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Barbara Frischmuth

Die Klosterschule

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 1978 Residenz Verlag, Salzburg und Wien

5. Auflage, 2018

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn

ISBN 978 3 7017 1708 8

Eine rechte Jungfrau soll sein und muß
sein wie eine Spitalsuppe, die hat nicht viele Augen,
also soll sie auch wenig umgaffen.

Abraham a Sancta Clara

ORA ET LABORA

Wir, Angehörige der katholischen Jungschar, Zöglinge des Klosters, Schülerinnen der Ober- und Unterstufe, beten täglich und gerne: das Morgengebet vor Tagesbeginn, das Schulgebet vor Schulbeginn, das Schlussgebet nach Unterrichtsschluss, das Tischgebet vor und nach Tisch, das Studiengebet vor und nach dem Studium, das Abendgebet am Abend;

bei der hl. Messe, der wir mindestens zweimal pro Woche beiwohnen und die uns nicht nur Pflicht, sondern auch Bedürfnis ist, mit den Augen oder mit dem Mund – was soviel wie still, für sich, oder laut, mit den anderen, bedeutet –, aber in jedem Fall mit dem Herzen:

das Stufengebet, den Ps. Judica, das Confiteor, den Introitus, das Kyrie, das Gloria, die Oratio, das Graduale, das Allelujalied, den Tractus, die Sequentia, das Credo, das Offertorium, das Lavabo, das Suscipe sancta Trinitas, das Orate fratres, die Secreta, die Praefatio mit Sanctus, den Canon, das Benedictus, das Pater noster, das Agnus Dei, die Communio, die Postcommunio, das Ite missa est und das Placeat;

am späten Nachmittag:

den Engel des Herrn;

den Jahreszeiten folgend:

den Freudenreichen, den Schmerzhaften oder den Glorreichen Rosenkranz;

ansonsten:

Ablassgebete, Gebete zur hl. Beichte, das Te Deum, die Lauretanische Litanei, das Veni Creator Spiritus, Gebete zum hl. Schutzengel und den Wettersegen.

Wir beten, wie man uns zu beten gelehrt hat, erhobenen oder gesenkten Blickes, mit aufrecht gefalteten Händen, stehend, kniend oder liegend, je nachdem zu welcher Zeit oder an welchem Ort, laut oder leise, mit oder ohne Gebetbuch als Vorlage, reinen Herzens, frommen Sinnes und mit der nötigen Andacht, damit wir – auf diese Weise die Regeln beachtend – Gott wohlgefällig und unsere Gebete von Nutzen seien.

Wir nehmen die Gebete ernst, wie wir das Leben ernst nehmen, in dessen Kampf wir gestellt sind und in dem zu siegen uns nur mit Hilfe der erwähnten Gebete und dem Ernst bei der Arbeit, mit der wir die verbleibende Zeit ausfüllen, gelingen kann, steht doch geschrieben: ora et labora! Eine wichtige Lebensregel, die wir uns allesamt hinter die Ohren schreiben sollen, damit wir nicht in die Irre gehen oder dem Leibhaftigen, dem Gottseibeiuns, in die Hände fallen, eine Gefahr, die wir uns nicht oft genug vor Augen führen können und der zu entrinnen unser oberstes Ziel sein sollte, hängt doch nicht nur unser leibliches Wohlbefinden, sondern auch die ewige Seligkeit davon ab, ob wir, anstatt uns gehenzulassen, den Pfad Gottes wählen, der zwar voller Dornen ist, aber geradeaus führt, während der scheinbar ausgetretene und bequeme Weg des Lasters in vielerlei Krümmungen um das Heil herumschleicht, aber nicht zu ihm gelangt, wie eine vom Geifer blinde Viper, die den Gegenstand ihres Begehrs zwar umwindet, ihn aber nicht trifft und die schließlich zertreten wird, wenn auch bis dahin die Zeit noch lang ist und das Auge des Menschen das Schicksal der Welten nicht absehen kann, so ist ihm doch kundgetan, welchen Weg er als den rechten zu betrachten und nach Kraft und Möglichkeit zu verfolgen hat, damit ihm zuteil werde, worauf sein irdisches Hoffen sich ausrichtet und worauf sein menschliches Streben abzielt, nämlich, gerechten Lohn zu empfangen für seinen Kampf im Dienste des Glaubens, der Gerechtigkeit und der Liebe, zum Schutz der Gemeinde, der Armen und Siechen, der Waisen und Witwen, wie es seine Pflicht ist, die zu erfüllen er sich stets angelegen sein lassen soll, nicht nur zum Ruhme der Kirche, sondern auch zugunsten seiner Nächsten, die ihm Brüder und Schwestern sind und die er lieben möge wie sich selbst, dem erhabenen Vorbild gemäß, das uns allen zum Beispiel gegeben wurde, damit unser Blick sich erhebe zur göttlichen Wahrheit, an der zu zweifeln eine grobe Verfehlung und daher verwerflich ist. Und so beten wir denn, bis uns geholfen wird.

SPAZIERENGEHEN

Sich anschließen oder sich ausschließen: als ob wir die Wahl hätten!

Es gibt immer zwei Möglichkeiten, heißt es. Es gibt auch Kälber mit zwei Köpfen und vier Paar Beinen. Was ihnen zum rechten Maul hineinrinnt, fließt ihnen beim linken wieder heraus, so steht es geschrieben.

Nichts ist schöner, als den Körper frei zu bewegen. Im Freien, in der frischen Luft, auf der Wiese, im Wald, in der Natur. Bei Wind und bei Wetter. Bei Hitze und Sonnenschein. Bei Schnee und Schlossen. Wichtig sind der Sauerstoff, das Regen der Glieder, der Anschauungsunterricht und die Verdauung.

Die Zeit neige zu einer verderbenbringenden Bequemlichkeit. Wer ginge schon zu Fuß? Wir würden noch alle zu Quallen werden, die Beine ein schaltfähiger Schleimklumpen, klobige Sehnenwesen, sich weiterhändelnde Gallertknorpel, wächsern und fasrig. Man würde uns schon so weit bringen. Die Erde bliebe dann die einzige, die sich noch auf die gute alte Weise fortbewegte. Es gelte, dieser voraussehbaren Entwicklung entgegenzuwirken, wenn auch im kleinen, mit besten Kräften, nicht übertreibend – wir wären ja nicht bloß Körper, wir hätten auch eine Seele –, mit Maß und auf harmonische Weise, wie es dem Menschen zuträglich sei, damit er nicht Schaden leide.

Unseren Leib hätten wir von Gott, so wie alles, und wir dürften ihn nicht willkürlich schädigen, ihn nicht wissentlich vernachlässigen, noch ihm Nötiges entziehen, es wäre denn zum Zwecke der Läuterung, was wir in unserem Alter aber nicht recht beurteilen könnten, da müssten wir doch wohl Rat einholen, wenn wir das Bedürfnis hätten, und da sollten wir uns lieber gleich an jemanden wenden, der zuständig wäre für uns, sowie für die Läuterung, die ein Prozess sei zwischen uns und Gott, zu dem es eines Leiters bedürfe, wie auch die Wärme – denkt an den Physikunterricht – nur über einen solchen von einem zum anderen dringt.

Und wir gehen eine Stunde am Tag, zwischen Mittagsmahl und Lernzeit, Hand in Hand, zwei und zwei, Schritt für Schritt, den Weg, der uns allen bekannt ist. Auf dem Platz vor dem Schulportal richten wir uns aus, hintereinander, in gleichem Abstand. Neben der ersten Reihe des Zuges steht Sr. Assunta, neben der mittleren Reihe des Zuges steht Sr. Theodora. Die letzte Reihe des Zuges bilden Miss Traunseger und jeweils zwei bereits am Vortag dazu aufgeforderte Schülerinnen. Die Richtung wird ausgegeben, als Parole.

An Wochentagen stehen zwei Spazierwege zur Auswahl. Der sonntägliche ist für eine Dauer von drei Stunden berechnet. Soviel Zeit haben wir wochentags nicht. Montags, mittwochs und freitags biegen wir vom Schulportal links in eine Straße, die sehr bald in einen Seitenweg mündet und dieser in einen Waldweg. Dienstags, donnerstags und samstags biegen wir vom Schulportal rechts in die Auffahrt zum Schulgebäude, verlassen aber sehr bald die Landstraße und gelangen so von einer anderen Seite ins Buchenwäldchen, durch das auch der zuerst beschriebene Weg, doch an anderer Stelle, führt.

Unsere Kleidung ist der Jahreszeit angepasst. An sommerlich warmen Tagen tragen wir dunkelblaue Faltenröcke und weiße Blusen mit kurzem Arm. Bei kühlerem Wetter tragen wir dunkelblaue Faltenröcke und weiße Blusen mit langem Arm und nach Möglichkeit eine dunkelblaue Jacke darüber. Gegen Schnee und Regen schützen wir uns mit warmen oder Regenmänteln, deren Form und Farbe selbst zu bestimmen uns freisteht. Schirme benützen wir kaum, sie würden den Zug in Unordnung bringen und Gelegenheit zu Unfällen bieten. Einer Schülerin soll eine Schirmspitze das Auge ausgestochen haben. Es hing noch an seinen Muskeln und konnte durch einen geschickten Griff der den Zug begleitenden Schwester wieder in die Höhle gedrückt werden. Dieser Vorfall veranlasste das Schirmverbot bei Spaziergängen, und wir behelfen uns – so gut es geht – mit Kapuzen, Glanztüchern oder Ulsterkappen. Die Schwestern benützen natürlich Schirme, doch sind diese entschärft worden: runde Hornkappen verhüten jedes Unglück.

Ein wichtiger Bestandteil des Spazierengehens ist die englische Konversation, zu der wir angehalten werden, damit die Zeit nicht ungenützt verstreiche. Es ist die Aufgabe der den Zug begleitenden Schwestern, uns immer wieder daran zu erinnern, wäre doch Miss Traunseger, die – eine Krokotasche überm Handgelenk, an den Armen je eine Schülerin – am Ende des Zuges geht, nicht imstande zu überprüfen, ob wir der gutgemeinten Aufforderung auch in aller Ehrlichkeit nachkämen.

Wenn der Schnee in der Sonne schmilzt, ist der Himmel klar, und unsere Zähne heben sich gegen das Weiß ab und stehen wie geschabte Karotten aus dem Blau unserer Lippen. Wenn niemand schaut, werfen wir Schneebälle an die Dachränder der Häuser oder an die Äste der Bäume und bücken uns nach herabgefallenen Eiszapfen, die wir lutschen, so lange, bis wir ertappt werden.

Wir kommen an Baracken vorbei – kurz nachdem wir in den Seitenweg gebogen sind –, an denen Fahrräder lehnen, ohne Glocke und Dynamo, mit ausgeleierten Gepäckträgern, verrosteten Kettenschützern, Sätteln, aus denen das Rosshaar ragt, zerbrochenen Bakelitgriffen, fehlenden Stopplichtern und verbogenen Kotblechen. Zwischen die Baracken sind Drähte gespannt, an denen sommers und winters die Wäsche hängt: blaue Hemden mit weißem Leinen gestückelt, Strümpfe, Unterhosen mit Bändern, Knöpfen oder Gummizug, Leintücher in der Größe von Doppelbetten, Windeln, Polsterüberzüge, karierte Geschirrtücher, Nachthemden, Bruchbinden und Kinderkleider.

Wir kommen am Haus der Lateinprofessorin vorbei – Glasveranda, Zaun und Garten –, wo über der Dachtraufe ein Geländer mit je zwei kopfüberkopf gestellten, grüngestrichenen Margeriten den Schnee, der übers schräge Dachgeschindel rutscht, bremsen soll. Wenn die Lateinprofessorin zufällig aus dem Fenster sieht, rufen wir »Salve magistra« und gehen dann weiter.

Wir kommen an der Sandgrube vorbei, die wir Schlangengrube nennen, wo wir bei besonderen Anlässen, an Sonn- und Feiertagen – wenn die Schneeverhältnisse es gestatten – Schlitten fahren oder – wenn das Jahr ein gutes war – Beeren pflücken.

Wir kommen an der Reitbahn, einem Schotterkarree hinter einem Bretterzaun, vorbei und an dem Bauernhof mit dem eingesunkenen Dach, vor dessen verputzloser, straßenseitiger Front eine Egge liegt und durchnässtes Stroh, und wir kommen beim Mühlenwirt vorbei, der nur so heißt, wo es doch weit und breit keine Mühle gibt, nicht einmal einen Bach.

Wir gehen durch das Buchenwäldchen mit seinen Tannen, Fichten, Föhren, Kiefern, Haselbüschen, Lärchen und Buchen, hauptsächlich Buchen, steigen bei Regen in die Pfützen, die sich auf den Kieswegen bilden, steigen bei trockenem Wetter auf die Steine, die in