image

Thomas Stollenwerk

Schwarzweißbuch Milch

Die Neuerfindung eines Naturprodukts – zwischen Mythos und Wahrheit

image

image die aktuelle Buchreihe für neue nachhaltige Wege

Die großen Herausforderungen – Klimawandel, Migrationsbewegungen, eine wachsende Weltbevölkerung bei endlichen Ressourcen – sind allen bekannt. Doch wie wir ihnen begegnen können, wollen und sollen, das bleibt umstritten. Die Reihe »Leben auf Sicht« ist der Missing Link zwischen Fachwelt und wachem Geist. Engagierte Vordenkerinnen und Geistesakrobaten, aber auch Aktivistinnen und Anpacker stellen Fragen, zeigen mögliche Antworten und liefern Ansätze für ein besseres Leben. Federführend für die Reihe ist Thomas Weber, der als Herausgeber von »Biorama« als Spezialist für neue nachhaltige Wege gilt.

fb.com/LebenaufSicht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2019 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: sensomatic
Grafische Gestaltung / Satz: Lanz, Wien
Schrift: Brandon Grotesque, Skolar
Lektorat: Josef Weilguni

ISBN ePub:
978 3 7017 4597 5

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 4597 5

Inhalt

01 Milchgeschichte

02 Milchmarkt

03 Milchpolitik

04 Milchmaschinen

05 Milchorte

06 Milchtiere

07 Milchgesundheit

08 Milchimage

09 Milchumwelt

10 Milchalternativen

01 Milchgeschichte

Über laktoseintolerante Jäger und Sammler

Irgendwann Mitte der 1970er Jahre arbeitete der junge Archäologe Peter Bogucki an einer Ausgrabung in Zentralpolen. Dort stießen er und seine Kollegen auf Tonkrüge, deren Entstehen sie auf einen Zeitraum vor zirka sieben Jahrtausenden datierten. Die Menschen, in deren Haushalt die Gefäße damals verwendet worden waren, mussten zu den ersten sesshaften Bauern der Region gehört haben. Manche der Tongefäße waren von kleinen Löchern übersät, so als hätte man sie vor dem Brennen im Feuer mit Ästen oder Strohhalmen durchlöchert. Darauf konnte sich Bogucki keinen Reim machen. Der Archäologe, der heute an der Princeton University lehrt, stöberte in der Fachliteratur nach vergleichbaren Funden und stieß schließlich auf ganz ähnliche Objekte. Allerdings waren die nicht Jahrtausende alt, sondern teilweise sogar neuzeitlichen Ursprungs. Verwendung fanden sie beim Abseihen von frischem Käse. Bogucki entwickelte die These, dass auch die Tonscherben aus der polnischen Ausgrabung die Reste einer steinzeitlichen Käsemanufaktur sein könnten. Im Jahr 2011, fast vierzig Jahre nachdem sie aus polnischer Erde geborgen worden waren, widmete sich die Geochemikerin Mélanie Roffet-Salque an der Universität im südenglischen Bristol den Objekten aus der Ausgrabung. Und tatsächlich: Sie fand auf den Tonfragmenten Rückstände von Milchfetten. Das stützte Boguckis These. Die Gefäße dürften als Käsesiebe verwendet worden sein, um feste und flüssige Milchbestandteile voneinander zu trennen. Das macht die polnischen Fundstücke zu einem spektakulären Fund. Sie sind der älteste jemals gefundene Beleg für die Herstellung von Käse weltweit.1

Der moderne Mensch blickt bekanntlich zurück auf eine Ahnengeschichte von Jägern und Sammlern. Beeren, Nüsse, Früchte und Insekten sammeln, gelegentlich Tiere erlegen – das garantierte unseren Vorfahren das Überleben. Und ihre Nahrung wurde dadurch fast automatisch ausgewogen und saisonal. Erst als Menschen sesshaft wurden und dort blieben, wo Weizengräser und andere Pflanzen gediehen, von denen man sich mehr oder weniger bequem ernähren konnte, endete die lange Geschichte des reinen Jagens und Sammelns. Heute gilt dieser Schritt in der Entwicklungsgeschichte des modernen Menschen als Grundbedingung für das Entstehen von Gesellschaften und von dem, was man als Hochkultur bezeichnet. Für die Ernährung der frühen Agrargesellschaften war die Sesshaftigkeit dabei gar nicht unbedingt nur der gewaltige Fortschritt, als der sie im Rückblick erscheinen mag. Denn die bäuerliche Ernährung war viel weniger ausgewogen, weniger vielseitig und weniger krisenbeständig als die Ernährung der Jäger und Sammler. Milch spielte für die frühen Bauern in vielen Regionen eine große Rolle. Denn anders als für umherziehende Jäger und Sammler, die ihren Nahrungsquellen folgten, standen die Nahrungsquellen sesshafter Bauern schlicht auf Feld und Weide. Wie praktisch und bequem. Diese neu gewonnene agrarische Bequemlichkeit der Pioniergenerationen menschlicher Sesshaftigkeit führt heute zu der Frage, ob es überhaupt wirklich die Menschen waren, die Pflanzen und Tiere domestizierten, oder ob es nicht eher Pflanzen und Tiere waren, die den Menschen domestizierten, indem sie ihn abhängig machten. Eine schwer lösbare Frage. Was jedoch als gesichert gilt: Mit der landwirtschaftlichen Revolution vor ungefähr 20 000 bis 12 000 Jahren, übrigens noch während der letzten Eiszeit, begannen Menschen im Vorderen Orient nach und nach die Kontrolle über die Quellen ihrer Nahrungsmittel zu gewinnen. Durch Anbau und Pflege von Pflanzen, durch Kultivierung von Böden und durch die Zucht von Haustieren, die Fleisch, Dünger für die Felder und Milch lieferten. Das waren vor allem Schafe und Ziegen sowie der eurasische Auerochse, der in seiner domestizierten Form zum Hausrind wurde. Für jenen Wandel von der wildbeuterischen zur sesshaften und bäuerlichen Lebensweise prägte Vere Gordon Childe, ein britischer Theoretiker der marxistischen Archäologie, im Jahr 1936 einen Begriff, der sich rasch durchsetzte. Neolithische Revolution nannte er den Wandel, der auch den Beginn jener Zeit markiert, die heute als Neolithikum oder als Jungsteinzeit bezeichnet wird.2

Es war allerdings alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass sich Milch auf dem Speiseplan der frühen Bäuerinnen und Bauern der Jungsteinzeit fand. Schließlich ist die Milch von Tieren zunächst einmal die Muttermilch für deren Nachkommen, nicht für beliebige Tiere, zum Beispiel den Menschen. Noch als die letzte Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren endete, war Milch für erwachsene Menschen Gift. Denn ihr ausgewachsener Körper war nicht zur Bildung von Laktase fähig. Das Enzym ist zur Aufspaltung des Milchzuckers Laktose nötig. Ein Organismus, der Milchzucker nicht aufspalten kann, kann ihn nicht verdauen. Als erste Homo sapiens am Ende des letzten Glazials von der wildbeuterischen Lebensweise zu Ackerbau und Viehzucht übergingen, lernten sie, den Laktosegehalt von Milch zu verringern. Durch die Fermentation von Milch zu Käse und Joghurt wurde Milch für sie bekömmlich. Das stellte einen gewaltigen Fortschritt dar, der die Liste an Lebensmitteln, die den sesshaft gewordenen Menschen zur Verfügung standen, deutlich verlängerte. Ein paar Jahrtausende später sorgte ein glücklicher Zufall dafür, dass Milch für die Ernährung von Menschen eine noch einmal gesteigerte Rolle einnehmen konnte. Diese Rolle hat sie in manchen Teilen der Welt bis heute nicht verloren. Bei dem glücklichen Zufall handelte es sich um eine Genmutation. Sie sorgte dafür, dass Menschen auch frische und unverarbeitete Milch zu sich nehmen und verdauen konnten, und zwar nicht nur im Kindes-, sondern bis ins hohe Alter.

Diese Milchverträglichkeits-Mutation trat nach heutigem Stand der Forschung zuerst südlich des Plattensees auf, auf der nördlichen Balkanhalbinsel. Anhand des sogenannten MCM6-Gens, das für Milchverträglichkeit sorgt, und des Allels T-13910 lässt sich von Anthropologinnen und Anthropologen mittels genetischer Analysen bis heute nachvollziehen, wie sich die Milchverträglichkeit auf dem Globus ausbreitete.3 Bis heute ist das »Milchverträglichkeitsgen« auf der Erde alles andere als gleichmäßig verteilt. Dass Menschen in den nördlichen Gebieten der Nordhalbkugel häufiger in der Lage sind, Milch als Nahrungsquelle zu nutzen, hängt damit zusammen, dass die vor etwa 7000 Jahren durch besagte Genmutation entwickelte Laktosepersistenz in gemäßigten bis kalten Klimazonen ein sehr vorteilhaftes Selektionsmerkmal im Prozess der menschlichen Evolution darstellte. Als die Mutation erst einmal geschehen war, besiedelten die Menschen, die problemlos Milch verdauen konnten, sehr rasch ganz Nordeuropa. Denn der Umstand, dass frische Milch nun als Nahrungsquelle zur Verfügung stand, sicherte menschlichen Gemeinschaften das Überleben auch dann, wenn eine Ernte mager ausfiel. Schon vor einem Jahrtausend, im europäischen Mittelalter, konnten Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer Frischmilchprodukte dank der genetisch bedingten Laktosepersistenz ähnlich gut verdauen wie die meisten Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer von heute. Das zeigen Untersuchungen an Knochenfunden, die eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus der Schweiz und den USA durchgeführt haben.4

Auch heute ist Milch nicht für alle Menschen gleichermaßen verträglich. Ganz im Gegenteil. Nur 35 Prozent der Weltbevölkerung können Milch über das siebte oder achte Lebensjahr hinaus problemlos verdauen. Beim größten Teil der Weltbevölkerung sorgt unverarbeitete Milch für Durchfall und andere eher unangenehme Beschwerden. Im internationalen Vergleich nimmt die Milchverträglichkeit gen Süden ab. Das bedeutet zum Beispiel, dass jenes Gen, das Milch für Menschen verträglich macht, in Skandinavien sehr viel häufiger auftritt als im südlichen Afrika oder in Asien. Mit anderen Worten: Auch heute noch vertragen die Menschen in jenen Regionen, in denen vor Jahrtausenden die Viehzucht begann, Milch besser als dort, wo sie erst später eine Rolle spielte. In Skandinavien etwa sind rund 80 Prozent der Erwachsenen in der Lage, Milch problemlos zu verdauen. In Teilen Asiens und Afrikas ist teilweise nur ein Prozent der Bevölkerung dazu fähig. Ein großer Teil der Weltbevölkerung verfügt genetisch bedingt nach wie vor nicht über die Möglichkeit, Laktose durch Laktase aufzuspalten und abzubauen. Damit sind sehr viel mehr Menschen laktoseintolerant, als es die paar laktosefreien Spezialprodukte im Milch-Kühlregal europäischer Supermärkte glauben machen. Dort, wo ein Mangel an pflanzlicher Nahrung heute keine bedrohliche Rolle mehr spielt, ist Laktosetoleranz nur noch dann ein Vorteil, wenn keine Milchersatzprodukte angeboten werden. Wo man seinen Cappuccino auch mit Sojamilch bekommt, haben laktosetolerante Milchkaffeetrinker gegenüber ihren laktoseintoleranten Artgenossen keinen Vorteil mehr.5

Es ist kein Wunder, dass Milchprodukte in asiatischen Küchen im Vergleich zu europäischen Speiseplänen eine eher marginale Rolle spielen. Dort ist Milchverträglichkeit schließlich kaum verbreitet. Und selbst innerhalb Europas lässt sich beobachten, dass Milch nicht überall gleichermaßen wichtig für regionale Speisen und Gerichte ist. Die griechische Küche oder auch die süditalienische Küche kommen weitgehend ohne Milch aus, sieht man von einigen Käsespezialitäten ab. Das liegt nicht unbedingt nur daran, dass die Menschen in mediterranen Regionen Milch nicht sonderlich gut vertragen, sondern natürlich auch daran, dass Milchviehhaltung, insbesondere die Haltung von Milchkühen, in diesen Regionen aus klimatischen Gründen schlechtere Voraussetzungen hatte als an weiter nördlich gelegenen Orten. In Regionen, in denen die Schaf- oder Ziegenhaltung aufgrund der Vegetation stärker verbreitet ist als die Kuhhaltung, fällt auch weniger Milch an. Und so spielen Milchprodukte in diesen Regionen fast automatisch eine weniger zentrale Rolle auf dem Speiseplan.

Erst als die Milch für große Gruppen von erwachsenen Menschen verträglich geworden war, machte es Sinn, Vieh auch zum Zweck der Milchproduktion zu halten. Das galt insbesondere in nördlichen Gefilden, wo es nicht das ganze Jahr über pflanzliche Nahrung in ausreichendem Maße gab. Tiere ließen sich schließlich fast das ganze Jahr über melken. Und Fleisch brachten sie am Ende ihres Lebens obendrein. Es ist stark anzunehmen, dass sich Milchbauern schon sehr früh nur ungern damit zufriedengaben, nur dann Milch zu sich nehmen zu können, wenn ihre Tiere gerade Kälber, Zicklein oder Lämmer zur Welt gebracht hatten, und das auch nur so lange, wie die Jungtiere gesäugt wurden. Methoden, um den Milchfluss der Nutztiere möglichst lange aufrechtzuerhalten, um möglichst viel Milch für die Ernährung der menschlichen Sippe nutzen zu können, dürften sich entsprechend schnell entwickelt haben. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari nennt sie »Methoden zur Unterjochung der Tiere«. Eine Art dieser Unterjochung besteht darin, die neugeborenen Tiere kurze Zeit nach ihrer Geburt von den Muttertieren zu entfernen oder sie zu schlachten und die Mutter dann so lange wie möglich zu melken, bevor sie erneut geschwängert wird. So wird es in der Milchwirtschaft bis heute gemacht. Im Laufe der langen Geschichte der Milchviehhaltung wurden auch andere, kreative und mitunter grausame Methoden entwickelt, um Menschen den Zugriff auf die Muttermilch von Kühen und anderem Milchvieh zu sichern. Der Kultur- und Sozialanthropologe Edward Evans-Pritchard berichtete in den 1930er Jahren nach Reisen zur nilotischen Volksgruppe der Nuer im Sudan, dass dort eine Praxis zur Stimulation des Milchflusses angewandt worden sei, bei der Kuhhirten die Kälber töteten. Das Fleisch sei gegessen und das Fell des Kalbes ausgestopft worden, um es schließlich der Mutterkuh zu zeigen, mit dem Ziel, bei ihr die Milchproduktion weiter anzuregen. Um der Mutter noch glaubhafter vorzugaukeln, ihr Kalb müsse gesäugt werden, sei das ausgestopfte Fell zusätzlich mit dem Urin der Mutter eingerieben worden, damit es vertraut rieche. Nicht nur Kühe sind von so martialischen Methoden betroffen. Aus der Kamelzucht ist eine Methode bekannt, bei der Jungtieren die Lippen verstümmelt werden, damit sie beim Säugen Schmerzen empfinden und nur wenig Milch trinken, sodass mehr für die Menschen übrig bleibt.6 Es zeigt sich: Mit purem Agraridyll hat die Geschichte der Milchnutzung eher weniger zu tun, als viele Menschen heute wahrhaben möchten. Denn schon seit der Agrarrevolution am Beginn des Neolithikums hatte die Nutztier-Haltung reihenweise Verlierer. »Aus Sicht der Herde kommt man fast unweigerlich zu dem Schluss, dass die landwirtschaftliche Revolution für die überwiegende Mehrheit der Tiere eine schreckliche Katastrophe bedeutete«, schreibt Yuval Noah Harari, und schließt eine provokante Frage an: »Wenn Sie die Wahl hätten, als seltenes Nashorn zu leben, dessen Art vom Aussterben bedroht ist, oder als Kalb, das sein kurzes Leben in einer winzigen Kiste verbringt und gemästet wird, um zu saftigen Filets verarbeitet zu werden – wofür würden Sie sich entscheiden? Die Tatsache, dass das Nashorn das letzte seiner Art ist, ändert nichts an seiner Zufriedenheit.«7 Die Unterjochung und Ausbeutung von Nutztieren in der Milchproduktion hat eine jahrtausendealte Geschichte, die auf der Beherrschung der Tiere durch den Menschen beruht und die Ausbeutung tierischer Rohstoffe, nämlich der Muttermilch, des Fells, des Fleischs, der Klauen und Hörner, zum Ziel hat.

Dieses ausbeuterische Machtverhältnis der frühen Milchviehhaltung trug also dazu bei, die Versorgung der Menschen mit nahrhaften Lebensmitteln auf eine ausreichende und sichere Basis zu stellen, und das besonders dort, wo pflanzliche Lebensmittel aus klimatischen Gründen während der Wintermonate nur in geringem Umfang verfügbar waren. Die Kultur der Milchviehhaltung war recht erfolgreich und breitete sich dementsprechend schnell aus. Und sie trug als Bedingung wohl auch ihren Teil zum Entstehen von Hochkulturen bei. Die Bedeutung, die Milch dabei hatte, ging an diesen Kulturen nicht spurlos vorüber. Rund um den Globus finden sich antike Hinweise auf die besondere Wertschätzung, die Milch schon vor Jahrtausenden genoss. Und das nicht nur im hohen Norden, wo selbst Erwachsene sich die Muttermilch einverleiben konnten, sondern auch dort, wo die dazu nötige genetische Disposition weniger verbreitet war.

Durch Milch zur Hochkultur?

Für lange Zeit, nämlich über 30 Jahrhunderte lang, stellte Ägypten ein kulturelles Zentrum der Welt dar: Zirka vom vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bis zum Beginn der griechischrömischen Zeit, des in der Region am südöstlichen Rand des Mittelmeers mit der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen im Jahr 332 v. Chr. angesetzt wird. Der in Regensburg lehrende Kultur- und Sozialanthropologe Gunther Hirschfelder sieht in der Bedeutung der Milch für die Ägypter einen der Gründe für den Erfolg und das lange Überdauern der ägyptischen Kultur. Auf die Frage, weshalb Ägypten für so lange Zeit die wirtschaftlich, politisch und militärisch beherrschende Kraft der damals bekannten Welt bleiben konnte, hat er eine Antwort, wie sie sich neuzeitliche Milch-Vermarkter nicht besser wünschen könnten: »Mit einem Augenzwinkern könnte man sagen: Wegen der Milch. Die Kuh war das am intensivsten verehrte Tier. Die größten Göttinnen – Hathor, Nu und Isis – wurden als Kuh dargestellt. Und sogar den Himmel stellte man sich als Kuh vor – die Himmelskuh als kosmische Ur-mutter. Die Kuh war nicht nur die große Mutter der Lebenden, sondern auch der Toten. Der Tote hoffte, aus ihrem Leib neu geboren zu werden, und versprach sich ihren Schutz. Auch im ägyptischen Jenseits waren die Kühe dem Toten freundlich gesonnen. Sie spendeten ihm Nahrung, genauso wie im irdischen Leben. Auch halfen sie dem Toten beim Aufstieg in den Himmel.«8

Isis, als Göttin zuständig für Geburt, Tod und Wiedergeburt und die wohl am stärksten verehrte Göttin der alten Ägypter, wurde meist nicht nur mit Kuhhörnern, sondern auch ein neugeborenes Kind stillend dargestellt. Als Erlösungssymbol spielte Milch eine große Rolle an religiösen Feiertagen. Milchgefäße umgaben das Grab von Osiris, dem ebenfalls göttlichen Ehemann von Isis, auf der Insel Philae, so die Überlieferung. Priester versammelten sich dort, nicht nur um zu singen und zu beten, sondern auch, um für jeden Tag des Jahres eine Opferschale mit Milch zu füllen. Für die gewöhnlichen Ägypterinnen und Ägypter war der Besuch dieser Stätte auf einer Insel im Nil, unweit der oberägyptischen Stadt Assuan, eine heilige Pilgerreise, die ein Leben lang für Erleuchtung sorgen sollte. Die griechischen und römischen Eroberer und Besatzer Ägyptens konnten der »milchigen« Verehrung Isis’ und ihres Göttergatten Osiris ganz offenbar einiges abgewinnen. Herodot berichtet im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, dass die Griechen Feste und Prozessionen von den Ägyptern übernahmen und den Pfad der Milch-Rituale über Raum und Zeit hinweg fortsetzten, sogar bis auf die andere Seite des Mittelmeers. Ein Bericht über eine Milch-Zeremonie erscheint in Apuleius’ »Metamorphosen«, auch bekannt als Geschichte vom goldenen Esel. Die für Historiker bis heute aufschlussreiche Quelle enthält eine sehr detailreiche Beschreibung von kunstvoll gekleideten Menschen, Priestern und Tieren aus dem zweiten Jahrhundert. Darin wird eine lange Prozession in der griechischen Stadt Kenchreai beschrieben, in deren Verlauf Priester des Isis-Kults als Teil der Rituale Milch aus einem goldenen Krug verschütten. Noch bis ins fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung hielt sich der Isis-Kult. Auch im Römischen Reich war er unter verschiedenen Kaisern geduldet. Die gehörnte Göttin Isis, deren göttliche Milch den Pharaonen Leben spendet, überdauerte damit das Reich der Ägypter um mehrere Jahrhunderte und wurde noch bis in christliche Zeiten hinein verehrt.9

Auch andere Kulturkreise blicken auf eine lange Geschichte mythischer Milchverehrung zurück. Eine besonders spektakuläre Rolle nimmt Milch zum Beispiel in der hinduistischen Mythologie ein. In den traditionellen Mythen der mit rund einer Milliarde Anhängerinnen und Anhängern drittgrößten Weltreligion kommt gleich ein ganzer Ozean aus Milch als Urmeer vor. Im Kern des hinduistischen Schöpfungsmythos geht es um das Aufschäumen jenes Milchozeans.10 Die Kurzform: Sowohl die Götter, Devas, als auch die Dämonen, Asuras, begeben sich auf die Suche nach dem Unsterblichkeitstrank Amrita. Der kostbare Trank soll ihnen dabei helfen, die ständigen Verluste durch untereinander ausgefochtene Kämpfe endlich zu reduzieren. Nur liegt dieser Trank für alle unerreichbar inmitten des Milchozeans verborgen. Erst als die Götter und Dämonen auf einen Rat Vishnus hin den Milchozean gemeinsam zum Quirlen bringen und ihn in feste Butter verwandeln, kommen sie dem Trank Amrita näher. Allerdings nimmt das Quirlen tausend Götterjahre in Anspruch, und während dieser Zeit tun sich einige Hindernisse auf. Zunächst einmal musste ein Quirl her, so die Geschichte. Dazu wickeln die Götter und Dämonen die Schlange Vasuki um den Berg Meru. Durch abwechselndes Ziehen an Schwanz und Kopf der Schlange sollte der Milchozean in Bewegung versetzt und schließlich zu Butter geschlagen werden. Dem Mythos nach funktioniert das allerdings nicht, und der Berg Meru droht im Milchozean zu versinken. Erst als Vishnu die Form einer gigantisch großen Schildkröte annimmt, unter den Berg kriecht und ihn von unten stützt, beginnen die göttlichen und dämonischen Bemühungen Früchte zu tragen. Mit dem Quirl aus Berg und Schlange wird so lange gerührt, bis ein Gift aus den Tiefen des Milchozeans hervorsteigt. Der Gott Shiva trinkt das Halahala genannte Gift aus, was dazu führt, dass sein Hals eine blaue Farbe annimmt. Das weitere Quirlen fördert immer mehr mythische Persönlichkeiten und Schätze zutage. Der Mond Chandra, der fortan Shivas Stirn ziert, kommt im Milchozean zum Vorschein, genau wie der siebenköpfige, fliegende König der Pferde Uchchaihshravas, ein Schimmel, auf dem fortan je nach Quelle entweder der Dämonenkönig Bali oder Sonnengott Surya reitet. Das von Vishnu getragene Juwel Kaushtuba, die heilige Kuh Kamadhenu, die Wünsche erfüllen kann, und der Baum Kalpavrjsha, der auch Wünsche erfüllt, kommen ebenfalls aus dem Milchozean. Die Göttin Lakshmi entsteigt ihm auf einer Lotusblüte sitzend. Vishnu heiratet Lakshmi und die versammelten Götter und Dämonen quirlen weiter. Als Varuni, die Göttin des Weines, dem Ozean entsteigt, ist schnell klar: Die Dämonen behalten sie für sich. Irgendwann entsteigt schließlich ein junger Mann dem Milchozean. Er ist dem Mythos nach über und über mit Juwelen geschmückt und trägt eine Kette aus Blüten um den Hals. Dhanvantari lautet sein Name, seines Zeichens göttlicher Arzt und Quelle aller Heilkünste. Er ist es schließlich auch, der in einem Krug dabeihat, was alle Quirlenden wollen: Amrita, das Getränk der Unsterblichkeit. Götter und Dämonen haben zwar vereinbart, sich den lange ersehnten Drink zu teilen, doch als sie ihn erst einmal vor sich haben, vergessen sie ihre Abmachung und streiten weiter. Vishnu beendet den Streit, indem er Mohini, eine begehrenswerte Frau, herbeiholt, die Amrita fair unter allen verteilen soll. Sie sorgt allerdings dafür, dass nur die Götter von dem kostbaren Elixier trinken können. Lediglich der Dämon Rahu, der Verdacht schöpft und sich vorsorglich unter die Götter mischt, als Amrita ausgeschenkt wird, bekommt einen Schluck ab. Mond und Sonne verraten den Dämon, und Vishnu schlägt ihm kurzerhand den Kopf ab, noch bevor der Unsterblichkeitstrunk die Magengegend erreicht. Das hat zur Folge, dass nur der Rahu’sche Kopf unsterblich wird und fortan versucht, Mond und Sonne zu verschlucken – die hinduistische Erklärung für Mond- und Sonnenfinsternisse.

Nicht nur der hinduistische Mythos vom Quirlen des Milchozeans schafft eine – wenn auch nicht ganz unmittelbare – Verbindung zwischen Milch und Astronomie. Die offensichtlichste Verbindung besteht im Namen der Galaxie, in der wir mit unserem kleinen Planeten zu Hause sind. Wir nennen sie schließlich Milchstraße. Die Galaxie besteht aus 100 bis 300 Milliarden Sternen, die in Form einer flachen Scheibe angeordnet sind. Am Nachthimmel erscheint diese flache Scheibe von der Erde aus betrachtet als heller, schmaler Streifen, wie ein milchiger Strich mit dem Pinsel auf einer dunklen Leinwand. Den meisten Menschen fällt das heute kaum auf, denn durch die zunehmende Lichtverschmutzung ist die Milchstraße längst nicht mehr so deutlich zu erkennen wie in eher schwach beleuchteten Epochen. In früheren Zeiten war das nächtliche Betrachten der Milchstraße eine Alltagserfahrung für Menschen, die sich deshalb kreative Geschichten zur Erklärung dessen einfallen ließen, was sie da am Himmel zu sehen bekamen. Im antiken Griechenland entstand eine Sage zur Entstehung der Milchstraße, die bis heute die bekannteste unter den mythologischen Erklärungen ist. Danach soll der oberste olympische Gott Zeus seinen Sohn Herakles an der Brust seiner göttlichen Frau Hera trinken lassen haben, während sie schlief. Nur war Herakles nicht aus der göttlichen Beziehung Zeus’ mit Hera hervorgegangen, sondern das Kind von Zeus und dessen sterblicher Frau Alkmene. Zeus wollte seinem Sohn auf diesem Weg zu göttlichen Kräften verhelfen. Doch Hera bemerkte es, dass Herakles an ihrer Brust saugte, und stieß ihn zurück. Dabei spritzte der Milchstrahl aus ihrer Göttinnenbrust über den Nachthimmel und verblieb dort als Milchstraße. So die Sage. Die weniger fantastische und eher nüchterne These, dass es sich bei der Milchstraße am Firmament um eine Ansammlung von Sternen handeln dürfte, vertraten die vorsokratischen Philosophen Anaxagoras und Demokrit wohl schon 400 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung. Erst Galileo Galilei erkannte etwa 2000 Jahre später, nämlich im Jahr 1609, beim wiederholten Blick durch sein Fernrohr in den Nachthimmel wieder, worum es sich bei der milchigen Erscheinung handelte: »Nihil aliud quam innumerarum Stellarum coacervatim consitarum congeries.« Um nichts anderes als eine Anhäufung zahlloser Sterne. Das altgriechische Wort »galaxias«, das man der Milchstraße schon lange vor Galileos astronomischen Erkenntnissen gab, leitet sich vom Wort »gala« ab. Und das bedeutet Milch.

»Solange Menschen den Himmel betrachtet haben, staunten sie fragend vor dem breiten, mild leuchtenden Bande, das im Kreise den ganzen Himmel wie ein ungeheurer Bogen umschloß«, schwärmte der deutsche Homer-Übersetzer Thassilo von Scheffer 1939. »Alle anderen Himmelskreise, die die Legende und die Wissenschaft erwähnen, sind nur gedacht, hier aber stand ein riesiges Phänomen allnächtlich als umschließender Ring deutlich da und bot so einer Fülle von Deutungen und Sagen ein stets bereites Feld. Ist doch die Erklärung der Milchstraße trotz einiger bestechender astronomischer Ansichten auch heute noch problematisch. Um wie viel mehr bemühten sich Religionen, Philosophen und Dichter früherer Zeiten, den Menschen zu sagen, was es mit diesem milchigen Bande am Firmament auf sich habe. Denn der Vergleich mit Milch ist uralt, und so erzählt uns der hellenische Mythos manche Legende von einer Muttergöttin und ihrem Lebenssaft.«11

Die Sage von der Entstehung des milchigen Streifens am Nachthimmel ist längst nicht die einzige Sage mit Bezug zu Kühen und Milch in der europäischen Mythologie. Schon das griechische Götterpaar aus dem patriarchalen Stiergott Zeus und der kuhäugigen Hera vereint in sich Hinweise auf die mythologische Stellung des Rinds. Dionysos, der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase, wird von den Nymphen von Nysa mit Milch und Honig aufgepäppelt, zu denen sein Vater Zeus ihn gebracht hat, um ihn vor Hera zu verbergen. Denn wie Herakles ist auch Dionysos zwar Sohn des Zeus, nicht aber das gemeinsame Kind von Zeus und Hera.

Die antiken Römer, die selten ein Problem damit hatten, Sagen und Mythen aus Griechenland, Ägypten und von anderswo in ihre religiösen und kulturellen Vorstellungen zu integrieren, bedienten sich am reichhaltigen Fundus überlieferter Milchmythen. Das Einverleiben fremder Götter in die römische Religion wurde den Römern dermaßen zur Gewohnheit, dass man einen eigenen Fachbegriff dafür ersann. Man bezeichnet die große Integrationsbereitschaft und Integrationsleistung als Interpretatio Romana. Die Sitte, die den verhältnismäßig flexiblen Umgang mit den unterschiedlichsten kultischen Vorstellungen im expansionistischen Rom ermöglichte, machte aus Zeus Jupiter, aus Hera Juno und aus Herakles Herkules. Noch mehr als in der Sagenwelt spielte Milch im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner des antiken römischen Reichs eine Rolle. Kuhmilch war allerdings eher ein Randprodukt, denn Rinder waren vor allem eines: Arbeitstiere. Eher noch als ihre Milch kam ihr Fleisch als Lebensmittel zum Einsatz. Die Produktion von Käse, nicht nur aus Kuhmilch, dürfte dennoch eine Rolle bei der Versorgung der römischen Legionen mit Proviant gespielt haben. Denn in ihrer zu Käse fermentierten Form war Milch haltbar und damit auch besser zum Transport über weite Strecken und längere Zeiträume geeignet.

Als der griechisch-römische Glaube an die Götter des Olymps vom Christentum verdrängt worden war, wurden andere Mythen weitergegeben. Auch in den heiligen Schriften des Judentums und Christentums kommt Milch vereinzelt vor. An einer der bekanntesten Stellen des Alten Testaments, im Zweiten Buch Mose, dem Buch Exodus, wird Milch zur Metapher für Erlösung erhoben. Und zwar an jener Stelle, an der Moses an einem brennenden Dornbusch vorbeikommt und von Gott den Auftrag erhält, das Volk der Israeliten durch die Wüste aus Ägypten herauszuführen. »Er sah, dass der Dornbusch brannte, aber der Dornbusch wurde vom Feuer nicht verzehrt. Moses dachte: ›Ich will hingehen und mir dieses seltsame Schauspiel näher ansehen, warum doch der Dornbusch nicht verbrennt.‹ Als der Herr sah, dass er herantrat, um nachzuschauen, rief ihm Gott aus dem Dornbusch heraus zu: ›Moses! Moses!‹ Er antwortete: ›Hier bin ich!‹ Nun gebot er: ›Tritt nicht näher heran! Zieh die Schuhe von den Füßen! Denn der Ort, an dem du stehst, ist heiliger Boden!‹ Und er fuhr fort: ›Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, Isaaks und der Gott Jakobs.‹ Da verhüllte Moses sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. Der Herr aber sprach: ›Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten wohl gesehen und sein Wehklagen über seine Fronvögte vernommen. Ich weiß, wie sehr es leidet. Daher komme ich nun herab, um es aus der Gewalt der Ägypter zu erretten und aus diesem Lande in ein schönes, geräumiges Land zu führen, in ein Land, das von Milch und Honig überströmt. So geh nun! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten!‹« So hat der Auszug des Moses und der Israeliten aus Ägypten mit dem Land, in dem Milch und Honig fließen, ein nahrhaftes Ziel. Auch im Neuen Testament taucht Milch hie und da auf.

Ein christliches Motiv, an dem die mythische Verehrung von Milch besonders deutlich wird, ist das Motiv der Maria lactans, der stillenden Maria, in der theologischen und kunsthistorischen Literatur auch unter den leicht sperrigen Begriffen Galaktotrophousa oder Mlekokapitelniza bekannt. Die stillende Gottesmutter steht religionsgeschichtlich in der Tradition der ägyptischen Göttin Isis, die oft den Knaben Horus stillend dargestellt wurde. Die zur Maria lactans gewandelte, uralte Bildtradition der Isis lactans weist auf das Thema der weiblichen Fruchtbarkeit und deren mythische bzw. religiöse Verehrung in der Mutterrolle hin. Die Beziehung zwischen Weiblichkeit und Milch ist nicht nur biologisch, sondern auch kulturell und sozial lange Zeit ausgesprochen eng. Die Milch gehörte jahrhundertelang – zumindest für Europäerinnen und Europäer – exklusiv ins Reich der Frauen. Im Jahr 1497 sprach sich die katholische Kirche gar dagegen aus, dass Männer – nämlich die Schweizer Senner – Käse machten. Der Umgang mit Milch sei schließlich weibliches Handwerk. Die Beziehung zwischen Frauen, Kühen und Milch, die von vielen Menschen sehr lange Zeit als etwas Besonderes empfunden wurde, gründet im magischen Weltverständnis des tiefsten Mittelalters, in dem alles beseelt und über verworrene, mythische Pfade miteinander verbunden ist. Zahlreiche Märchen und Legenden aus ganz Europa zeugen von der speziellen Verbindung zwischen Weiblichkeit und Milch, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein in so manchem Volksglauben überdauerte, wie die Autorin Andrea Fink-Keßler ausführlich beschreibt: »Zwischen den Frauen, den Kühen und der Milch sahen die Menschen damals eine enge Beziehung. Merksprüche zeugen davon, wie ›Lässt die Frau die Milch auf dem Feuer überkochen, dann verbrennt sie das Euter der Kühe oder die Kuh bekommt ein böses Euter‹ oder ›Man darf nicht mit einem spitzen Gegenstand in der Milch rühren oder gar hineinstechen, da man so auch die Kuh ins Euter sticht und diese dann rote Milch gibt oder die Milch sauer wird‹. Diese sympathische Beziehung schließt die Frau mit ein. So soll man in Ostpreußen, wenn die Frau im Hause stirbt, ›das Ereignis den Kühen melden, sonst gehen sie im Ertrag zurück oder folgen der Frau bald nach‹.« Bei den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten des Konservierens von Lebensmitteln, also beim Käsen, Buttern, Pökeln, Brauen und Backen, wurden den Frauen besondere Fähigkeiten und Kräfte zugesprochen. »Ihr Körper galt als eng verbunden mit der Erde und vor allem mit dem Mond, der nach damaliger Vorstellung mit seinen auf- und absteigenden Phasen alle Säfte der Pflanzen und das Blut der Frauen bewegte. Er herrschte über das Wetter und daher über die Feuchtigkeit der Erde und auf diese Weise auch über die Fruchtbarkeit der Erde, der Tiere und der Frauen. Diese Verbindung ermöglichte den Frauen wiederum, auf die Kräfte des Universums hin vermittelnd zu wirken. In der Hauswirtschaft trafen nun die miteinander verschränkten Kräfte der Frauen und des Mondes in besonderer Weise zusammen und wirkten auf die gleichen Dinge ein. So konnte ein Gewitter, aber auch eine Frau mit Monatsblutung den Käseprozess stören. Frauen wurden in vielen Regionen für diese Zeit vom Käsen ausgeschlossen.«12 Der spirituelle Zusammenhang zwischen Frau, Kuh und Milch und die religiöse Verehrung der weiblichen Fruchtbarkeit sorgten dafür, dass das Melken der Kühe in vielen Regionen zu einer Art rituellen Handlung stilisiert wurde. Es gab Melksegen, Melksprüche und Melkgesänge. Melkeimer wurden mit Kreuzen verziert.

Im europäischen Mittelalter und später in der Renaissance zeigte sich die große Wertschätzung für Milch nicht nur an ihrer religiösen Verehrung, sondern auch ganz weltlich und ökonomisch daran, wie sie eingesetzt wurde. »Immer satt wurde nur der Adel«, erklärt der Regensburger Professor Gunther Hirschfelder. »Hier zeigt sich der Wert der Milch: Zwar aßen die Ritter Fleisch, aber die teuersten Desserts waren aus Milch, zum Beispiel candito latte.« Der von karamellisiertem Zucker gekrönte Milchpudding änderte nach einem Sprachtransfer über die Alpen auf der nördlichen Seite der Alpen seinen Namen. Marx Rumpolt, Mundkoch des Mainzer Kurfürsten, schrieb 1581 in das von ihm veröffentlichte erste Lehrbuch für Köche überhaupt: »Vnnt die Speiß nennet man in Italia ein Gandelat.«13

Die Beschleunigung der Milchgeschichte

Dafür, dass es in diesem Kapitel über die Milchgeschichte so viel um Religion und die mythische Verehrung von Milch und so wenig um die technischen, sozialen und ökonomischen Aspekte des Umgangs mit Milch in der Geschichte geht, gibt es einen Grund. Das liegt ganz einfach daran, dass die Geschichte der Milchproduktion und -verarbeitung im Grunde schnell erzählt ist, weil jahrtausendelang wenig passiert, dann aber innerhalb einer sehr kurzen Zeit sehr viel. Die Orte, an denen Milch produziert wird, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten wohl stärker verändert als in den Jahrtausenden zuvor. Wer Bilder von Milchbauern beim Melken aus den 1950er Jahren betrachtet, der findet erstaunlich viele Ähnlichkeiten mit aus dem antiken Ägypten überlieferten, über 4000 Jahre alten Darstellungen melkender Bauern. Ein Rind, ein Krug oder Eimer, ein Schemel, ein Bauer oder eine Bäuerin. So sah das Melken jahrtausendelang aus. Antibiotika, Melkroboter, automatische Tränken und all das, was heute in einem modernen Kuhstall zu finden ist – davon hatten Landwirte vor drei oder vier Generationen noch nicht die blasseste Vorstellung. In vielen Ländern sieht Milchviehhaltung im Prinzip bis heute so aus. In einigen Weltgegenden, in denen Kuhmilch zu den Grundnahrungsmitteln gehört, hat sich die Milchwirtschaft sehr lange Zeit in kleinen und langsamen Schritten weiterentwickelt, um erst vor Kurzem einen gigantischen Sprung zu machen. Die Entwicklung der Milchwirtschaft zur Industrie ist ein verblüffend junges Phänomen, nämlich eines des 20. Jahrhunderts.

Winston Churchill, der bekanntlich zu fast allem Zitierbares gesagt haben soll, wird der Satz »There is no finer investment for community than putting milk into babies« zugeschrieben.14 Diese Auffassung teilten im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr Menschen. Auch weil es sich immer mehr Menschen leisten konnten, ihren Milchkonsum zu erhöhen. Ein Land, das die grüne Revolution – also die Einführung der modernen Hochleistungs-Landwirtschaft in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg – ganz besonders vorangetrieben hat, sind die Niederlande, die heute eine der industrialisiertesten und leistungsstärksten Formen der Landwirtschaft in Europa betreiben. Was auf der Seite der bäuerlichen Produktion hinter der schrittweisen Ausweitung der Produktion steckte, hat der niederländische Schriftsteller Geert Mak 1996 anhand der Geschichte des friesischen Dorfes Jorwerd beschrieben. Die Geschichten und Anekdoten aus fünf Jahrzehnten, nämlich aus den Jahren 1945 bis 1995, reichen in »Wie Gott verschwand aus Jorwerd« aus, um jene Zeitspanne greifbar zu machen, in die ein markanter Wandel innerhalb des kleinen Dorfes südwestlich von Leeuwarden fiel. Nämlich jener von der traditionellen, bäuerlichen Landwirtschaft in Richtung einer industrialisierten Agrarproduktion. Anhand der Geschichte Jorwerds wird deutlich, wie sich Europas Landwirtschaft überraschend schnell, in wenigen und kurz aufeinanderfolgenden Schritten auf den Weg in die Agrarrevolution machte. So wie den friesischen Milchbauern erging es europaweit vielen kleinen, bäuerlichen Dorfgemeinschaften. Geert Mak sieht in den bäuerlichen Anekdoten aus Friesland nicht weniger als eine Untergangsgeschichte. Nämlich die Geschichte vom schnellen Untergang des klassischen europäischen Dorfes, wie es jahrhundertelang das ländliche Leben geprägt hatte. Man muss diese negative Deutung der Geschichte vom Verschwinden althergebrachter Produktionsweisen und des klassischen Sozialgefüges Dorf nicht unbedingt teilen. Die Geschichte der Agrarrevolution im 20. Jahrhundert lässt sich schließlich auch als eine Fortschrittsgeschichte erzählen. Wie auch immer man den Wandel interpretiert, die Geschwindigkeit, mit der er vonstattenging, überrascht und beeindruckt.

Im Jahr 1912 ging die erste Melkmaschine in Jorwerd in Betrieb. In den 1920er Jahren verarbeitete keiner der Bauernhöfe im Dorf seine Milch noch selbst zu Butter und Käse. Auf den meisten Höfen allerdings gab es Melkmaschinen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1950er und 1960er Jahren. »Früher herrschte rings um den Stall Hochbetrieb, wenn gemolken wurde. Die Gemütlichkeit auf dem Hof ging innerhalb von ein paar Jahren verloren«, erzählt der Bauer Sake Castelein in Maks Untergangsgeschichte. Und der Bauer Bonne Hijlkema aus dem Nachbarort Funs erzählt von einer anderen technischen Errungenschaft: »Unser erster Traktor wurde 1960 angeschafft, und das machte den größten Unterschied, den man sich nur vorstellen kann. Als ich die erste Zeit mit dem Ding beim Mähen war und etwas haperte, trat ich nicht auf die Kupplung, sondern rief ›Hü!‹, so war ich noch an die Pferde gewöhnt.« Die Jahrzehnte der Technisierung in der Milchwirtschaft in Europa waren ab 1962 für eine Handvoll Staaten auch die ersten Jahre der Gemeinsamen Agrarpolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Die Bauern in Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, Italien und Westdeutschland wurden seitdem Subventionen gestützt und durch Zollschranken geschützt. Sie hatten nur eine Aufgabe: Möglichst viele Lebensmittel für die hungrigen und wachstumslustigen Nachkriegsgesellschaften zu produzieren. Mit Mähmaschinen, Melkmaschinen, Traktoren, neuartiger Stallarchitektur, Entwicklungen in der Tierzucht und der Veterinärmedizin wurde die Milchviehhaltung damals modernisiert. Für viele Bauern fühlte sich dieser Fortschritt als Arbeitserleichterung an. Und so erzählt es auch Bauer Hijlkema, der seinen Traktor als mechanisches Pferd wahrnimmt, bei Geert Mak. »Es wird immer erzählt, wie schön es früher mit all den Pferden war, aber ich versichere dir, es war überhaupt nicht so schön, schon gar nicht für die Pferde. Wenn das Gras sich nicht gut mähen ließ, dann rief man den Pferden den ganzen Tag zu ›Hü, und zurück!‹. Jetzt sitzt man warm und trocken auf seinem Trecker und hat das Radio an; es lebe der Fortschritt!« Für Bauern, die sich eine Melkmaschine anschafften, ganz egal ob in Friesland oder anderswo, bedeutete das meist, am Morgen länger schlafen zu können. Mit der Mechanisierung verschwanden allerdings auch die Landarbeiterinnen und Landarbeiter aus Europas Dörfern. Knechte und Heuerlinge, Mägde und Milchmädchen wurden immer seltener gebraucht. Allerdings war es nicht so, dass es für sie keine andere Arbeit gegeben hätte. Schließlich entstanden mit der zunehmenden Mechanisierung, die ja auch andere Branchen betraf, neue Jobs und Berufsbilder. Die harte Landarbeit wurde nicht nur immer weniger. Sie wurde auch immer unattraktiver.15