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Michael Laczynski

Das letzte Jahr
der Zukunft

Wie 1999 die Welt veränderte

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Barbara Köszegi

ISBN ePub:

978 3 7017 4599 9

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3442 9

Inhalt

Prolog: Erinnerungen an die Zukunft

Katzenjammer in Tokio

New York, New York

Der Weltuntergang findet nicht statt

Macht und Marktwirtschaft

Kollateralschaden

Wüstenvögel und hohe Tiere

Bin Ladens Weg zum Gotteskrieger

Die USA im Visier

Bill Clinton zögert

Die weltpolitische Gefechtslage

Grünes Licht für großen Anschlag

Wandel durch Handel

Die ökonomische Nachkriegsordnung

Die Segnungen des Kapitals

Die Evangelisten der Globalisierung

Hauptsache, die Katze fängt Mäuse

Wohlstand mit chinesischen Vorzeichen

Autokratie statt Demokratie

»Die Schlacht von Seattle«

There’s no business like show business

Selbstmanagement – der Schlüssel zum Erfolg

Am Anfang war das i

»Popstars« – die Mutter aller Castingshows

Unterhaltung in Serie

Napster – willkommen im Cyberspace

Das Imperium schlägt zurück

Irrationaler Überschwang

Die wilden 1990er

Die Geburtsstunde des Internets

Der Hype

Greenspans Geldzauber

Wetten, dass …?

Schöne neue Shopping-Welt

Europa endlos

Der lange Weg zum Euro

Butter für den Bundeskanzler

Was bringt der Euro?

Der weite Weg zum vereinigten Europa

Deutschland in der Krise

Das Potenzial der Populisten

Merkel ante portas

Generation P

Raubtierkapitalismus

Teure Medikamente, billiger Wodka

Die gierigen Profiteure des Wandels

Putins Lehr- und Wanderjahre

Auf dem Weg zum Gipfel

Prosit Neujahr!

Epilog: Vorschau auf die Vergangenheit

Ground Zero

Der Midas-Trick

Unterhaltung goes online

Der Boom …

… und der Crash

Der neue Nationalismus und der Vormarsch der Rechten

Die Naivität des Westens

Die Zukunft der Vergangenheit

Quellenverzeichnis

»Two thousand zero zero party over, oops, out of time So tonight I’m gonna party like it’s nineteen ninety-nine«

PRINCE, »1999«

»Let’s all meet up in the year 2000 Won’t it be strange when we’re all fully grown?«

PULP, »DISCO 2000«

Prolog: Erinnerungen an die Zukunft

Es gibt keine Magie der Zahlen. Doch es gibt eine Magie des Zufalls. Es war dieser magische Zufall, der mich 1999 zuerst in den fernen Osten und anschließend in den ebenso fernen Westen verschlug – nach Tokio und nach New York. Um den Abschied vom 20. Jahrhundert gebührend zu feiern, hätte ich mir keine zwei besseren Orte aussuchen können, auch wenn ich damals in vollem Bewusstsein meines eigenen Tuns gewesen wäre. Was ich, rückblickend betrachtet, nicht vollumfänglich behaupten kann. Ich war jung, brauchte kein Geld und hatte mir vorgenommen, 1999 fern der Wiener Heimat zu verbringen.

Wobei – so einfach war die Sache mit dem 20. Jahrhundert und seinem Ende dann auch wieder nicht. Wer 1999 miterlebt hat, kann sich mit Sicherheit an die vielen Gespräche erinnern, die um die alles entscheidende Frage kreisten: Gehen mit dem bevorstehenden Jahreswechsel das 20. Jahrhundert und das zweite Jahrtausend zu Ende oder nicht? Wer sich strikt am Rechenschieber orientieren wollte, musste enttäuscht werden, denn aus der rein mathematischen Perspektive betrachtet fand die große Zeitenwende nicht 1999/2000, sondern erst ein Jahr später statt. Doch angesichts der magischen Jahreszahl mit dem dicken Zweier und den drei Nullen wollte sich niemand von irgendwelchen kleinkarierten Erbsenzählern mit ihren korrekten Kalendern die große Party versauen lassen. Das 20. Jahrhundert musste am 31. Dezember 1999 zu Ende gehen und das 21. Jahrhundert am 1. Januar 2000 beginnen, da fuhr die futuristische Magnetschwebebahn drüber.

Meine frühesten Erinnerungen an 1999 reichen tief in die tiefsten 1970er-Jahre zurück. Damals sah die Zukunft noch anders aus – sie trug Seitenscheitel, Glockenhosen aus graubraunem Spandex, lebte auf dem Mond und hieß John Koenig. Koenig war der Kommandeur der Mondbasis Alpha aus der britisch-italienischen TV-Serie »Space: 1999«, die aufgrund enden wollender Begeisterung seitens des Fernsehpublikums 1977 nach nur zwei Staffeln eingestellt wurde. Es waren vermutlich die schwachen Quoten daheim, die die Produzenten dazu veranlasst hatten, »Space: 1999« hinter dem Eisernen Vorhang zu verramschen. Irgendwann Ende der 1970er-Jahre landete die Mondbasis Alpha in der Volksrepublik Polen – und damit hinter dem Schirm des zentnerschweren, mit braunem Furnier verkleideten Fernsehgeräts vom Typ Rubin 714p, das in unserem Warschauer Wohnzimmer die halbe Möbelwand ausfüllte und dem ich mich nur mit der allergrößten Vorsicht näherte, weil ich die (rückblickend betrachtet etwas irrationale) Angst hatte, es würde eines Tages aus dem Regal kippen und mich erschlagen. Doch für Commander Koenig nahm ich dieses Risiko in Kauf. Ich war begeistert, wollte auch Glockenhosen tragen und ein Raumschiff fliegen, doch bis zum Jahr 1999 waren es noch mehr als zwei Jahrzehnte. Dann kam »Krieg der Sterne«. Grau-brauner Spandex und Seitenscheitel waren out, 1999 war vergessen. Die Zukunft war in Hollywood daheim.

Katzenjammer in Tokio

Mein Aufbruch nach Tokio hatte in gewisser Weise auch etwas mit der Zukunft zu tun. Als ich mich Anfang der 1990er-Jahre dazu entschlossen hatte, Japanisch zu lernen, war Japan zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgerückt und galt als globales Vorbild in Sachen Fortschritt. An den Wirtschaftsunis wurden japanische Management-Techniken seziert, Sachbuchautoren prophezeiten, dass das 21. Jahrhundert den japanischen Industriekonglomeraten gehören würde, und rieten allen Studienanfängern dazu, tunlichst die Sprache der neuen Nummer eins zu lernen – ein Rat, den ich eifrig befolgte.

Dummerweise fiel mein Entschluss ziemlich genau mit dem Beginn der großen japanischen Krise zusammen. Der rasante Aufschwung, der Japan an die wirtschaftliche Weltspitze befördert hatte, wurde von einer gigantischen Spekulationsblase begleitet, Aktienkurse und Immobilienpreise stiegen ins Unermessliche, was bei allen Beteiligten die Illusion ökonomischer Unfehlbarkeit und finanzieller Omnipotenz erzeugte. Am aberwitzigen Höhepunkt dieses Booms war das Areal des kaiserlichen Palasts im Zentrum von Tokio genauso viel wert wie ganz Kalifornien. Kaiser Akihito, der den Chrysanthementhron Anfang 1989 bestiegen hatte, hätte sich also eine goldene Nase verdienen können, wenn er bloß geahnt hätte, dass der Höhenflug bald zu Ende sein würde.

Wie alle Spekulationsblasen musste auch die japanische eines Tages platzen. Wann genau dies passierte, ist nicht überliefert. Fest steht jedenfalls, dass irgendwann Anfang der 1990er-Jahre die Kurse und Preise in Japan zu fallen begannen, dass der Fall nicht mehr aufhörte – und dass die japanische Regierung offensichtlich nicht in der Lage war, irgendetwas gegen den Abschwung zu unternehmen. Die Ehrfurcht der westlichen Beobachter schlug zuerst in Verwunderung, dann in Abschätzigkeit um. »Diese Japaner schaffen es nicht einmal, sich aus der selbst verschuldeten Misere zu befreien. Sie sind zu starrköpfig. So etwas könnte uns nicht passieren«, lautete der Grundtenor jener, die noch wenige Jahre zuvor die japanische Art des Wirtschaftens in den siebenten Himmel gelobt hatten. Die japanische Politik in diesen Jahren ähnelte in der Tat einem monochromen Kaleidoskop, grau melierte ältere Herren in korrekt geknöpften schwarzen Anzügen wechselten sich im Jahrestakt an der Regierungsspitze ab. Die heißen Eisen wurden nicht angefasst, die japanischen Banken blieben auf ihren faulen Krediten sitzen, das reinigende Gewitter blieb aus. Als ich 1998 nach Japan aufbrach, war bereits von einem »verlorenen Jahrzehnt« die Rede.

Das Resultat meiner mehrjährigen – und bis dahin weitgehend erfolglosen – Bemühungen, die vermutlich komplexeste Sprache der Welt zu erlernen, war ein Stipendium an der angesehenen Universität Keio, der Kaderschmiede der Japan-AG. Als ich im September 1998 in Tokio ankam, war Japan am vorläufigen Tiefpunkt angelangt. Die Wirtschaft schrumpfte, die Preise fielen. Und die Entscheidungsträger, die mit ihrer Fehlentscheidung, die Mehrwertsteuer anzuheben, um das Budget zu sanieren, die Rezession ausgelöst hatten, wussten weder ein noch aus. Doch anders als ich mir das vorgestellt hatte, war in der Agglomeration, zu der Tokio, Yokohama, Chiba und Kawasaki verschmolzen waren, von der Krise weit und breit keine Spur zu sehen. Bekannte versicherten mir zwar, dass die Zahl der Obdachlosen, die nachts vor dem Bahnhof Shibuya, einem der vielen Zentren der Megacity, ihre Zelte aufschlugen, zuletzt spürbar gestiegen war. Doch ich konnte mir davon selbst kein Bild machen, denn die Tokioter Clochards waren so zuvorkommend, dass sie ihre provisorischen Schlafstätten aus Karton und Plastikplanen frühmorgens abbauten, um die Pendler auf ihrem Weg in die Arbeit nicht zu behindern.

Der Himmel über Shibuya leuchtete neonfarben. Durch das Gassenwerk, das das Viertel mit den benachbarten Distrikten Harajuku und Daikanyama verband, schoben sich Konsumenten auf der Suche nach dem letzten Mode-Schrei. Die auf modeaffine Teenager ausgerichtete Kaufhauskette Parco, die allein in Shibuya und Umgebung mehrere Dependancen hatte, platzte aus allen Nähten. Überall gab es alles zu kaufen, und jeder schien über genügend Geld zu verfügen, um sich dieses Alles auch tatsächlich leisten zu können. Fühlt sich so eine Rezession an?, fragte ich mich, während ich mit der Metro-Ringlinie Yamanote zum Campus in Tamachi fuhr, um tagein, tagaus an kanji, den japanischen Schriftzeichen, zu verzweifeln.

Nein, mit einer Wirtschaftskrise im herkömmlichen Sinn hatte die Lage in Japan nichts zu tun. Dafür waren das Land und seine Einwohner zu wohlhabend, die Lebensqualität zu hoch. Was fehlte, war die Vorstellung, dass die Zukunft anders sein könnte als die Gegenwart. Die Japaner hatten es sich in der Stagnation gemütlich gemacht. Doch das merkte ich erst, als mein Studienaufenthalt in Tokio im Sommer 1999 zu Ende ging und ich mich entschloss, nicht gleich nach Wien zurückzukehren, sondern einen Abstecher nach New York zu unternehmen.

New York, New York

Die Gelegenheit dazu bot sich dank eines entfernten Verwandten von Winston Churchill, den ich einige Jahre zuvor im Rahmen eines Ferialpraktikums kennengelernt hatte. Der besagte Herr war ein geschäftstüchtiger Exzentriker aus bestem britischen Hause namens Mark, der statt Manschettenknöpfen gerne Büroklammern verwendete, in Downtown Manhattan ums Eck vom noblen Gramercy Park in einem winzigen Häuschen wohnte, das als Kombination aus Schlafstätte, Gästehaus, Büro und Firmenstammsitz fungierte, und der in der Zwischenzeit von Investmentberater in Osteuropa auf Wirtschaftspionier im Internet umgesattelt hatte. Falls ich gerade Zeit und Lust hätte, könne ich ihm bei einem aufregenden Projekt behilflich sein, sagte er mir am Telefon. Das World Wide Web sei ja das nächste große Ding, und ein befreundeter Hausmeister im Haus nebenan habe gerade ein Zimmer frei, das er mir vermieten könne. Ich packte meine Siebensachen und stieg ins Flugzeug.

Der Hausmeister entpuppte sich als ein frisch eingewanderter Rumäne namens Viorel, der im Rekordtempo zum glühenden US-Patrioten mutiert war, aber nichtsdestotrotz an seinen südosteuropäischen Wurzeln hing. Zu Thanksgiving gab es neben Truthahn auch Krautwickel, und Viorels Ehefrau Raluca machte den besten Melanzanisalat, den ich je gegessen hatte. Beide strotzten nur so vor Optimismus und waren stolz auf ihre neue Heimat. Ich verstand mich sehr gut mit ihnen und nahm rasch einige Kilo zu.

Mark, mein britischer Bekannter, war ebenfalls stolz, der Chef eines sogenannten »Inkubators« zu sein. In seiner Funktion als Geburtshelfer nahm er neu gegründete Internet-Unternehmen unter seine Fittiche und griff ihnen bei den ersten Schritten im World Wide Web unter die Arme. So weit jedenfalls die unternehmerische Theorie, denn als ich in Manhattan ankam, hatte er gerade seinen ersten Auftrag an Land gezogen. Die Kundschaft war ein kleiner Trupp britischer Finanzjournalisten, die bei der »Financial Times« die Börsentipps geschrieben hatten und sich mit ihrer Expertise unabhängig machen wollten. Konkret ging es darum, das Gleiche zu tun wie vorher, allerdings auf eigene Faust, im Internet und für zahlende Abonnenten. Ihr Unternehmen hieß »Breaking Views« und hatte seinen Sitz in London. Mark, seine Mitarbeiter und ich waren in New York damit beschäftigt, den ersten Online-Auftritt unserer ersten Kunden zu planen. Und die Programmierer, die unsere Pläne in Bits und Bytes umsetzen sollten, saßen in Sankt Petersburg.

Dieses – formulieren wir es diplomatisch – unorthodoxe Arrangement führte geradewegs in eine Sackgasse. Die Zeitverschiebung zwischen London, New York und Sankt Petersburg machte eine kohärente Kommunikation de facto unmöglich. Als ich Ende 1999 meine Koffer packte, um nach Europa zurückzukehren, war das Projekt noch immer nicht vom Fleck gekommen. Was aber zu meinem Erstaunen niemandem etwas auszumachen schien. In der seltsamen Welt der New Economy, in die ich für eine kurze Zeit eingetaucht war, schien Geld keine Rolle zu spielen. Was zählte, waren Clicks und Page Impressions. Wer bei der ersten Finanzierungsrunde nur einen einstelligen Millionenbetrag ergattern konnte, galt als arm und wurde ebenso belächelt wie die Techno-Prediger vom MIT Media Lab, die man am fanatischen Glitzern in den Augen erkennen konnte und die bei Branchentreffen mit wilden Ideen von Datenbrillen und computerisierten Kleidungsstücken hausieren gingen. Alle anderen dachten lieber daran, wie sie Dotcom-Firmen an die Börse bringen und ihre Anteile für teures Geld an Investoren verscherbeln konnten.

Wenige Wochen nach meiner Abreise war die große Dotcom-Party zu Ende. Wie sich nachträglich herausstellte, waren nicht nur japanische Häuser, sondern war auch die New Economy auf Sand gebaut. Die Blase platzte im März 2000, als die Geldgeber an den Verheißungen des Internets zu zweifeln begannen. Zum ersten Mal seit Jahren zeigte die Fieberkurve der Wall Street nach unten. Unternehmen, die noch wenige Monate zuvor als der heißeste Scheiß seit der Erfindung von Nutella gehandelt wurden, gingen der Reihe nach pleite.

Zu diesem Zeitpunkt war ich wieder in Wien und versuchte mehr schlecht als recht, mein Studium und die Arbeit als angehender Journalist unter einen Hut zu bringen. Die weiteren Entwicklungen in New York beobachtete ich aus weiter Ferne. Trotz widriger Umstände ging »Breaking Views« doch noch an den Start und konnte durch eine Kooperation mit der Nachrichtenagentur Reuters seine Existenz sichern. Und Mark? Er sattelte wieder um. Als ich das nächste Mal von ihm hörte, war er nach London zurückgekehrt und dort intensiv damit beschäftigt, sich ein kleines Scheibchen vom Aufschwung Chinas abzuschneiden. Life goes on.

Der Weltuntergang findet nicht statt

Vom britischen Schriftsteller L. P. Hartley stammt die Feststellung, die Vergangenheit sei ein fremdes Land, in dem andere Regeln gälten. Rein optisch betrachtet ist das Jahr 1999 nicht vergangen, sondern nach wie vor präsent. Die damaligen Autos, die Architektur, die Flugzeuge am Himmel, die Werbesujets, die Musik, die Mode – sie ähneln jenen der Gegenwart oder sind sogar ident. Einzig die ubiquitären Smartphones, auf die die heutigen Passanten wie gebannt starren, sowie die weißen Stöpsel in ihren Ohren trennen das Heute vom Gestern.

Doch Aussehen ist nicht alles. Der große Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ist das Lebensgefühl. Anders als heute konnte man vor der Jahrtausendwende zuversichtlich sein, ohne deswegen gleich ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Der damalige Optimismus wirkt zwanzig Jahre später geradezu exotisch. Wer heute an die Zukunft denkt, dem fallen Zombies, Klimaflüchtlinge, denkende Maschinen ein – aber keine hoffnungsfrohen Bürger.

Der magische Zufall hatte 1999 alle Hände voll zu tun. Finanzblasen und Schuldenkrisen, Wladimir Putin und Donald Trump, der Aufstieg Chinas und der Niedergang Europas, Castingshows und packende Fernsehserien, Smartphones und soziale Netzwerke, Internet-Milliardäre und Ich-AGs, 9/11 und die Endloskriege im Nahen Osten – viele Entwicklungen, die unser Zeitalter der Krisen und Konflikte prägen, nahmen in diesem Jahr ihren Ursprung.

Doch bevor wir uns auf die Spur dieser Entwicklungen begeben können, müssen wir zunächst einmal die Frage beantworten, warum die Welt am 1. Januar 2000 entgegen anderslautenden Befürchtungen doch nicht untergegangen ist.

Jede Kultur hat ihre spezifische Vorstellung vom Ende der Tage. Im antiken Mesopotamien gedachte man der großen Flut, die die Vorfahren der Menschheit von der Erdoberfläche gespült hatte. Die Wikinger glaubten daran, dass ein gigantisches, aus den Nägeln der Toten gezimmertes Schiff namens Naglfar aus dem Jenseits kommen würde, um Ragnarök, den Endkampf der Götter gegen die Riesen, einzuläuten. Vor der ersten Jahrtausendwende nach Christi Geburt machten sich gottesfürchtige Europäer für die bevorstehende Ankunft des Antichristen in Jerusalem bereit, der tausend Jahre nach der Menschwerdung des Erlösers Vater, Sohn und Heiligen Geist herausfordern und die Heerscharen von Gog und Magog in die finale Schlacht gegen die Legionen des Himmels führen sollte. Doch das Millennium ging bekanntlich relativ ereignislos zu Ende, die Welt drehte sich weiter, und die enttäuschten Gläubigen, die auf die Erlösung vom materiellen Elend gehofft hatten, mussten nolens volens weiter ihren irdischen Geschäften nachgehen.

Tausend Jahre später fürchtete sich niemand mehr vor Satan, Gog und Magog. Stattdessen gab es den Millennium Bug. Y2K, wie der Gottseibeiuns des Jahres 1999 ebenfalls genannt wurde, war eine von Menschenhand gemachte Geißel der Menschheit: das Jüngste Gericht der digitalen Weltordnung, bei dem über die Verfehlungen der Softwareprogrammierer geurteilt wurde – mit potenziell apokalyptischen Konsequenzen. Die Ursünde, die zu dem ganzen Schlamassel geführt hatte, war in der grauen Vorzeit der Computer begangen worden, die zwar nur zwei Jahrzehnte zurücklag, aber aufgrund der rasanten Fortschritte in der Informationstechnologie Ende der 1990er-Jahre geradezu vorsintflutlich wirkte. Die Zeiten, als sich schnauzbärtige Kotelettenträger vor cremefarbenen Datenterminals versammelten, um Lochkarten auszutauschen, waren definitiv vorbei. Doch die Überbleibsel dieser Ära wirkten nach.

Ein Artefakt aus dem Zeitalter der knappen Hardware-Kapazitäten war der Usus, dass Jahreszahlen nicht vollständig, sondern nur in Form der letzten zwei Ziffern festgehalten wurden, um möglichst wenig Speicherplatz zu verbrauchen. Was damals nicht bedacht wurde, war die nahende Jahrtausendwende. Was würde passieren, wenn die Jahreszahl von 99 auf 00 sprang? Würden die Computer weiterlaufen wie gewohnt oder würde die Software spinnen, weil die IT-Systeme irrtümlich davon ausgingen, das neue Jahr sei 1900 und nicht 2000? Man wusste es nicht. Und machte sich an die Arbeit.

Diese Aufräumarbeiten dauerten mehrere Jahre und kosteten nach Schätzungen des internationalen Y2K-Koordinationszentrums zwischen 300 und 500 Milliarden US-Dollar. Als Silvester 1999/2000 näher rückte, waren IT-Experten relativ zuversichtlich, dass die Apokalypse abgewendet werden konnte. Während die Menschenmassen rund um den Globus den Abschied vom alten Jahrtausend feierten, gab es eine Vielzahl kleinerer Probleme, aber keine Katastrophen. In Spanien, Japan, der Ukraine und den USA mussten zwar insgesamt 15 Atomreaktoren wegen Softwarepannen heruntergefahren werden, ansonsten wurden vor allem Ärgernisse vermeldet: blockierte Bankomaten in Italien, falsch datierte Geburtsurkunden in Großbritannien, ein ausgefallenes Röntgengerät in einem Krankenhaus in Norwegen. An der Wertpapierbörse in Islamabad mussten Broker ihre Transaktionen handschriftlich festhalten, da das elektronische Handelssystem mit dem neuen Datum nicht klarkam. Und in New York erhielt der Kunde einer Videothek eine Rechnung über 91 250 Dollar, weil er gemäß Buchhaltungssystem einen ausgeliehenen Film hundert Jahre lang daheim behalten hatte, anstatt ihn vor Ablauf der Frist zurückzubringen. Die Vorfälle waren klein und dünn gesät. Der digitale Exorzismus war geglückt, die Menschheit hatte den Dämon in der Maschine besiegt. Das neue Jahrtausend konnte beginnen.

Macht und Marktwirtschaft

Der Sieg über den Millennium Bug war das passende Fanal für das Ende einer Ära der heißen und kalten Kriege. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit hatten die vier Reiter der Apokalypse so gewütet wie im 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg hatte etwa 17 Millionen Todesopfer gefordert, dann kamen die Spanische Grippe (25 Millionen), der Terror des Stalinismus (bis zu 20 Millionen Tote), der Zweite Weltkrieg und der Holocaust (60 bis 65 Millionen), Korea- und Vietnamkrieg (zusammen geschätzte 6 Millionen Opfer), Maoismus (70 Millionen), Despoten diverser Couleurs, Hungersnöte, Bürgerkriege und andere Katastrophen. Im Namen des vermeintlichen Fortschritts wurden Akte der Barbarei begangen, die in ihrer Maßlosigkeit so surreal wirkten wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch. Und, wie so oft in der menschlichen Geschichte, floss dort das meiste Blut, wo die Absichten hehr und die Gewissen frei von Selbstzweifeln waren. Wenn es um gesunde Volkskörper und klassenlose Gesellschaften ging, heiligte der Zweck jedes noch so monströse Mittel.

Der Wettlauf der toxischen Ideologien setzte sich nach 1945 fort und ging erst 1989 zu Ende, als der real existierende Sozialismus unter der Last der eigenen inneren Widersprüche zusammenbrach und die Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs in die lang ersehnte Freiheit entließ. Nicht einmal die Parteikader in der Volksrepublik China, die pro forma Stehsätze zur Diktatur des Proletariats deklamierten, glaubten noch an die segensreiche Wirkkraft von Hammer und Sichel. Das Koordinatensystem des Kommunismus war insofern nützlich, als es ihren Machtanspruch begründete. Doch hinter dem roten Vorhang wurde die Volksrepublik im Expresstempo zur kapitalistischen Werkbank umgebaut.

War der Ostblock auseinandergefallen, weil er ideologisch unterlegen war? Nach 1989 gab es daran kaum noch Zweifel. Was Wohlstand und Freiheit anbelangte, war das Gefälle zwischen West und Ost gigantisch. Und die Menschen im Osten wollten ihre Energien nicht darauf verschwenden, den Sozialismus lebenswerter zu machen, sondern leben, reisen und konsumieren wie die Menschen im Westen. Auf den Punkt gebracht wurde diese klare Präferenz vom US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in einem 1992 veröffentlichten, vielfach zitierten – und gerne falsch verstandenen – Buch über »Das Ende der Geschichte«. Was Fukuyama dezidiert nicht gemeint hatte, war Geschichte als Abfolge von Ereignissen. Daran, dass sich die Welt weiterdrehen würde, hatte er ebenso wenig Zweifel wie am technologischen Fortschritt. Was Fukuyama indes postulierte, war das Ende der ideologisch geprägten Konflikte: Demokratie und Marktwirtschaft waren demnach als gesellschaftliche Software nicht zu toppen und würden sich – ähnlich wie das Windows-Betriebssystem von Microsoft – früher oder später so gut wie überall durchsetzen. Oder, wie Fredric Jameson, US-amerikanisches Urgestein des akademischen Marxismus, einige Jahre nach Fukuyama mit Resignation feststellen sollte: »Es ist mittlerweile einfacher geworden, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.«

Wer an Fukuyamas These glaubte – und das waren in den 1990er-Jahren die allermeisten Zeitgenossen in der industrialisierten und wohlhabenden »Ersten Welt« –, konnte mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Denn die wichtigste erwünschte Nebenwirkung eines »Endes der Geschichte« war das Abflauen zwischenstaatlicher Konflikte. Die Zuversicht speiste sich aus zwei Quellen: Erstens ging man davon aus, dass Demokratien keine Kriege gegen andere Demokratien führen würden. Und zweitens würde eine Allianz der Wähler und Konsumenten den Nationalstaat in Schach halten und einen Rückfall in den Chauvinismus verhindern. Aus dieser Anfang der 1990er-Jahre artikulierten Erwartung ergab sich eine klare Handlungsanweisung: Das staatliche Wirken musste möglichst eingeschränkt werden, um destruktive Impulse zu unterdrücken. Die Zukunft gehörte dem dynamischen Duo Angebot und Nachfrage.

In dieser Zukunft nahm der Markt eine besonders prominente Rolle ein. Denn zeitgleich mit dem Abbruch des planwirtschaftlichen Experiments im Osten trat die seit der Nachkriegszeit stetig voranschreitende Globalisierung in eine neue Phase ein. Niedrige Transportkosten und Fortschritte bei der Informationstechnologie machten es auf einen Schlag möglich, Lieferketten rund um den Globus zu spannen. Die Auslagerung von Produktionsprozessen in Niedriglohnländer versprach den Unternehmen höhere Renditen und den Konsumenten unschlagbare Preise. Das globale Warenexportvolumen, das sich nach Berechnungen der Weltbank im Jahr 1989 auf rund drei Billionen US-Dollar summiert hatte, verdoppelte sich im Lauf der darauffolgenden zehn Jahre auf knapp sechs Billionen Dollar. Bereits seit Mitte der 1980er-Jahre war der Welthandel schneller gewachsen als die Weltwirtschaft, und je näher die Jahrtausendwende rückte, desto mehr Fahrt nahm der Zug Richtung Wohlstand auf.

Die Minnesänger der globalen Vernetzung knüpften hohe Erwartungen an diese Entwicklung: Wer sich einmal vom Kapital fesseln ließ, konnte zwar politisch nicht mehr uneingeschränkt agieren, durfte aber im Gegenzug die materiellen Segnungen des globalen Kapitalismus in vollen Zügen genießen. »Washingtoner Konsens« lautete der Name des Katechismus der 1990er-Jahre: eine Mischung aus freiem Finanzverkehr, gesundgesparten und auf Effizienz getrimmten Staatshaushalten sowie schrankenlosem Warenhandel. Wer sich diesem Konsens fügte, konnte auf Lob aus Washington und Brüssel hoffen.

Apropos Brüssel: Am weitesten gediehen war der Umbau in der Wiege der Konflikte des 20. Jahrhunderts. Seit ihrer Gründung als regionale Kooperationsgemeinschaft für Kohle und Stahl war die EU bis 1999 auf 15 Mitgliedsstaaten angewachsen, doch ihr Wirkungsradius reichte weit über die Grenzen des Kontinents hinaus. Im Schatten des »Wind of Change«, den die Softrockband »The Scorpions« am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung 1990 besungen hatte, einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, ihre Kooperation im Lauf des kommenden Jahrzehnts zu intensivieren und die einstige Wirtschaftsgemeinschaft westeuropäischer Staaten zu einem einzigartigen Gebilde umzubauen – mehr als ein Staatenbund, weniger als ein Bundesstaat. Die Unionsmitglieder verpflichteten sich dazu, ihre Binnengrenzen zu öffnen und den gemeinsamen Markt zu vervollständigen. Sie gaben sich eine Fahne und eine Hymne, erklärten ihre Bürger zu EU-Bürgern, gelobten budgetäre Sparsamkeit und nationalstaatliche Mäßigung und krönten dieses Reformfeuerwerk mit dem Euro – einer gemeinsamen Währung, die spätestens am 1. Januar 1999 aus der Taufe gehoben werden sollte.

Die Europäische Union war eine auf die Bedürfnisse des Kontinents zugeschnittene Version der Globalisierung. Sie zelebrierte den Konsens und sah Politik als Ingenieurswissenschaft im Dienste des Friedens: Entscheidungen von potenziell großer Tragweite wurden schematisch erfasst, in kleinstmögliche Einzelteile zerlegt, diese Einzelteile in streng paritätisch besetzten Ausschüssen und Komitees beraten und anschließend wieder zusammengesetzt – wie in einem gigantischen Lego-Baukasten für Verwaltungsbedienstete. Diese Strategie der schleichenden Vergemeinschaftung erwies sich als erfolgreich, stiftete Sinn und entfaltete eine ungeheure Anziehungskraft. Ende der 1990er-Jahre standen in Brüssel die Beitrittskandidaten Schlange, um bei der Europäischen Kommission vorzusprechen. Der »Acquis communautaire«, das Konvolut der europäischen Regeln und Gesetze, war die Gebrauchsanweisung für Frieden und Wohlstand.

Ein zentraler Aspekt dieser europäischen Erfolgsgeschichte war die Tatsache, dass der gesellschaftliche und politische kleinste gemeinsame Nenner in den Mitgliedsstaaten der Union sukzessive immer größer wurde. Es war ein wenig wie mit dem berüchtigten TINA-Prinzip der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, dem zufolge es nur eine einzige richtige Politik gab – deshalb auch das Akronym, das für There Is No Alternative stand. Europa wuchs anhand gewisser rechtlicher und verwaltungstechnischer Kriterien zusammen, und diese Kriterien gaben bis zu einem gewissen Grad den Kurs vor. Anders ausgedrückt: Die Schnittmenge wurde immer größer. Vom britischen Historiker Tony Judt stammt die Beobachtung, wonach bürgerliche französische Gaullisten und linksliberale schwedische Grüne in den 1990er-Jahren einander näher waren als ihren ideologischen Vorfahren.

Dieser Trend wirkte sich auch auf das politische Personaltableau aus. Ans Ruder kamen im Lauf der 1990er-Jahre Sozialdemokraten bzw. Liberale, die ihren Wählern den »Dritten Weg« und die Überwindung des alten Links-Rechts-Schemas versprachen: Bill Clinton in den USA, Tony Blair in Großbritannien, Gerhard Schröder in Deutschland. Sie segelten nahe am Wind des Wandels, sahen Gesellschaftspolitik als Fortsetzung der Marktwirtschaft mit anderen Mitteln und verkörperten das Versprechen einer postideologischen Zukunft. So wie es Francis Fukuyama vorhergesehen hatte, nahm diese neue Politikerkaste die Rahmenbedingungen als gegeben hin. Während US-Präsident John F. Kennedy bei seinem Amtsantritt 1961 den US-Bürgern empfohlen hatte, nicht danach zu fragen, was der Staat für sie tun könne, sondern was sie selbst zum Gemeinwesen beitragen könnten, formulierten Clinton, Blair und Schröder diesen Handlungsauftrag um: »Fragt nicht länger, was ihr für den Staat tun könnt – fragt stattdessen, was der Markt für euch tun kann.«

Die Antwort auf diese Frage lautete: Ohne Fleiß kein Preis. Die Bürger mussten demnach aus der sozialen Hängematte geholt und einem Fitnessprogramm unterzogen werden – zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohle aller. Die Anhänger des »Dritten Wegs« strahlten eine fast schon halluzinatorisch anmutende Zuversicht aus. Als Tony Blair 1997 die Labour Party in Großbritannien zum Erdrutschsieg führte, wählten die Sozialdemokraten »Things Can Only Get Better«, einen Eurodance-Hit der Band D:Ream, zur offiziellen Wahlhymne. Der Optimismus der postideologischen Wahlsieger war derart ekstatisch, dass er musikaffine Beobachter des Geschehens an den Titel eines im Jahr davor erschienenen Hitalbums des Rave-Veteranen Fatboy Slim denken ließ: »Better Living Through Chemistry«. Der Westen wirkte wie auf einem Trip.