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Georg Psota
Michael Horowitz

ANGST

Erkennen – Verstehen – Überwinden

Unter Mitarbeit
von Angelika Horowitz

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2018 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

ISBN Printausgabe 978 3 7017 3437 5

ISBN e-Book 978 3 7017 4592 0

INHALT

DER DÄMON ANGST. Ein Prolog von Adele Neuhauser

KEINE ANGST! Ein Vorspiel von Michael Horowitz

ANGST IST EIN WORT MIT FÜNF BUCHSTABEN. Ein Vorwort von Georg Psota

FIGHT – FLIGHT – FREEZE. Angst biologisch

DAS FANTASIEVOLLE NETZWERK. Angst neurologisch

YIN & YANG DER SEELE. Angst psychochemisch

WAS IST SCHON NORMAL? Angst psychologisch

Stress & Burnout

Welche Ängste gibt es?

AUF DEN SPUREN DES UNSICHTBAREN ORGANS PSYCHE. Angst medizinisch

Herzinfarkt oder Herzsymptomatik?

Das Herz unter Stress

Apropos Mut …

Angst bei Krebs

Alles Panik?

HILFE, ICH WERDE VERRÜCKT! Angst psychiatrisch

Affekt, Emotion, Gefühl …

Mit Angst kenn’ ich mich aus …

Keine Angst vor Angsterkrankungen

Die Panikattacke

Hilfe – ich werde verrückt!

Angst vor der Angst

Sicher ist sicher

Phobien

Gut ist, was hilft …

Gefängnis aus Angstgedanken

Unter der Erde und über den Wolken

Agoraphobie generell

Das Vermeidungsverhalten ist das Problem

Angsterkrankung & Partnerschaft

Der Zwang zur Angst

Die Folgen der Angst von Mager- und Muskelsüchtigen

Die soziale Phobie

Chatroom statt Kaffeehaus

Ohne Anerkennung kein Erkennen

Krank vor Sorgen

Therapie bei GAD

Große Angst, aber keine Angsterkrankung

Die Angst vor dem schwarzen Hund

Die Angst-Depression

Aus der Angst in die Sucht

Von der Angst zur Droge

MAGIE, MEDIEN & MANIPULATION. Angst & Gesellschaft

Am Anfang war das Wort

Töten und Ängste

Die Zeiten und ihr Lärm

Ein Jahrhundert voller Angst

Die paranoide Angst

Die Angstproduktion

Angstvermittlung durch Medien

Angst vor Fremden

Angst-Gesellschaft

DUNKLE ETAPPEN DES LEBENS. Angst & Lebensalter

Ängste in Kindheit und Jugend

Urangst statt Urvertrauen

Trennungsangst

Angst vor der Dunkelheit

Die Pubertät und ihre brutalen Regeln

Die Angst, zum »alten Eisen« zu gehören

Therapie für über Achtzigjährige?

Die »Alzheimer-Angst«

WEGE IN RICHTUNG HEILUNG. Angst & Therapie

Die Therapien

Verhaltenstherapie

Desensibilisierung

Ins kalte Wasser werfen

Kognitive Verhaltenstherapie

Tiefenpsychologische Psychotherapie

Der Sinn der eigenen Existenz

Systemische Therapien

Ungewöhnliche Wege zum Ziel

Medikamentöse Therapie

Valium und seine Verwandten

Antidepressiva gegen Angst

Trazodon & Pregabalin

Phytopharmaka

Die Kraft der Vorstellung – Placebo

Angst und Schlaf

Schlafstörungen durch Angst

GEFANGEN IM VIRTUELLEN NETZ? Angst & Zukunft

Struktur hilft gegen Angst

Der soziale Airbag

Ein positiver Blick nach vorne

REDEN WIR DARÜBER, DAS IST DOCH GANZ NORMAL. Nachwort von Georg Psota

VADEMECUM DER ANGST

BIBLIOGRAFIE

DER DÄMON ANGST

EIN PROLOG VON ADELE NEUHAUSER

Der Dämon Angst hatte mich viele Jahre fest im Griff. Ich will damit nicht sagen, dass ich heute keine Angst mehr habe, aber ich kann meinen Ängsten begegnen und sie manchmal auch lächelnd überwinden. Das war ein langer Weg, und hätte ich in meinen jungen Jahren professionelle Hilfe gehabt, wäre ich sicher schneller meinem bedrückenden Gefängnis entkommen.

Angefangen hat alles mit der Trennung meiner Eltern. Mein Bruder und ich sollten weiter bei unserem Vater aufwachsen, doch es war damals noch üblich, dass die Kinder nach der Trennung der Eltern zur Mutter kamen. Deshalb kamen oft und in unregelmäßigen Abständen die Damen der Fürsorge zu uns in die Wohnung und stellten mir immer wieder dieselbe Frage: »Magst du nicht doch lieber bei deiner Mama sein?«

Es war aber bloß eine scheinbare Wahl, vor die ich gestellt wurde. Mein Vater hatte nur in die Scheidung eingewilligt, wenn seine Kinder weiter bei ihm bleiben durften. Das wusste ich natürlich nicht, ich war damals neun Jahre alt, und meine Eltern hatten mir diesen Umstand nicht kommuniziert.

Ich entschied mich auf die Fragen der Fürsorgerinnen immer wieder für meinen Vater. Ich war ein Papa-Kind und fühlte mich sehr zu ihm hingezogen. Mit ihm war es oft sehr lustig und auch aufregend. Etwa wenn er mich aus dem Büro anrief und meinte, ich solle schnell ein paar Sachen packen, weil wir einen kleinen Ausflug machen würden, er dann aber spontan mit mir nach Venedig fuhr. Das war Aufregung pur. Oder aber, wenn wir an einem Sonntag ins Kino gingen und dann nicht nur einen sondern gleich noch einen zweiten Film anschauten. Auch davon war ich stets mehr als begeistert.

Mit der Entscheidung, bei meinem Vater zu bleiben, wollte ich aber natürlich nicht meine geliebte Mutter verletzen oder sie vielleicht sogar traurig machen.

Die immer stärker wachsenden Schuldgefühle führten dann in meinem zehnten Lebensjahr zu meinem ersten Suizidversuch. In den folgenden elf Jahren sollte ich noch weitere fünf Versuche unternehmen. Mein Umfeld hatte allerdings wenig Chancen, zu erkennen, in welch auswegloser Situation ich mich damals befand, denn ich war zugleich auch ein sehr aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Das Lachen fiel mir gar nicht schwer, mit jedem Blödsinn konnte man mich dazu bringen, ich trug jedoch zugleich auch eine große Sehnsucht nach liebevoller Wahrnehmung in mir.

Dass ich aus diesem dunklen Labyrinth meiner seelischen Verwirrungen herausgefunden habe, lag an mehreren Faktoren. Letztendlich musste ich mir eingestehen, dass die »Erlösung« nicht in meiner Auslöschung lag, sondern im bewussten Durchleben meiner Ängste. Sie zu ergründen, zu benennen und ihnen Aug in Aug zu begegnen, um sie dann effektiv bekämpfen zu können oder auch einfach nur zu akzeptieren und als gegeben anzunehmen, führten mich schließlich ins Leben zurück.

Mein in frühen Jahren gefasster Entschluss, Schauspielerin zu werden, half mir dabei entscheidend. Durch die Auseinandersetzung mit anderen Charakteren und Lebensfallen lernte ich zu begreifen, dass ich nicht alleine war in meinem Kampf. Das relativierte meine Ängste und machte sie weniger bedrohlich für mich. Ich will damit nicht sagen, dass jeder Schauspieler werden solle, um angstfrei leben zu können, sich jedoch in der Gesellschaft zu spiegeln und zu begreifen, dass wir alle Menschen sind und mit ähnlichen Dingen zu kämpfen haben, macht es wesentlich leichter.

Auch sollte uns klar sein, dass Ängste zu unserem Leben gehören wie die Sehnsucht nach aufrichtiger Liebe und der Wunsch nach einem erfüllten Dasein. Wir leben in einer aufregenden Zeit. Unsere Gesellschaftsformen verändern sich. Gleichgeschlechtliche Ehen setzen sich in vielen Ländern durch. Wir erleben eine Renaissance des Feminismus. Politisch eingefahrene Systeme brechen auf. All das ist positiv, verhindert jedoch nicht den weltweiten enormen Rechtsruck. Offenbar sind wir also doch noch nicht reif genug für eine offene Gesellschaft und vor allem nicht für die Freiheit des Individuums. Freiheit macht Angst.

Viele Ängste werden uns auch eingeredet, etwa von machtbesessenen Politikern und verantwortungslosen Medien. Sie sprechen von der Angst vor dem Fremden, vor anderen Kulturen, die unsere (angeblich so) heile Welt bedrohen – manchmal tatsächlich, und das ist verabscheuungswürdig, aber zumeist doch nur angeblich. Ich kann verzweifelten Menschen, die sich zu vielen Tausenden auf einen gefährlichen Weg zu uns machen, nicht vorwerfen, dass sie ihre unmenschlichen Lebenssituationen verlassen haben, um bei uns ihren verdienten Frieden zu finden.

Ein einfaches und zufriedenes Leben zu führen, ist gar nicht so leicht. Oder doch? Ich war 25 Jahre verheiratet und habe es nicht geschafft, diese Ehe noch weitere Jahre aufrechtzuerhalten. Ich habe einen wunderbaren Sohn, der mich sehr glücklich macht. Trotzdem war ich viele Jahre getrieben von mir selbst und der idealen Vorstellung von einer glücklichen Existenz. Es mussten mich erst ein paar heftige Schicksalsschläge treffen, bis sich mein Blick auf die Welt und meine Situation verändern konnte, er sich neu geschärft hat. Ich verlor innerhalb von eineinhalb Jahren meine Eltern und meinen Bruder. Ein völlig neuer Lebensabschnitt begann. Beängstigend! Aber nein, ich fing an, mein Leben und das Leben an sich neu zu betrachten.

Der britische Astrophysiker Stephen Hawking meinte, wir sollten mehr in die Sterne schauen und unsere Existenz nicht überbewerten. Dieser Gedanke ist so klug wie hilfreich. Trotzdem ist es mir ein Anliegen – so habe ich es gelernt –, durch meine Trauer und den Schmerz bewusst zu gehen und sie nicht zu verdrängen oder zu unterdrücken.

Alles, was uns bedrückt, kann sich irgendwann in eine scheinbar »unbegründete« Angst wandeln, wenn wir nicht versuchen, in unserem Herzen Ordnung zu schaffen. Wenn wir das nicht mutig immer wieder aufs Neue versuchen, kann es passieren, dass die Angst zum Motor für unser Leben wird, zu einem Motor, der nicht mehr recht zu funktionieren scheint. Dieser Umstand kann uns in eine Starre versetzen, der wir oft aus eigenem Antrieb nicht mehr entkommen können.

Dieser Stillstand – die Starre – könnte uns doch auch genauso gut anspornen, unseren Ängsten neu und frisch gegenüberzutreten. Denn jede überwundene Angst macht uns reicher und stärkt uns für neue Herausforderungen in unserem Leben. Wir werden mit positiver Energie versorgt, die ungleich stärker ist als jede noch so unaussprechliche Angst. Ja, das kann ein sehr schmerzlicher Prozess sein, aber eben auch ein äußerst heilsamer und befreiender – wie ich am eigenen Leib erleben durfte.

Herzlich, Ihre
Adele Neuhauser

KEINE ANGST!

EIN VORSPIEL VON MICHAEL HOROWITZ

Steven und Bill.

Steven, ein kleiner, zarter Bub ohne Freunde. Seine Mitschüler verspotten und verprügeln ihn – Mobbing in der Schule gab es auch schon vor sechzig Jahren. Steven wäre am liebsten unsichtbar, seine Nase erscheint ihm monströs. Der Einzelgänger fürchtet sich vor fast allem: »Ich war mein eigenes Monster. Ich hatte vor allem Angst, denn mein Vorstellungsvermögen war enorm. Da konnte sich jeder Stuhl ganz schnell in eine Spinne verwandeln. Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Fünfjähriger in den Himmel schaute. Aus einer Wolke wurde ein schöner Schwan und daraus plötzlich ein Saurier. Und ich rannte schreiend nach Hause. Meine Eltern dachten, mit meiner Psyche sei etwas nicht in Ordnung«, erinnert sich Steven Jahrzehnte später. Und Stevens Mutter Leah weiß: »Wenn Äste gegen das Haus schlugen, verkroch er sich bei mir im Bett.«

Auch die Kindheit von Bill ist ungewöhnlich. Sein besorgter Vater William, Anwalt und Philanthrop, schickt den Zwölfjährigen zum Psychologen, weil er extrem schüchtern und schutzbedürftig – aber auch streitsüchtig ist. Am liebsten verschanzt sich Bill im Keller, um immer wieder Lexika zu durchforsten. Doch die Psychotherapie hilft nicht: Als der Schulball bevorsteht, traut sich der Eigenbrötler mit schriller Stimme und zu großen Füßen nicht, ein Mädchen einzuladen. Als ihn der Vater doch dazu überreden kann, gibt ihm die Mitschülerin einen Korb.

Die Ängste von Steven und Bill halten die beiden aber nicht davon ab, in ihrem späteren Leben angesehen und erfolgreich zu werden: Hollywood-Legende Steven Spielberg ist, gemessen am Einspielergebnis seiner Filme, der bis heute erfolgreichste Regisseur. Und Computer-Nerd Bill Gates galt lange als der reichste Mann der Welt. Seine »Bill & Melinda Gates Foundation« ist die bei Weitem mächtigste private Wohltätigkeitsstiftung, die jährlich Milliarden Dollar für Armutsbekämpfungs-, Gesundheits- und Bildungsprojekte spendet.

Kann das mächtige Urgefühl der kindlichen Angst bei Steven Spielberg und Bill Gates Ansporn und Ursache ihres beispiellosen Erfolgs sein? Das »Lob der Angst« von Genetikern, Hirnforschern und Psychologen ist eine überraschende Erkenntnis der letzten Jahre. Mit revolutionären Untersuchungsmethoden und immer wiederkehrenden Experimenten haben sie ergründet, wie extrem dieses Urgefühl unsere Psyche, unsere Persönlichkeit und unser Leben prägt. Vor allem Langzeitstudien der amerikanischen Harvard University belegen diesen Umstand.

Weltweit sind sich Wissenschaftler inzwischen einig, dass es überlebenswichtig ist, in bestimmten Situationen Angst zu empfinden – solange sie einen nicht überwältigt und zu einem beklemmenden Gefühl wird. Angst schärft die Sinne, fungiert als Warnfunktion und ermöglicht, dass der Körper schneller reagiert als der Verstand. Mitunter sind es dann diese Millisekunden, die Leben retten können – die Schrecksekunden.

Würden Kinder nie das Fürchten lernen, könnten sie nicht gesund aufwachsen. Während seiner frühkindlichen Entwicklung stellt sich der Mensch verschiedensten Ängsten: der vor der Dunkelheit oder der vor dem Fremden. Wenn Eltern ihre Kinder immer nur bei Licht schlafen lassen, entwickeln sie sich wahrscheinlich später zu überängstlichen Persönlichkeiten.

Angst gehört zum Leben. Sie kann plötzlich über uns hereinbrechen oder sich langsam in unsere Seelen schleichen. Sie schützt davor, sich in gefährliche Situationen zu begeben. Niemals Angst zu empfinden, ist abnormal. Jeder Mensch hat Angst, manchmal mehr, manchmal weniger, doch kaum jemand spricht gerne darüber. Dabei ist Angst eine der mächtigsten Triebfedern des menschlichen Lebens: Sie kann den Körper völlig überwältigen, man empfindet sie stärker als Freude oder Glückseligkeit. Viele Charakterzüge des Menschen hängen mit seinen Ängsten zusammen. Die schwierige Aufgabe besteht darin, sie zuzulassen, richtig damit umzugehen und sie zu überwinden, sobald sie zerstörend wird.

Die Angst ist wie vieles in der Welt unserer Empfindungen ein Tabuthema – ein Zeichen der Schwäche. Und es stimmt: Sobald Angst zu viel Einfluss auf den Menschen nimmt, kann sie lähmend und leistungshemmend, belastend und zerstörerisch sein. Und sie macht krank. Auch gesunde Menschen, die entspannt und ansonsten furchtlos leben, können Angst in extremer Form empfinden.

Die Angst vor Schlangen oder Spinnen, vor Aufzügen, Flugzeugen und Menschenmassen, die Angst, verlassen zu werden oder in der Öffentlichkeit sprechen zu müssen: Angst lähmt uns, wenn wir wach sind, und sie hält uns wach, wenn wir schlafen wollen. Dabei wäre es so befreiend, wenn wir uns nur vor dem fürchteten, was wirklich gefährlich ist: Schon der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt meinte in seiner Antrittsrede: »Das Einzige, was wir wirklich fürchten müssen, ist die Furcht selbst.« Denn keine Angst zu haben bedeutet, frei zu sein.

Plötzlich aufziehende Nebelschwaden der Angst, ein Gefühl der Unheimlichkeit, des Ausgesetztseins in der Welt. Elias Canetti beschreibt diese beklemmende Situation: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes … nachts oder im Dunkeln überhaupt kann der Schrecken über eine unerwartete Berührung sich ins Panische steigern.«

Das Unbehagen in der Dunkelheit, das Erschrecken vor einem vorbeihuschenden Schatten, die Sorge vor dem nächsten Morgen. Angst! Panik! Schrecken! Die Gedanken kreisen unkontrolliert im Kopf, der Körper verkrampft sich und reagiert: Atemnot, Herzrasen, Beklemmungsgefühl, Schwindel und Schweißausbrüche.

Angst ist ansteckend, bestätigen Wissenschaftler immer wieder – zuletzt am »University College« in London –, und sie kann sich wie ein Virus ausbreiten. Das Gefühl der unterschwelligen Bedrohung steigert sich rasant, sobald Themen wie Flüchtlinge, ein Amoklauf oder eine Messerattacke zur Sprache kommen, und natürlich Terror. Nach den IS-Anschlägen am 13. November 2015 mit 130 Toten und fast 700 Verletzten in Paris wehrten sich die Franzosen allerdings gegen diese kollektive Angst: Sie riefen »Meme pas peur!« und schrieben es auf Hauswände, Plakate und T-Shirts. Wir haben keine Angst, wir lassen uns keine Angst machen! Ein Zitat, das sonst französische Kinder einander zurufen, um einander beim Spielen gegenseitig Mut zu beweisen.

Lange Zeit galt der Verstand als höchstes Gut der Menschen, Gefühle wurden als unzuverlässig abgetan. Inzwischen weiß man, dass den Menschen nichts so stark prägt wie seine Gefühle. Sie entscheiden, wie wir mit unserem Leben umgehen. Für viele ist es nicht leicht, mit der Intensität der Emotionen umzugehen. Oft ist man überwältigt – von Freude und Liebe, aber auch von Angst, Einsamkeit oder Wut. Wer seine Gefühle nicht zulässt, wer nicht versucht, sie zu verstehen, versteht die Welt nicht. Die eigenen Gefühle zu kennen, ist wichtig für die seelische Gesundheit.

Der Mensch kann nur schnell und richtig reagieren, weil die Emotionen Träger unserer Erfahrungen sind, meint einer der bekanntesten Gefühlsforscher der Welt, der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio, denn rund achtzig Prozent der menschlichen Entscheidungen basieren auf Emotionen. Gefühl und Verstand sind nicht voneinander getrennt, sondern hängen miteinander zusammen, die Gefühlswelt ist symbiotisch mit dem Körper verbunden: Unsere Handlungen beeinflussen die Hormone – und die Hormone beeinflussen, was wir tun.

Auch für die Wissenschaft bleiben Gefühle eines der großen Rätsel: Wie entstehen sie, was löst sie aus, wozu brauchen wir sie, warum beherrschen sie uns so stark? Inzwischen wissen Hirnforscher, dass sie unser Leben und unsere Persönlichkeit prägen. Wir durchleben das von neuronalen Synapsen, Botenstoffen und Hormonen gesteuerte »Wechselbad der Gefühle«, wir sind Freude und Traurigkeit, Liebe und Angst ausgeliefert. Für den schwedischen Psychiater Poul Bjerre stellt die Liebe die höchste, die Angst die tiefste Unlust dar.

Auch der Blick ins Gehirn, der seit einigen Jahrzehnten durch bildgebende Verfahren möglich ist, hat nicht alle Rätsel gelöst. Wann und ob das Gehirn zur Gänze erforscht und verstanden sein wird, bleibt weiterhin unklar, doch der rätselhaften Schaltzentrale im Kopf konnten Neurowissenschaftler bereits einige Geheimnisse entlocken: Das Gehirn hat auf allen Entwicklungsebenen Bereiche, die für Gefühle zuständig sind und miteinander kommunizieren. Die Hoffnung, in der grauen Masse, deren Länge aller Nervenbahnen etwa 5,8 Millionen Kilometer, dem 145-fachen Erdumfang, entspricht, das Glückszentrum zu finden, ist unerfüllt geblieben. Es wäre zu schön gewesen, Glück im Gehirn lokalisieren zu können …

Einblicke in das gewaltige Netzwerk der Gefühle: 86 Milliarden Nervenzellen, die in hundert Billionen Synapsen verschaltet sind, arbeiten im Gehirn, um Informationen wie das Angstgefühl, eine fundamentale menschliche Sinneswahrnehmung, zu übertragen. Was bei Angstzuständen im Gehirn passiert, wollte der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux schon immer wissen. Er gilt als einer der Begründer der biologischen Emotionsforschung. Seine Laufbahn als Hirnforscher begann er mit Studien zu Epilepsie-Patienten, deren Gehirne in der Mitte durchtrennt worden waren. Seither beschäftigt ihn, wie sich emotionale Informationen im Gehirn verbreiten. Ratten helfen ihm bei der Erforschung des Angstgefühls. Diese hat er darauf konditioniert, vor einem bestimmten Geräusch Angst zu haben. Für das Verständnis menschlicher Emotionen und die Entwicklung von Therapien gegen Angststörungen sind solche Versuche wichtig, denn Ratten und Menschen haben ein kleines Hirnareal gemein, den Mandelkern mit seiner uralten, primitiven Struktur, die sich im Laufe der Evolution kaum verändert hat. Diese Region, wissenschaftlich Amygdala genannt, setzt bei Gefahr Prozesse in Gang, die uns erstarren lassen und Puls und Blutdruck in die Höhe treiben. Sie sorgt auch dafür, dass wir unangenehme oder belastende Situationen nicht so schnell vergessen.

Lassen sich Gedanken an schmerzhafte Erlebnisse manipulieren oder gar ausradieren wie im Hollywood-Liebesdrama »Vergiss mein nicht!« mit Jim Carrey und Kate Winslet? Der Hirnforscher Joseph LeDoux von der New York University in Manhattan, gerne als »Doyen der Furchtkonditionierung« bezeichnet, erkundet seit dreißig Jahren die neuronalen Grundlagen eines der mächtigsten Gefühle – der Angst. Er untersucht, wie das Gehirn auf Gefahr reagiert und sich negative Erlebnisse ins Gedächtnis einbrennen. Um Ängste und Ratten für kurze Zeit vergessen zu können, spielt er in seiner Rockband Amygdaloids Gitarre und Schlagzeug – und singt dazu Songs über das Gehirn, die er selbst geschrieben hat.

Die Geschichte der Angst ist lange: Der griechische Arzt Hippokrates meinte im vierten Jahrhundert vor Christus, ein plötzlicher Ausfluss von schwarzer Galle ins Gehirn rufe Angst hervor. Demnach ließe sie sich behandeln, indem man die Körperflüssigkeiten wieder ins Gleichgewicht brächte. Und der Philosoph Platon meinte, für die Heilung der Ängste seien vor allem Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung notwendig. Im 17. Jahrhundert hielt der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza Angst für ein reines Logikproblem. »Geistiges Unvermögen« sei schuld daran, dass wir Dinge fürchteten, die sich unserer Kontrolle entzögen.

Charles Darwin ist der Erste, der die Evolution der Empfindungen systematisch erforschte. Der Naturwissenschaftler litt selbst massiv unter Angststörungen, vor allem Schlangen versetzten ihn in Panik und Schrecken. Darwin berichtet von einer beängstigenden Situation im Tiergarten, als er sich Auge in Auge – getrennt nur durch eine dicke Glasscheibe – mit einer tödlichen Schlange befand: »Mein Wille und mein Verstand waren kraftlos gegen die Einbildung einer Gefahr, welche ich niemals direkt erfahren hätte können.« Daraus schloss Charles Darwin, dass bestimmte Ängste nicht aufgrund negativer Erfahrungen entstehen würden, sondern automatische körperliche Reaktionen auf eine Bedrohung seien.

1919 entwickelte der amerikanische Physiologe Walter Cannon Darwins Vorstellung einer Stressreaktion weiter und führte dafür den Begriff »Fight or Flight«, »Kampf oder Flucht«, ein. Anhand von Versuchen mit Katzen dokumentierte er als Erster, dass bei der Fight or Flight-Reaktion Blut in die Skelettmuskeln gepumpt wird, damit das Tier besser für Kampf oder Flucht gewappnet ist.

Erst 1949 fand in New York die erste akademische Konferenz zum Thema Angst statt. Hier wurde auch davon berichtet, dass bis zum Jahr 1927 weltweit nur drei wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Angst veröffentlicht worden seien. 1941 sind es vierzehn, 1950 zumindest 37. Erst im Jahr 1989 werden ins amerikanische »DSM« – ein Klassifikationssystem für psychische Diagnosen – Angststörungen aufgenommen – als Ersatz für das Kapitel Neurosen von Sigmund Freud.

Bereits am 17. Juni 1844 war in den Auslagen der Buchhandlungen von Kopenhagen ein Band mit dem Titel Begrebet Angest (Der Begriff Angst) aufgetaucht. Mit psychologischem Gespür erläutert der Philosoph Sören Aabye Kierkegaard darin einen in der Philosophie völlig neuen Grundbegriff: die Angst, ein Grundphänomen in der Geschichte der Menschen, das er jedoch von der Furcht unterscheidet, die gegenstandsgebunden ist, während Angst gegenstandslos und eigentümlich unbestimmt ist. Sie sei kein »Gefühl«, sondern eine »Stimmung«. Man fürchte sich vor etwas, aber man hätte Angst.

Martin Heidegger, der große Existenz-Philosoph im Windschatten Hitlers, hat diese Unterscheidung Kierkegaards in sein Buch Sein und Zeit übernommen: »Wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-Sein selbst.« Und auch Karl Jaspers bezieht sich auf die These des dänischen Philosophen: »Furcht ist auf etwas gerichtet, Angst ist gegenstandslos. Von einer inhaltslosen gewaltigen Angst, die zur Trübung des Bewusstseins und rücksichtslosen Gewaltakten gegen sich selbst und andere führt, bis zur leichten, als fremd und unverständlich empfundene Ängstlichkeit gibt es alle Grade.«

Der zutiefst religiöse, schwermütige Kierkegaard – zerrissen von seelischen Konflikten, die in seinen Tagebüchern ihren Niederschlag finden – beschreibt die Angst nicht nur als negativ: »Sie lähmt nicht nur, sondern enthält die unendliche Möglichkeit des Könnens, die den Motor menschlicher Entwicklung bildet.« Angst bedeute zum Beispiel auch die Möglichkeit von Freiheit. Mit theologischer Leidenschaft zieht er als Beispiel die biblische Urgeschichte heran und findet, schon bei Adam und Eva sei die Angst Voraussetzung des Sündenfalls. Die beiden seien bei der Frage, ob sie vom Baum der Erkenntnis naschen sollten oder nicht, in einen »Schwindel der Freiheit« geraten. Auch für Jean-Paul Sartre ist Angst als eine »Qualität unseres Bewusstseins« die Vorbedingung der Freiheit, zu der der Mensch verurteilt ist.

Die Fähigkeit, mit der Angst richtig umgehen zu können, projiziert Kierkegaard auf das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen der Gebrüder Grimm: »Dies ist ein Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat: Dass er lerne sich zu ängstigen, denn sonst geht er dadurch zugrunde, dass ihm nie angst war, oder dadurch, dass er in der Angst versinkt; wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt.«

Die Überwindung der Angst löst oft ungeahnte, lustvolle Hochgefühle aus. Manche Extremsportbegeisterte können ohne Nervenkitzel nicht leben. Beim Freiklettern und Fallschirmspringen oder bei der aktuell mit Abstand gefährlichsten Sportart, beim Wingsuit-Fliegen: Menschen stürzen sich (freiwillig) mit fledermausähnlichen Anzügen und einem Fallschirm von Bergspitzen, Türmen und Wolkenkratzern. Anderen Menschen genügt es schon, einen Horrorfilm durchzustehen: »Das Angstsystem ist entwicklungsgeschichtlich so alt und primitiv, dass es sich leicht täuschen lässt«, analysiert der Psychiater Borwin Bandelow, »deshalb entsteht im Kino eine gruselige Atmosphäre, auch wenn uns der Verstand sagt, dass wir ja nur einen Film sehen.« Einen Film, in dem Exorzisten, Folterknechte und Untote ihr bestialisches Unwesen treiben und damit beim Zuschauer Lustgefühle auslösen …

Winston Churchill, der während fünf verschiedener Kolonialkriegen als Kriegsberichterstatter arbeitete, beschreibt die freudige Erregung der Überwindung von Ängsten: »Nichts im Leben löst ein größeres Hochgefühl aus, als beschossen und nicht getroffen zu werden.« Sich der Angst ohne Panik zu stellen und sie zu überwinden, bedeutet nicht nur für den von schweren Depressionen gepeinigten Churchill pures Lustgefühl. Viele Dichter und Denker, Erfinder, Musiker und Schauspieler sind zutiefst furchtsame Menschen. Sie sind nicht glücklicher, aber kreativer, oft emotionaler, leidenschaftlicher und ausdrucksstärker als andere. Oft setzt Angst bei Kreativen jene unerschöpfliche Energie frei, die für Höchstleistungen notwendig ist – während wiederum andere Menschen durch Ängste psychische Störungen entwickeln …

Die Liste erfolgreicher, außergewöhnlicher Menschen, die unter Angststörungen leiden, ist beträchtlich – Steven Spielberg und Bill Gates sind keine Ausnahmen. Auch Johann Wolfgang von Goethe litt unter extremer Höhenangst.* Er versuchte, diese mit einer Selbsttherapie zu überwinden, kletterte auf den Turm des Straßburger Münsters und blieb eine Viertelstunde lang oben – bis er wieder hinunterging: »… dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig war.«

Ernest Hemingway kämpfte lebenslang mit Todesängsten, um sich schließlich nach langer Zeit der Isolation, Trunksucht und Depression das Leben zu nehmen. Bert Brecht glaubte ständig, einer Herzattacke zu erliegen. Und auch Samuel Beckett und John Steinbeck, Franz Kafka und Virginia Woolf wurden ständig von Ängsten gequält.

Auch der Begründer der modernen Evolutionstheorie Charles Darwin fürchtete sich vor Schlangen und Menschenmengen, vor der Einsamkeit und dem Reisen. Er lebte zurückgezogen in Südengland und verließ das Land nie wieder. Bereits im Alter von 28 Jahren erlitt er nach seiner jahrelangen Forschungsreise unerklärliche Anfälle: Herzrasen. Zittern. Todesangst.

Musiker wie Aretha Franklin und Ray Charles, David Bowie und Eric Clapton litten unter Panikattacken, Barbra Streisand und die britische Schauspiellegende Sir Laurence Olivier unter sozialer Phobie: Seine Angststörung ging so weit, dass der dreifache Oscar-Preisträger während der Vorstellung den Zuschauern den Rücken zukehrte, weil er fürchtete, wegen ihrer Blicke den Text zu vergessen. Den Stadtneurotiker Woody Allen plagen eine ganze Reihe von Ängsten. Erst mit vierzig Jahren konnte er bei ausgeschaltetem Licht schlafen. Seine Neurosen sind so berühmt, dass ein 2002 entdecktes Gen nach ihm benannt wurde: das Woody-Allen-Gen, das ängstliches Verhalten forcieren soll.

Die Schauspielerin Wynona Rider sorgte wegen ihrer Angst beim Fliegen für Aufregung, weil ein Flugzeug ihretwegen früher landen musste: Sie hatte einen Medikamentencocktail zu sich genommen – der Verdacht auf eine Überdosis lag nahe. Ihre Kollegin Natalie Portman weigert sich fast immer, Hände zu schütteln. Wegen ihrer Bakterienphobie hat sie immer Desinfektionsmittel bei sich. Nicole Kidmans panische Angst vor Schmetterlingen ist in Hollywood legendär: Einmal ließ sie sich mit Hunderten Faltern in einen Käfig einsperren, um ihre Phobie zu überwinden. Allerdings ohne Erfolg.

Dustin Hoffman leidet derart unter Panikattacken, dass er einmal seine Karriere für drei Jahre unterbrach. Oscar-Gewinner Heath Ledger, der im Alter von 28 Jahren an einem Medikamentencocktail aus Angsthemmern, Schlafmitteln und Tranquilizern starb, meinte in seinem letzten Interview: »Die Angst ist ein Ganztagsjob.«

Das Phänomen der Angst spielt bei Sigmund Freuds Erkenntnissen eine wesentliche Rolle. Er bezeichnet die Angst als »Knotenpunkt der Seele«, das »Ich« gilt als »Angststätte«. Dem Ich werden aus drei Quellen Furchtgefühle eingeflößt: durch Angst-signale aus der Außenwelt, durch die Triebe des Unbewussten und durch Bedrohungen des »Über-Ichs«.

Im Alter von siebzig Jahren beschäftigte sich Freud in seiner Arbeit Hemmung, Symptom und Angst noch einmal umfassend mit Angststörungen. Der Begründer der Psychoanalyse beschrieb Platzangst und Panikattacken übrigens nicht nur – er litt auch selbst darunter. Eine Fahrt in der Eisenbahn konnte für ihn zu einem höllischen Erlebnis ausarten. Und er war Hypochonder. Am Ende seines Lebens stellte Sigmund Freud fest: »Es ist ja peinlich für einen Medicus, der sich alle Stunden des Tages mit dem Verständnis der Neurosen quält, nicht zu wissen, ob er an einer logischen oder an einer hypochondrischen Verstimmung leidet …«

* Prominente Angsthasen«, © WeltN24 GmbH 2015

ANGST IST EIN WORT MIT FÜNF BUCHSTABEN

EIN VORWORT VON GEORG PSOTA

Angst bezeichnet ein Gefühl. Als Wort in seiner Bedeutung hat es Verbindung zu den Begriffen Sorge, Furcht und Schrecken. Angst kann ein sehr starkes Gefühl sein, mit einer Fülle von Auswirkungen. Weltweit ist es allen Menschen bekannt, auch vielen Tierarten, als Instinkt möglicherweise fast allen Lebewesen.

Es kommt in allen Altersgruppen vor, ebenso in allen Gesellschaftsschichten, bei Frauen und bei Männern, in allen Erdteilen, Kontinenten und Kulturen. Zwar gibt es Unterschiede in der Angstbetonung und damit auch im Ausmaß der Häufigkeit in verschiedenen Gegenden der Welt, aber ein Wort für Angst gibt es überall.

Angst kann das Resultat einer völlig realistischen Einschätzung sein und andererseits auch völlig absurd und unangebracht. Wie alle Gefühle kann sie kurzfristig und heftig und ebenso lang andauernd und mäßig ausgeprägt in Erscheinung treten, lähmen und sogar beflügeln. Sie kann ein heftiges Hindernis und eine massive Belastung darstellen, den Spielraum des Lebens sehr einengen und ebenso eine wirksame Warnung, ja sogar eine wesentliche Triebfeder notwendiger Handlungen sein. Angst an sich ist keine Krankheit. Aber sie kann Symptom verschiedener Krankheiten, körperlicher wie psychischer, sein.

Angst kann zur Erzeugung von Massenphänomenen auch politisches Werkzeug und Kalkül sein. Sie kann uns beherrschen, faszinieren und auch ruinieren. Sie kann das individuelle Gefühl oder auch die Krankheit eines Einzelnen sein und ebenso das Lebensgefühl einer Epoche oder eine Massenpanik, die viele Menschen betrifft.

Verschiedenen großen Untersuchungen zufolge leiden 2018 in Europa rund fünfzehn Prozent der Menschen innerhalb eines Jahres an unterschiedlichen Angsterkrankungen. Diese Menschen sind aber nicht unbedingt die gleichen Personen wie 2017, und vermutlich wird auch 2019 diese Fünfzehn-Prozent-Gruppe nicht die gleichen Personen wie 2018 enthalten. Wir dürfen also annehmen, dass über zehn Jahre oder gar im Lebensverlauf noch weit mehr als jede siebente Person betroffen ist oder einmal davon betroffen war.

Wenn Angst in krankheitswertiger Form einen Menschen überfällt, dann ist es jedenfalls ein mächtiger Druck auf dessen Seele und wird häufig als lebensbedrohlich erlebt.

Die Überwindung von Angst hingegen gehört zu den Gelegenheiten, besonders große Freude, Befreiung, ja sogar Triumph zu empfinden. Das sind Momente des Menschseins, mit der Möglichkeit, über sich selbst zu siegen.

Bedeutende Menschen der Geschichte haben an unterschiedlichen, heftigen Ängsten und manche auch an Angsterkrankungen gelitten und sie vielfach – aber nicht immer – bewältigt. Allein der Versuch der Bewältigung von Angst ist ein mutiger Akt.

Mut kann nur jemand haben, der die Angst kennt und versucht, sie zu überwinden.

»If you are going through hell, keep going«, so lautet einer der wichtigsten und persönlichsten Leitsätze von Winston Churchill.

FIGHT – FLIGHT – FREEZE

ANGST BIOLOGISCH

Die Angst steckt in jedem Menschen,
aber die schwere Aufgabe besteht darin,
sie zuzulassen und richtig mit ihr umzugehen
.

Sören Kierkegaard

Angst ist ein unangenehmes Gefühl, das bei der Wahrnehmung von Gefahr entsteht. Ob diese Wahrnehmung richtig, im Sinne von zutreffend, ist oder nicht, ist dabei sekundär. In der biologischen Forschung steht das Gefühl der Angst jeweils am Beginn einer Stressreaktion. Im Laufe der Entwicklung der Menschheit – also über einen Zeitraum von Millionen Jahren – hat sich ein vielschichtiges und sehr stark verschaltetes System von Warnung und Entwarnung beim Menschen entwickelt. Damit muss vorweg eines sehr klar festgestellt werden: Angst an sich ist keine Krankheit, sondern ein aktivierendes Gefühl und in vielfacher Weise wichtig. Teilweise sogar lebenswichtig.

Das System von Warnung/Entwarnung ist kompliziert aufgebaut und miteinander verbunden. Das ist gut und wichtig, denn das Ergebnis des Prozesses in diesen Verbindungen bestimmt unsere Antwort auf einen angstauslösenden Stimulus. In modernen integrativen Stresstheorien geht es meist um dreiteilige Stressmodelle, die mit dem Stressstimulus, also dem Angstauslöser, beginnen. Im zweiten Teil folgt das stressbewertende oder -verarbeitende System, und im dritten Teil folgt die Stressantwort.

Letztlich wiederholt sich dieser dreiteilige Prozess laufend, und wenn es um eine bewältigbare Gefährdungs- und Angstsituation geht, sollte es irgendwann Entwarnung geben. Dieser Ablauf vom Stressstimulus bis zur Entwarnung entspricht zwar nicht ganz genau dem, was der experimentelle Medizinforscher Hans Selye bereits vor siebzig Jahren als Eustress bezeichnet hat – also als einen nicht nur unschädlichen, sondern sogar gesunden Stress –, aber es ähnelt diesem Konzept stark. Kritisch wird es für den Menschen erst, wenn das Stress bewertende und verarbeitende System über einen langen Zeitraum keine erfolgreiche Bewältigung rückmelden kann, und es daher zu keinem relevanten Abklingen des Stressimpulses kommt.

Im Tierreich hin bis zu den Kaltblütern und bei allen höheren Tieren, den Säugetieren und auch den Menschen gibt es im Wesentlichen bei akuter Gefahr und daher auch bei Angst nur drei mögliche Reaktionen: Fight – Flight – Freeze. Kampf – Flucht – Totstellen. Wobei das Verstecken, sich sogar optisch Verwandeln, was manche Tiere können, im Grunde auch eine Form der Flucht ist. Wir alle tragen das über mehrere Millionen Jahre entwickelte und gleichsam unbewusst in uns gespeicherte Wissen mit uns, dass die richtige Entscheidung zwischen diesen drei Reaktionsformen unter Umständen entscheidend für unser Überleben sein kann. Oder auch für das Überleben unserer Familie, also gleichsam unserer Gene. Oder für das Überleben unserer Gruppe oder größerer Gruppen generell. Die Reaktionen, die bei dieser Entscheidungswahl in uns ablaufen – es macht keinen Sinn, hier zwischen psychischen und körperlichen Reaktionen zu unterscheiden, denn sie sind miteinander verwoben –, entsprechen in der heutigen zivilisierten Welt allerdings häufig nicht dem Anlass.