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Nikolaus
Harnoncourt

Meine Familie

Herausgegeben von
Alice Harnoncourt

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Die Texte folgen nicht immer den grammatikalischen
und orthografischen Regeln der deutschen Sprache.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2018 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlagfoto: privat

eISBN 978-3-7017-4593-7

INHALT

Vorwort

TEIL I

Platsch – Brandhof

»Wechselbalg? Ich?«

Zurück zu mir, dem Brüll- und Nein-Kind

Ferien in Ungarn

Brandhof

Die Großeltern Meran

Weiter in Brandhof

Alltag in Graz

Graz 1938

Tante Isabelle und die Nazis

In der Goethestraße

Grundlsee, Herbst 1944

TEIL II

Familie De la Fontaine und Harnoncourt-Unverzagt

Burg Pernstein

Zurück nach Baden

Der Erste Weltkrieg

Kriegsende 1918

Tante Renata

Onkel René, ein ganz besonderer Onkel

Überlegungen zum Adel

TEIL III

Grundlsee, April 1945

Wieder in Graz

Das Marionettentheater

Maturajahr 1947/48

Die Perlenaffaire

Die Mondscheinsonate im Schottenhof

An der Akademie

Hochzeit und Dienst im Orchester

Herbst 1953

TEIL IV – ESSAYS

Der gute Geschmack

Lüge – Meineid

Lachen und Lächeln

Zwei Essays zum Balthasar-Neumann-Jahr

Weg in die Irre

TEIL V

Auszüge aus Tante Renatas und Onkel Gerhards Bericht über ihre Zeit in sowjetischer Haft

Familienstammbaum der Familie Harnoncourt

Familienstammbaum der Familie Meran

VORWORT

Diese Erinnerungen sind der familiäre, private Teil der Aufzeichnungen meines Mannes, der vom Beginn der Erwähnung der Familie Harnoncourt de la Fontaine im 13. Jahrhundert bis Anfang der 1950er Jahre reicht. (Der andere, anschließende und vor kurzem veröffentlichte Teil ist die Chronik des Concentus Musicus.) Weiter wollte er nicht mehr schreiben, er fand dies nicht nötig. Über die Zeit danach konnten ja unsere Kinder und Enkel, für die er schrieb, in unseren seit 1953 alljährlich von ihm zusammengestellten Familienalben nachlesen.

Er erzählt hier vor allem vom Leben der Familien seiner Eltern. In seinem letzten Lebensjahrzehnt wurde sein familienhistorisches Interesse immer intensiver, die Recherchen und die verfügbaren Quellen umfangreicher, ein Familienarchiv begann zu entstehen. Dazu kam dann das Drängen der Enkel nach einer lesbaren Familiengeschichte, so daß sich mein Mann 2011 entschloß, daran zu arbeiten.

Er schrieb dazu: »Alles, wofür ich keine Quelle angebe, habe ich selbst erlebt oder in direkten Gesprächen erfahren – es besitzt die ›Zuverlässigkeit‹ von Erinnerungen; d. h., jemand Anderer erinnert sich an dieselben Ereignisse vielleicht ganz anders. Die Verwandten nenne ich aus meiner Perspektive (Onkel – Großmama – Papa etc.) oder ich erkläre die Verwandtschaft. NH = ich = Niki … viel Vergnügen.«

Begonnen hat er mit einem Portrait seiner Mutter, ihre stark ausgeprägten Eigenschaften haben ihn immer wieder beschäftigt. Als Urenkelin Erzherzog Johanns stammte sie aus der Familie Meran, sie hat das ganze 20. Jahrhundert durchlebt, 1899 bis 1997. Als ihre Mutter (»Großmama«) 1952 starb, hatte diese 93 leibliche Nachkommen (10 Kinder, 43 Enkel und 40 Urenkel). Die Familie Meran war und ist sehr präsent, besonders in der Steiermark und in Graz. Die Ferienzeit in Brandhof und die Aufenthalte im Meranhaus in Grundlsee waren voll von herrlichen Erlebnissen für die Enkelschar. Gelegentlich, bei speziellen Gelegenheiten, erwähnte mein Mann mit Vergnügen, daß er auch Blut von Dschingis Khan in seinen Adern habe (früher hat man noch nicht von Genen gesprochen).

Die Familiengeschichte der Harnoncourts war ganz anders, turbulent und nicht so geordnet wie die der Merans. Die Familie Harnoncourt wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark gebeutelt durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges: vorher reich, dann total verarmt. Erst die Begegnungen mit Onkel René (damals Direktor des Museum of Modern Art), der viel von der Familie erzählt hat, erweckten das historische Interesse meines Mannes an diesem Teil der Familie, die sehr künstlerisch geprägt war.

Man kann sich gut vorstellen, daß es für mich eine große Herausforderung, aber vor allem ein großes Erlebnis war, in eine so riesige, interessante Familie hineinzuheiraten. Ich finde, daß die Schilderungen meines Mannes von kulturhistorischer Anschaulichkeit sind, und möchte sie deswegen, obwohl sie so persönlich und privat sind, preisgeben und mit dem interessierten Leser teilen.

Ich halte mich, im Sinne meines Mannes, an den »Urtext« und schließe mich seinem Wunsch an: viel Vergnügen.

TEIL I

PLATSCH – BRANDHOF

Platsch – sie drehte den Kübel um und das ganze Wasser klatschte auf den kleinen nackten Buben; dem verschlug es den Atem, er konnte nicht weiterbrüllen, kriegte keine Luft, japste beklommen, aber als er sich wieder erfangen hatte, brüllte er weiter wie vorher – wie schon seit 20 Minuten. Er war schon weiß vor Zorn (oder was?) – und, wie Mama ratlos meinte, absolut nicht zu beschwichtigen.

Es war schon das dritte Mal in dieser Woche: er brüllte einfach los, niemand wußte warum – außer ihm selbst natürlich – und niemand wußte, wie man ihn ruhigstellen oder gar beschwichtigen konnte. Ratschläge gab es genug: die Reitbauers meinten: »Laßts ihn halt brüllen, er wird schon aufhören, wenn er nimmer kann« – doch dazu hatte keiner die Geduld und Nerven. Es gab auch pädagogische Ideen: »Das Kind braucht Liebe!« – aber in den Arm genommen wurde er noch lauter. »Eine Feste mit der Rute auf den Hintern« – jetzt bemerkte man erst richtig, welche Reserven es noch gab. Der Bub brüllte grundsätzlich nur im Haus oder direkt davor, im Hof; in diesem Fall wurden stets nach einiger Zeit Fenster geöffnet und neugierige Frauen erschienen – Tanten, Kinderfrauen oder Hauspersonal. Brüllen mit Publikum im Parterre und in den Rängen, dramatisches Brüllen, denn niemand kannte die Ursache und niemand konnte Höhepunkt und Ende vorhersehen – spannend, theaterwirksam. (Das Ende ist jämmerlich, uninteressant, kein triumphaler Höhepunkt, eher ein Absacken in kleines Schluchzen und Erschöpfung.)

Einmal erschien am Fenster des Frühstückszimmers die Großmama, groß, beherrschend, die reichen, langen grauen Haare am Hinterkopf kunstvoll hochgesteckt. Eine Zeitlang hörte sie sehr aufmerksam zu, es wirkte fachmännisch, dann schloß sie das Fenster und kam herunter in den Hof – ehrfurchtgebietend: »Da gibt es nur zwei Möglichkeiten«, sagte sie zu Mama, die inzwischen etwas schuldbewußt zu den faszinierten Hörern gekommen war, »überschreien – und wenn das nichts nutzt, einen Kübel kaltes Wasser.« Das Überschreien wurde gelegentlich versucht, es endete immer mit dem Sieg des Brüllers – man konnte ihn eben nicht überschreien. Einzig die Reitbauers, die bäuerlichen Wirtschafter am Anwesen, hatten das Rezept und die nötige Geduld; all die pädagogisch ausgebildeten Tetas (Kinderschwestern) und akademisch gebildeten Ratgeber scheiterten. –

Der kleine Bub aber rätselte herum: ich brülle, weil ich es will; aber warum will ich gerade brüllen – bin ich so zornig oder will ich, daß alle mich für zornig halten oder gar dafür bemitleiden? All die anderen Regeln erfüllte er einsichtig oder gönnerhaft: nicht Daumen lutschen, den Teller leer essen, auch Karotten, Einbrennsuppe, Marmeladebrot … Schwarzwurzeln essen, ›Leib und Seel‹-Hoserl anziehen, Hände auf den Tisch – auf den Rücken im Frühstückszimmer (wegen der Nippes: Bauernhausmodelle, fein geschnitzte Figuren, kleine Glassachen etc.), aber bei seinem Zorngebrüll oder gar wenn er sich brüllend auf den Boden warf und ihn alle ratlos umstanden, zu beschwichtigen suchten, erst wütend, dann immer gütiger auf ihn einredend, da mußten ihm einfach alle, alle die ›Großen‹ und auch die anderen Kinder, dienen, da war er der Herrscher und konnte für alle an ihm begangenen Untaten grausame Rache nehmen. – Merkwürdig, daß er unter den vielen Kindern dort als einziger dieses Privileg beanspruchte, daß er keine echten Nachahmer fand – die Normalschreier, -heuler und -greiner betonten ja nur den Abstand.

Irgendwann wurde ein ›Ich‹ aus ihm, dem dann langsam Kindheitserinnerungen kamen. Die früheren sind allerdings auch von den ›Großen‹ erzählt. »Nein-nein, nein-nein« – das erste wie eine müde Polizeihupe (Quart abwärts), das zweite wie ein österreichischer Kuckuck (kleine Terz abwärts) … Ich habe bald herausgefunden, daß die Brüll-Technik keine Dauerlösung ist. Andrerseits ist doch zweifellos das meiste abzulehnen, wenigstens zunächst – wenn es sich wider Erwarten doch als brauchbar erweist, kann man ja immer noch ja sagen. Mama sagte später oft und mit großem Nachdruck am Ende einer Klage über mein Verhalten: »Dein erstes Wort war NEIN.« (Aber wenn sie es mir dann vormachte, war es immer die oben erwähnte, fast gesungene, elegische Zweier- oder Vierergruppe.) – Ich sehe heute, ich hatte recht. Mit dem Brüllen, solange ich nicht reden konnte, und dann mit dem NEIN. Ist es nicht überhaupt das wichtigste Wort? JA klingt zwar lieb, ist aber doch hochgefährlich: es unterbindet jede Überlegung, jede Debatte. Paff, Schluß! Die dann hochkriechenden Zweifel lassen dich leiden, krank werden. Wie soll man da wieder anknüpfen, wo das JA alles abgeschnitten hat? Es geht nicht, solche Korrekturen sind unglaubwürdig, JA ist prinzipiell und gültig. Die notwendigen neuen Verhandlungen kommen nicht zustande, fast nie … Dagegen das herrliche NEIN! Es setzt Argumentationsapparate in Bewegung, Überredungsversuche – aber auch eigene Zweifel. Beide müssen jetzt denken, und was immer daraus entsteht, es wird ein breit fundiertes Resultat.

Wie dankbar muß ich sein, daß dieses Nein mir blieb! Wovor hat es mich bewahrt durch all die vielen Jahrzehnte! Klar, es hat mir auch einiges eingebrockt, aber fast immer mit schließlichem Nutzen. – Ich habe also meine sprechende Kindheit mit Nein begonnen; wenn es vielleicht damals Trotz war, es blieb und zeigte sich später als Weisheit: nur das Nein bewegt die Gedanken – das Ja tötet sie. Eine Frage, die man mit Ja beantworten kann, ist keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit. Oft wurde mir gesagt: »Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein.« Meine Antwort konnte nur sein: »Ja oder nein« (wir alle kennen das) oder gleich überhaupt: »Nein«, denn Nein hat nicht das schrecklich Endgültige des Ja, es ist vom Prinzip her vorläufig, weil es sich mit Hilfe neuer Erkenntnisse ändert.

Warum kennt die Kunst kein Ja? Sofort würde es Kitsch. Sie kennt nur das Nein, die große Frage, den tieferen, furchtbaren Einblick. Echte Kunst ist ja auch deshalb immer Opposition. Dagegen kann und darf man sich nicht wehren wie die modernen Pseudo-Psychologen mit ihrem ›positiven Denken‹, das jeden Gedanken und jede Einsicht ausschließt. Genaugenommen ist natürlich NEIN genauso abschließend wie JA, aber hier will ich es einmal nicht ›genau‹, sondern praktisch nehmen: ›nein‹ als ›wohl kaum‹ oder so.

Merkwürdig, daß auch meine scheinbar stille und besonnene Mutter auf unsere Fragen und Bitten stets und sofort mit »nein« reagierte. Wir wußten und fühlten, daß das nicht endgültig war, sie hatte ja unsere Argumente noch gar nicht gehört … und wenn schließlich doch das Ja daraus wurde, dann verteidigte sie es bis zur Wildheit. Aber sie hat ja auch eine krasse Vorgeschichte, die ich auch von ihr selbst erzählen lassen will.

»WECHSELBALG? ICH

»Ich gehe in mein Versteck, nehme die Gummischnur und einen kleinen verfaulten Paradeiser und platsch, zerrinnt er schon auf ihrem Decolleté. Es war ein ›wichtiger‹ Besuch, und meine Freude an diesem phantastischen Empfang war entsprechend groß.

Wie kommt so ein Mistbratl wie ich in unsere Familie? Alle waren sie brav und fügsam, gut formbar durch die Erzieher und Fräuleins – natürlich waren das ausgebildete Fachkräfte, christliche Pädagogen, die von ihrer geliehenen Macht Gebrauch machen durften; sie hatten selbstverständlich auch Strafgewalt. Also bei mir bissen sie sich die Zähne aus, ratlos probierten sie eine Methode nach der anderen: Liebe, Überredungskunst, kleine, nach und nach immer größere Essensstrafen, Strafaufgaben schreiben: hundertsiebenundzwanzigmal in Schönschrift ›Ich will nie mehr mein Essen ausspucken, weil es eine Gottesgabe ist‹, und da habe ich schon dreißigmal das ›nie mehr‹ ausgelassen und ›immer‹ geschrieben; was für eine schreckliche Gotteslästerung! Was soll man tun, wenn dieser Wechselbalg … ja, das wird es sein: ich bin ein Wechselbalg (Grimm, Wechselbalg: ›bezeichnung eines von einem unhold erzeugten und an stelle eines menschenkindes der wöchnerin untergeschobenen kindes … sie sind bösartig, ungebärdig … sie werden auch für kinder des teufels gehalten‹; oder ›ein aus der art geschlagener, seines geschlechts unwürdiger … überhaupt ein moralisch mißratener‹), eine Herrscherin im Bösen, die wohl das ganze Haus vergiftet.

Die Popos schmerzten, immer wieder übersah man die Gurte mit Reißnägeln auf den Sesseln. Zum Unterricht kam ich nur, wenn ich gerade Lust hatte, das Fräulein Seyffert oder die Miß O’Shean aufs Blut zu sekkieren. Ach ja, morgen will ich Fischleim in die Handarbeitstasche schütten, da wird die Wolle schön zusammenpicken, und gestern, das war überhaupt das Köstlichste! Wir haben doch einen umlaufenden Balkon in der Bibliothek, mit einer Leiter; da oben war ich genau zu Beginn der Englischstunde mit einer Tintenflasche in der Hand. Die Miß wartet verzweifelt, ruft: ›Come along, child!‹, schließlich schreit sie wie wild, rennt suchend herum; lächerlich mit ihren Zappelschritten! Kaum ist sie in der Bibliothek unter mir, ziehe ich die Leiter ein und lache, meckernd wie ein höllischer Ziegenbock. ›You naughty girl‹ – und schon floß ihr die Tinte über den Kopf und das drapfarbene Kleid. Da meckert es noch viel lauter …«

Noch immer ein bißchen stolz, hat sie etwa 40 Jahre später ihrem Jüngsten, Franzi, erzählt, daß sie sich gerne im Klavierzimmer auf einen Kasten gesetzt hat und wenn die bucklige Lehrerin sie suchte, auf ihren Rücken gesprungen ist, um sie zu schrecken … Sie hat auch Lily von ihren Klavierstunden erzählt: »Zweimal pro Woche, einmal von Noten, einmal auswendig.« Das Notenspielen haßte sie, so stieg sie aufs Fensterbrett im 2. Stock: »Auswendig oder ich springe!« … Die Klavierlehrerin erstarrt vor Angst – sie erreicht fast immer triumphierend ihr Ziel … Hilflosigkeit im ganzen Haus angesichts dieses Kindes. Die Hauslehrer schlagen in ihren Büchern nach: keine Präzedenzfälle. Die Eltern beraten sich und sehen sich ohnmächtig: der totale Autoritätsausfall. Was sollte man mit ihr noch machen? Strafen, strafen, das ganze Repertoire durch; keine Wirkung, nur immer wieder dieses Lachen! Sie steckt ja noch die Geschwister an mit ihrer unerschöpflichen Bosheitsphantasie! Die Mama (Großmama) weint, damit erreicht sie nichts, nur immer wieder dieses Lachen … nach und nach breitet sich lähmende Desperation aus im Palais. Die letzte Hoffnung: der Papa (Großpapa). Den hatte man von solchen Schwierigkeiten stets ferngehalten, sein Haus mußte ja funktionieren mit all dem Spezialpersonal. Probleme hatte er schon im ›Reichsrat‹, dem er als Enkel Erzherzog Johanns angehörte, genug. Er war also die letzte Rettung, die allerletzte.

»So wurde ich vor ihn gebracht, ich lachte. Meine schon sehr lange und vielfältige Sündenliste wurde ihm vorgetragen. Auch sein strenger Blick und sein sprachloses Knurren erreichten mich nicht – ich lachte. Dann knöpfelte er seine Lederhosenträger los, die Miß mußte meinen Popo freilegen und er haute knurrend drauflos. Die Miß wandte sich schluchzend ab und Mama schaute streng … ich lachte, lachte, lachte … ›Hol mir den neuen Roßknecht, den wilden Klachl‹, brummelte er seinen Diener an. Zehn Minuten eisiger Stille, keine Miene bewegt sich, man hört nur das leise Knurren Papas und mein jetzt ebenfalls leises Meckern. Der Knecht stampft herein, Pferdedunst breitet sich aus, wieder mußte die Miß meinen Popo freilegen. ›Da‹, sagte Papa und zeigte hin, ›aber fest‹, und der drosch mit dem Zaumzeug auf mich ein. Mama und die Miß heulten auf. ›So‹ – der Knecht geht zurück in den Stall. Das Kleid fällt über meinen blutigen Popo – ich kann nicht mehr lachen, es tut weh. Alles das konnte mich nicht zur Umkehr bewegen. Die Verlockung war einfach zu groß: ich beherrschte das ganze Haus, meine große, ehrwürdige Familie und sogar die Dienstbotenschar. Was geschieht als nächstes? Meine Phantasie wucherte ständig, ich schwamm direkt in köstlichen, stets neuen Ideen – wenn das Schlimmheit war oder gar böse und sündhaft, dann war es herrliche, köstliche Schlimmheit, tausendmal schöner als die lahme Bravheit der Geschwister. Dieses elementare Vergnügen war unheilbar und trieb mich an, allen Strafen und Martern zum Trotz.

Schließlich kam der letzte, schlagende, vernichtende Trumpf. Die gütige Mama hatte ihn gefunden: die Erste Heilige Kommunion wurde mir verwehrt. ›Zuerst mußt du den Teufel (den ›Luzifer‹, den ›Lichtbringer‹ – so sagte sie) austreiben.‹ Das war hart, das war bitter, ich war ja fromm und gläubig. Nie hätte ich gedacht, daß der Teufel in mir wohnt, daß meine Untaten die Welt in ihren Grundfesten erschüttern konnten. Es waren doch meine ganz persönlichen Geschichten, die waren doch, samt all den Strafen, nur einfach lustig, ein tolles Theater, das mein Temperament unbedingt haben mußte, immer fiel mir noch etwas ein, das ganze Haus mußte mitspielen, ob sie wollten oder nicht, getrieben von meiner wilden und immer wilderen Phantasie! Das soll also der Luzifer in mir anrichten?! Ja, ich mußte das glauben und dann glaubte ich es. Es war schrecklich, schlimmer als die ärgsten Strafen. Der Teufel also – das war die letzte verzweifelte Reaktion auf mein Wesen. Und sie traf mich ins Mark. Ich sehnte mich ja so nach der Heiligen Kommunion, und ich war auch so gut vorbereitet von Pater Benedict. War es wirklich der Teufel, dem ich verfallen war, war ich wirklich ein Wechselbalg? Zwei ganze Jahre ging es hin und her. Alle meine Freundinnen durften schon das Sakrament empfangen – seit zwei Jahren! War wirklich so etwas Schreckliches in mir?

Schließlich fand ich – hart genug – den Weg: die Heilige Kommunion verwandelte mich … Ich mußte Mama (Großmama) versprechen, ›ein neuer Mensch zu werden‹, denn ›so lang der Teufel in deinem Herzen wohnt, kannst du den Heiland nicht empfangen‹. Wirklich: an diesem so heiß ersehnten Tag wurde ich für alle, die mich kannten, ein anderer Mensch. Wirklich! Das meckernde Lachen hatte sich in ein brodelndes Kochen verwandelt, ich spürte es in meinem Inneren, niemand hörte es, und niemand durfte es je bemerken.«

Mama wurde ja dann ganz ›brav‹, nur noch ›ein Bündel Disziplin‹ – die ruhigste unter ihren Geschwistern … solange alles normal verlief. Innerlich war es wohl oft oder vielleicht sogar immer auf des Messers Schneide, und vor dem ›Umkippen‹ hatte sie selbst am meisten Angst. Einmal nahm Großpapa sie nach Monte Carlo mit – das war eine große Ehre für sie und ein Beweis, daß die Eltern ihr jetzt einwandfreies Benehmen zutrauten. Er fuhr gelegentlich dorthin und ging auch in den Spielsalon, immer mit einem abgezählten Geldbetrag. Er ließ sich nie zu Geldabenteuern hinreißen, er verlor oder gewann, und Schluß. Natürlich nahm er einmal auch Mama/Laja dorthin mit, das Casino war ja die Sensation von Monte Carlo. Er gab ihr sogar Geld (natürlich nicht viel) und vernünftige Ermahnungen und Ratschläge. So spielte sie dann auch und geriet in den Strudel der Leidenschaft. Sie verlor, und dann gewann sie und schließlich konnte sie nicht aufhören … Da man Großpapa kannte, ließ man sie ohne weiteres überziehen, noch und noch – sie war schon so in Rage, außer Kontrolle, in einer Art Trance – schließlich mußte Großpapa sie auslösen. Sie wußte, sie durfte nie wieder da hineingeraten, sie war eine ›Spielerin‹, mehr noch, hatte eine wohl unheilbare Spielsucht. Auch in Schloß Glanegg bei Onkel Fritz ist’s beim Roulette passiert: die Spielleidenschaft riß sie fort und Großpapa hatte nach ihrer Heimkunft eine große Schuldenlast abzutragen.

Als junges Mädchen war sie eine leidenschaftliche und sehr gute Tänzerin. Wenn sie mit uns Kindern durch die Stadt ging, zeigte sie gelegentlich auf ältere Herren – »der war ein besonders blöder Tänzer« oder, ein einziges Mal begeistert, »das war mein bester Tänzer«. Da vibrierte sie, als wollte sie gleich lostanzen. Stimmt, wir haben gelegentlich gehört, daß sie eine hervorragende Tänzerin gewesen war, als junges Mädchen – aber daß das so wild war? Beim Tanzen konnte sie wohl ihr elementares Temperament freilassen, und bei jeder Erinnerung brach es wieder heraus. Mama hatte aber auch eine starke musikalische Seite, so ließ man sie Geige lernen, und weil sie eine ›Stimme‹ hatte, schickte man sie zu Elisabeth (Lisl) Höhnel (später Gräfin Wickenburg), einer renommierten Gesangslehrerin, da war sie richtigen Opern- und Liedsängern bald ebenbürtig. Das könnte ja einiges erklären: man sagt ja immer, daß Talente und auch besondere Eigenschaften vererbt werden! – Da gibt’s ja, meinem Empfinden nach, einige Parallelen – aber auch Wurzeln, die sich erst in späteren Generationen entfalten wollen.

ZURÜCK ZU MIR, DEM BRÜLL- UND NEIN-KIND

Was mich noch begleitete und begleitet seit meiner Kindheit, ist mein Zorn. Großmama sprach immer wieder von den Erziehungsbüchern eines ungarischen Priesters. Sie hat ja selbst auch so etwas für Kinder geschrieben; in Brandhof las sie uns daraus vor und zeigte uns die Illustrationen. Ich fand sie scheußlich und die Texte haßte ich – so heuchlerisch war doch die liebe Großmama gar nicht!

»Der Hans gibt sein Bett her dem Freund, der zu Gast,

leg selbst mich am Boden, wenn du’s nur gut hast.«

Solch gräßliche Sprüche sollten mich ›erziehen‹? Ich kaufte mir insgeheim ein Buch von Tihamér Tóth (der war Spiritual in einem Priesterseminar), ich glaube, es hieß ›Der Charakter‹, in der Buchhandlung am Hauptplatz (ca. 1940). Das war derart streng und die Übungen und Maßnahmen höchst radikal – aber still und unbemerkt bekämpfte ich so meinen Zorn … vielleicht mit Erfolg?

Im Jahr 1942 oder eher 1943 fuhr Mama mit meinem Bruder Karli und mir nach Wien zu Dr. Wantschura, einem Homöopathen. Großmama und Tante Minki (Kottulinski, älteste Schwester von Mama) waren total von der Lehre Samuel Hahnemanns infiziert, wir wurden bei jeder Verwundung oder Beule mit Arnica und Belladonna traktiert. Wir wohnten im Hotel Meißl & Schadn am Neuen Markt (die Aristi stiegen dort ab) und waren schockiert, daß – wohl kriegsbedingt – viele Wanzen uns in den Betten überfielen. – Dr. Wantschura nahm uns einzeln vor, fragte, untersuchte, horchte ab und klopfte mit einem Silberhammer auf die Knie … »Was haben wir denn da?« Die Reflexe gehen nicht! Große Gegenprobe mit furchtbarem Muskelanspannen … die Reflexe gehen. Ja, was ist denn da los? Ich muß mein ganzes Tun und Lassen erzählen, auch die Übungen von Tihamér Tóth … na klar! »Du hast dir die Reflexe wegtrainiert!« Dabei wollte ich nur den Zorn bekämpfen – und als Nebenwirkung ist diese Nicht-Reaktion bis heute geblieben. Im übrigen verschrieb er Aurum, Prunus, Quercus, Veronica – alles weiße Pülverchen, die uns bestens konservieren sollten. Diese Wien-Reise war schon mitten im Krieg, da war ja inzwischen einiges vorgefallen, seit wir 1931 nach Graz übersiedelt waren. Zwölf riesige Jahre, fast unsere ganze Kindheit!

Wieder zurück, in die Frühzeit des Erinnerns – da waren wir in Graz, im Palais Meran. Als wir 1931 aus Berlin nach dem Zusammenbruch der Tiefbaufirma, wo Papa als Ingenieur gearbeitet hatte, zurück nach Graz gekommen sind, hatte Großpapa Meran, der offenbar Papa sehr schätzte, uns geholfen und unserer Familie eine Wohnung im Parterre links seines Palais Meran, Leonhardstraße 15 gegeben. Da haben wir bis 13. Dezember 1938 gewohnt, wahrscheinlich umsonst, denke ich. – Meine Erinnerung setzt sehr stückelweise nach der Geburt meiner Schwester Lily ein: Mama schiebt den Kinderwagen mit einem dicklichen, raunzenden Mädchen drin, links trotte ich und halte mich mit der rechten Hand an der Schiebestange fest, der ein Jahr jüngere Bruder Pilli symmetrisch rechts dazu. Den Kinderwagen hatte sie in Berlin gekauft, ein zusammenklappbarer Gegenstand aus Eisenbändern und weißer Wichsleinwand, den wir 25 Jahre später in Wien für unsere Kinder verwendet haben (»Musterstück aus dem Technischen Museum«, spotteten die Leute da; wir hatten ihn blau adjustiert).

Vis-à-vis in der Leonhardstraße war das Hotel ›Zur goldenen Birn‹ (jetzt Parkhotel), und an den Straßenecken Brandhofgasse und Lichtenfelsgasse standen meist Dienstmänner mit Handkarren, sie hatten rote Kappen mit Messingschildern, in denen Nummern ausgestanzt waren. Hier warteten sie immer auf Kundschaft, weil vom Hotel gelegentlich Gäste mit Gepäck kamen. Der eine mit der Nr. 12 schien Mama zu kennen, als er uns kommen sieht, hellt sich sein faltiges Gesicht auf, die Augen starren uns an: »Schlimme Laja!«, murmelt er boshaft. Wir fragen … »Ich war ein wildes Kind, unzähmbar, zornig, wie ihr ja schon wißt. Dieser Dienstmann ist der Roßknecht von damals.« Dann erzählt sie uns von ihren Schlimmheiten, sie schien fast ein bißchen stolz darauf zu sein – das soll unsere gute, ruhige, immer gefaßte Mama gewesen sein (die wir tagsüber nur selten sahen, weil sie am Eßtisch saß und Strümpfe stopfte oder an ihrem Schreibtisch Briefe schrieb)? Sie war praktisch nie richtig angezogen, hatte eine schwarze weiß bedruckte Kleiderschürze an, als wollte sie sagen, ja demonstrieren: »Ich bin keine verwöhnte Comtesse, ich arbeite.«

Alle Bekannten lobten ihre Ruhe und Überlegenheit, die kindliche ›Schlimmheit‹ war in ihr Gegenteil verwandelt. Aber im Inneren brodelte wohl ständig der Vulkan, lauerte auf den Ausbruch. So kleine, fast unmerkliche Ausbrüche gab es ja immer wieder: wenn sie mit uns in der Eisenbahn fuhr, und wir sahen eine uniformierte Respektsperson, einen Schaffner oder einen Polizisten, bettelten wir: »Bitte schimpf den zusammen, bitte!« Sie hatte uns schon gelegentlich solche Schauspiele geboten, wenn sich so einer blöd anstellte, nicht helfen wollte, keine richtige Auskunft gab – da konnte sie ganz schön loslegen und die stolzen Uniformträger wurden nur mehr jämmerlich. Oder die ›samstäglichen Spiele‹. Eine Zeitlang, bis in die ersten Kriegsjahre, spielten wir am Samstagabend am Küchentisch oder im Salon – wer eben da war von der großen Familie – Hütchen, Kartenspiele, Mensch-ärgere-Dich-nicht oder irgendwelche von Papa gemachten Brettspiele. Wenn sie gewann, gab’s keine Probleme, aber wehe, wenn sie verlor! Sie, die gute, ruhige, fromme Frau – schwindelte dann schamlos. Sie war eine echte ›Spielerin‹, sie konnte nicht verlieren. Kaum wagten wir, sie zu entlarven – »Mama, du schwindelst!« –, da konnte sie wild werden und das ganze Spiel zusammenschmeißen, ihr Gesicht wurde zornrot und sie schrie herum, wußte offenbar überhaupt nicht, was sie sagte. Man konnte sich die stoisch ruhige, überlegene Frau des Alltags nicht vorstellen, und sie selbst wußte da wohl auch nicht, wer sie wirklich war. Ja, wer war sie wirklich? Sie hatte sich als junges Mädchen, als begeisterte Tänzerin (sie war ja die beste weitum!), als Meran-Comtesse ihr Leben wohl ganz anders vorgestellt. Wir waren jedesmal aufgewühlt und erschrocken: war das unsere allseits geschätzte, ja verehrte Mutter?

Öfters gingen wir ›in die Stadt‹ zur Escompte-Bank (was hat Mama da gemacht? Vielleicht die kleine ›Apanage‹ abgeholt, die ihr Großpapa Meran gewährte), zu Leo Podesser in die Herrengasse Kinderbekleidung kaufen (dabei kann ich mich nicht erinnern, je etwas Neues angehabt zu haben, komisch), dort standen zwei Pappendeckelmädchen als Reklame, wir nannten sie nach der Mundstellung das Mädi Kiii und das Mädi Kooo – oder zum Stiefelkönig, da gab’s Röntgenapparate, da konnte man seine eigenen Füße anschauen, ob die Schuhe paßten, man sah aber auch in Grün oszillierend alle Fußknochen (das wäre heute sicher wegen der Strahlung verboten).

Wie waren wir angezogen? Im Sommer an Feiertagen die ›Froschkleiderln‹, Hose und Oberteil aus einem Stück hellgrüner Strickwolle mit weißen Rändern – die haben wir als unmännlich gehaßt. Normalerweise ein Leinenleiberl mit schmalen Trägern, hinten drei Zwirnknöpfe und rechts und links je einen Zwirnknopf, an dem man ein Gummiband mit mehreren Knopflöchern anknöpfelte; die gestrickten langen Strümpfe (sehr verächtlich) hatten am oberen Rand einen Zwirnknopf, den man ans Gummiband anknöpfelte, so daß der Strumpf oben blieb. Manchmal gab’s die ›Leib und Seel‹-Unterhosen, Oberteil und Unterteil in einem, mit einem Schlitz hinten, weil man sie ja am Klo nicht herunterziehen konnte, darüber hatten wir einfache Hemden und Hosen mit Hosenträgern. Bei kaltem Wetter einen Mantel – diese Sachen haben wir, wie die Schuhe, von den älteren Geschwistern geerbt und mußten darauf aufpassen, weil sie ja an die jüngeren weitergingen. Wo waren die neuen Sachen?

Ab ca. 1933 ging ich, und ein Jahr später auch Pilli, in Tante Renatas Kindergarten im Familienhaus in der Grabenstraße 21. Tante Renata (Schwester von Papa) wurde ›Auntie‹ (gesprochen wie geschrieben) genannt. »On your places for gymnastics«, auf dieses Kommando breitete jeder ein Frottédeckerl aus und kniete darauf, dann Turnen zu ihrem Klavierspiel. An den Wänden waren riesige Bilder, die Onkel René (Bruder von Papa) bei einem seiner Europabesuche 1932 gemalt hatte: ›The cow jumps over the moon‹ und anderes. Wir sangen oder krähten oft Papas und Onkel Renés ›Animal Alphabet‹. Es waren 30 bis 40 Bürgerlein: Fritzi Herzl (vom Stiefelkönig), Heimo Widtmann, ›Piper‹ Gutherz, Helge Baldrian (blonde Locken), Inge Ogrinz, Roswitha Franz, ›Burz‹ Feberger, Raldi Stübchen-Kirchner waren vormittags im Kindergarten; nachmittags im Englischkurs waren Rolf und Dieter (›Apfi‹ wegen seiner Bäckchen) Ostheim, Xandi Götz, Gustl Uranitsch und Heini Pfusterschmid. Den Rolf, der ca. fünf Jahre älter war, habe ich angeblich so angeschwärmt, daß ich »gehen wir rolfen« gesagt habe zum Kindergartenweg. Die Götz und Ostheims waren Nazis und als Xandi einmal das Horst-Wessel-Lied ›Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen‹ sang, haben die Kinder das zu Hause erzählt. Baron Pfusterschmid schrieb: »Verehrte Gräfin Harnoncourt, wir können Heini leider nicht mehr zu Ihnen schicken, denn im Kurs wurde das Horst-Wessel-Lied gesungen, und das schadet seiner Seele.« Tante Renata konnte es mühsam ausbügeln; es wäre ja eine Katastrophe für sie gewesen, weil sie und Großmama (Harnoncourt) von den Einnahmen des Kindergartens und der Englischkurse lebten.

Im Kindergarten gab es sehr lustige Kostümfeste, wofür wir aus Krepp-Papier die tollsten Kleider machten, einige Kinder waren sehr originell und hübsch kostümiert. Der Höhepunkt war aber unsere Gruppe ›Rotkäppchen‹: Alice 9 Jahre alt, ein ziemlich großes Rotkäppchen, René siebeneinhalb als Jäger, ich als Wolf und Pilli eineinhalb als Großmutter im Kinderwagen! Wir hatten durchschlagenden Erfolg.

Im Sommer 1934, 1935 und 1936 gab es für die Kindergartenkinder ein Badehaus am Attersee, ›Happy Holydays‹ genannt (es gibt ein Photo davon) – Dr. Moravek hatte es gekauft (die sogenannte ›Villa Baronin Gagern‹), er war ein Schulfreund von Papa, mit Zosia (Soscha) verheiratet und Chefarzt vom Feldhof, der Nervenheilanstalt. Zosia war bald eine enge Freundin Tante Renatas; die beiden richteten eigenhändig das Haus her, es mußte gemalt und angestrichen werden, Betten für die Kinder besorgt. Sie führten auch gemeinsam dieses englische Sommercamp mit bis zu 14 Kindern. Wir waren nie dort; kein Geld.

Noch eine Erinnerung aus dieser Zeit: einmal, da war ich ca. 5 oder 6 Jahre alt, mußten Pilli und ich zu Weihnachten im Blindeninstitut (bei der Leonhardkirche) vorspielen, ich auf der Blockflöte. Ich zitterte so (Lampenfieber wohl?), daß ich keinen einzigen Ton herausbrachte, weil die Flöte vor meinem Mund so hin und her wackelte, daß ich nicht hineinblasen konnte; dabei wußte ich ja, die sehen mich eh nicht, weil sie blind sind.

FERIEN IN UNGARN

Wir fuhren jeden Sommer nach Ungarn, entweder nach Mór oder nach Szentlőrinc, abwechselnd jedes zweite Jahr. In Mór war das Landhaus von Tante Emmy (Trauttenberg), der Mutter von Mamas erstem Bräutigam Imre; sie sagte ›Mama‹ zu ihr. Wir fuhren mit der Bahn über Komárom, bei der Ankunft rief Mama »Hordár!« aus dem Fenster, schon kam ein Träger angelaufen. Dann fuhren wir mit der Kutsche – der Kutscher sagte zu Mama: »Csókolom a kisztihandját« (ungarischdeutsch für »Küß die Hand«) – in einer aufwirbelnden Staubwolke zum Schloß. Der Diener János, Hansi gerufen, schleppte die Koffer und wurde zum Freund: ›Krebsen‹ fangen im Teich – »ein Riesenschäär!« – und alle möglichen Spiele wie Baumhäuser bauen und solche Sachen. Wir aßen Mohnpotitze (köstlich!), gebacken von Rézi-Néni, der Köchin, und freuten uns über Tante Emmys vom Rauchen kratzige Baßstimme. Wir sahen mit Schrecken, wie die Gänse ›geschoppt‹ wurden: in einer Kiste mit einem Loch, aus dem der lange Hals herausragte – der Schnabel wurde aufgespreizt und ein Kukuruzbrei hineingepreßt und mit der Hand durch den ganzen Hals wie durch einen Schlauch gestriffen. – Von Mór aus fuhren wir gelegentlich mit der Kutsche nach Csákberény zu Onkel Philipp (Meran, Mamas Bruder). Da gab es Hirschkäfer und sogar ein Auto mit Chauffeur Joskó. Auch Wildschweine waren aufregend.

Das letzte Mal waren wir wohl 1938 oder 1939 dort. Bei der Heimfahrt schlief Mama in einer Ecke des Coupés, an ihren Mantel gelehnt, Pilli und ich brachten die kleine Lily so zur Verzweiflung, daß sie als letzte Rettung Mama aufweckte: »Mamchen, die Buben sekkieren mich so!« Klatsch, hatte sie eine Ohrfeige von Mama, die durch das blöde Kosewort ›Mamchen‹ in Wut gebracht war – Mama schlief weiter. Jetzt tat Lily uns schon fast leid, die Ohrfeige hätte wohl eher uns gebührt. – Jedes zweite Jahr fuhren wir zu Tante Janka (schwarz) und Tante Erna (rothaarig) nach Szentlőrinc. Da fischten Pilli und ich in der Gyöngyös, aber wir fingen nichts, weil unsere Angeln aus gebogenen Stecknadeln keine Widerhaken hatten. Tante Erna (Szécsen) war uns zu rauh und streng. In diesen Jahren bekam Mama meistens ein Kind, war also hochschwanger (mit Karli, Franzi).

BRANDHOF

Nach den Ungarnwochen fuhren wir noch auf ein paar Wochen nach Brandhof, wo es ein eigenes Harnoncourt-Kinderzimmer direkt unter der Uhr auf der Hofseite gab. Mama und ihre Schwestern hatten ihre eigenen Zimmer im 1. Stock. Weil die ›Stainzer‹ (die Kinder von Onkel Franzi Meran) jeden Sommer, die Goess (Tante Ruschi), die Ungarn (Onkel Hansi und Onkel Philipp Meran) und die Mayr-Melnhofs (Tante Marianne) gelegentlich kamen, waren immer viele Kinder mit ihren Tetas da – wir mit Lelle und ab ca. 1938 mit Rosa (Schinnerl). Natürlich waren wir ständig im Freien: ›auf der Almhütte‹ hieß eine riesige Wiese mit Wäldchen und Tennisplatz. Wir bildeten Parteien, die sich bekämpften, bauten Burgen aus Abfallbrettern von der Sägemühle, manchmal raubten wir auch richtige neue. Nägel mußten wir finden und geradeklopfen, zuerst mit Steinen, dann mit Hämmern, schließlich hat jeder irgendwelche alte Werkzeuge aufgetrieben.

Es gab Paare: Alice (Schwester) und Maritzi hatten am Eingang zum Kampelgraben eine Burg gebaut, Laja und René (Bruder) brachten nichts zustande, weil René dauernd komponierte. Er wollte Papa imitieren, von dessen Kinderopern er gehört hatte: 1937 ›Die Wurzelkinder‹, 1938 ›Das gestohlene Herz‹. »Wir hämmern Herzen rot von Blut, das stehet unserm Handwerk gut«, sangen der Herzensmeister (der war ich) und seine Gesellen. »Ich komme von der Erde, ach bitte, laßt mich ein, ich hab mein Herz verloren, es kann nur hier zu finden sein«, sang die kleine Lily (Schwester) oder Lotti. Es gab auch eine Aufführung im Klavierzimmer, in Kostümen und mit Publikum – für alle in Brandhof Anwesenden, auch Jäger und Dienstboten.

Oft kamen Wallfahrer (Mariazell!) vorbei, die am Brunnen Wasser tranken, manchmal wollten sie das Museum besichtigen, da machte dann einer von uns die Führung. Besonders meine Cousine Lotti war sehr beliebt, sie erfand zu jedem Fingerknöchelchen Andreas Hofers, das sie als Hexenklaue bezeichnete, eine Gruselgeschichte, und jedesmal eine andere. Jeden Sommer gab’s eine große Hochzeit Lottis mit mir, sie war ›Titüli‹, ich ›Hutzlibrazli‹, alle anderen, auch die Großeltern, waren Gäste oder ›Gefolge‹: Pilli ›Feng-e-feng‹, Lily das ›Putzweibelgeck‹ – um nicht ›gack‹ sagen zu müssen. Manchmal kamen Zigeuner vorbei. Großpapa erlaubte ihnen, mit ihren Wagen ein paar Tage zu bleiben – ihre Tanzbären, ihre Csárdás-Musik und ihre Kunststücke waren für uns sehr aufregend. Die rauben keine Kinder – obwohl das in manchen Brandhofer Büchern grausig beschrieben wird.

Die Bücher in Brandhof sind ein eigenes Kapitel. Wir durften nur die lesen, die im Kinderfrühstückszimmer waren, die übrigen Bücher waren nur für die ›Großen‹, und auch unsere Bücher waren zensuriert: Großmama hatte alle anstößigen Seiten, etwa bei der ›Frommen Helene‹ von Busch, zusammengeklebt, was diese natürlich besonders interessant machte, und wir kletzelten die ›Syndetikon‹-Klebestellen sorgfältig wieder auseinander.

Zwischendurch wurden Schmetterlinge gefangen – fachgerecht mit einem feinen Netz –, dann aufgespannt auf einem Spannbrett und nach dem Trocknen in einen Glaskasten gespießt und beschriftet. Vormittags flogen die schönsten Kaisermäntel, Aurorafalter und Admirale immer nordwärts über die große Wiese, die anderen Kinder hatten sie mir zuzutreiben. Ich fing nach strenger Klassifikation (›Kaisermantel 2. Klasse‹) nur die allerschönsten. Hier schwindelten wir: einem Scheckenfalter, der eine prachtvoll perlmutterartig schimmernde Unterseite hatte, rissen wir die Flügel aus, klebten sie umgekehrt an den Körper und schrieben unter das unbekannte Prachtstück: »Gesträuchswiesenvögelchen«. Der Name stammte von Lotti, die ja eine phantasievolle Dichterin war: »Momochens Mondfahrt« war eine ihrer Geschichten über einen Nasenpopel. Einmal haben wir in einem großen Gurkenglas einen wunderbar samtig-braunen Trauermantel gezüchtet, mit herrlich elfenbeinfarbigem Rand, von der gefräßigen Raupe über die Puppe bis zum naß ausschlüpfenden Falter. Kaum hatte er seine Flügel ausgebreitet und getrocknet, brachte ich ihn schon um! Ich denke, der Glaskasten mit der wunderschönen Sammlung steht oder hängt noch irgendwo.

Die ›Großen‹ – Eltern, Onkel, Tanten, Gäste – sahen wir kaum, außer es passierte etwas. Einmal lagen da Baumstämme bereit zum Abtransport, ein ziemlich dünnes Holz stand einladend ca. einen Meter vor. Da konnte man herrlich federnd schaukeln, wir alle taten es mit Vergnügen, da rutschte ich ab und fiel – gar nicht tief – ins Gras, direkt auf die abwehrende, verdrehte Hand. Es tat weh, aber das hatte man zu überwinden. Mama war gerade auf ein paar Tage zu Papa nach Graz gefahren. Als sie zurückkam, wunderte sie sich über meine Handhaltung: »Iß nicht so blöd! Die Hände gehören auf den Tisch.« Nach einiger Zeit meinte sie, da müsse doch etwas untersucht werden. Sie fuhr mit mir nach Mariazell ins Spital, röntgen, der Unterarm war gebrochen und ganz falsch zusammengewachsen. Der Doktor brach den Arm nochmals, richtete ihn ein, auuuuu! – und Gipsverband. Wie ein Sieger zog ich in Brandhof ein und durfte mir ein Trostgeschenk aussuchen; es war ein ›Stratosplan‹, ein kleines Flugzeug aus Draht, mit Gummi bespannt, das man mit einer Gummischleuder starten konnte! Toll! Wenn man die Heckflügel ein bißchen verbog, konnte es richtige Kapriolen und Loopings machen.

DIE GROSSELTERN MERAN

Bei Regenwetter war der große Dachboden in Brandhof unser Spielplatz. Da gab’s Germanenhelme aus Papiermaché. Mama und ihre Schwestern hatten als Kinder besonders gern ›Germanen‹ gespielt – das Nibelungenlied, vielleicht angeregt von Großpapa (Meran), der ein begeisterter Wagnerianer war und jeden Sommer nach Bayreuth fuhr. Diese Wagner-Begeisterung Großpapas und vielleicht auch der Grazer (es gab eine bedeutende Wagner-Gemeinde) muß wohl tiefere politische Gründe gehabt haben. Großpapa war ja nicht besonders musikinteressiert; aber mit Wagner war das etwas anderes. Wagner hatte sein Werk, besonders ›Parsifal‹ und den ›Ring des Nibelungen‹, schon immer als geradezu sakrale Botschaft gesehen, deren Überbringer er war, was ihn – wie er meinte – berechtigte, Unterstützung, Gefolgschaft, Huldigung und persönlichen Luxus zu fordern; das stehe ihm zu! Der bayerische König Ludwig fühlte sich verpflichtet, seinem Freund und Inspirator jeden Wunsch zu erfüllen: Förderung seines Werkes, luxuriöses Wohnen in der Schweiz und dann in Bayreuth, wo ihm sowohl das Festspielhaus als auch der Wohnpalast ›Wahnfried‹ zur Verfügung gestellt wurde. Auch der junge deutsche Kaiser Wilhelm wurde zum begeisterten Wagnerianer. Es war eben geweihte, heilig-deutsche Kunst, radikal gegen alles ›Undeutsche‹, mit ungewöhnlich scharfem antisemitischen Einschlag.

Nach Wagners Tod wurde dieser Kult immer fanatischer, dem bald auch der Großteil des deutschen Adels verfiel. Die Wagner-Witwe Cosima wurde zur angebeteten ›Hohen Frau‹, die die Bayreuther ›Parsifal‹- und Wagnerfestspiele zu einem gesellschaftlichen Zentralereignis machte. Wie dieser Wagner-Germanen-Fanatismus in die Familie Meran eindrang, ist mir ein Rätsel. Vielleicht war das Denken Erzherzog Johanns durch seine Präsidentschaft der Deutschen Nationalversammlung 1848/49 und durch das Erlebnis der Napoleonischen Kriege und Herrschaftsansprüche irgendwie ›großdeutsch‹ oder gar ›germanophil‹ geworden; da könnte Großpapa angesteckt worden sein – er verehrte ja den Erzherzog, seinen Großvater.

Jedenfalls war er bis zum Ausbruch des Weltkriegs 1914 ein eifriger Bayreuth-Wagnerianer. Natürlich war das der Grund, warum seine Kinder, besonders die Töchter (!) – die Söhne waren derart von der Jagd okkupiert, daß ihnen solche kulturpolitischen Interessen fremd waren –, in Brandhof wie wild Germanen spielten. Wir fanden dort am Dachboden ihre Germanenhelme, -schilde und sonstiges Gerät (kunstvoll aus Papiermaché), Mama erklärte uns die Benützung und welche Rollen (Loki, Siegfried, Walküre etc.) sie gespielt hatten. Sie war auch als alte Frau noch begeistert von ihren kindlichen Germanenspielen, was aber ihre Ablehnung alles Nazihaften überhaupt nicht beeinflußt hat; und wir haben von Großpapas ›Wagnerismus‹ keinerlei Infektion bekommen – da war wohl Papas wienerisch-folkloristisches Musikverständnis ein uneinnehmbares Bollwerk. Die letzten Endes innige und verhängnisvolle Beziehung des ›Wagnerismus‹ mit den Nazis (auch Benützung der Runen und Symbole) hat wohl nur den jüngsten und unjägerischsten der Söhne, Onkel Karl, angesteckt, der schließlich zum fanatischen Nazi wurde.

Aber Großpapa war auch abgesehen von dieser Leidenschaft eine merkwürdige Persönlichkeit: er galt als sehr streng, seine Angestellten mochten ihn trotzdem. Er sprach wenig, und wenn, dann knapp und knurrend. Sein scharfer, sarkastischer Humor ängstigte vor allem die älteren Tanten. Einfach war wohl sein Denken: alles sei geregelt via Gehorsam: dem Kaiser in irdischen, der Kirche in religiösen Belangen. Geradezu stolz war er, sich seinen ›Kinderglauben‹ bis ins Alter bewahrt zu haben! Merkwürdig! Und das war buchstäblich zu nehmen. In seiner Familie durfte kein Wort des Katechismus in Frage gestellt werden, ja Religionsgespräche, die über blinden Glauben hinausgingen, waren unmöglich (das hat Mama später anläßlich der hitzigen Diskussionen bei uns staunend hervorgehoben).

Ein unlösbares Rätsel für mich war Großmama. War Großpapas Autorität gleichsam naturgegeben, seine Lebensrolle, dann beruhte ihre Autorität auf ihrer sehr starken persönlichen Ausstrahlung. Sie war eine große, schlanke, auffallend schöne Frau. Wenn man sie näher kennenlernte, fand man zwei diametral entgegengesetzte Charaktere: hinter ihrem gütigen, liebevollen Gesicht gab es eine geradezu diamantene Härte, die wohl niemand da vermutete. Bevor die Erziehung des Kindes begonnen werden konnte, mußte der Eigensinn, ja auch der ›Wille‹ gebrochen werden – erst dann konnte ›aufgebaut‹ werden. Hinter allem Bösen – und es gab viel davon – lauerte der Teufel.