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David Rennert · Tanja Traxler

Lise Meitner

Pionierin des Atomzeitalters

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Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn

Umschlagfoto: The Lotte Meitner-Graf Archive, www.lottemeitnergraf.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Barbara Köszegi

ISBN ePub:
978 3 7017 4590 6

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3460 3

Inhalt

Zu diesem Buch

Prolog: Ein Spaziergang verändert den Lauf der Welt

I. Teil – Aufbereitung: Lise Meitners Wiener Jahre

1. Kapitel: Liberale Familie im Fin de Siècle

2. Kapitel: Als Frau an der Universität

3. Kapitel: Jahrhundertwende in der Wissenschaft

II. Teil – Strahlung: Große Erfolge in Berlin

4. Kapitel: Die Anfänge einer Karriere

5. Kapitel: 1914 – Die Welt gerät ins Wanken

6. Kapitel: Die goldenen Jahre der Lise Meitner

7. Kapitel: 1933 – Aufstieg des Nationalsozialismus

III. Teil – Kernspaltung: Flucht und wissenschaftlicher Durchbruch

8. Kapitel: Vertreibung aus Berlin

9. Kapitel: Schwierigkeiten in Schweden

10. Kapitel: Folgenreiche Entdeckung

IV. Teil – Spaltprodukte: Anbruch des Atomzeitalters

11. Kapitel: Dunkle Jahre im Exil

12. Kapitel: Lise Meitner und die Atombombe

13. Kapitel: Kein Nobelpreis für Lise Meitner

14. Kapitel: Die Frau in der Wissenschaft

15. Kapitel: Lebensabend in Cambridge

Epilog: Wissenschaft und Verantwortung

Anhang

Stammbaum der Familie Meitner

Dank

Anmerkungen

Quellen

Literatur

Namenregister

Zu diesem Buch

Lise Meitner hätte diese Biografie vermutlich nicht gefallen. Das liegt aber nicht an den speziellen Inhalten oder der Aufbereitung dieses Buches, sondern hat mit dem Charakter von Österreichs bedeutendster Physikerin zu tun. Vielfach wurde ihr Bescheidenheit, Schüchternheit und Zurückhaltung nachgesagt. Als 84-Jährige ließ sie keine Zweifel offen, wie sehr ihr öffentliche Aufmerksamkeit widerstrebte: »Ich möchte aber keine Biographie über mich haben!«1

Diesem Wunsch können wir nicht entsprechen – zu wichtig ist das wissenschaftliche Werk dieser Frau, zu interessant war ihr Leben, als dass es nicht verdiente, erinnert zu werden. Lise Meitners Geschichte war so stark von Physik bestimmt, dass man leicht auf die Idee kommen könnte, ihr Leben selbst als wissenschaftliche Versuchsanordnung zu charakterisieren. Vielleicht wäre ein solches Buch mehr nach ihrem Geschmack gewesen.

Welches Experiment würde sich besser für dieses Unterfangen eignen als jenes, das nicht nur Meitners wichtigster Erkenntnis zugrunde liegt, sondern auch die Welt für immer verändert hat? Die Entdeckung der Kernspaltung ermöglichte die Entwicklung der Atombombe ebenso wie die friedliche Nutzung der Nuklearenergie, sie revolutionierte aber auch die Wissenschaft und unser Verständnis von den kleinsten Bestandteilen der Materie.

Der Aufbau des Versuchs, der das nukleare Zeitalter einleitete, lässt sich grob in vier Phasen einteilen. Zunächst erfolgt die Aufbereitung des radioaktiven Materials. Ein Präparat mit gereinigtem Uran wird in einen Paraffinblock eingebracht. In einem zweiten Schritt wird das Präparat der Strahlung einer Neutronenquelle ausgesetzt: Neutronen, die in einer Radium-Beryllium-Probe erzeugt werden, dringen durch das Paraffin zu den Uranatomen vor. Durch die Bestrahlung kommt es schließlich zur Spaltung der Urankerne. In einer vierten Phase des Versuchs werden die Spaltprodukte chemisch getrennt und analysiert.

Dieses Experiment und seine Interpretation ebneten den Weg zu gigantischen Energiequellen, die zu gesellschaftlichem Fortschritt, ökologischer Problematik und menschlicher Tragik führten. Lise Meitners turbulentes Leben ist auf vielfache Weise mit der Kernspaltung verbunden. Davon handelt dieses Buch.

Prolog: Ein Spaziergang verändert den
Lauf der Welt

Als die österreichische Physikerin Lise Meitner Ende Dezember 1938 ihren Neffen Otto Robert Frisch in Schweden trifft, steht ihre Welt auf dem Kopf. Nur wenige Monate zuvor ist sie überstürzt aus Berlin geflohen, aus der Stadt, die drei Jahrzehnte lang das Zentrum ihrer Forschung und ihres Lebens gewesen ist. Lange hat sie gezögert, Deutschland zu verlassen, beinahe zu lange. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, die viele deutsche Wissenschaftler in die Emigration trieb, wurde Meitner die Lehrbefugnis an der Berliner Universität entzogen. Bestärkt durch Freunde und Kollegen, blieb sie dennoch in Berlin und hoffte, dass die politischen Entwicklungen noch eine vernünftige Wendung nehmen würden. Ihre Arbeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie konnte sie fortsetzen.

Doch mit dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 zerbrachen alle Hoffnungen. Mit einem Mal war Meitner akut gefährdet: Ihr österreichischer Pass war ungültig geworden, sie wurde nun als »reichsdeutsche Jüdin« betrachtet und war damit den antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen der Nazis schutzlos ausgeliefert. Auch am Kaiser-Wilhelm-Institut wurde Stimmung gegen sie gemacht. Dass sie sich bereits 1908 in Wien hatte evangelisch taufen lassen und längst die prominenteste Physikerin des Landes war, änderte an alledem nichts.

Die legale Ausreise war nun unmöglich. Eine versuchte Intervention im Innenministerium, um die Ausstellung gültiger deutscher Papiere für sie zu erwirken, schlug fehl: Gegen eine Ausreise Meitners gebe es politische Bedenken, so die Antwort, »namhafte Juden« durften Deutschland nicht mehr verlassen. Nun wussten die Behörden auch von Meitners Absicht, auszureisen, ihre Lage wurde immer bedrohlicher. Im Juli gelang mithilfe von Freunden schließlich die riskante Flucht über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wo Meitner eine befristete Stelle am Nobel-Institut erhielt. Ihre ersten Weihnachten im Exil feiert sie bei Freunden in Kungälv, einem Städtchen im Südwesten Schwedens, und wartet auf ihren Neffen.

Für Otto Robert Frisch ist es eine Tradition, die Weihnachtsferien mit seiner Tante Lise zu verbringen – er hält auch unter den dramatischen Umständen, in denen sich die Familie nun befindet, daran fest. Von welch enormer wissenschaftlicher Tragweite ihr Zusammentreffen diesmal sein wird, können beide noch nicht ahnen. Rückblickend wird Frisch es als »bedeutungsvollsten Besuch meines Lebens« bezeichnen.2

Wie seine Tante in Wien geboren und an der Wiener Universität in Physik promoviert, hat Frisch mehrere Jahre in Deutschland gearbeitet. Anders als Lise Meitner ist er schon 1933 emigriert – zunächst nahm er eine Stelle in London an, dann wechselte er nach Kopenhagen, wo er seit 1934 Mitarbeiter des Nobelpreisträgers Niels Bohr ist. Seine Eltern, Meitners Schwester Gusti und ihr Mann Justinian Frisch, leben in Wien. Sie hoffen, bald ebenfalls nach Schweden ausreisen zu können, doch Justinian ist im Zuge der Novemberpogrome in Wien verhaftet und im KZ Dachau interniert worden.

In Ungewissheit über das Schicksal seines Vaters trifft Frisch am 23. Dezember 1938 in Kungälv ein und findet seine Tante tags darauf nachdenklich und sorgenvoll vor. Er will ihr von seinem neuesten Experiment in Kopenhagen erzählen, doch Meitner hört nicht zu. Stattdessen drückt sie ihm einen Brief in die Hand, den sie kurz zuvor aus Berlin erhalten hat. »Dessen Inhalt war tatsächlich so erstaunlich, daß ich zuerst zur Skepsis neigte«, schreibt Frisch später in seiner Autobiografie.3 Es ist, wie sich bald zeigen wird, eine physikalische Revolution, die den Lauf der Welt verändern wird. Absender ist der deutsche Chemiker Otto Hahn, mit dem Meitner bis zu ihrer Flucht aus Berlin eng zusammengearbeitet hat.

Aufbauend auf der gemeinsamen Forschung mit Meitner sind Hahn und sein Kollege Fritz Straßmann bei Experimenten mit Uran auf ein unerklärliches Phänomen gestoßen. Hahn ist verunsichert, was die Resultate bedeuten, ahnt aber, dass sie von enormer Tragweite sein könnten. Er will also so schnell wie möglich publizieren. »Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind«, schreibt er an Meitner und bittet sie um eine Interpretation: »Du tust ein gutes Werk, wenn du einen Ausweg findest.«4

Meitner teilt Frischs Skepsis nicht: Sie zweifelt keinen Augenblick an der korrekten Durchführung der Experimente, zu gut kennt sie die Erfahrung und Expertise der beiden Chemiker. Doch was Hahn da schreibt, ist nicht mit den Ende der 1930er-Jahre gängigen Vorstellungen über den Atomkern vereinbar. »Ich begriff, dass diese Resultate einen ganz neuen wissenschaftlichen Weg eröffneten«, schreibt sie später.5 Aber welchen?

Aufgeregt brechen die beiden Physiker zu einem Winterspaziergang auf, um einen klaren Kopf zu bekommen. Frisch schnallt sich Langlaufskier an, Meitner geht zu Fuß. Unterwegs erweitern sie gedanklich das bisher anerkannte Atomkernmodell, bis ein »Auseinanderfliegen« des Nukleus möglich scheint – das könnte die Ergebnisse aus Berlin erklären. Mitten im verschneiten Wald setzen sie sich auf einen Baumstamm und beginnen, »auf kleinen Zettelchen zu rechnen«, erinnert sich Frisch.6 Mit einem Mal wird klar, dass hier tatsächlich eine Spaltung des Atomkerns vorliegen muss. Nicht nur das: Bei einem solchen Prozess müssten gewaltige Mengen an Energie freigesetzt werden! Dieser Gedanke wird bald eine regelrechte Kettenreaktion auslösen, an deren Ende Atombombe und Kernenergie stehen. Der Weg ins Atomzeitalter ist eingeschlagen.

I. Teil – Aufbereitung: Lise Meitners Wiener Jahre

1. Kapitel: Liberale Familie im Fin de Siècle

»Papa gab mir die Freiheit der Gedanken, die Lust zur Wissenschaft, und hat mich ihr geschenkt.«7

In der Wiener Staatsoper steht Verdis »Aida« mit Anna d’Angeri in der Hauptrolle auf dem Programm, als keine zweieinhalb Kilometer entfernt Elise Meitner geboren wird.8 Es ist Sonntag, der 17. November 1878 – in Neapel überlebt an diesem Tag Italiens König Umberto I. ein Attentat, in New York hat in dieser Woche Thomas Alva Edison die Edison Electric Light Company gegründet, um seine Entwicklung der elektrischen Glühlampe zu finanzieren. In der Wiener Wohnung der liberalen jüdischen Familie Meitner in der Kaiser-Joseph-Straße 27, später Heinestraße 27, beginnt soeben das Leben einer künftigen Wissenschaftlerin von Weltrang.

Elise, die unter dem Namen Lise durchs Leben gehen wird, feiert ihren Geburtstag später zwar am 7. November und auch ihre amtlichen Dokumente werden dieses Datum tragen. Im Geburtenbuch der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien ist aber der 17. 11. verzeichnet.9 Die Vermutung liegt nahe, dass die Ziffer 1 irgendwann in Lises Kindheit durch das Versehen eines Beamten abhandenkommt und sie so formal zehn Tage älter wird.

Ein »Tag der Namensertheilung« wird im Geburtenbuch nicht angegeben – Lises Eltern Hedwig und Philipp Meitner verzichten wohl auf die bei religiösen Juden für neugeborene Mädchen übliche Namensverlesung in der Synagoge, die bei den beiden älteren Schwestern noch vorgenommen wurde.10 Jüdische Traditionen spielen für die Eltern nur eine geringe Rolle.11 Lise ist das dritte von insgesamt acht Kindern: 1876, im Jahr nach Hedwigs und Philipps Hochzeit, kommt die älteste Schwester Gisela zur Welt, jeweils ein Jahr später folgen Auguste, genannt Gusti, und Lise. In den nächsten 13 Jahren werden noch fünf weitere Kinder geboren: Moriz, den alle Fritz rufen, Carola12, oft Lola genannt, Max, Frida und Walter.13 Die Familie bleibt für Lise ihr ganzes Leben lang ein wichtiger Anker, vor allem mit ihrem jüngsten Bruder Waltl ist sie bis zu seinem Tod 1961 eng verbunden.

Aus dem Kronland in die Metropole

Lises Eltern zieht es wie so viele junge Menschen aus den österreichischen Kronländern im 19. Jahrhundert in die Metropole Wien. Der Vater Philipp Meitner kam in Mähren zur Welt, die Mutter Hedwig Meitner, geborene Skovran, in der Slowakei. Zu jener Zeit erlebt die Reichshauptstadt innerhalb weniger Jahrzehnte eine ungeheure Expansion und wandelt sich zu einer der modernsten Großstädte der Welt. Aus rund 550 000 Wienerinnen und Wienern im Jahr 1850 sind zwei Dekaden später schon über 900 000 geworden. Ende der 1870er-Jahre, als Lise geboren wird, ist die Million längst überschritten.14

Mit der enormen Zuwanderung verändert sich auch das Stadtbild deutlich. Nach der Eingemeindung der Vorstädte sind Stadtmauer und Befestigungsanlagen nicht nur obsolet geworden, sie behindern den wachsenden Verkehr und besetzen wertvolles Bauland. 1857 ordnet Kaiser Franz Joseph im Zuge der »Stadterweiterung« ihre Schleifung an und lässt stattdessen einen Prachtboulevard errichten, der Wien bis heute architektonisch prägt: 1865 wird die Ringstraße feierlich eröffnet.

Unter den neuen Hauptstädtern sind viele Juden. Im Staatsgrundgesetz 1867 wird nach Jahrhunderten der Verfolgung und Diskriminierung ihre gesetzliche Gleichstellung in der neu geschaffenen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn festgeschrieben – es ist der Beginn eines »goldenen Zeitalters« des jüdischen Wiens. Das spiegelt sich nicht nur in den steigenden Mitgliederzahlen der Israelitischen Kultusgemeinde wider, sondern auch in der Sozialstruktur des Wiener Judentums. Waren 1860 noch 6200 Juden in Wien verzeichnet, sind es zehn Jahre später 40 000, um 1900 umfasst die jüdische Bevölkerung Wiens bereits 147 000 Menschen und damit mehr als acht Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung. Die Einwanderung erfolgt zunächst vorwiegend aus Ungarn, Böhmen und Mähren, später vermehrt aus Galizien und der Bukowina.15 Der starke Antisemitismus in den Kronländern ist ein wichtiges Motiv für den jüdischen Zuzug nach Wien, wo der Zugang zu öffentlichen Ämtern, die uneingeschränkt mögliche Schaffung pädagogischer und kultureller Institutionen und die völlige Religionsfreiheit Juden endlich den gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg ermöglichen.16

In seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern schreibt der in Wien gebürtige Schriftsteller Stefan Zweig über die jüdischen Einwanderer aus Mähren, zu denen wie Lise Meitners Vater auch sein eigener gehörte: »Früh vom orthodox Religiösen emanzipiert, waren sie leidenschaftliche Anhänger der Zeitreligion des ›Fortschritts‹ und stellten in der Ära des politischen Liberalismus die geachtetsten Abgeordneten im Parlament. Wenn sie aus ihrer Heimat nach Wien übersiedelten, paßten sie sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit der höheren Kultursphäre an, und ihr persönlicher Aufstieg verband sich organisch mit dem allgemeinen Aufschwung der Zeit.«17

Auch Philipp Meitner ist ein progressiver Freigeist, für den Bildung und Kultur zu den höchsten Gütern zählen. 1839 in Woechowitz nahe Mährisch-Weißkirchen (Hranice na Moravě) in eine religiöse jüdische Familie hineingeboren, zieht es ihn als knapp 20-Jährigen nach Wien. Er inskribiert im Dezember 1862 an der Juridischen Fakultät der Universität Wien und wird wenige Jahre später zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert.18 Er schlägt eine Laufbahn als Hof- und Gerichtsadvokat ein. Im Sommer 1875 heiratet Philipp Meitner seine um elf Jahre jüngere Verlobte Hedwig Skovran, geboren 1850 in Novák im Komitat Neutra in der heutigen Westslowakei.

Es ist den Aufzeichnungen von Lises ältester Schwester Gisela zu verdanken, dass sich die Geschichte der Meitners heute ein gutes Stück weit nachvollziehen lässt.19 Der Familienname leitet sich vom mährischen Ort Meiethein ab, aus dem Philipps Vorfahren stammen. Als Kaiser Joseph II. 1787 für Juden das Führen deutscher Familiennamen anordnet, nennt sich die Familie Meietheiner – daraus wird im Lauf der Zeit Meitheiner, dann Meithner und schließlich Meitner. Lises Urgroßvater Reb20 Meitner ist im Dorf hoch angesehen. Jeden Freitagabend, dem Schabbat, schleicht er im Schutz der Dunkelheit durch die Gassen und legt Brot vor die Türen armer jüdischer Familien. Er tut es heimlich und will von niemandem ein Dankeswort hören, doch der ganze Ort weiß, wer der Wohltäter ist.

Reb Meitners vermutlich 1803 geborener Sohn Moriz, Lises Großvater, heiratet in den 1830er-Jahren die verwitwete Charlotte Löwy, geborene Kohn. Sie bringt zwei Söhne in die Ehe mit und besitzt eine Landwirtschaft mit Gasthaus im mährischen Woechowitz. Hier kommt 1839 Lises Vater Philipp Meitner zur Welt. Moriz ist in seiner Jugend als Lehrer tätig, spricht Französisch und liest Rousseau. Obwohl er selbst nach den Vorschriften orthodoxer Juden lebt, zeigt er sich weltoffen und tolerant gegenüber Andersgläubigen. Als sein Sohn Philipp in der Jugend freigeistige und areligiöse Ansichten entwickelt, entgegnet er mild: »Vielleicht hast du recht.«

Lises Großmutter Charlotte ist eine arbeitsame und selbstdisziplinierte, aber sehr heitere Frau. Sie ist schön, trägt gern elegante Kleider und lässt sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen, wie Philipp später seinen Kindern erzählt: »Das Haus brannte ab – die Großmutter sang, im Dorf war Cholera – die Großmutter sang!«

Über die Vorfahren von Lises Mutter Hedwig ist weniger bekannt. Ihr Vater Bernhard Skovran wandert jedenfalls aus Russland in die Slowakei ein und heiratet dort um 1840 Julie Reinitz. Lises Großmutter Julie sagt zeit ihres Lebens, sie wisse nicht genau, wie alt sie ist. Großvater Bernhard wird Heereslieferant für Gewehrschäfte und handelt mit Rebstöcken für Tokajer Wein, ein einträgliches Geschäft. Mit dem wachsenden Vermögen kauft er zwei Häuser in Wien. Als Hedwig fünf Jahre alt ist, erhält sie einen Hauslehrer und lernt Lesen und Schreiben. Sie ist ein aufgewecktes, fröhliches Kind und der Liebling des Vaters, leicht sind ihre Kindheit und Jugend dennoch nicht. Die Ehe der Eltern ist unglücklich, der Vater jähzornig und streng. Seine langjährige schwere Erkrankung belastet die Familie stark, 1872 stirbt er 51-jährig. »Die guten Tage [für Hedwig] kamen erst mit Papa«, schreibt Lise Meitners Schwester Gisela.21

Kindheit in Wien

Nach ihrer Hochzeit beziehen Lises Eltern die Wohnung in der Kaiser-Joseph-Straße in der Wiener Leopoldstadt, zwischen dem Augarten und dem Wiener Prater gelegen. Philipp eröffnet eine Kanzlei, die direkt mit der Wohnung verbunden ist. Aus den Kanzleifenstern sieht man auf einen kleinen Garten und Richtung Donaukanal und Ringstraße. Hier werden die Kinder später, nach Büroschluss, oft den Ausblick in der Abendsonne genießen. 1881 beobachten die älteren Geschwister vom Fenster aus sogar den verheerenden Ringtheaterbrand. Im Kinderzimmer gibt es zunächst nur zwei Betten mit grünen Netzen, von denen eines eine Lade besitzt. Abends wird das Ausziehbett herausgezogen, erinnert sich Gisela: »In der Lade schlief Lise.«22

Die dunkelhaarige, ernste Lise ist das zierlichste der Kinder. Ihr paradoxer Spitzname, den sie sich fallweise auch als Erwachsene noch selbst gibt, ist »Wuzerl«, was auf Wienerisch dickes Mädchen bedeutet. Sie interessiert sich schon früh für naturwissenschaftliche Fragen, verschlingt Bücher und ist stiller, vielleicht auch schwieriger als ihre Geschwister. Statt im Haushalt mitzuhelfen (Haushaltsführung wird ihr ein Leben lang ein Graus bleiben), liest sie lieber, worüber sich die Geschwister gern lustig machen.23 »Lise war in einer speziellen Art ein für Mutter schwer erziehbares Kind. Sie war die einzige von uns, die die Mutter zu Jähzorn und Schlägen hinreißen konnte«, schreibt Gisela in ihren Erinnerungen.24

Die Volksschule am nahe gelegenen Czerninplatz, die Lise von 1884 bis 1889 besucht, stillt ihren Wissensdurst nicht. Rückblickend erinnert sie sich vor allem an die ungeliebte Lehrerin und »meinen vergeblichen Kampf mit Tintenflecken, die ein richtiger Kummer für meine Eltern waren und sie fast zur Überzeugung brachten, ich sei ein ganz hoffnungsloses Kind«.25

Doch hoffnungslos ist Lise keineswegs. Die Eltern beschäftigen sich viel mit ihr und ihren Geschwistern und fördern sie nach Kräften. Die Mutter bringt ihnen Lesen und Schreiben bei, mit dem Vater lernen sie Latein, etwas Hebräisch, Französisch und Englisch. Die Familie unternimmt ausgedehnte Spaziergänge durch die Wiener Innenstadt, an einem 1. Mai sehen sie die Kaiserin Elisabeth aus nächster Nähe von der Aspernbrücke aus im offenen Wagen vorbeifahren. Philipp nimmt die Kinder mit zu Pferderennen, in die Oper, ins Theater und in Museen. »Ich fühle beinahe täglich mit Dankbarkeit, wieviel ich an Gutem und Schönem von zuhaus mitbekommen habe. Letzten Endes ist es noch heute der Boden, auf dem ich stehe«, schreibt Lise 1951 in einem Brief über diese Zeit.26

Im Herbst 1889 kommt Lise in die dreijährige Bürgerschule am Czerninplatz. Diese 1869 geschaffene Schulform soll »eine über das Lehrziel der Volksschule hinausreichende Bildung« sicherstellen – für Mädchen ist der Rahmen des »Hinausreichens« allerdings stark begrenzt.27 Ein Blick auf Lises erstes Bürgerschulzeugnis vom Juli 1890 offenbart bereits die Begabungen und Interessen der Elfjährigen: Sie hat größtenteils gute Noten, in allen Wissensfächern – etwa in Rechnen, Geometrie, Naturgeschichte oder Geografie – wird sie mit »Sehr gut« benotet. In den Fächern Freihandzeichnen, Schönschreiben und »Weibliche Handarbeiten« sind ihre Leistungen hingegen gerade einmal »Genügend«. Auch in den Kategorien »Sittliches Betragen« und »Fleiß« gibt es keine Bestnoten: Hier wird Lise mit »Entsprechend« beziehungsweise »Befriedigend« beurteilt.28 Womöglich langweilt sich das belesene Kind in der Schule.

An Sonntagen holen Lise und ihre Geschwister den Vater oft vom Schachklub ab – Philipp Meitner ist ein leidenschaftlicher und exzellenter Schachspieler. Als er nach Wien kommt, trifft er schnell einen Schachpartner: den legendären Wilhelm Steinitz, der es später als erster allgemein anerkannter Schachweltmeister und Revolutionär der Schachtheorie zu Weltruhm bringen wird. Die beiden verabreden sich in Kaffeehäusern rund um die Wiener Universität, zunächst ist Philipp noch der bessere Spieler. Er nimmt, obwohl Amateur, an internationalen Turnieren teil und erreicht Plätze im Mittelfeld. Mit seiner »Unsterblichen Remispartie« 1872 gegen Carl Hamppe schreibt Philipp Schachgeschichte, 1875 gewinnt er das Meisterturnier der Wiener Schachgesellschaft. Als er 1882 in einem Turnier wieder auf Steinitz trifft, ist dieser jedoch längst haushoch überlegen.29

Zu Philipps Schachpartnern zählen auch Angehörige der höchsten gesellschaftlichen Kreise. Lises Schwester Gisela zufolge spielt er etwa mehrfach gegen Erzherzog Albrecht von Österreich-Teschen, einen Enkel Leopolds II. Eines Tages soll ihn der Adelige mit folgenden Worten begrüßt haben: »Dr. Meitner, ich verdanke Ihnen viele schöne Stunden und stehe in Ihrer Schuld. Es gehört sich nicht, dass ein Mitglied des Kaiserhauses einem Untertanen verpflichtet ist. Geben Sie mir die Gelegenheit, mich dankbar zu zeigen. Sie können wählen: einen Posten, einen Titel, einen Orden.«30 Philipp lehnt dankend ab. Gut möglich, dass Lise ihr analytisches Denken ebenso vom schachbegeisterten Vater hat wie ihre Bescheidenheit, für die sie später bekannt und beliebt ist.

Konzertbesuche stehen häufig auf der Tagesordnung der Familie Meitner. Als man eines Tages eine Veranstaltung besucht, wo nur »leichte Musik« gespielt wird, horcht der Vater plötzlich auf und fragt: »Wer ist der Komponist?«31 Ein Blick ins Programm zeigt einen zu dieser Zeit völlig unbekannten Namen: Lehár. »Den wird man sich merken müssen«, sagt Philipp.

Musiziert wird auch zu Hause: Die Töchter erhalten Klavierunterricht, Gusti erweist sich als besonders begabt. Auf Anregung des Vaters studiert sie Kompositionslehre am Wiener Konservatorium – als erstes Mädchen. Sie bleibt auf diesem Weg und wird Pianistin und Komponistin. Wie wichtig Musik für Lise bleiben wird, zeigt etwa ein Brief, den sie 1916 an ihre Freundin Elisabeth Schiemann schickt: »Ich liege oft nachts wach im Bett, fast gequält von dem Wunsch etwas Musik zu hören. […] Manchmal möchte ich mir Kopf und Herz von der Musik reinwaschen lassen.«32

Steiniger Weg zum Studium

Am 15. Juli 1892 erhält Lise das »Entlassungszeugnis« der Bürgerschule Czerninplatz – es besteht diesmal aus lauter guten Noten. Sie wird in allen Fächern (selbst in Handarbeiten) mit »Sehr gut« oder »Gut« bewertet, auch das »Sittliche Betragen« gilt nun als »Vollkommen entsprechend«. Einzig die Kategorie »Fleiß« erhält das mittelmäßige Prädikat »Befriedigend«.33 Damit ist die formale Schulpflicht abgeschlossen, doch Lise denkt nicht daran, wie viele ihrer Schulkolleginnen mit dem Lernen aufzuhören: »Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial-Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren«, erinnert sie sich später.34 Der Weg dorthin ist nicht leicht.

»Obgleich ich eine deutliche Neigung für Mathematik und Physik hatte, begann ich nicht sofort das Leben der Studien. Dafür waren zum Teil die allgemein vertretenen Ansichten über die Ausbildung der Frau verantwortlich und zum Teil die besonderen Bedingungen in meiner Geburtsstadt Wien«, schreibt Lise Meitner 1964.35 Zu Lises Schulzeit können Buben statt der Bürgerschule ein achtjähriges Gymnasium besuchen, das mit der Matura und damit auch der Zugangsberechtigung zu einem Universitätsstudium abgeschlossen wird. Mädchen bleibt dieser Weg versperrt: Das erste Privatgymnasium für Mädchen eröffnet nach jahrzehntelangen Anstrengungen der Frauenbewegung erst 1892 und erhält kein Öffentlichkeitsrecht, sprich: Der Abschluss wird von den Universitäten nicht anerkannt.

Gleiches gilt für die 1878 mühevoll erstrittene Möglichkeit für Frauen, als Externistinnen die Matura an einem Knabengymnasium ablegen zu dürfen. Die sogenannte Externistenprüfung für Mädchen, die sich privat darauf vorbereiten müssen, ist nicht nur umfangreicher als die Matura der Knaben. Der auf dem Maturazeugnis vorgedruckte Passus »Reife zum Besuch einer Universität« wird durchgestrichen.36 Frauen bleibt das ordentliche Studium an österreichischen Universitäten noch bis 1897, in Medizin bis 1900 verwehrt.37 In einem Radiovortrag 1953 sagt Lise Meitner: »Später habe ich begriffen, wieviel Dank speziell jede in einem geistigen Beruf tätige Frau den Frauen schuldig ist, die um die Gleichberechtigung gekämpft haben.«38

Die Eltern sind von ihrem Wunsch zu maturieren zunächst nicht begeistert, sie halten das Kind für zu zart besaitet, um die Anstrengungen der Externistenprüfung auf sich zu nehmen. Könnte sie nicht Musikerin werden? Doch Lise lässt nicht locker und beweist, wie ernst sie es meint. Ein Vorbild und Unterstützung findet sie in ihrer älteren Schwester Gisela, die als erstes der Geschwister auf die Universität gehen wird: Sie schafft 1899 als Externistin die Matura und ist 1900 unter den ersten Frauen, die in Österreich ein Medizinstudium aufnehmen können.39

Ehe Lise mit den Vorbereitungen auf die Prüfung beginnen kann, muss sie auf Wunsch des Vaters eine Ausbildung zur Französischlehrerin absolvieren, um ihren Lebensunterhalt notfalls selbst verdienen zu können. Obwohl das einen weiteren Zeitverlust für das Studium bedeutet, zeigt auch das die fortschrittliche Haltung der Eltern. Erst dann beginnt die umfangreiche Arbeit: In zwei Jahren eignet sie sich den Stoff aus acht Klassen Gymnasium an, sie lernt in jeder freien Minute. »Lise, Du fällst durch, Du bist ohne etwas zu lesen durch das Zimmer gelaufen«, necken sie die Geschwister.40

In Physik und Mathematik erhält sie gemeinsam mit anderen Mädchen Privatstunden bei Arthur Szarvassy, einem jungen theoretischen Physiker, der 1898 an der Universität Wien promoviert hat. »Er hatte eine wahrliche Gabe, den Gegenstand der Mathematik und Physik auf überaus anregende Art und Weise zu vermitteln«, erinnert sich Lise an ihren Lehrer.41 Szarvassy nimmt seine Schülerinnen mit ans Physikalische Institut der Wiener Universität und führt ihnen verschiedene Apparaturen vor – Lise ist nachhaltig beeindruckt.

Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit tritt sie 1901 zur Matura am Akademischen Gymnasium am Wiener Beethovenplatz an. Die Externistin wird in fremder Umgebung von völlig unbekannten Lehrern streng geprüft, Lise wird sich noch mehr als 60 Jahre später daran erinnern: »Wir waren zusammen 14 Mädchen und legten ein nicht im mindesten einfaches Examen ab (nur vier von uns bestanden es).«42 Lise schafft es, ebenso zwei weitere Schülerinnen von Arthur Szarvassy. Die vierte erfolgreiche Maturantin ist die Tochter eines Wissenschaftlers, dem Lise bald begegnen wird: Ihr Name ist Henriette Boltzmann.43

Eine Tragödie wirft Schatten

Mit Verspätung ist Lises Weg zum Studium damit geebnet. Sie wohnt mit ihrer Familie inzwischen in der Eßlinggasse 15 im 1. Wiener Gemeindebezirk. Über Politik und Weltanschauungen wird im Hause Meitner offen diskutiert, eigene Meinungen werden nicht nur toleriert, sie sind explizit erwünscht. Lise denkt später mit Dankbarkeit an die »außerordentlich stimulierende intellektuelle Atmosphäre«44 zurück, in der sie und ihre Geschwister aufwachsen. Fast alle Meitner-Kinder absolvieren eine höhere Ausbildung: Gisela studiert Medizin, Gusti wird Pianistin und Komponistin, Lise wird Physikerin, Fritz Ingenieur, Max beginnt ein Studium der Rechtswissenschaften, Frida studiert Mathematik, Walter wird Chemiker.

Die jüdische Religion ist in der aufgeklärten Familie wenig präsent. Die Meitners zählen zwar nicht zu den vielen gänzlich assimilierten Familien des jüdischen Wiener Bürgertums: Alle Kinder werden als Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde verzeichnet, die drei Buben werden beschnitten.45 Der Vater macht die Kinder mit grundlegenden jüdischen Riten vertraut und hält in manchen Jahren den Sederabend des Pessach-Festes ab, bei dem des Auszugs aus Ägypten gedacht wird.46 Doch Hedwig und Philipp haben sich schon deutlich von der Religion ihrer Vorfahren entfernt.

Fast alle Kinder werden später den endgültigen Bruch mit dem Judentum vollziehen: Zwischen 1908 und 1917 treten zumindest Lise, Lola, Fritz, Frida und Walter aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus.47 Auch für Gisela und Gusti ist dieser Schritt anzunehmen, obwohl es keinen Vermerk dazu in den Büchern der IKG gibt: Gisela lässt sich am 22. März 1908 katholisch taufen48 und Gustis Sohn Otto Robert Frisch ist später der festen, wenn auch falschen Überzeugung, alle Meitner-Geschwister (einschließlich seiner Mutter Gusti) wären als Kinder protestantisch getauft worden.49 Zumindest Lise konvertiert tatsächlich zum Protestantismus, allerdings erst im Alter von 29 Jahren: Sie wird am 29. September 1908, am Tag ihres Austritts aus der IKG, in der Kirche der evangelischen Pfarrgemeinde im 1. Wiener Gemeindebezirk getauft.50

Ihre genauen Beweggründe für diesen Schritt sind bis heute nicht geklärt. Die bereits bei den Eltern erkennbare Distanz zum Judentum, der Religionsunterricht in der Schule, das bürgerliche Umfeld in Wien und vor allem Lises stark protestantisch geprägte Sozialisation in Berlin, wohin sie 1907 übersiedelt, dürften eine Rolle gespielt haben.51 Im September 1945 – also unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – spricht sie ihre Haltung in einem Brief an ihre Schwester Frida deutlich aus: »Ich bin konfessionell nicht jüdisch und fühle mich den Juden nicht stärker verbunden als anderen Menschen.«52

Was aber bisher unterbelichtet blieb und in diesem Zusammenhang bemerkenswert erscheint: Lise und mindestens drei ihrer Geschwister (Gisela, Fritz und Lola) brechen formal mit der jüdischen Religion nur Wochen bis Monate, nachdem eine Tragödie über die Familie hereingebrochen ist: Anfang 1908 begeht Max Meitner, Lises um neun Jahre jüngerer Bruder, Suizid.

Die näheren Umstände, die zu dieser Tat geführt haben, bleiben im Dunkeln – in Lise Meitners umfangreichem Nachlass und der Familienkorrespondenz konnten keinerlei Hinweise darauf gefunden werden. Der Blick in die Archive der IKG und der Universität Wien fördert einige wenige Details zu den Umständen zutage: Zum Zeitpunkt seines Todes steht der erst 21-jährige Max am Beginn seines Universitätsstudiums. Er wohnt mit seinen jüngeren Geschwistern und den Eltern in der Eßlinggasse 15, wohin die Familie 1898 übersiedelt ist.

Wie einst sein Vater, inskribiert er im Studienjahr 1907/08 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.53 Nur wenige Monate später kommt es zur Verzweiflungstat: Laut Aufzeichnungen der IKG stirbt Max am 24. Januar 1908 um vier Uhr nachmittags in der Großen Mohrengasse 9 – dort befindet sich noch heute das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Die Todesursache lautet: »Kopfschußwunde, Selbstmord«.54 Die Beerdigung findet zwei Tage später auf dem jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs statt.

2. Kapitel: Als Frau an der Universität

»Ich war sehr unsicher, ob ich in der Lage sein würde,
Wissenschaftler zu werden.«55

Wenige Jahre nachdem Frauen zum Universitätsstudium in Österreich zugelassen worden sind, inskribiert Lise Meitner als eine der ersten Physikstudentinnen im Herbst 1901 an der Universität Wien. Die Universität war 1365 gegründet worden und ist damit eine der ältesten Universitäten Europas.

Bei der Studienwahl schwankt Lise Meitner zunächst zwischen Medizin und Naturwissenschaften. »Als ich mit 23 Jahren mein Universitätsstudium beginnen sollte, spielte ich mit dem Gedanken, Medizin wegen der damit gegebenen sozialen Möglichkeiten als Hauptstudium zu wählen und Mathematik und Physik nur nebsbei [sic!] zu studieren. Vor dieser unrichtigen Wahl hat mich mein Vater bewahrt, indem er mir klar machte, dass einen solchen Studienweg wohl ein Genie wie Hermann Helmholtz gehen konnte, aber nicht ein anderer Mensch«, erinnert sie sich rückblickend.56 Tatsächlich wird sie die Entscheidung für das Physikstudium nicht bereuen.

Zeitgleich mit Lise Meitner nimmt Selma Freud das Studium der Physik auf, sie schließen auch gemeinsam ab. 1899 hat Olga Steindler als allererste Frau in Österreich ein Physikstudium begonnen. Sie wird ihren Studienkollegen Felix Ehrenhaft heiraten.

Zunächst belegt Lise Meitner die Fächer Physik, Mathematik und Philosophie – Letzteres ist erforderlich, da der Fachbereich Physik der Philosophischen Fakultät zugeordnet ist. Gleich von Beginn an legt sie im Studium einen ähnlichen Enthusiasmus an den Tag wie in den Vorbereitungen darauf: »Ohne Zweifel begann ich mein Studium wie so viele andere junge Studenten damit, daß ich zu viele Vorlesungen besuchte«, schreibt Lise Meitner später.57

Von der Wohnung der Familie in der Eßlinggasse 15 hat Meitner einen Fußweg von gut zehn Minuten zum Physikalischen Institut zurückzulegen, das damals in der Türkenstraße 3 untergebracht ist. Die Börsegasse entlang führt sie ihr Weg an der Wiener Börse vorbei. Nachdem sie den Schottenring überquert hat, folgt sie den Mauern der Rossauer Kaserne bis zum Schlick-Platz, wo sie schließlich in die Türkenstraße einbiegt.58

Nur eine Parallelstraße weiter befindet sich die Berggasse. Das Haus mit der Nummer 19 hat 1891 Sigmund Freud bezogen. Der Begründer der Psychoanalyse empfängt hier auch seine Patienten. Einige seiner wichtigsten Schriften entstehen dort zur selben Zeit, als Meitner in der Türkenstraße ein und aus geht: Nachdem Freud 1899 Die Traumdeutung vorgelegt hat, erscheint 1904 Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 1905 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten und Drei Abhandlungen über Sexualtheorie. Auch für Rudolf Allers ist die Berggasse ein wichtiger Bezugspunkt: Der spätere Schwager Lise Meitners (er heiratet 1908 Carola Meitner) ist ein Schüler Freuds, wird allerdings ein Gegner der Psychoanalyse.

Das damalige Physikinstitut ist ein schlichtes, nur notdürftig ausgestattetes Gebäude. Meitner äußert sich später darüber: »Zu dieser Zeit befand sich das Institut für Theoretische Physik in einem sehr primitiven, für diesen Zweck umfunktionierten Apartmenthaus in der Türkenstraße. Der Eingang sah aus wie der Eingang zu einem Hühnerhaus, so daß ich häufig dachte: ›Wenn hier ein Feuer ausbricht, werden sehr wenige von uns lebend herauskommen.‹«59

Die schlechte Ausstattung des Physikalischen Instituts darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wissenschaft im Wien der Jahrhundertwende eine Hochblüte erlebt: In Medizin, Ökonomie und Kunstgeschichte entwickeln sich international einflussreiche Wiener Schulen. Auch Geologen, Chemiker und nicht zuletzt Physiker von Weltrang katapultieren die Hauptstadt ins internationale wissenschaftliche Spitzenfeld. Zahlreiche neue Institute, privates Mäzenatentum, ein stetig wachsender Lehrkörper und die steigende Mobilität von Hochschullehrern innerhalb der Monarchie spielen dabei eine gewichtige Rolle.60

Doch auch in diesen goldenen Jahren zeigen sich Symptome einer Entwicklung, die binnen weniger Jahrzehnte zum Niedergang der Wiener Universität führen wird: Antisemitische Hetze und gewaltsame Übergriffe auf jüdische und linke Lehrende und Studierende, vor allem durch deutschnationale Burschenschafter, nehmen stetig zu – und zeigen Wirkung: Schon 1889 legt etwa der renommierte Geologe Eduard Suess sein Amt als Rektor der Universität nieder, nachdem er monatelang massiven antisemitischen Angriffen ausgesetzt war.61 In seiner Welt von Gestern beschreibt Stefan Zweig, der zeitgleich mit Lise Meitner an der Universität Wien studiert, das Vorgehen der Burschenschafter: »Was für den Nationalsozialismus die SA-Männer leisteten, die Versammlungen mit Gummiknüppeln sprengten, Gegner nachts überfielen und zu Boden hieben, besorgten für die Deutschnationalen die Corpsstudenten, die unter dem Schutz der akademischen Immunität einen Prügelterror ohnegleichen etablierten und bei jeder politischen Aktion auf Ruf und Pfiff militärisch organisiert aufmarschierten. Zu sogenannten ›Burschenschaften‹ gruppiert, zerschmissenen Gesichts, versoffen und brutal, beherrschten sie die Aula.«62

Ob auch Lise Meitner in ihrer Wiener Studienzeit antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt ist, bleibt unklar – in ihren Erinnerungen berichtet sie darüber nichts. Über ihre spezielle Situation als Frau an der Universität reflektiert Meitner erst Jahrzehnte später: »Zu der Zeit […] begann sich die Ausbildung von Frauen in Wien […] gerade zu entwickeln, aber ich wußte sehr wenig von dieser Entwicklung und muß zugeben, ich kann nicht sagen, sogar heute nicht, ob meine Universitätslehrer dieser Tatsache günstig gesinnt waren oder nicht.«63

Für die Studienanfängerin stehen im ersten Semester neben Experimentalphysik, Experimentalchemie und Allgemeiner Botanik auch Differential- und Integralrechnung auf dem Stundenplan mit gesamt 29 Stunden Lehrveranstaltungen.64 Dass die Mathematikvorlesungen, gelesen von Leopold Gegenbauer, im Winter bereits von acht bis neun Uhr in der Früh stattfinden, im Sommer von sieben bis acht Uhr – daran wird sich Meitner noch Jahrzehnte später mit Schaudern erinnern.65

Eine vielsagende Episode, in der Meitners Bescheidenheit und Zurückhaltung zum Ausdruck kommen, ereignet sich im zweiten Semester, als Gegenbauer sie vor die Aufgabe stellt, einen Fehler in der Arbeit eines italienischen Physikers zu finden. Als sie schließlich mit seiner Hilfe den Irrtum aufspürt, schlägt Gegenbauer ihr vor, die Arbeit zu veröffentlichen. Meitner lehnt ab, hat sie doch das Gefühl, »es wäre falsch dies zu tun«, da es nicht ihre alleinige Leistung ist. Auch im späteren Verlauf ihrer Karriere wird sich zeigen, dass für sie in der wissenschaftlichen Arbeit die Sache selbst, frei von persönlichem Geltungsdrang, im Zentrum steht. Ihren Lehrer scheint sie damit verärgert zu haben, doch die Begebenheit hat auch ihr Gutes, wie Meitner später schreibt: »Indes machte mir dieses Ereignis klar, daß ich Physikerin werden wollte und nicht Mathematikerin.«66

Ein prägender Professor

Dass Lise Meitner ihrer späteren Leidenschaft, der theoretischen Physik, in ihrem ersten Studienjahr noch nicht nachgehen kann, hat auch mit den äußeren Umständen zu tun: In den Studienjahren 1900/01 und 1901/02 bleibt der Lehrstuhl für Theoretische Physik an der Universität Wien unbesetzt. Der damals bekannteste Physiker Österreichs, Ludwig Boltzmann, der den Lehrstuhl zuvor innehatte, war 1900 einem Ruf nach Leipzig gefolgt. Doch schon bald nachdem der international anerkannte Wissenschaftler Wien verlassen hat, bringt er in Briefen zum Ausdruck, dass er gerne wieder in seine Heimatstadt zurückkehren würde.67

Zunächst bekommt Boltzmann zwar vom zuständigen k. k. Minister Wilhelm von Hartel eine Absage.68 Doch nur wenige Monate später erhält er einen Brief vom Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, David Heinrich Müller, der ihn darüber informiert, dass das Professorenkollegium, das mit der Besetzungsfrage der Lehrkanzel für Physik betraut ist, einstimmig beschlossen hat, Boltzmann dem Ministerium für die Professur vorzuschlagen.69 Die nachfolgenden Verhandlungen verlaufen erfolgreich – Boltzmann kehrt 1902 tatsächlich zurück nach Wien.

Ein großes Glück für Lise Meitner: So kann die junge Studentin Boltzmanns berühmten Vorlesungszyklus von 1902 bis 1905 hören, der unter anderem von Mechanik, Elektrizität, Magnetismus, Gastheorie, aber auch von Naturphilosophie handelt.70 Noch im Alter erinnert sie sich mit Begeisterung an ihren Professor: »Boltzmann hatte keinerlei Hemmungen, seinen Enthusiasmus, während er sprach, zu zeigen; diese Tatsache riß natürlich seine Hörer mit. Es machte ihm auch sehr viel Spaß, Bemerkungen völlig persönlichen Charakters in seine Vorlesungen einzubringen – dabei erinnere ich mich besonders daran, auf wieviel Schwierigkeiten und Opposition er traf, weil er von der realen Existenz von Atomen überzeugt war, und wie er von philosophischer Seite angegriffen wurde, ohne immer zu verstehen, was die Philosophen gegen ihn hatten.«71

Auch ihr Neffe Otto Robert Frisch wird Meitner viel von Boltzmann schwärmen hören, was in ihm die Vermutung nährt: »Sie hat oft über die ansteckend enthusiastischen Vorlesungen von Ludwig Boltzmann gesprochen; wahrscheinlich war er es, der ihr die Vision der Physik als eines Kampfes für die letzte Wahrheit gegeben hat, eine Vision, die sie nie verloren hat.«72