image

Niko Alm

Ohne Bekenntnis

Wie mit Religion Politik gemacht wird

image

Ich möchte mich herzlich bedanken bei:

Isabella für die universelle Unterstützung, Rücksicht und natürlich den Kardinal.

Therese Kaiser, Yannick Gotthardt, Michael Horak, Thomas Weber und Hannes Harborth.

Claudia Romeder, Barbara Köszegi, Thomas Kussin und Heidi Selbach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2019 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin

Umschlagillustration: Isabella-Anja Khom

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Barbara Köszegi

ISBN ePub:

978 3 7017 4598 2

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3456 6

Inhalt

Vorrede

Teil I – Bruttoreligionsprodukt

Als Atheist geboren

Warum gibt es Religion?

Organisierte Religion

Tradition oder Überzeugung

Teil II – Problem Religion

Religiöse Problemzonen

Die Typologie religiöser Problemzonen

Religion als Kulturkitt

Die Zähmung des Islam in Mitteleuropa

Teil III – Die Marke Gott und religiöse Korrektheit

Die Marke Gott

Religiöse Korrektheit

Teil IV – Die Sonderbehandlung von Religion

Eine kurze Geschichte von Staat und Religion

Die Trennung von Kirche und Staat

Leistungen der Kirche

Das synkretistische Staatsreligionenmodell

Religiöse Privilegien

Teil V – Als ob Gott nicht existierte

Die Erfindung der Kirche

Politik als Simulation von Religion

Religion stößt an Grenzen

Teil VI – Laizität und das Ende der Religionsfreiheit

Werte ohne Gott

Religion im säkularen Staat

Indifferentialismus und Laizität

Konsequenzen der Laizität

Das Ende der Religion im Staat ohne Bekenntnis

Literatur

Playlist

Quellen und Anmerkungen

Vorrede

Im Sommer 2018 wurde bekannt1, dass in Pennsylvania in den letzten Jahrzehnten mindestens tausend Kinder von 300 katholischen Priestern missbraucht und vergewaltigt wurden. Bischöfe vertuschten und verhinderten die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen.2 Zur gleichen Zeit wurde in Pakistan ein Mann wegen Blasphemie auf Facebook3 zum Tod verurteilt, der Fußballer Rolando Mandragora wurde von der italienischen Liga für ein Spiel gesperrt, weil er die Muttergottes beleidigt und Gott mit einem Hund verglichen hatte.4 In der Knesset, dem israelischen Parlament, wurde eine Nationalstaatsvorlage verabschiedet, die es ermöglicht, aufgrund von Religion gesetzlich zu diskriminieren.5 Arabisch wurde als Landessprache abgewertet. Papst Franziskus I., Jorge Bergoglio, empfahl Eltern homosexueller Kinder, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen.6 Die Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) töteten im Juli 2018 mindestens 200 Menschen mit Selbstmordanschlägen7 in Syrien.

Das sind nur einige der Nachrichtenmeldungen, die innerhalb weniger Wochen international verbreitet wurden. Mord, Todesstrafe, Vergewaltigung, Diskriminierung, die Liste der negativen Folgewirkungen religiöser Weltanschauungen wird auch in diesem Jahrtausend noch lange fortgesetzt werden – lange nach den Kreuzzügen, der Inquisition und den Hexenverbrennungen, die als besonders grausame, inhumane und intolerante Fehlleistungen der Religionen vom Geist der Aufklärung weitgehend verdrängt wurden. Wobei man natürlich trefflich streiten kann, ob die christliche Verbrennung einer Frau bei lebendigem Leib als Hexe sehr viel grausamer ist als die islamische Enthauptung mit einem Schwert vor laufender Kamera im Livestream. Religion bleibt auch in der Gegenwart eine sprudelnde Quelle für Leid, Elend und die kritische Auseinandersetzung damit.

Welcher Gott ordnet diese Verbrechen an? Und gibt es ihn überhaupt?

It’s the republic, stupid

»Beide Lager, Theisten wie Atheisten, verdanken ihre mentale Kondition, ihren Überzeugungstonus, ihre Ritualfitness, von den Naiven manchmal als ›Glauben‹ bezeichnet, dem Umstand, dass sie mehrmals in der Woche, eventuell täglich, an den Übungsgeräten ›Gott‹ bzw. ›Nicht-Gott‹ trainieren.«8 Existenzielle Erörterungen dienen ohne Zweifel auch Jahrhunderte nach der Aufklärung noch als abendfüllender Diskussionsstoff, geraten aber, wie Peter Sloterdijk es beschreibt, eher zur rhetorischen Übung. Im Kern der Sache ist Religionskritik für einen aufgeklärten Menschen heute langweilig. Die Beantwortung der Frage, ob es, als Letztbegründung jeder religiösen Lehre und Praxis, Gott gibt oder nicht, darf als abgeschlossen betrachtet werden. Übrig bleibt – als Aufgabe dieses Buches – die Kritik am Verhältnis von Religion und Staat, die sich nicht an die Religion, sondern an die Republik und an eine Politik richtet, die Religion keine Grenzen setzt, sondern sie instrumentalisiert und selbst von ihr instrumentalisiert wird.

Es ist, ohne das Problempotenzial der Religionskultur auszublenden, keine Kritik an der Kollision von Religion mit Gesetzen an sich, sondern an deren Sonderrechten und Ausnahmebestimmungen. Ihr Ziel ist nicht, den Fehler in der Religion zu suchen und dort auszumerzen, es ist keine Kritik an den inneren Widersprüchen von Religionen und an den Glaubenslehren. Eine Modernisierung und Liberalisierung des Christentums, des Hinduismus, des Islam oder irgendeiner anderen der großen traditionellen Religionen ist aus Sicht eines aufgeklärten Menschen und einer offenen Gesellschaft naturgemäß wünschenswert, aber entspricht weder dem Auftrag der Aufklärung noch der Gesetzgebung. Religionskritik und Religionsverformung durch das Einwirken auf Interna sind keine Aufgaben des Staates, der die freie Entfaltung jeglicher Weltanschauung in den Grenzen allgemeingültiger Gesetze zu gewährleisten hat. Neue weltliche Gesetze zur Aktualisierung einer Religion sind zu diesem Behufe ebenso wenig nötig, wie die Religionskultur als gelebte Lehre in einer Form zu beschränken, die Kollateralschäden verursacht. Eine kritische Bewertung hinterfragt, wie weit Religion an sich und ihre Praktiken durch den Staat legitimiert werden.

Religion, Staat und Politik haben eine gemeinsame Geschichte. Religion ist nicht irgendein soziokulturelles Phänomen, das losgelöst von Staat und Politik stattfindet, sondern das immer im Austausch mit weltlicher Macht aufgetreten ist.

Dabei haben sich historisch die verschiedensten Formen der Verklammerung von Staat und Religion herausgebildet. Erst mit der Aufklärung ist es in Europa gelungen, einen Prozess der Säkularisierung in Gang zu setzen, der neben einem größeren Ausmaß an individueller Religionsfreiheit auch ein größeres Ausmaß an staatlicher Freiheit von Religion ermöglichte. Der republikanische Staat legitimiert sich aus seinem Volk. Er ist die res publica, die öffentliche Sache, und damit weder Widerpart zur Religion noch Partner auf Augenhöhe.

Der konsequente Endpunkt der säkularen Entwicklung wäre Laizität in einem Staat, der selbst ohne Bekenntnis bleibt und metaphysischen Wahrheitsfragen agnostisch gegenübersteht, aber größtmögliche religiöse und weltanschauliche Freiheit des Individuums ermöglicht. Doch ehe sich dieses freiheitliche Equilibrium nach der Aufklärung flächendeckend durchsetzen konnte, wurde durch die Konkordate des frühen 20. Jahrhunderts eine neue Form der Verpartnerung von Staat und Religion gefunden. Dieses auch gerne als kooperatives Modell bezeichnete Zusammenwirken repräsentiert die moderne Form einer Staatsreligion light, bei der wechselseitiger Einfluss nicht mehr plump durch direkte institutionelle Verbindungen hergestellt wird, sondern über den Abtausch gegenseitiger Leistungsbereitschaft.

Gerade aus der Umklammerung der Republik durch Religion ergeben sich Reibungen, die der Staat mit einer indifferenten Haltung gegenüber jeglicher Weltanschauung vermeiden könnte. Ein religiös verpartnerter Staat ist ein schwacher Staat. Ein Staat, der vor dem Einschlafen betet, anstatt selbstbewusst aus seiner Volkssouveränität zu handeln. Die Verpartnerung von Republik und Religion führt zu einer gesetzlichen Privilegierung religiöser Weltanschauungen und zu einer Definition von Leitkulturen aus einem vermeintlichen religiösen Erbe, sie ist die Ursache für die fortgesetzte negative Entfaltung von Religion in der Gesellschaft. Dafür ist der Staat zu kritisieren, nicht die Religion, die ihn widerstandslos vereinnahmt.

Der Staat hat es in Europa versäumt, sich aus der religiösen Umklammerung zu befreien und sich insbesondere vom Christentum zu distanzieren. Damit wurde die Entwicklung einer gemeinsamen humanistischen Kultur einer freiheitlichen Gesellschaft vom christlich-jüdischen Erbe des Kontinents überlagert, das jetzt vor allem von Nationalisten gegen den Islam in Stellung gebracht wird. Das führt zu der paradoxen Situation, dass politisch Religionskulturen gegeneinander ausgespielt und Seiten im tradierten Links-Rechts-Schema ergriffen werden, obwohl der Aushandlungsprozess tatsächlich quer dazu zwischen Denkmustern offener und geschlossener Gesellschaften stattfinden sollte.

Wie mit Religion Politik gemacht wird

Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich 2009 mit dem katholischen Publizisten Hubert Feichtlbauer (1932–2017) in einer der Buden des Cartellverbands (CV) geführt habe, der mich des Öfteren zu Veranstaltungen eingeladen hat. Meine Sympathie für den CV und alle anderen schlagenden und nicht-schlagenden Verbindungen und Burschenschaften – für mich besteht da wenig Unterschied – ist sehr bald enden wollend. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Meine Rolle ist die des Provokateurs und ideologischen Gegners, dem vonseiten des Auditoriums mit einem Bündel an vorgefassten Meinungen begegnet wird. Die sachlichen Debatten münden dann aber oft in sehr interessante Gesprächserfahrungen. So auch mit Hubert Feichtlbauer. Nach der Diskussion über das Verhältnis von Staat und Religion wandte er sich an unser Publikum: »Vor dem müsst ihr euch in Acht nehmen. Das ist nicht der blutrünstige Atheist, den ich erwartet habe.« Mit meinen Argumenten sei ich eine Bedrohung für die privilegierte Stellung der Religion im Staat. Beim Smalltalk danach wurde mir von einem katholischen Politiker bestätigt, dass diese Privilegierung nicht nur durch einen direkten Einfluss der Religion bestehe, oder durch Gesetze, die Religion in besonderem Maße berücksichtigen: »Wir brauchen keine Anweisung von der Kirche. Als gute Katholiken wissen wir, was wir zu tun haben.«

Politik und Politiker handeln als menschliche Instrumente der Religion gemäß deren Moral und verteidigen diese vehement, wenn die religiöse Weltanschauung im gesetzgebenden Rahmen bedroht wird. Es waren selten Vertreter der Kirche selbst, sondern oft jene der christlichsozialen ÖVP, die auf meinen laizistischen Aktivismus, wie etwa die Atheistische Buskampagne9, das Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien oder Ansichten, die im Widerspruch zu einer christlichen Moral standen, etwa die Unterstützung einer Initiative zur Entfernung der Abtreibung aus dem Strafgesetzbuch, besonders scharf und immer auch persönlich untergriffig reagierten. Auch wenn methodisch grobe Werkzeuge zum Einsatz kommen, instrumentalisiert Religion Politik auf subtile Weise. Wer seiner Religion gehorsam folgt, will oft auch, dass andere diese Gehorsamkeit teilen. Und die Gehorsamen sind dabei oft eifriger als die Repräsentanten der Kirche selbst, denn diese wirken im Vergleich zu Ersteren in der Regel recht gelassen.

Die Moral der Gehorsamen

Das Verhalten der Gehorsamen ist ein Charakterzug, der natürlich nicht auf Religion beschränkt ist. Wer in sozialen Netzwerken verkehrt, kennt jene verbissenen Moralapostel, die andere gerne unterrichten, wie sie leben sollen. Politische Korrektheit – nicht zu verwechseln mit sensibler Sprache, die sich in der bewussten Nicht-Verwendung von wertendem Vokabular für Personen oder Gruppen niederschlägt – wird zu einer politischen Unfehlbarkeit oder Überkorrektheit, die ihre Deutungshoheit über die Abwertung der Träger widersprüchlicher Meinungen oder Diskursbeiträge sucht, sich also in moralischer Überlegenheit äußert. Argumente werden dabei kaum mehr auf einer Sachebene, sondern als persönliche Attacken gegen die Absender geführt, die es wagen, die richtige, moralisch überlegene Version der Wahrheit gegen ihre Beobachtungen der Wirklichkeit skeptisch in Beziehung zu setzen.

Dieser Wesenszug einer fundamentalistischen Zuordnung dessen, was ideologisch richtig ist, steht dem Fundamentalismus der gehorsamen Religiösen um nichts nach. Sie bedienen sich beide des Instruments der Immunisierung durch die eigene, vermeintliche Unfehlbarkeit. Die moralisch Überlegenen und religiös Korrekten stehen sogar in gelegentlicher Wechselwirkung zueinander. Dort, wo es opportun ist, speist sich die politische Überkorrektheit aus Argumenten der Religionsfreiheit. Man habe nicht nur zu tolerieren, sondern zu respektieren, wenn Gebräuche einem aufgeklärten und humanistischen Weltbild widersprächen. Es gehöre zur Freiheit der Anwender, ihre eigene religiöse Weltanschauung auszuleben, wie sie wollen. Kollisionen mit dem Rechtsstaat, also sonst für alle anderen gültigen Gesetzen, seien in Kauf zu nehmen.

Unterstützung in ihrem Eifer bekommen die Religiösen vom Staat, der weniger die Ausübung individueller Grundrechte sichert, als dem Druck des Kollektivs und seiner Traditionen nachzugeben. Sich über Religionsfreiheit zusätzlichen Handlungsspielraum exklusiv zu sichern, der den Bewegungsradius anderer einschränkt und nur für eine Gruppe gilt, ist ein missverstandenes Konzept einer vor zwei Jahrhunderten errungenen bürgerlichen Freiheit. Das Individualrecht der Religionsfreiheit, ursprünglich als Schutz und Abwehrrecht gegenüber herrschenden Staatsreligionssystemen angelegt, wurde zu einem trojanischen Pferd, das Religion und vor allem ihre praktischen Ausflüsse der Religionskultur gegen Kritik weitgehend immunisierte.

Die weltanschaulich privilegierte Rolle der Religion im Staatswesen legitimierte diese Ansprüche, mit dem Resultat, dass Religionsfreiheit sich als ausschließende, exklusive Religionsfreiheit zu einem kollektiven Instrument des formellen, aber auch informellen Machtmissbrauchs gewandelt hat.

Trotz fortgeschrittener institutioneller Trennung von Republik und Religion legitimiert der Staat dieses Missverständnis und steht sich bei der Umsetzung weltanschaulich-religiöser Neutralität selbst im Weg.

Die Selbstverwaltung der Gesellschaft passiert im Staat, nicht in der Religion und auch nicht in der staatlichen Verklammerung mit Religion. Ein weltanschaulich neutraler Staat darf also Religion und Weltanschauung weder aufwerten noch abwerten, um sich nicht zum Erfüllungsgehilfen einer Ideologie zu machen. Ein laizitärer Staat unterscheidet gar nicht zwischen Religion und Weltanschauung, sondern überlässt metaphysische Fragen der Privatsphäre und der Gewissensfreiheit seiner Bürger, die er beide zu schützen hat. Laizität ist damit weder religions- noch weltanschauungsfeindlich, sondern eröffnet allen Überzeugungen im Rahmen bestehender Gesetze die gleichen Möglichkeiten.

Wenn man die laizitäre Republik als Idealbild oder zumindest eine Verbesserung des derzeitigen Zustands im Verhältnis von Staat und Religion sieht, muss man zum Schluss kommen, dass die Aufklärung noch lange nicht zu einem Ende gekommen ist.

»Wissen ist immer nur vorläufig«, pflegte mein 2015 verstorbener Freund Heinz Oberhummer zu sagen. Eine wissenschaftliche Theorie beschreibt die Wirklichkeit bestmöglich und kann immer auch falsifiziert und durch eine bessere Alternative ersetzt werden. Wenn auch die Aufklärung ein Wissensprojekt war, dann ist das kooperative Modell von Republik und Religion gelebte Vorläufigkeit. Der Staat leidet 200 Jahre nach der Aufklärung noch immer unter einem religiösen Stockholm-Syndrom. Es ist an der Zeit, dass Politik den Glauben an das Übernatürliche vollständig ablegt.

Teil I –
Bruttoreligionsprodukt

Als Atheist geboren

Jeder Mensch wird ohne Bekenntnis geboren. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft von Geburt oder frühester Kindheit an ist einer von vielen, aber auch ein entscheidender Zufall im Leben. Der Geburtsort und die Religion der Eltern bestimmen maßgeblich, ob mit und in welcher Religion ein Mensch aufwachsen wird. Es ist die willkürliche Entscheidung der Eltern, ob sie ihr Kind nur aus Tradition oder aus Überzeugung in eine – in aller Regel die eigene – Religion einführen. Das kann nach außen hin formal sein, um dem Kind die es umgebende Kultur und religiöse Infrastruktur nicht vorzuenthalten, oder einfach ein Formalismus, der ganz ohne zu hinterfragen angewendet wird. In seinem »Brief über Toleranz« widersprach John Locke schon 1689 diesem Automatismus: »Ich sage, es ist eine freie und freiwillige Gesellschaft. Niemand wird als Mitglied einer Kirche geboren; andernfalls würde die Religion der Eltern durch dasselbe Erbrecht wie ihr weltlicher Besitz auf ihre Kinder übergehen. […] Nichts Absurderes wäre vorstellbar. […] Kein Mensch ist von Natur aus an eine bestimmte Kirche gebunden, jeder schließt sich freiwillig der Gesellschaft an, in der er glaubt, das Bekenntnis und den Kultus gefunden zu haben, die für Gott akzeptabel sind.«10

Zum Zeitpunkt der Geburt gibt es keinen Gott im Leben des Kindes. Die Religion wird als Merkmal von außen zugeführt und legt sich wie eine zweite Haut über das Wesen. Diese abzustreifen ist nicht immer einfach. Ob dieses Kind später einmal auch den der religiösen Tradition zugrunde liegenden Glauben persönlich annimmt oder nicht, ja, ob das überhaupt eine rationale Entscheidung sein wird, bleibt seiner Fähigkeit, kritisch zu hinterfragen, vorbehalten.

Atheismus wird damit sehr oft zu einer persönlichen Entscheidung, die es fast schon zwangsläufig mit sich bringt, dass die daraus resultierende Überzeugung unerschütterlicher ist als der sprichwörtliche unerschütterliche Glaube an die übernatürlichen Grundlagen jeder Religion zuvor.

Diese Entscheidung muss kein Ergebnis eines langen Nachdenkprozesses sein, sie kann auch aus dem Bauch heraus getroffen werden, sie kann sich ganz natürlich einstellen, als ereignislose Erkenntnis, fortan ohne diese zweite Haut leben zu wollen, die einfach zurückgelassen wird. Friedrich Nietzsche behauptete das von sich: »Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: Er versteht sich bei mir aus Instinkt.«11 Doch auch wenn es sich so zugetragen haben sollte, ist dieser kurze Prozess kein irrationaler. Die mehr oder weniger schnell gereifte Erkenntnis, dass da einfach nichts ist, obwohl die Gesellschaft rundherum so tut, als wäre da etwas, gründet sich ja ebenso in Lebenserfahrung.

Erziehung zum unbedingten Gehorsam

Bei mir begann die Skepsis an Religion zu einem frühen Zeitpunkt. Mir wurde – wie so vielen anderen auch – der Religionsunterricht in der Volksschule vom dörflichen Pfarrer verabreicht. So weit ich mich noch daran erinnern kann, waren das zumeist nette Märchenstunden, in denen viel gemalt wurde und wo die dergestalt entstandenen Kunstwerke und sonstigen herausragenden Leistungen der Kinder mit kleinen Heiligenbildern belohnt wurden, die wir eifrig sammelten.

In einer dieser Stunden hörten wir die Geschichte von Abraham, dem von Gott aufgetragen wurde, seinen Sohn Isaak zu opfern. Abraham tat wie ihm befohlen, packte seinen Esel und brach mit Isaak auf zum Berg im Land Morija. Sein Sohn bemerkte freilich, dass das Opferlamm fehlte, aber er widersetzte sich der geplanten Tötung durch den eigenen Vater auch nicht, als der ihm schon das Messer ansetzte.

Gott lässt Abraham kurz vor der Hinrichtung seines Sohnes mit den Worten: »Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest«12, innehalten. Isaak darf weiterleben. Damit die Geschichte irgendwie doch noch mit einem Opfer endet, lassen die Autoren des Alten Testaments einen Widder ins naheliegende Gestrüpp laufen, der sich dort verheddert und dann als Ersatz für Isaak zum Brandopfer wird. Abraham hätte es also aus Angst vor Gott und aus Egoismus, um sein eigenes Leben zu schützen, vorgezogen, Isaak zu töten. Und dieser hätte sich bereitwillig schlachten lassen.

Da passte auch für mich als Achtjährigen einiges nicht zusammen. Wäre mir damals schon die ganze Tragweite des Vorgangs bewusst gewesen, hätte ich es vermutlich mit der Angst zu tun bekommen. Dass es sich bei dem kleinen Ausflug zum Opfer um einen geplanten, brutalen Mord an einem Kind gehandelt hätte, realisierte ich sicher nicht. Das wurde auch übertüncht von der vermittelten Einsicht, dass absoluter Gehorsam gegenüber einer unsichtbaren Autorität so etwas wie eine Tugend sei. Und fast noch schlimmer als das Verhalten von Abraham erscheint mir die gleichgültige Hingabe von Isaak, der nicht einmal den Versuch unternimmt, dem Vater zu entkommen. Es ist eine absurde Geschichte, die durch und durch unmoralisch ist, würde sich Moral nicht genau dadurch erklären, dass sie sich im religiösen Kontext durch solche Parabeln definiert.

Die Geschichte von Abraham und Isaak ist auch nicht irgendeine der vielen Geschichten in den vielen Büchern des Alten Testaments. Sie wird häufig zitiert. Abraham ist nicht irgendein biblischer Nebendarsteller. Abraham ist die Figur, auf die sich drei Weltreligionen – Islam, Judentum und Christentum – als gemeinsamen Stammvater verständigen, und die daher auch als abrahamitische Religionen bezeichnet werden. Der kleinste gemeinsame Nenner der größten Weltreligionen, Abraham, zeichnet sich dadurch aus, dass er in blindem und absolutem Gehorsam einem Gott folgt, der außer zu ihm zu niemandem spricht. Das ist keine stabile Basis.

Fragwürdige Moral, der Glaube an das Übernatürliche, absoluter Gehorsam, die Ausschaltung gesunder Skepsis werden Menschen seit Tausenden Jahren ab dem Kindesalter durch Märchen eingeflößt. Sie finden in unseren Gehirnen auch willkommene Abnehmer. Wir lieben Storytelling und Narrative. Gleichnisse, Märchen und Sagen, Bauernregeln, Kalendersprüche und gereimte Sinnsprüche prägen sich ein und werden von schlichten Gemütern auch gerne als Argument wiedergegeben. Bis hin zum philosophischen und politischen Zitat, das natürlich sehr oft auch nicht viel mehr belegt als die Tatsache, dass irgendjemand zu irgendetwas schon einmal etwas gesagt hat und damit zum Zeugen wird. The medium is the message. Wenn sich der Träger einer Botschaft durch besondere Glaubwürdigkeit auszeichnet, wenn er Zeugnis über seine persönliche Wahrnehmung ablegt, dann spricht man von einem Testimonial. In der Werbung ist das eine beliebte Form der Irreführung potenzieller Käufer. Berühmte Persönlichkeiten wirken durch ihre Bekanntheit als Simulacrum für gute Freunde, die die positive Wirkung von Dienstleistungen und Produkten anpreisen. Denn die effektivste Form der Vermittlung von Werbebotschaften ist immer noch die Mundpropaganda. Das weiß auch die Religion, die ihre Geschichten möglichst früh im Leben der Menschen vermitteln will. Wenn ich von der Religion in der Einzahl spreche, dann meine ich keine bestimmte Religion, sondern den Querschnitt der Religionen, der über gewisse Wesenszüge generalisierbar ist.

Der Glaube an Gott und an das Übernatürliche im weiteren Sinn wurzelt trotz aller theologischen Versuche der Rationalisierung im Irrationalen. Die Letztbegründung findet zwar kein logisches oder empirisches Ende, aber das bedeutet nicht, dass es nicht nachvollziehbar wäre, zu glauben, nur weil die Grundlagen nicht beweisbar sind. In aller Regel ist Glaube das Produkt der Erziehung und kein natürliches Bedürfnis. Schon gar nicht nach irgendeiner bestimmten Religion.

In der jüngeren Geschichte der Menschheit erfolgte die religiöse Erziehung im Erwachsenenalter oft mit brutalen Methoden: mit Kreuzzügen, Folterungen und Völkermord wurden Menschen an die richtige Religion herangeführt, wurde die natürliche Anlage zum richtigen Glauben »aktiviert«13, zumindest bei denen, die diese Aktivierung überlebten.

Bei den Kreuzzügen vom 11. bis zum 13. Jahrhundert wurden rund 22 Millionen Menschen getötet, im 16. Jahrhundert starben Hunderttausende Azteken durch die Hand spanischer Eroberer, nur damit kurz darauf Millionen durch die Einschleppung europäischer Krankheiten verreckten. Die Geschichte lässt sich mit Beispielen aus allen Jahrhunderten und Teilen der Welt bis zum Holocaust fortsetzen, der ja auch von Adolf Hitler selbst religiös legitimiert wurde: »So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.«14

Die Schwierigkeiten, sich von Religion zu lösen

Religionen durchdringen Gesellschaften bis in alle Lebensbereiche als Konstruktion der Wirklichkeit an sich. Und es ist keine leichte Aufgabe, sich von der Wirklichkeit des Kollektivs zu verabschieden. An dieser Stelle lasse ich Michail Bakunin, den ich in vielen, vor allem politischen Belangen nicht unbedingt als Zeugen der Anklage anführen würde, diesen innerlichen Kampf akzentuiert beschreiben: »Nun, die Religion ist ein gemeinsamer Wahnsinn, der umso mächtiger ist, weil es ein überlieferter Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich in das entfernteste Altertum verliert. Als allgemeiner Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und privaten Einzelheiten des sozialen Daseins eines Volkes ein, verkörperte sich in der Gesellschaft, wurde sozusagen deren Seele und gemeinsamer Gedanke. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an von ihr umringt, nimmt sie mit der Muttermilch in sich auf, nimmt sie auf mit allem, was er hört und sieht. Er wurde damit so sehr genährt, vergiftet und in seinem ganzen Wesen durchdrungen, dass er später, wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte Anstrengungen machen muss, sich von ihr zu befreien, und nie gelingt ihm dies vollständig.«15

Die innere Abkehr von Religion fällt dem Einzelnen mehr oder weniger leicht. Der Zweifel wächst und die Erkenntnis reift, dass es außerhalb der wahrnehmbaren Natur nichts Messbares gibt, nichts, das sich jemals in der Wirklichkeit bemerkbar macht, dass es keine Wunder gibt und die Welt, mit den Werkzeugen der Natur betrachtet, wesentlich eleganter und schlüssiger erklärbar ist. Der logische Zirkelschluss der Wunder wurde unter anderem im 17. Jahrhundert von Baruch de Spinoza wiederholt dekonstruiert: »Geschähe daher etwas in der Natur, was aus ihren Gesetzen nicht folgte, so müsste es der Ordnung, die Gott in Ewigkeit durch die allgemeinen Naturgesetze für diese festgesetzt hat, widersprechen und würde deshalb gegen die Natur und ihre Gesetze sein, und wollte man daran glauben, so würde es uns an Allem zweifeln machen und zu dem Atheismus führen.«16

Aber warum halten Gesellschaft, Politik, Staat und vielleicht sogar das persönliche Umfeld dann so sehr an Religion fest? Warum glauben so viele Menschen daran? Die können sich doch nicht alle irren? Dieser Zweifel am Zweifel ist verständlich, mich hat er aber ausgespart. Ich wurde selbst durch meine Taufe zum Katholiken gemacht und musste in Folge das vorgesehene Programm aus Religionsunterricht, Erstkommunion und der gelegentlichen Sonntagsmesse mitmachen, aber weiter, als die Geschichten des Christentums im kindlichen Glauben als wahr anzunehmen, ist Religion nicht in mich eingedrungen.

Bei den vorbereitenden Treffen zur Firmung (Konfirmation) war ich dann gefordert, mich etwas ausführlicher mit meinem Glauben zu beschäftigen, und musste feststellen, dass er nicht vorhanden war, dass er niemals vorhanden gewesen war. Damit war für mich die Sache klar: Ich bin Atheist.

Es war ein Abschluss mit dem persönlichen Glauben und der Religion – ohne Zweifel und ohne Blick zurück, in einem familiären, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umfeld, das mir in dieser persönlichen Einsicht auch keine Schranken auferlegte. Für meine innere Abwendung und den späteren Kirchenaustritt hatte ich keinerlei negative Konsequenzen zu befürchten. Aber es ist für mich nachvollziehbar, dass diese Zweifel bei anderen bestehen, die sogar in einen inneren Versuch ausarten können, den persönlichen Glauben rational greifen zu wollen, wenn er schon völlig unspürbar ist. Dazu kommt, dass viele vermutlich eingeschränkt sind, ihren Unglauben zu äußern, weil es Nachteile in Familie und Gesellschaft bringt, weil es möglicherweise auch den Arbeitsplatz kostet, selbst wenn man keinen Beruf innerhalb einer Religionsgemeinschaft ausübt. Möglicherweise führt die Ungläubigkeit sogar zur Bedrohung an Leib und Leben. Während in Mitteleuropa der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft den Charakter eines verhältnismäßig entspannten Behördenwegs hat, kann der artikulierte Abfall vom Glauben, die sogenannte Apostasie, in anderen Teilen der Welt dramatische Folgen haben. In islamischen Rechtssystemen kann das bis zur Todesstrafe gehen, die in 13 islamisch geprägten Ländern der Erde auch noch von staatlicher Seite vorgesehen ist (Sudan, Jemen, Iran, Saudi-Arabien, Katar, Pakistan, Afghanistan, Somalia, Mauretanien, Malaysia, Nigeria, VAE, Malediven). Und das ist kein totes Recht. Urteile werden ausgesprochen und exekutiert. Angesichts derartiger Konsequenzen ist es nicht nur verständlich, sondern eine Voraussetzung, über die eigene Ungläubigkeit möglichst zu schweigen, um das eigene Leben und die eigene Familie zu schützen.

Wenn Religion im Verbund mit staatlicher Gewalt als Werkzeug angewendet wird, um Tod, Folter und Freiheitsentzug durchzusetzen, bewegen wir uns an einem Extrempunkt der Unterdrückung persönlicher Freiheit. Aber auch Menschen, die in mehr oder weniger offenen Gesellschaften in Europa oder Nordamerika leben, bekommen noch immer durch Religion verursachte Einschränkungen zu spüren, sei es durch Gesetze und gesellschaftlichen Druck oder durch kulturelle Prägung, die sich bis ins eigene Verhalten und Unterbewusstsein fortsetzt.

»Atheismus heißt nicht Gedächtnisverlust«17, ergänzt der französische Philosoph André Comte-Sponville zur selbst gewählten oder von selbst eingetretenen Abkehr vom Glauben. Die Erfahrung mit Religion, ihre kulturelle Vermittlung und die gedankliche Auseinandersetzung mit ihr werden in diesem Prozess nicht ausgelöscht, die eigene Erziehung und Entwicklung nicht ungeschehen gemacht, die persönliche Umwelt nicht geändert. Ja, es ist sogar denkbar – und es passiert auch –, dass Atheisten und Agnostiker der Religion etwas Positives abgewinnen können, weil Religion und Glauben einen vermeintlich positiven Beitrag für Staat, Gesellschaft und einzelne Mitglieder leisten, obwohl ihre Grundlagen als falsch oder zumindest nicht belegbar erkannt wurden. Dieser utilitaristische Zugang zu Religion erklärt neben weiteren Ursachen auch, warum Religion nach wie vor eine privilegierte Position in der Gesellschaft einnimmt und Politik weiterhin für sich instrumentalisieren kann. Der persönliche Prozess der Loslösung vom Dispositiv der Religion ist mit der persönlichen Erkenntnis des Nicht-Glaubens nicht abgeschlossen, er geht darüber hinaus, kann aber von Tradition und einer Rationalisierung durch Nützlichkeitserwägungen verlangsamt oder auch ganz zum Stillstand gebracht werden. Das gilt für das Individuum genauso wie für Gesellschaft und Staat.

Warum gibt es Religion?

Wie muss es sein, in eine Welt geboren zu werden, die noch keine oder kaum vernünftige wissenschaftliche Erklärungen für die in ihr stattfindenden Ereignisse zu bieten hat? Warum gibt es Tag und Nacht oder Jahreszeiten? Was passiert, wenn wir sterben?

Viele Zusammenhänge in der Welt können Menschen durch eigene Erfahrung selbst ergründen. Das Prinzip von Ursache und Wirkung erkennen zu können, gehört zur evolutionären Grundausstattung von Tieren, zu denen sich auch der Mensch zählen darf.

Menschen können Erkenntnisse über Kausalität mittels Sprache weitergeben, sie sogar aufschreiben und an Menschen zukünftiger Jahrhunderte, ohne persönlichen Kontakt, übermitteln. Wir starten mit der Geburt zwar alle bei null, aber nicht ohne die gesellschaftliche Grundausstattung von Wissenschaft, Kultur und auch Religion. Der Erfahrungsschatz der Menschheit wächst kontinuierlich, wird größer und überlebt den eigenen Tod. Das vorläufige Wissen festigt sich und beschreibt die Lebensumwelt immer genauer. Aber nie vollständig. Neben den leicht in der Natur erkennbaren Zusammenhängen von Ursache und Wirkung gab und gibt es immer noch natürliche Phänomene, die noch nicht erklärt werden können. Wer an diesem Punkt einer Erklärungskrise das Übernatürliche als Agenten einführt, kann die Lücke mit einem Trick schließen.

Gott als universeller Platzhalter

Religion reicht in der Menschheitsgeschichte weit zurück, sie kommt aus der Frühphase der Menschheit, als vieles nicht erklärt werden konnte. Evolution, Astronomie, Chemie waren noch lange nicht bekannt. Die Lücken im Wissen um die Welt waren riesengroß, sie sind es bestimmt noch immer, aber sie wurden sukzessive durch wissenschaftliche Methoden geschlossen – und zwar ausschließlich durch wissenschaftliche Methoden, niemals durch religiöse Offenbarung. Keine naturwissenschaftliche Fragestellung wurde jemals durch den Blick in ein heiliges Buch oder die Einbildungskraft eines Propheten gelöst.

Den Menschen war es aber immer ein Bedürfnis, für alles eine Erklärung zu finden, und so entstand die Idee, natürliche Phänomene durch übernatürliche Intervention zu erklären. Worauf wurde das zuerst angewendet? Donner, Regen, Sonnenaufgang? Was es auch war, es war der Ausgangspunkt eines Erklärungsmodells, das, bis hin zur Dominanz des Spektrums der Weltanschauungen, bis heute in Verwendung ist und weit über die Religion bis hin zu Esoterik und Aberglaube reicht.

Religion ist eine Generalhypothese der Welt. Sie verkörpert das Konzept einer geschlossenen Weltanschauung, das durch ein einziges Leistungsmerkmal oder – je nach Standpunkt – durch einen einzigen eingebauten Fehler alles erklärt, was sich bislang nicht erklären hat lassen. Das gilt insbesondere dann, wenn die grundlegende Kausalität natürlicher Phänomene nicht einfach erkennbar ist und sich nicht ganz offensichtlich von selbst erschließt.

Die Götter regeln alles. Es regnet? Gott weint. Eine Krankheit? Gott straft. Erfolgreiche Jagd? Die Götter waren milde gestimmt. Für alles gibt es einen Grund. Das Erklärungsmodell beruht auf einer übernatürlichen Macht, die entweder komplett unsichtbar und auch sonst nicht sinnlich wahrnehmbar ist, oder sich irgendwo in der Natur eingenistet hat, wo sie erst recht nicht nachgewiesen werden kann. Götter können nämlich alle möglichen Formen annehmen: Berge, Wüsten und Planeten eignen sich hervorragend dafür, übernatürlich beseelt zu werden. Der Nachweis des Nichtvorhandenseins eines feinstofflichen Bewohners wird nur schwer gelingen. Er lässt sich ja nicht messen. Himmelskörper sind zudem auch noch so weit entfernt, dass lange Zeit niemand Nachschau halten konnte. Aber auch das hat sich geändert. Am 20. Juli 1976 landete mit Viking 1 die erste Sonde auf dem Mars. Der natürliche Charakter der Planeten wurde freilich schon viel früher erkannt, genauso wurde auch der Rest der Natur sukzessive entmystifiziert.

Spinoza erkannte das große Potenzial der Religion noch in der Unerklärbarkeit natürlicher Vorgänge: »So pflegten die Juden alles, was ihre Begriffe überstieg und dessen natürliche Ursachen sie damals nicht kannten, auf Gott zu beziehen.«18 Die Unerklärbarkeit natürlicher Phänomene schrumpfte nach dem Aufstieg der Naturwissenschaften im Zuge der Aufklärung auf die Unbeweisbarkeit der Metaphysik.

Der zuvor angesprochene Fehler im System ist genau diese Unbeweisbarkeit. Sie ist logisch zwar einwandfrei, denn durch den übernatürlichen Agenten kann jede kausale Lücke überbrückt werden, aber sie erklärt de facto natürlich gar nichts. Göttliche Intervention ist der ultimative Joker, der selbst nichts beweist und durch nichts widerlegt werden kann. Der Beweis der Nicht-Existenz ist schlicht und einfach nicht möglich. Gott ist ein universeller Platzhalter für kausale Lücken und fehlende Erklärungen. Er verkörpert das Scheitern jeder Erklärung.19

Kritik daran ist aber religiös unerwünscht, also wird dieser Angriffspunkt durch eine Immunisierungsstrategie neutralisiert. Der übernatürliche Agent offenbart sich nur in Propheten, die als einzige den Willen der Götter interpretieren können und auch als einzige wissen, wie diese besänftigt werden können. Doch diese Manipulation der Götter ist nicht besonders zuverlässig. Es regiert die Ungewissheit.

Die Götter sind erratisch und lassen sich nicht so einfach mit Stimulus und Respons steuern. Doch manchmal funktioniert ein Opfer, ein Gebet oder irgendein sonstiges Ritual ja doch. Anekdotische Evidenz bestätigt die unterstellte Methode und erwartete Wirkung. Das erinnert sehr stark an die Erfahrungsberichte über alternative Heilverfahren, etwa die Homöopathie, die dann etwa so klingen: »Bei mir, aber auch bei meinen Kindern und meinen Pferden, die gar nicht wussten, was sie verabreicht bekamen, hat es geholfen.« Die vielen anderen, wirkungslosen Anwendungsfälle werden dank Confirmation Bias, also der Neigung, nur jene Informationen gelten zu lassen, die eigene Erwartungen erfüllen, einfach ausgeblendet, ebenso die Tatsache, dass sich Ereignisse auch einfach natürlich einstellen können. Krankheiten heilen auch ohne Behandlung, Regen fällt auch, wenn vorher keine Tiere als Opfer verbrannt werden. Die frühen Religionen müssen nach demselben Prinzip funktioniert haben.20 Götter sind beeinflussbar, aber nicht durchschaubar.

Gottesfurcht und Propheten

Die Götter bestimmen aber nicht nur natürliche Phänomene, das tägliche Wetter, Klima und Jahreszeiten, Ernteertrag und Wildbestand, Vulkanausbrüche, Sonnen- und Mondfinsternisse und was sonst noch in der Umwelt der frühen Menschheit an Faktoren zu adjustieren war, sie bewerten auch das menschliche Verhalten und gewährleisten durch ihr Regularium die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft.

Eine der größten tatsächlichen Leistungen der Religion ist zweifelsohne die Etablierung einer Systematik für das menschliche Zusammenleben, die ethisches Verhalten in moralische Grundsätze und Regeln gerinnen lässt. Religion ging damit immer schon weiter als der spätere staatliche Regulierungswille, der passiv über seine Gesetze grundsätzlich definiert, was nicht erlaubt ist, viel weniger, was geboten ist, während Religion aktiv vorgibt, wie wir leben sollen. Und zwar bis in die höchstpersönlichen Lebensbereiche: arbeiten, schlafen, atmen, essen, Bekleidung und vor allem Sex.

Religionen schaffen als Glaubenssysteme Berechenbarkeit und Stabilität mittels einer gesellschaftlich geteilten Ideologie21, die dem Willen der Götter folgt. Und um diesen Willen für das gemeine Volk erkennbar – Gott spricht nicht zu jedem – verständlich zu machen, braucht es irdische Übersetzer, Propheten. Spinoza bezeichnete sie als Dolmetscher: »Weissagung oder Offenbarung ist die von Gott dem Menschen geoffenbarte sichere Erkenntnis einer Sache. Prophet ist aber der, welcher das von Gott Offenbarte denen erklärt, welche keine sichere Kenntnis der von Gott geoffenbarten Dinge haben können, und die deshalb mit dem bloßen Glauben die Offenbarungen aufnehmen müssen. Der Prophet heißt bei den Juden Nabi, d. h. Redner und Dolmetscher; aber in der Bibel gilt er immer als Dolmetscher Gottes.«22

Ein Prophet, »welcher Gottes Stelle vertritt«, kann nach Lust und Laune Gesetzmäßigkeiten erfinden, die nicht widerlegt werden können und wohl auch nicht hinterfragt werden dürfen. Mit derartiger Autorität ausgestattet ist es möglich, Menschen und Gesellschaft bis über die Grenze der Beliebigkeit und an die Grenze der Zumutbarkeit zu steuern.

Gleichzeitig wird ein kausaler Zusammenhang zwischen natürlichen Phänomenen und zwischenmenschlichem Verhalten hergestellt. Damit etwas passiert, muss ein spezielles Wohlverhalten an den Tag gelegt oder etwa ein Opfer gebracht werden. Ob die Götter gnädig sein werden, lässt sich niemals prognostizieren. Ungewissheit oder vielmehr Unberechenbarkeit ist in diesem Vorhersagemodell die einzige Konstante. Unberechenbarkeit erzeugt aber auch Angst.

Der britische Philosoph Bertrand Russell meint sogar, Religion basiere hauptsächlich auf Angst vor der Ungewissheit.23 Auch wenn es sich meines Erachtens dabei nicht um die primäre Grundlage der Religion handelt, spielt die Furcht vor Gott eine tragende Rolle. Sie hat sich aber gewandelt zu einer Gottesfürchtigkeit, die Menschen aus Ehrfurcht vor Gott die ihm zugeschriebenen Gebote befolgen lässt. Auch wenn die Angst vor unkalkulierbaren Konsequenzen des eigenen Handelns im Sinne einer Strafe, egal ob im Diesseits oder später im Jenseits, weniger eine Motivation darstellt, ist Angst auch heute Basis naiver Modelle des moralischen Wohlverhaltens. Schon Spinoza wies darauf hin: »Denn so lange die Menschen bloß aus Furcht handeln, tun sie eigentlich nicht das, was sie verabscheuen, und nehmen auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit ihres Tuns keine Rücksicht, sondern sorgen nur, dass sie nicht in die Todesoder eine andere Strafe verfallen.«24

Aber ganz von der Hand zu weisen ist Angst als Basis für den persönlichen Glauben auch heute noch nicht. Auch wenn über die Jahrhunderte und Jahrtausende Religion als Erklärungsmodell durch die Naturwissenschaft ersetzt wurde, bleiben grundlegende bedeutende Fragen unbeantwortet. Naturwissenschaft und Philosophie stoßen bei metaphysischen Fragen an ihre Grenzen: Warum gibt es etwas und nicht nichts? Was passiert wirklich nach dem Tod?

So einfach ist es also nicht. Die Furcht vor der Ungewissheit über das persönliche Schicksal wird wissenschaftlich wohl nicht in den Griff zu bekommen sein, die Angst vor dem Tod wird viele von uns begleiten. Die Wissenschaft bietet hier wenig Perspektive, Religionen mit ihren Einbildungen über eine Form des Nachlebens schon.

Funktionen der Religion

Sich eine präzise Definition von Religion zu erwarten, würde den vielen Ausprägungen dessen, was als Religion bezeichnet wird, nicht gerecht werden. Der Begriff ist ein Aggregat verschiedener Merkmale wie persönlicher Glaube, Orientierung oder Gemeinschaft, von denen, außer dem Glauben an übernatürliche, transzendentale Kräfte, praktisch keines zwingend vorliegen muss. Was bar jeder Definitionsversuche möglich ist, ist, sich dem Leistungsumfang der Religionen über ihre funktionalen Ausprägungen in der Gegenwart zu nähern.

Als die Welt am 22. Oktober 4004 vor Christus um circa 18 Uhr geschaffen wurde – sofern man den im 17. Jahrhundert angestellten Berechnungen des irischen Erzbischofs Ussher glauben will –, gab es noch keine Ordnung gesellschaftlicher Disziplinen in Politik, Ethik und Weltanschauung. Religion deckte als Amalgamat einfach alles ab, ohne eine praktische Unterscheidung zwischen Natürlichkeit und Übernatürlichkeit in der Beschreibung der Wirklichkeit zu vollziehen.

Bis ins dritte Jahrtausend hat sich im Begriff dessen, was Religion ist, einiges verschoben. Der US-amerikanische Philosoph Daniel Dennett nennt drei beliebte raisons d’être der Religion25: Trost, Erklärung und Kooperation. Gemeint ist damit der Trost für Leiden aller Art und die Abmilderung der Angst vor dem Tod, eine Erklärung für Dinge, die wir sonst nicht erklären können, und die Motivation zur Zusammenarbeit, um die Widrigkeiten der Natur und insbesondere auch feindseliger Mitmenschen und Gruppen leichter zu bewältigen.

Die Dimensionen derartiger Kategorisierungen sind arbiträr. Ich habe die Wirkungsdimensionen von Religion danach organisiert, welche Frage sie auf der Zeitachse des Lebens beantworten26: Religionen erklären mit ihren Schöpfungsmythen, wie die Welt entstanden ist und welche Gesetzmäßigkeiten in ihr wirken. Religionen erklären den Menschen mit unerschütterlichen Geboten und Verboten, wie sie sich in dieser Welt und zueinander verhalten sollen. Und für den Tod und danach bieten Religionen unzählige Jenseitsvorstellungen, von der Wiedergeburt bis zu ewigen Höllenqualen. Es gibt keine religiöse Weltanschauung, die sich diesen Fragen nicht widmet. Die Option auf ein Nachleben und das Fehlen einer Perspektive, in der das Leben mit dem Tod endgültig vorbei ist, ist eine religiöse Conditio sine qua non. Das persönliche Ende über den Tod hinaus zu überwinden ist das stärkste zwingende Merkmal von Religion überhaupt, mehr noch als das Vorhandensein eines oder mehrerer Götter.

Religion war lange die umfassende Antwort auf alles. Das hat sich im Zuge der Aufklärung grundlegend verändert. Die Aufgabe, zu erklären, wie die Welt funktioniert, wurde von den Naturwissenschaften übernommen. Sie liefern nicht nur logischere und nachvollziehbarere Erklärungen für natürliche Phänomene, sondern vor allem auch sicherere Prognosen. Zu beten, dass ein Haufen Metall fliegt, wenn man ihn schnell genug beschleunigt, hat keine praktische Wirkung. Raketen und Flugzeuge fliegen dank modernem Ingenieurshandwerk und dem Verständnis natürlicher Phänomene wie Auftrieb und Rückstoß auch ganz ohne göttliche Feinstoffzufuhr. Und ein göttlicher Segen ist auch keine wirksame Versicherung vor Abstürzen, die ebenso ganz natürliche Ursachen haben. Die Religion wurde und wird immer mehr aus dem praktischen Leben verdrängt. Religiöse Regeln, Gebote und Verbote im Zusammenleben müssen in modernen Gesellschaften verstärkt einer Ethik Platz machen, die Menschen zivilisiert und politisch untereinander aushandeln. Die Konflikte entladen sich dann nicht selten an den Rändern der Vernunft, an denen religiöse moralische Vorgaben auf praktische zwischenmenschliche Realitäten treffen.

Die funktionale Anwendung der Religion wird zudem immer mehr an die Wirkdimensionen der Enden des Lebens verlagert. Doch auch die Fragen nach dem Woher und Wohin beziehen sich auf natürliche Phänomene, auf die Entstehung des Universums, der Welt sowie des Lebens an einem Ende und des persönlichen Todes am anderen Ende. Sie sind damit theoretisch erklärbar und überprüfbar, auch wenn wir (noch) nicht wissen, wie. Religion, die sich punkto Naturwissenschaft nicht völlig der Lächerlichkeit preisgeben will, zieht sich hier immer mehr auf Umstände zurück, die sich dieser Überprüfbarkeit weitgehend entziehen. Das heißt, Religionen reduzieren sich in ihren Erklärungsmodellen der Natur heute oft auf den Zustand im Urknall und nach dem Tod, in dem die Empirie noch an ihre natürlichen Grenzen stößt. Naturwissenschaftliche Phänomene im gegenwärtigen Diesseits sind in den religiösen Erklärungsmustern praktisch gänzlich ausgespart, im Widerspruch werden sie mit Wundern und Textsymbolik wegerklärt. Für das Hier und Jetzt beschränken sich die Religionen darauf, Handlungsdirektiven, die das Zusammenleben regeln, als unverrückbare Moralvorschriften zu definieren. Götter geben auch keine Anleitungen, wie Gesetzgebung flexibel und der Zeit gemäß vonstattenzugehen hat; sie machen die Gesetze kurzerhand selbst und schicken sie in Form von Steintafeln, goldenen Platten oder schlichten Visionen auf die Erde. Propheten dolmetschen als Medien diesen göttlichen Informationsfluss, aber es bedarf weiterer Interpreten für den laufenden Betrieb der religiösen Abwicklungsorganisation. Diese Personen nehmen eine besondere gesellschaftliche Position ein. Wir sprechen vom Klerus, den Geistlichen mit all ihren klingenden Bezeichnungen wie Priester, Rabbi, Imam, Schamane, Guru, Druide et cetera pp.

Die göttlichen Handlungsanleitungen für das menschliche Zusammenleben wurden naturgemäß von Menschen selbst erfunden und werden von diesen interpretiert, geändert und kontrolliert, um damit die Gesellschaft zu lenken. Unmittelbar oder mittelbar über die Politik.