kurland mit einem Wort bezeichnet, das an ein polnisches Schimpfwort erinnert, und Mitau ist zu Jelgava geworden. Aus diesem Grund ist die Ahnensuche in unserer Familie keine so einfache Angelegenheit.

Und wenn Tante Liucina zu meiner Mutter sagt:

»Undiiine pfeift auf alles.«

Dann sage ich zu meiner Mutter:

»Wollt ihr, dass ich ganz Kurland mit einem Spaten umgrabe?«

»Eine richtige Liucina«, sagt meine Mutter.

Um die Wahrheit zu sagen, die Ankunft meiner Familie in Litauen war nicht berauschend, obwohl sie mit einem Waggon voller Möbel ankamen.

Diese »Ankunft« gilt in unserer Familie als die größte Tragödie.

In den letzten hundert Jahren.

Darum sind einige Mitglieder unserer Familie, meine Mutter inbegriffen, kategorisch dagegen, dass über dieses Thema gesprochen wird.

»Da soll man nichts aufwühlen!«, sagt meine Mutter.

Wenn ich das in irgendeinem Interview erwähne und sie dieses Interview liest, ruft sie sofort besagte Tante Liucina und auch noch Tante Irena an, um sich über mich zu beklagen.

Doch Tante Irena sieht darin nichts Schlimmes, sondern nur eine neue Attraktion.

Und für Tante Liucina dient jedes Ereignis ihren eigenen Interessen.

Tante Liucina ist die älteste Schwester und meint, sie habe das Recht, meine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, was ein jeder zu tun und wie er zu leben habe.

Und wohin alle zu schauen und was sie zu sehen haben.

Und mit wem sie befreundet sein sollen.

Also war die Ankunft der Familie in Litauen keine einfache Ankunft. Sondern die größte Tragödie.

Das lag nicht daran, dass es nach Litauen ging.

Sondern daran, dass sie Mitau verlassen mussten, weil zu dieser Zeit in den Straßen von Mitau ein Bürgerkrieg zwischen dem späteren lettischen Präsidenten Ulmanis und den deutschen und russischen Sozialisten herrschte. Und niemand wollte versehentlich erschossen werden.

Vor allem mein Urgroßvater, ein charmanter Abenteurer aus Litauen, der schön sprechen konnte – so zumindest erscheint er in den Erinnerungen der Familie – und der meine Urgroßmutter Klementina Savicka-Savicz auf betrügerische Weise geheiratet hatte.

Durch einen Betrug, den unsere ganze Familie noch immer nicht verzeihen kann, ungeachtet der Tatsache, dass es, wenn er sie nicht reingelegt hätte, auch uns nicht gäbe.

Der Schwindel betraf die Größe des Hofes.

Der künftige Urgroßvater sagte der künftigen Urgroßmutter, er habe einen Hof, na was denn, ein Schloss! Aber in Litauen.

Er legte die Geige hin, beugte sich vor und sagte es.

Natürlich hatte er überhaupt keinen Hof, er hatte nur den Eindruck erweckt.

Als hätte er einen.

Und er heiratete die vornehme Deutsch-Polin noch vor der Revolution, und nach der Revolution wusste er nicht mehr, was er machen sollte. Kurland hatte bis dahin zum Russischen Reich gehört, daher wurden die Straßen nach der Revolution überschwemmt von nasebohrenden Kommissaren mit Revolvern und Regenmänteln, die aus Leder waren, damit sich das Blut leichter abwaschen ließ.

Doch warum hat meine Urgroßmutter Klementina meinem Urgroßvater vertraut?

Vielleicht, weil sie sanft und leichtgläubig war? Oder vielleicht, weil ihr bis dahin kein einziger Abenteurer aus Litauen untergekommen war?

Oder vielleicht, weil sie Witwe war, bereits vier nicht mehr ganz kleine Kinder hatte und unbedingt jemandem vertrauen wollte?

Auf dem Foto vor der Begegnung mit meinem Urgroßvater wirkt sie so schön, so strahlend und stolz, und nicht einmal die vier neben ihr stehenden, herausgeputzten Kinder scheinen ihr Mühe zu bereiten.

Auf dem zweiten Foto ist meine Urgroßmutter Klementina etwas älter und bereits zum zweiten Mal verheiratet.

Mit meinem Urgroßvater. Sie sitzt in einer gestreiften Jacke da, eine Straußenfeder am Hut, und vor ihr auf einem Tischchen sitzt ihr weiß gekleideter, etwa dreijähriger Sohn in nagelneuen Schuhen mit dunklen Spitzen.

Es gibt noch ein Foto.

Das letzte.

Sie sitzt auf irgendeinem quadratischen Hocker, nicht in einem prächtigen Fotoatelier, sondern im Freien, und von ihrem Gesicht kann man ablesen, dass in ihrem Leben etwas Schreckliches passiert ist.

Die beiden ersten Fotos wurden in Mitau gemacht, das dritte bereits in Litauen.

Sie kam mit einem Waggon voller Möbel nach Litauen.

Und mit sieben Kindern. Vier aus der ersten Ehe und drei aus der zweiten.

Nahe dem Städtchen Kėdainai stand ein leerer Hof, über den mein Urgroßvater gut informiert war … und in den zogen sie. Als wäre es sein eigener.

Nach einer Woche wurden sie von dort verjagt …

Mein Urgroßvater litt bereits an Schwindsucht …

Wenn die ersten vier Kinder oder deren Nachkommen aus Amerika nach Litauen kamen, so sagten sie immer, Großmutter Savicka-Savicz stamme von Baronen ab.

Der Nachname ihrer Mutter war Burg oder Borg gewesen. Wie er genau lautete, konnte niemand sagen.

»Wenn du gar nicht danach suchst, dann kann man auch sang- und klanglos sterben«, sagt Tante Liucina.

Ganz ohne Barone.

Vielleicht gefallen mir wegen dieses Nachnamens die mittelalterlichen Stadt-Burgen so sehr, und für einen ruhigen Spaziergang entlang einer Burgmauer würde ich alles geben.

Alles: Sowohl eine stürmische Diskussion als auch ein »wichtiges« Treffen.

Sogar eine Leidenschaft.

Aber eine Liebe?

Vier Monate tödlichen Schweigens waren vergangen seit dem letzten »Undiiine pfeift auf alles«, und Tante Liucina rief meine Mutter wieder an.

Sie wollte einlenken, doch es stellte sich heraus, dass sie sich seit dem letzten Mal nicht beruhigt hatte.

Kein bisschen.

Und nach dem dritten Skandal, der die Familienbeziehungen erschütterte, wollte ich diesen sich lange hinziehenden »Krieg« beenden und entschloss mich schließlich, die Listen der baltischen Barone ausfindig zu machen.

Die Namen Burg oder Borg fanden sich dort nicht.

Also gut. Also alles in bester Ordnung. Also Ruhe.

Für alle.

Doch dabei sollte es nicht bleiben.

Es ist nun einmal so, dass ich irgendwann, in grauer Vorzeit, Kunstgeschichte studiert habe.

Und sogar jetzt sehe ich mir gelegentlich noch irgendein Bild an. Ein chinesisches, japanisches oder niederländisches.

Es war ein totaler Zufall oder vielleicht ein unerwartetes Zusammentreffen.

Plötzlich fiel mir auf, dass der Name eines bestimmten niederländischen Malers manchmal als Terburg und manchmal als ter Borch geschrieben wird.

Und ich kehrte noch einmal zur Liste der baltischen Barone zurück.

Die Namen Burg oder Borg fanden sich dort nicht, aber Borch …

Fand sich!

Dieses Borch bedeutet ebenfalls Burg, Festung, Stadt.

Nur in einem anderen Dialekt.

Um die Wahrheit zu sagen, das Wappen der Borchs war eine Enttäuschung.

Drei schwarze Raben auf einem weißen Schild. Nein, nicht auf einem weißen, sondern auf einem silbernen.

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Einem dreieckigen. Zwei oben, einer unten.

Oben auf dem Helm zwischen zwei ausgebreiteten Flügeln hockt ein weiterer Rabe …

Was hatte ich denn erwartet? Einen goldenen Löwen vor einer silbernen Burg?

Damals hatte ich wirklich keine Zeit, mich mit Ahnensuche oder ähnlichem Unsinn herumzuschlagen.

Mir stand eine Reise nach Tallinn bevor, zu einem Literaturfestival, und danach das Buch, das sich nicht von alleine schreiben wollte und mir größte Qualen bereitete.

Und von all dem steckte ich innerlich fest irgendwo zwischen Ich-muss-gleich-weinen und Ich-muss-gleich-sterben.

Damals hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass sich die Reise nach Tallinn – oder in das mittelalterliche Reval – als so wichtig erweisen sollte.

Wir stammen doch aus Kurland?

Das alte Tallinn ist eine Stadt-Burg, umgeben von einer Steinmauer.

Man geht auf einem engen Pfad und spürt diese Mauer von rechts, und dann kehrt man zurück und spürt sie von links.

Statt stürmischer Diskussionen, statt massenhaften Fotografierens, statt eines Abendessens in der Irischen Botschaft, statt einer Leidenschaft.

Statt einer Liebe?

Mein Treffen mit den Schriftstellern war ganz am Ende des Festivals vorgesehen, direkt vor dem Abflug.

Daher hatte ich viel Zeit für Spaziergänge entlang der Mauer.

Und an diese Mauer schmiegten sich sogar drei Parks.

Ein großer Park, ein kleinerer Park und ein ganz kleiner. Ein Park.

Ich hatte Zeit für alle drei.

Der kleinste von ihnen schien auch der allerdunkelste zu sein: überwachsen von alten Bäumen mit ineinanderverflochtenen Zweigen. Finster und menschenleer.

Ein Park, wie man ihn für einen guten, ruhigen Spaziergang braucht.

Auf dem Kiesweg des Parks hockte ein Rabe, der noch nicht flügge war und nicht wegkonnte.

Ich blieb stehen, um ihn mir anzusehen, und plötzlich war über meinem Kopf ein schreckliches Krächzen zu hören. Ich hob den Blick und sah oben, auf den Zweigen, noch zwei weitere.

Zwei oben, einer unten.

Die oberen erhoben ein unheimliches Geschrei, der untere schwieg traurig mit gesenktem Kopf.

Ich machte um den kleinen Raben einen großen Bogen, um ihn nicht zu erschrecken oder zu verletzen. Der Parkausgang befand sich genau hier, und plötzlich verspürte ich einen Stoß und einen Flügelschlag über meinem Kopf.

Einer der Raben holte mich ein, setzte sich mit einem Knall auf meinen Kopf und schlug mächtig mit den Flügeln.

Und danach stieß er einen unheimlichen Schrei aus und flog davon.

Da war kein Blut.

Obwohl ich danach suchte. Obwohl ich es überprüfte.

Doch den Klang dieses Flügelschlags habe ich noch immer im Ohr.

Ich kehrte nach Litauen zurück, doch die Raben ließen mich nicht los.

Drei Raben auf einem silbernen Schild. Zwei oben, einer unten.

Genealogie-Spezialisten würden sagen, dass niemand so seine Ahnen sucht.

Ja, ja – niemand sucht sie so. Aber man sucht doch nicht, um Regeln zu entsprechen.

Sondern um zu finden.

Die Borchs waren in mehreren Wellen nach Livland, in das heutige Territorium von Lettland und Estland, eingewandert – zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert.

Im 15. Jahrhundert aus Westfalen, im 16. Jahrhundert aus den Spanischen Niederlanden auf der Flucht vor Herzog Alba, der die Protestanten verfolgte, und im 18. Jahrhundert aus Polen.

Die Sippe der Borchs ist, wie sich herausstellte, alt und groß.

Sie lebten in fast ganz Europa: vom Süden Spaniens bis zum Osten Russlands, von Süditalien bis Irland und Nordschweden.

In Russland nannte man sie Borg oder Borch, in Westeuropa Burg, in Spanien Borja und in Italien …

Oh Schreck, in dem Augenblick, als ich las, wie sie in Italien genannt wurden, fühlte ich mich, als hätte mir jemand mit einem Wasserwerfer gegen die Brust geschossen.

Ich konnte nicht einmal einen Atemzug tun.

Daher kam also dieses Gift!

Oh Schreck.

BERNHARD VON DER BORCH

DIE GEBIETE LIVLANDS

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WIR WISSEN, WOHIN WIR GEHEN

Der Hüne Loringhoven bekommt Reval.

Von Herzenrode, der Komtur von Goldingen, wird Landmarschall des Livländischen Ordens. Er hat es verdient.

Gerhard von Mallinckrodt der Helläugige bekommt Burg Goldingen und alle Burgen, die Goldingen unterstellt sind.

Der Komtur von Fellin bekommt 5000 Schillinge.

Wenn …

Wenn Bernhard von der Borch Landmeister des Livländischen Ordens wird.

Er wird Landmeister werden und Livland und den Orden für alle Zeiten verändern. Er wird diesen abgenutzten Mechanismus durch einen neuen ersetzen, denn der alte wird schon bald in die Brüche gehen. Sobald nur irgendjemand versucht, daran zu rütteln.

Etwa dieses Pskow.

Und was bekommt der Komtur von Dünaburg, Lappe von der Ruhr? Was bekommt er, wenn der Marschall von Livland, von der Borch, Landmeister wird?

Doch der kleinste der Komture wird nichts bekommen, denn er glaubt auch so an Marschall Borch. Er glaubt, dass Borch den Orden nach Pskow, Nowgorod, Moskau und sogar bis Tatarstan führen und dorthin das Kreuz des Westens bringen kann.

Marschall von der Borch sagt als Erster, dass man in Livland die Kraft des Deutschen Ordens, die bei Tannenberg verloren gegangen ist, wieder beleben und einen neuen Kreuzzug vorbereiten kann.

Nach Tatarstan!

Seit dieser Zeit weicht der Name Tatarstan oder Tatarei nicht mehr von den Lippen der Livländischen Ritter.

Und dieses ferne Land nennt jeder so, wie er sich vorstellt.

Dass es heißen sollte.

Noch nie hat es im Speisesaal der Burg von Fellin so nach Eisen gestunken.

Achtundvierzig Ritter des Livländischen Ordens und zwanzig freie westfälische Ritter warten mit ihren Armbrustern und Knechten auf das Abendessen.

Ein Drittel von Livland, zählt Bernhard von der Borch. Ein Drittel der Livländischen Ritter.

Die Ordensritter sind ihren Komturen nach Fellin gefolgt, und die Komture Borch, damit er den Orden wieder belebe. Sie sind ihm wegen Tatarstan gefolgt.

Und die freien westfälischen Ritter sind Borch wegen der Schillinge gefolgt.

Sie sind hier – in Livland – nur wegen der Abenteuer und wegen des Ruhms.

Und wegen der Schillinge.

Doch diese Schillinge verflüchtigen sich so schnell, und wenn sie ganz ausgingen, würde der Großteil dieser freien, stolzen und prächtigen westfälischen Ritter plötzlich zu Straßenräubern.

Und wenn dieser Zauderer von Herse weiterhin Landmeister von Livland bleibt und Livland weder gegen Süden noch gegen Osten zieht, kann der Tag, an dem sie zu Straßenräubern werden, sehr schnell kommen.

Die Mehrzahl der Ordensritter stammt ebenfalls aus Westfalen, doch sie haben das Kreuz genommen und die Gelübde abgelegt, sie halten sich an die Regeln und würden nicht zu Straßenräubern, was auch immer geschieht.

Und sie sprechen nicht beim Abendessen.

»Das Wildschwein wäre schon verendet«, sagt der freie westfälische Ritter, der Hüne Loringhoven.

Es donnert wie eine Trommel, dann herrscht wieder Stille.

Wenn man denn dieses Eisenklirren als Stille bezeichnen kann.

Nicht alle sehen, was sie essen, die Kerzen kosten viel, doch aus dem aufdringlichen Fischgeruch kann man schließen, dass es sich um eben die drei Hechte, fünf Barsche und zwei Schleien handelt, die die Ordensbrüder am Morgen gefangen haben.

Es wird nur für die sechs Komture und für zehn Ritter reichen, rechnet Bernhard nach. Obwohl im Orden alle gleich sind und dasselbe essen sollten.

Doch die einen essen Fisch, die anderen hingegen stopfen sich Käse rein.

Für den einen Fisch, für den anderen Käse, und keinerlei Wildschwein.

Es ist Fastenzeit.

Die freien westfälischen Ritter essen schneller als die Ordensritter.

Sie sind ja nicht daran gewöhnt, sich vor dem Abendessen Bibelstellen anzuhören, wie der junge Hirte David den Riesen Goliath mit einem Stein erschlagen hat, die der Kaplan lange vorliest und mit denen er die hungrigen Seelen noch länger quält.

Die freien westfälischen Ritter streuen Pfeffer auf das Essen. Mit beiden Händen.

Die Ordensritter hingegen haben schon längst genug davon.

Ein Vasall von Burg Segewold entrichtet seinen Tribut in Pfeffer.

Dem ganzen Orden brennt der Hals.

Im Speisesaal der Burg ist es verboten, zu spucken und sich auf den Boden zu schnäuzen. Indem man ein Nasenloch mit dem Finger zudrückt. Es ist verboten, ein Stück Käse, das man in die Hand genommen und von dem man soeben selbst abgebissen hat, andern zum Abbeißen anzubieten.

Nicht alle freien westfälischen Ritter wissen das. Und nicht alle goutieren, dass Fastenzeit ist.

Litauen und Pskow lachen darüber, dass man im Livländischen Orden 120 Tage im Jahr fastet.

Woher wissen sie das?

Noch drei Wochen, zählt Bernhard, noch drei Wochen, und es ist Ostern.

Und Schluss mit diesem Fasten.

»Das Wildschwein wäre schon verendet«, wiederholt der Hüne Loringhoven, diesmal schon lauter, damit alle es hören.

Vor weniger als einem Jahr hat Bernhard von der Borch, der damals gerade in den Orden eingetreten und sogleich Komtur von Marienburg in Livland geworden ist, dort auf den Steinboden ein Wildschwein geschleppt, um es den Gästen vorzuführen. Er hat es selbst in den Speisesaal geschleppt, damit die zu spät Gekommenen sähen, was für ein Tier dieses Wildschwein ist.

Ein Tier, das zwei von Bernhards Hunden aufgespießt hatte, bevor Bernhard es erschoss.

Auch die Hunde brauchen eine Rüstung.

Richtig, dieses Wildschwein wäre beinahe verendet, ohne die Vorführung zu erleben.

Als Bernhard es auf den Steinboden schleppte, ließ es sich nicht einmal dazu herab, ein Quieken von sich zu geben. Man musste es ständig rütteln.

Es ließ sich trotzdem nicht dazu herab, zu quieken, nur zu scheißen.

Nach dieser Vorführung des Wildschweins hatte Bernhard Rückenschmerzen, bis er Marschall wurde.

Doch jetzt wissen alle im Orden, dass er seinen Namen zu Recht trägt.

Bernhard bedeutet: stark wie ein Bär.

Damals dachte Bernhard, er werde lange auf Marienburg in Livland bleiben.

Bleiben und 116 Wildschweine erlegen und ihre Felle an die Wände der Burg hängen, um diese Zahl zu verewigen: 116.

Gibt es doch 116 Borchs in der Liste der Livländischen Ritter.

Doch die Komture haben ihn zum Marschall gewählt, und jetzt warten alle darauf, dass Marschall Borch zeigt, dass er Landmeister von Livland werden kann. Sie warten bereits zwei Tage und sind dabei, auf Burg Fellin den ganzen Käse aufzuessen.

Das Wildschwein wäre wirklich schon verendet, denkt Bernhard.

Jetzt ist er bemüht, sich an die Ordensregeln zu halten und nicht auf die Jagd zu gehen.

Doch vor einem Jahr gingen sie in Marienburg in Livland ständig auf die Jagd. Ohne an die Regeln zu denken oder die Verbote zu beachten.

Sie jagten Schwarzwild und Rotwild. Wildschweine und Elche.

Doch nach den Regeln dürfen Ordensritter die Jäger nur begleiten und sie vor schlechten Menschen schützen, die sich im Wald herumtreiben. Aber nicht selbst jagen.

Wenn die Ritter irgendetwas erlegen dürfen, dann Wölfe, Luchse und Bären.

Doch sogar das …

Man darf diese Jagd nicht als leeren Zeitvertreib ansehen, sondern als Arbeit zum Wohle anderer Menschen.

Nur auf Vögel können sie schießen, so viel sie wollen. Nur auf Vögel.

Auf Vögel …

Wenn Bernhard von der Borch Landmeister wird, wird er verbieten, auf Raben zu schießen. Das schwört er. Bei der Heiligen Dreifaltigkeit.

Wenn man sich ständig bemüht, einen Vogel, der sich in weiter Ferne niederlässt oder einem plötzlich über den Kopf fliegt, zu treffen, dann lernt man sogar, einem Feind ins Auge zu schießen. Alle Ordensritter sind jetzt nicht nur imstande, mit Schwert und Speer zu kämpfen, sondern auch zu schießen. Nicht nur mit Bögen, sondern auch schon mit Arbaletten.

Wenngleich ein jeder Ritter seinen Arbaletten-Schützen hat.

Die Livländischen Ritter schießen viel.

In Livland ist kein Platz für eine Schlacht mit Speeren.

Doch wer kann besser mit Speeren kämpfen als die Ordensritter? Gewiss niemand. Aber wo soll man ein ebenes Feld finden? Rundum gibt es nur Wälder und Sümpfe.

Es gibt keinen Ort und keinen Gegner: Litauen hat sich taufen lassen, Pskow und Nowgorod haben schon längst das Kreuz angenommen … Wenn auch nicht dieses. Das aus dem Osten, nicht aus dem Westen. Aus Griechenland, nicht aus Rom. Doch aus irgendeinem Grund bezeichnen sie die Livländischen Ordensritter als Häretiker!!! Und ständig dringen sie in die Länder des Livländischen Ordens ein. Entweder wegen des Heus oder um etwas in Brand zu stecken …

Irgendeine Kirche.

Bernhard isst den Fisch aus einer Schüssel gemeinsam mit einem westfälischen Ritter, dem Hünen Loringhoven. Denn auf Loringhoven blicken die freien westfälischen Ritter wie die Ordensritter auf Bernhard.

Sie blicken ihn an und glauben an ihn.

Bernhard isst Fisch, doch er spürt den Fischgeschmack nicht, nur den bitteren Pfeffer, denn der Hüne Loringhoven hat davon zweimal in die Schüssel geschüttet.

Bernhard hat den Geschmack der Gerichte schon einige Tage lang nicht mehr gespürt, und nur der Pfeffer erinnert ihn …

Er nimmt das Abendessen ein.

So viele Ritter hier sind, so viele Burgen glauben an ihn. Seine Burg, sieben seiner Vasallen, noch fünf Ordensburgen in Süd-Livland, doch in Nord-Livland …

»Judasse«, spuckt Loringhoven eine Fischgräte aus. »Ich werde sie abstechen. Nicht einmal eine Nachricht haben sie mir zukommen lassen.«

Im Orden ist es gestattet, bei Tisch zu sprechen, doch nur im Flüsterton und nur über ganz wichtige Angelegenheiten.

»Ich werde sie abstechen«, wiederholt der Hüne Loringhoven.

Loringhoven spricht so, dass es nicht nur Bernhard hören soll.

Ja, das Wildschwein wäre schon verendet, während man darauf wartet, dass die drei Komture der mächtigsten Burgen aus Nord-Livland eintreffen.

»Judasse«, wiederholt Loringhoven.

Bernhard und er essen gemeinsam aus einer Schüssel, damit alle auf der Burg die feste Verbindung des Ordens mit den freien westfälischen Rittern zu sehen bekommen.

Alle hier essen zu zweit aus einer Schüssel: Bernhard mit Loringhoven, und Gerhard von Mallinckrodt der Helläugige, der künftige Komtur von Goldingen, mit von Herzenrode, dem gegenwärtigen Komtur von Goldingen.

Und der kleinste unter den Komturen, Lappe von der Ruhr, der die längste Reise durch den Schnee von Dünaburg nur deswegen auf sich genommen hat, weil er an Bernhard glaubt, und nicht irgendeiner neuen Burg oder der Schillinge wegen – er isst mit einem westfälischen Ritter mit gebrochener Nase.

Mit Justus Hoyningen-Huene.

Und Hoyningen-Huene spricht zwar nicht so laut wie der Hüne Loringhoven, doch dafür spuckt er die Fischgräten laut auf den Boden.

Alle essen zu zweit, doch das Bier trinkt jeder für sich.

»Hunde«, räuspert sich Loringhoven und beginnt, sich die Brotkrümel aus dem Bart zu zupfen.

An diesem Tisch ist er der Einzige mit Bart. Alle anderen sind rasiert. Um sich nicht mit den Feinden zu verheddern.

Falls es zu einem Krieg mit Pskow oder mit Nowgorod käme.

Doch an einer richtigen Schlacht haben die Livländischen Ritter zuletzt vor … vor über dreißig Jahren teilgenommen. Und jetzt ist Livland für keinerlei Krieg gerüstet.

Doch ein Krieg kann jeden Tag ausbrechen.

Mit Pskow oder mit Nowgorod einen Frieden zu schließen, ist dasselbe wie mit den Litauern einen Bund einzugehen.

Sie werden einen ja doch hintergehen.

Man schließt einen Frieden für fünfundzwanzig Jahre, doch Pskow wird ihn nur acht Jahre einhalten.

Viele in Livland wollen einen Krieg, aber am lautesten spricht der Hüne Loringhoven davon. Er hat sogar den Schwur abgelegt, er werde sich weder die Haare schneiden noch den Bart rasieren lassen, bevor es nicht zum Krieg oder zu irgendeiner ernsthaften Schlacht kommt, deswegen sitzt er bei Tisch mit einem Bart, der ihm bis zur Brust reicht. Wenn der Hüne Loringhoven es hören könnte, hätten die Ordensritter Angst, doch wenn er es nicht hört, spotten sie: Eines Tages werden sich in diesem Bart von Loringhoven »die Perlen Gottes« einnisten. Sie werden sich einnisten, um christliches Blut zu saugen, wirklich.

Im Orden ist es erlaubt, sich einen Bart oder einen Schnurrbart wachsen zu lassen, doch man muss ihn schneiden. Er darf weder zu lang noch zu dicht sein.

Loringhoven wird bald selbst einem Moskowiter ähnlich sehen. Wegen der Haare, aber auch wegen des Bartes.

»Ich werde sie abstechen«, poltert Loringhoven mit tiefer Stimme und presst seinen Bart mit der Faust zusammen, und so werden seine Worte einem Schwur ähnlich. »Ich werde ihnen solche Tonsuren schneiden lassen! Solche Tonsuren.«

Der Hüne Loringhoven ist bei Tisch wie eine Bombarde: Entweder wird er gleich schießen oder selbst zerspringen und dabei alles ringsum zerschmettern.

»Wir«, sagt Bernhard. »Wir«, wiederholt Bernhard. »Wir werden uns rasieren.«

Der Hüne Loringhoven wird Reval bekommen.

Er wird in den Orden eintreten, Reval bekommen und gezwungen sein, sich den Bart noch vor dem Krieg zu kürzen.

Von Herzenrode wird Marschall von Livland werden. Denn er hat es verdient.

Gerhard von Mallinckrodt der Helläugige wird Burg Goldingen bekommen und alle ihr unterstellten Burgen.

Die anderen werden in Silberschillingen ausbezahlt werden.

Und diese drei Judasse wird Bernhard zurück nach Westfalen schicken!!!

»Sie sind wahrscheinlich schon in Helmet«, explodiert Loringhoven. »Sie sind hingeritten, um von Herse zu unterstützen.«

Warum glaubt Nord-Livland nicht an ihn? Bernhard quält sich in Gedanken über diese Abtrünnigen.

Er quält sich, und während er sich quält, sieht er das Gesicht eines jeden. Einzeln.

Warum?

Wenn sie schon in Helmet wären, dort, wo sich Landmeister von Herse versteckt hält – das wäre ein großer Verrat.

Zwei von den dreien, die nicht nach Fellin gekommen sind und sich nicht Borchs Truppen angeschlossen haben, stammen ebenfalls aus Westfalen.

Doch vielleicht waren diese drei aus Nord-Livland einfach berechnend?

Sie rechneten sich aus, dass es sich nicht lohnte, dass es gefährlich war. Sie haben abgewogen und jetzt verkriechen sie sich in ihren Burgen und wärmen sich unter Schafwolldecken. Auch das ist ein Verrat, aber er richtet keinen so großen Schaden an.

Ein kleiner Verrat.

Doch der getreue Lappe von der Ruhr von Dünaburg ist fast eine Woche durch den Schnee gewatet, nur weil er an Bernhard glaubt, und nicht wegen dieser teuflischen Schillinge und nicht wegen irgendeiner größeren Burg.

»Verräter!«, brüllt Loringhoven auf.

Oder vielleicht halten diese drei aus Nord-Livland Borch selbst für einen Verräter?

Aber Bernhards Ziel, den Orden zu retten, seine Macht und seinen Ruhm wiederherzustellen und das Kreuz des Westens bis nach Tatarstan zu bringen, rechtfertigt doch so einen kleinen Verrat.

Es rechtfertigt ihn doch?

Das ist keine kluge Abwägung: Es lohnt sich – es lohnt sich nicht, es ist gefährlich – es ist ungefährlich.

Und ist es etwa ein Verrat, wenn dir ein Drittel des Ordens folgt? Sie folgen und glauben, dass Borch die anderen dorthin bringen kann, wohin sie auch gehen wollen.

Bis jetzt glaubt nur der westfälische Teil des Livländischen Ordens an Marschall Borch. Aber die westfälischen Ritter im Orden sind doch 161 an der Zahl, und die Ritter aus dem Rheinland nur 26.

Nur 26!

Die westfälischen Ritter wollen einen Landmeister aus Westfalen und nicht aus dem Rheinland. Und das hat seine Berechtigung!

Doch wenn die Komture dieser drei Burgen mit ihren Rittern bereits in Helmet sind, dann ist alles verloren.

Doch nein, nein, nein. Es ist nicht alles verloren.

In ihren Burgen befinden sich etwa 30 Ritter. Landmeister von Herses Ritter sind zwölf an der Zahl? So viele wie die Apostel?

Auf jeder Burg müssen so viele Ritter sein wie Apostel; je zwölf, doch meist haben die Burgen nur sieben oder acht.

Der Livländische Orden ist am Erlöschen, und es sind nicht viele, die in ihn eintreten wollen.

Solange Loringhoven schweigt, zählt Bernhard.

42 Ritter, die Landmeister von Herse unterstützen, gegen 48 Ritter für Marschall von der Borch. Und noch 20 freie westfälische Ritter, die sich Borch angeschlossen haben.

Jetzt sitzen diese freien westfälischen Ritter auf Burg Fellin und spucken auf den Boden. Sie spucken, rülpsen und brüllen ihm ins Ohr. Diese 20 freien westfälischen Ritter werden die alles entscheidende Kraft sein …

42 gegen 68, zählt Bernhard die Ritter beider Seiten, und dieses Zählen der Ritter macht ihn langsam schläfrig.

Oder vielleicht der Fisch? Oder die letzte schlaflose Nacht?

Doch warum sollten diese drei von Herse unterstützen? Warum sollten sie, wenn sie von der Borch nicht vertrauen, von Herse vertrauen?

Von Herse hat doch etwas mit Pskow, er hat doch etwas mit denen? Er hat einige Komture abgesetzt und sich ihre großen Burgen angeeignet. Und nicht nur die großen, auch die kleineren, die ihnen unterstellt sind. Er hat sich alles angeeignet: auch was diese Burgen erwirtschaften und was sie von den Vasallen erhalten.

Und nach Riga ist von Herse nicht gezogen, und er hat nicht versucht, Riga diesem verdammten sodomitischen Erzbischof zu entreißen.

Er hat es nicht nur nicht versucht, sondern ist auch noch so weit wie möglich davor geflohen!

Er hat etwas mit Pskow, und gleichzeitig faselt er wie ein Verrückter von einem Krieg, aber Livland ist doch für diesen Krieg überhaupt nicht gerüstet.

Es ist doch nicht gerüstet.

Sogar ein freier westfälischer Ritter, der Hüne Loringhoven, begreift: Einen Krieg wird es erst dann geben, wenn Livland dafür gerüstet ist. Doch Landmeister von Herse begreift das nicht. Kann ein solcher Ritter Landmeister sein?

Und auch Borchs ganzen Umsturz, wer würde den als Verrat bezeichnen? Ein krankes Schaf zu opfern, um die gesunden zu retten, das ist doch kein Verrat.

Der Krieg muss kommen. Borch ist einverstanden. Aber nicht jetzt, für den Krieg muss man sich rüsten.

Über 30 Jahre hat es keinen Krieg gegeben, und Landmeister von Herse weiß nicht, wie das geht.

Wie man kämpft.

Und in der Kasse des Livländischen Ordens gehen die Schillinge aus.

Es gibt keinen Krieg, es gibt keine Kreuzzüge, es gibt keine Schillinge. So kann der Orden auch bankrottgehen.

»In diesen Zeiten gehen sogar Könige bankrott, von den Orden gar nicht zu sprechen«, sagt Bernhard von der Borch unwillkürlich laut.

Alle heben die Köpfe, doch er fährt nicht fort.

Und wieder klirrt nur das Eisen.

Die Ordensritter werden alt, sterben in den Hospizen, und niemand will sie ersetzen. Es gibt kein Geld, es gibt keine Kreuzzüge, es gibt keine Ritter. Niemand will nach Livland kommen, weder aus Westfalen noch aus dem Rheinland.

Der Deutsche Orden wird den Livländischen Orden nicht mehr finanziell unterstützen. Obwohl der Livländische Orden eine Niederlassung des Deutschen Ordens ist.

Seit der Schlacht bei Tannenberg geht alles langsam den Bach hinunter. Und auch wenn in der Kasse des Deutschen Ordens Geld wäre, würde der Deutsche Orden dem Livländischen Orden wegen Tannenberg nicht verzeihen.

»Wegen Tannenberg«, sagt Bernhard laut.

»Wegen Tannenberg?«, wundert sich Loringhoven.

Doch Bernhard erklärt Loringhoven nicht, warum er gerade »wegen Tannenberg« gesagt hat.

Er begreift nicht einmal selbst, warum.

Warum kommen seine Gedanken zur unpassendsten Zeit zum Ausbruch und werden zu Wörtern?

Der Deutsche Orden wird dem Livländischen Orden wegen dieses Vertrags mit dem Litauischen Großfürstentum nicht verzeihen.

Mit Vytautas.

Er wird niemals verzeihen: wegen dieses Vertrags, nicht nach Tannenberg zu gehen.

Die Ritter des Livländischen Ordens trafen eine Abmachung mit den Litauern und gingen nicht hin.

Daher liegt der Deutsche Orden nach der verlorenen Schlacht völlig darnieder, doch der Livländische Orden ist noch zu retten!

Der Hochmeister des Deutschen Ordens sieht das als Verrat an.

Doch wenn der Verrat wegen eines ehrenhaften Zieles geschieht, dann ist es vielleicht gar kein Verrat?

Und wenn das eine Sünde ist, möge mich der Herr dafür strafen, denkt Bernhard, doch er sagt es nicht laut.

Die drei Judasse sind nicht aufgetaucht, und die Zeit für den Schwur ist schon gekommen.

Die Ritter beten für den Frieden.

Zum Schwur hätte ein Wildschwein am besten gepasst, aber es ist ja Fastenzeit.

Es gibt kein Wildschwein.

Daher legen alle in der Kapelle einen Schwur bei der Heiligen Dreifaltigkeit ab.

Je dreimal …

Und ein jeder ist bemüht, keinen Fehler zu begehen, denn wenn einer einen Fehler macht, wäre doch der Schwur nicht mehr gültig.

Und was, wenn Gott auf der Seite des Landmeisters von Herse steht?

Niemand hat noch irgendein Zeichen gesehen, dass Gott auf der Seite von Marschall von der Borch stünde?

Als am nächsten Morgen alle durch das schwarze Loch des Tors aus dem Dunkel ans Licht kriechen, werden sie nach der langen, verspäteten Frühlingsnacht vom Tag geblendet.

So sehr geblendet, dass sie nicht einmal imstande sind, auf den Weg zu achten.

Allerdings ist es in Livland immer schwierig, auf den Weg zu achten.

Selbst wenn es irgendwo einen gibt, kann er jeden Augenblick verschwinden: unter dem Schnee, im Morast oder einfach von Gras überwuchert sein.

Das ist die Natur der Wege in Livland.

Unter der blendenden Sonne fallen nasse Stücke weißen Schnees wie Fleischklumpen von den vermodernden Baumskeletten. Das Licht scheint sich nur vom Himmel zu ergießen, damit die Eisenhelme der Ritter, Armbruster und Knechte glänzen.

Es glänzen nur die Helme. Denn die Körper der Ritter sind von ehemals weißen, mit schwarzen Kreuzskeletten geschmückten, doch nach etlichen Reisetagen schon von Pferdeschweiß und schmutzigem Schnee durchtränkten Mänteln umhüllt.

Und auch wenn sie mehrfach getrocknet wurden, so sind sie davon nur braun geworden.

Die Kreuze auf den Mänteln der Komture sind größer als die aller anderen. Sie sind ja die Komture.

Die Beine der Pferde versinken im nassen Schnee, sie gleiten aus, und nach einigen Augenblicken ist klar: Der Weg wird doppelt so lang sein, wie man erwartet hat. Die Rosse werden nicht galoppieren, sondern nur im Trab dahinstolpern können und dabei den Reitern Qualen bereiten. Und nach dieser Reise wird es so viele Blessuren geben wie nach einer großen Schlacht.

Wäre da nicht das weit im Osten wartende Tatarstan, das sie sich ausgemalt haben, erschiene den Rittern eine solche Reise nicht nur als Qual, sondern als eine richtige Strafe.

Doch sie tun ja alles für das Große Ziel.

Die Ritter reiten nicht auf Streitrossen, sondern auf leichten Pferden. Selbst wenn es zu einem Scharmützel kommt, so wird es doch kein Schlachtfeld geben. Helmet ist von Bäumen überwachsen.

Und plötzlich … kaum sind die Türme von Fellin verschwunden, erhebt sich ein Schwarm Raben und schüttelt den letzten Schnee von den Gerippen der Bäume.

Die Raben schlagen mit den Flügeln und schreien, als wäre es zu einer Schlacht um den Himmel gekommen.

Die Ritter beginnen zu murmeln, danach sprechen sie laut, und einer oder zwei beginnen sogar mit heiserer Stimme zu schreien:

»Ein böses Zeichen! Das ist ein böses Zeichen!«

»Ein gutes Zeichen!«, sagt Borch, doch das hören nur die Allernächsten. »Ein gutes Zeichen!!!«, schreit Borch, damit alle es hören.

Doch da tritt der Komtur von Dünaburg, Lappe von der Ruhr, aus der Reihe zur Seite, und zehn Ritter mit ihm.

Und ihre Knechte. Und die Armbruster. Dreißig! Dreißig Menschen.

»Ein schlechtes Zeichen!«, schreit Lappe von der Ruhr, der kleinste unter den Komturen. »Wir werden nicht nach Helmet reiten.«

Die am nächsten Stehenden sehen die Zähne von Marschall Borch.

»Rühr sie nicht an!«, schreit Borch dem Hünen Loringhoven zu. »Lass sie!«

Doch der freie westfälische Ritter Loringhoven hat Reval noch nicht bekommen, ist noch nicht in den Orden eingetreten und Borch bis jetzt noch nicht untergeben.

Er hat das Kreuz des Gehorsams noch nicht auf sich genommen.

Und die Kühnheit ist doch die größte Rittertugend, nicht aber der Gehorsam.

Deshalb hält Bernhard Loringhoven auch nicht mehr zurück.

Niemand möchte mit dem Hünen Loringhoven Mann gegen Mann kämpfen.

Doch der kleine Lappe von der Ruhr will das.

Aus Stolz? Weil sein Geschlecht älter ist?

Kämpfen mit Loringhoven?

Es gibt nicht viele in Livland, die das Risiko auf sich nähmen, mit dem Hünen Loringhoven zu kämpfen. Im Orden ist eine Legende in Umlauf, er habe einmal mit dem Schwert ein verendendes Pferd durchgeschnitten.

Bernhard kennt keinen Einzigen, der das mit eigenen Augen gesehen hätte, doch die Legende hält sich.

Vielleicht ist Lappe von der Ruhr vom gestrigen Bier so beschwipst? Oder von der Bibelstelle, die vor dem Abendessen verlesen wurde? Diese Geschichte vom jungen Hirten David, der mit einem Stein den Riesen Goliath erschlagen hat. Ist er beschwipst und glaubt, dass er – Lappe von der Ruhr – mit Hilfe des Himmels ebenfalls imstande wäre, Loringhoven aus dem Sattel zu werfen?

Die Ritter haben vergessen, wo und warum ihre Rosse durch den nassen Schnee waten, und halten an. Alle wollen sehen, was diesem Ruhr jetzt bevorsteht.

Loringhoven holt dreimal mit dem Schwert aus.

Und Lappe von der Ruhr fällt in den Schnee. Er ist am Leben, nur verwundet. Und man muss ihn nach Fellin zurückbringen.

Aber umzukehren ist doch ein böses Zeichen.

»Umzukehren ist ein böses Zeichen!«, murmeln die Ritter mit zusammengebissenen Zähnen.

»Diejenigen, die den Ritter von der Ruhr nach Fellin bringen, sollen nicht mehr zurückkehren«, sagt Marschall Borch.

Wären Bernhard und Loringhoven ein einziger Mann, könnten sie Großmeister des Deutschen Ordens werden.

Oder doch nicht. Dort ist es doch wie überall: Alles hängt von verwandtschaftlichen Beziehungen und von Protektion ab.

Nein, sie könnten nicht, denn über den Deutschen Orden herrschen Hochmeister aus dem Rheinland.

Das Land des Deutschen Ordens ist für die rheinländischen Ritter bestimmt, Livland für die westfälischen. Doch ein rheinländischer Ritter wird in diesem Land niemals Landmeister sein.

Und diese drei Judasse, warum sind sie nicht mit ihm? Nicht mit Borch?

Ihnen werden die Burgen genommen werden.

Sollen sie doch versuchen, hier in Livland zu Räubern zu werden.

Sollen sie doch nach Westfalen zurückfahren und dort ein elendes Leben fristen. Ihre Familien brauchen sie nicht.

Sollen sie doch ohne Erbe leben und auf die Gunst des Himmels warten oder auf einen neuen Kreuzzug.

Jetzt steht es 42 Ritter von Herse gegen 67 von Borch. Hat Bernhard gezählt.

Aber die Raben, die Raben sind doch ein Zeichen des Himmels!!!

Ein Zeichen für ihn, für Borch.

Ein gutes Zeichen!!!

AUF WESSEN SEITE STEHT GOTT?

»Mach ihr den Mund auf und sieh hinein«, sagt Bernhard von der Borch zu seinem Sekretär Hildebrand. »Ein anderes Mal wollte sie unseren Ring mit sich nehmen.«

Hildebrand ist der erste Sekretär, der Bernhard nicht reizt.

Sein Vorgänger konnte zwar auch Latein, doch beim Sprechen hatte er bisweilen eine schrille Stimme.

Hildebrand hat eine tiefe Stimme, er stinkt weder aus dem Mund noch von sonst irgendwo und er kleidet sich, wie es sich für seine Schicht geziemt: braun. Weder schwarz noch rot, wie die Edelleute, sondern braun.

Sein Rock ist stets lang, und Borch bekommt den Hintern seines Sekretärs nicht zu sehen, wenn er zu schreiben aufhört und sich von seinem Stuhl erhebt.

Außerdem gefällt Borch der Name seines neuen Sekretärs.

Hildebrand bedeutet Kampfschwert, doch Bernhard gefällt dieser Name nicht wegen seiner Bedeutung, sondern weil er aus der Legende über Dietrich von Bern stammt.

Hildebrand war in diesen Legenden Dietrichs treuer Diener, und um Dietrichs willen tötete er im Zweikampf sogar seinen eigenen Sohn.

Aber wird dieser Hildebrand treu sein?

Hildebrand reißt Borchs Dohle mit zwei langen Fingern den Mund auf, blickt ihr in den Rachen und schüttelt den Kopf.

»Leer. Sie will nur wegfliegen.«

Mit einem Wink seiner rechten Hand nach unten bedeutet Bernhard: Soll sie doch fliegen.

Diese Dohle, die erst fliegen lernt, ist sein richtiger Trost beim Warten.

Der zerkratzte Goldring des Landmeisters mit dem runden Saphir ist schon in Bernhards Hand. Aber noch nicht auf seinem Zeigefinger. Und seine Kleidung ist noch immer schwarz, nicht purpurrot. Loringhoven herrscht schon über die Burg von Reval, und Gerhard von Mallinckrodt der Helläugige über die von Goldingen. Sie herrschen über sie, aber noch nicht rechtmäßig.

Doch von Herzenrode, der ehemalige Komtur von Goldingen, kann, obwohl er Segewold bekommen hat, nicht Marschall von Livland werden, er kann Borchs Platz nicht einnehmen, solange Bernhard von der Borch selbst nicht rechtmäßig Landmeister geworden ist.

Daher reitet von Herzenrode immer nach Wenden, um mit Bernhard Schach zu spielen, Neuigkeiten zu erfahren und zu erzählen, was ihm zu Ohren gekommen ist.

»In Livland gärt es«, sagt von Herzenrode und greift sich mit seiner schwarzen, dicht behaarten Hand an die Glatze. »Monat für Monat mehren sich die Zweifler. Der greise Tiesenhausen fährt von Burg zu Burg und meckert bei allen herum, dass wahrscheinlich nichts Guuutes mehr bevooorsteht. Der Groooßmeister des Deutschen Ooordens wird Borch niiicht bestätigen, niiicht bestätigen. Er wird ihn niiicht bestätigen.«

»Tiesenhausen war ein guter Ritter«, sagt Bernhard, »doch jetzt ist er nur noch ein altes Klatschmaul.«

Nicht nur Bernhard von der Borch, die ganze Terra Mariana wartet auf eine Nachricht des Hochmeisters des Deutschen Ordens, die einen jubeln, die anderen hingegen sind beunruhigt.

Doch es gibt keine Nachricht.

Die ganze Terra Mariana wartet: Die Erzdiözese Riga wartet, die Diözese Kurland, die Diözese Dorpat, die Diözese Ösel, alle warten.

Alle warten, wer Landmeister des Livländischen Ordens werden und wie seine Politik aussehen wird.

Der Umsturz versetzt alle in Angst, denn das Gebiet des Livländischen Ordens ist zwischen den Gebieten der Diözesen verteilt, und wenn der neue Landmeister im Schilde führt, irgendeine Stadt zu erobern oder irgendeine Burg einzunehmen, so ist sie nicht mehr zu halten.

Man könnte höchstens einen Brief an den Papst schreiben und den Landmeister anschwärzen. Anschwärzen und warten, bis der Papst irgendeine Bulle verfasst, die den Landmeister in Angst versetzt, oder eine Strafe über ihn verhängt. Man müsste eigentlich schreiben, wo doch die ganze Terra Mariana dem Heiligen Stuhl untersteht. So trösten sich die Magistrate der Städte und die Bischöfe.

Und vor allem tröstet sich der Erzbischof von Riga Silvester Stodewescher so.

Im Livländischen Orden, aber auch in Livland selbst, kann sich niemand an einen richtigen Umsturz erinnern. Die Landmeister sind entweder in der Schlacht gefallen oder zurück ins Rheinland oder nach Westfalen gefahren, um ihre Wunden zu heilen.