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Raimund Löw • Kerstin Witt-Löw

Weltmacht
China

Mit einem Vorwort von Hugo Portisch

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Der Abdruck der Übersetzung eines Auszuges aus dem Gedicht »Kunlun« von Mao Zedong auf Seite 215 erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Übersetzerin Barbara Maag.

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Fotostrecke: Privatarchiv Raimund Löw und Kerstin Witt-Löw
Umschlagfoto (Hintergrund): Edward Stojakovic (CC BY 2.0)
Umschlagfoto (Vordergrund: Raimund Löw, Kerstin Witt-Löw): Aleksandra Pawloff

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Barbara Köszegi

ISBN ePub:
978 3 7017 4589 0

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3452 8

Inhalt

Vorwort von Hugo Portisch: Zum richtigen Zeitpunkt

Einleitung

1 Der große Sprung nach Peking

Das ORF-Büro in Peking

Sanlitun – unser Grätzl in Peking

Polizei und Völkerfreundschaft

»Mic Grabber«

Expat-Leben

Tourismus made in China

2 Boom am Jangtsekiang

Die größte Stadt der Welt

Punkrock im Dschungel der Städte

Gift, Mord und Kampf um die Macht

Hightech und die Rückkehr der Wanderarbeiter

Die großen Pläne der Unternehmerin Jin Sha

Von Autos und Fußball made in China

Rebellion mit Augenzwinkern

»Geld darf nicht alles sein«

3 Xi Jinping, der neue Kaiser

Familiengeschichten eines roten Prinzen

Die Antikorruptionskampagne

Die Xi-Jinping-Ideen

Schreckgespenst Demokratie

Kommunistische Intrigen

Das Politbüro: die sieben Herrscher Chinas

Risiken der Alleinherrschaft

4 Mao light

Wallfahrten zu Maos Geburtsort

Das Erbe der Roten Garden

Das Museum der Kulturrevolution

Maoismus im China von heute

5 Ein-Kind-Politik ade

Heiraten auf Chinesisch

6 Chinas Umweltsünden

Smog und Volkskongress

Risiko Industrieunfall

Die grüne NGO des Umweltschützers Ma Jun

7 Zocken im Reich der Mitte

Spekulieren als Volkssport

Vom Fischerdorf zum Börsenplatz

Werkbank der Welt? Nein danke!

Hightech an Handy und Fahrrad

Der Sozialkredit

Völkerwanderung

Die Wanderarbeiterin Fan Yusu

Arbeiterproteste bei chinesischen Multis

8 Leben mit Big Brother

Der Lauf der Gewehre und die Stifte der Schreiber (Mao)

Zensurstatistik

Menschenrechte im Visier

9 Hongkong & Co.: Ein Land, wie viele Systeme?

Nach der Regenschirm-Bewegung

Das Verschwinden von fünf Buchhändlern und einem Milliardär

Macau – Ein Las Vegas für ganz Asien

Taiwan, die offene Wunde

10 Unruhiges Dach der Welt, rebellischer Westen

Tabuthema Dalai Lama

Exil am Fuße des Himalaya

Mönche und Nonnen über 4000 Meter

Schreckgespenst Islamismus

11 Stürmisches Erwachen

Gastgeber der Welt

Neue Diplomatie um die alte Seidenstraße

China und Japan: Die Rivalen

Schwieriger Nachbar Nordkorea

Abschied vom Volkskrieg

Machtverschiebung im Südchinesischen Meer

12 Amerika, Europa und das neue China

Eine spannungsgeladene Beziehung

Die Ängste der Europäer

Zwei, drei, viele Supermächte?

Danksagung

Literatur und Quellen

Onlinedienste, Zeitungen, Zeitschriften

Bücher

Vorwort

Zum richtigen Zeitpunkt

Von Hugo Portisch

Raimund Löw und Kerstin Witt-Löw haben es geschafft: Sie haben das richtige und wichtige Buch zur richtigen Zeit geschrieben. Weltmacht China, das ist kein Titel, das ist der Beginn einer neuen Weltordnung, mit der wir es noch sehr zu tun haben werden. Als ich vor rund 50 Jahren meine erste große Reise nach China machte und danach in Europa und den USA darüber berichtete, überragte eine Frage alle anderen: Sechshundert Millionen Chinesen soll es geben? Das kann nicht wahr sein, dann müssten dreihundert Millionen von ihnen schon verhungert sein. China, ein Land der tiefen Armut und des ständigen Hungers. Das Buch der Löws über das heutige China stellt vieles in den Schatten, was wir bisher über China wussten. Heute leben 1,4 Milliarden Menschen in China, fast ein Viertel der Menschheit. Mehrere Hundert Millionen haben das arme Landleben verlassen und sind in die Städte gezogen, in gewaltige Wolkenkratzerburgen, die buchstäblich aus dem Boden gestampft wurden. In China leben heute mehr Milliardäre als in den USA, in China wurden im letzten Jahr mehr Autos erzeugt als in Europa, Japan und den USA gemeinsam. Immer mehr von ihnen sind Elektroautos, also Autos der Zukunft. Die größte Stadt der Welt heißt Chongqing. Ja, das war einmal die Hauptstadt Chinas vor der Machtergreifung der Kommunisten, ein Fluchtort für die damalige nationalchinesische Regierung, ein Städtchen am Oberlauf des Jangtsekiang. 30 Millionen Menschen leben heute in Chongqing, einer Stadt, die so groß ist wie Österreich.

Im Jahr 1964 war ich an der Grenze Hongkongs in einem Fischerdorf an der Schlangenmaulbucht, wie der Strand genannt wurde. Einige Hundert Menschen waren damals dort bemüht, mit Pickel und Schaufel tiefe Löcher in die Erde zu graben. Auf einem großen Plakat war ein Bild zu sehen von der Stadt, wie sie einmal aussehen sollte: eine Front von Wolkenkratzern. Heute heißt diese Stadt Shenzhen und hat zwölf Millionen Einwohner. Alles doppelt so groß und doppelt so viel wie im benachbarten Hongkong. Unter vielem anderen werden in Shenzhen heute Millionen iPhones für die amerikanische Firma Apple hergestellt.

Aber wie kommt das alles zustande? Wie werden alle diese Menschen regiert? Wie leben sie? Was bewegt sie? Welcher Zukunft träumen sie entgegen? Raimund Löw gibt uns in diesem Buch die Antworten. Punkt für Punkt enträtselt er das heutige China.

Revolutionär erobert von Mao Zedong (bei uns hieß er noch Mao Tse-tung), als Volksrepublik ausgerufen im Jahre 1949. Mao hatte Großes vor: In einem »großen Sprung vorwärts« wollte er aus dem Agrarland China über Nacht ein Industrieland schaffen und nutzte dazu die Millionen Menschen anstelle der fehlenden Maschinen – sie mussten Staudämme bauen, Fabriken aus dem Boden stampfen, und die Bauern wurden in geradezu militärisch organisierte Volkskommunen gepresst. Auf den Plätzen und Straßen der Städte wurden kleine Hochöfen gebaut, in denen Eisen erzeugt werden sollte. Metallene Küchenlöffel wurden eingeschmolzen, aber das Eisen war zu nichts zu gebrauchen. Am Ende dieser Riesenkampagne gab es wieder nur Hungersnot und viele Millionen Erschlagene und Verhungerte.

Als sich Mao am Ende seiner Zeit in der eigenen Partei vielen Feinden ausgesetzt sah, rief er die auf ihn eingeschworene Jugend zu einer »großen proletarischen Kulturrevolution« auf und hieß sie, die Verwaltungszentren zu stürmen, die Schulen und Hochschulen von den Professoren zu säubern, die bürgerlichen Reste des Volkes auszurotten – zwischendurch aber eben auch seine Feinde zu beseitigen.

Nach den Machtkämpfen kam Deng Xiaoping ans Ruder, einer, der begriff, dass mit Marx- und Stalinkult ein Volk unterjocht, aber die Menschen nicht bewogen werden konnten, ihre Kräfte für die Zukunft des Landes einzusetzen. Um diese Kräfte zu entfalten, musste jeder empfinden, dass er imstande war, etwas für sich zu schaffen. Und das war nur im Kapitalismus möglich. So erfand Deng Xiaoping das Wunderwort: »Reich sein ist herrlich«, und führte in China den Staatskapitalismus ein, mit chinesischen Charakteristika, und das hieß die Zulassung auch privater Kapitalisten.

Aber die neue Ordnung barg auch Gefahren. In der Sowjetunion hatten genau die von Gorbatschow eingeführte Perestroika und Glasnost, Umstrukturierung und Transparenz, zum Zusammenbruch des Sowjetregimes geführt. In Peking kam man zu dem Schluss, dass sich die Kommunistische Partei unter keinen Umständen das Heft aus der Hand nehmen lassen dürfe. Die studentische Jugend in China aber war gerade dabei, die Freiheiten für sich zu reklamieren, von denen sie glaubte, Gorbatschow hätte sie der Sowjetunion schon gewährt. Auf dem Tiananmen-Platz, dem Platz des Himmlischen Friedens im Zentrum Pekings, versammelten sich einige Tausend Studenten mit dem Ruf nach diesen Freiheiten. Die Freiheitsstatue von New York bildeten sie nach, um diesem Ruf Ausdruck zu geben. Die Spitze der Partei wusste, was zu tun war, um nicht das Schicksal der Sowjetführung zu erfahren: Sie setzte Panzer und Militär ein, um die Studenten blutig niederzukämpfen. Hunderte wurden getötet und verletzt. Darüber darf seither niemand in China offen sprechen, aber die Partei weiß, dass sie gerade wegen ihres brutalen Vorgehens an der Macht ist.

Raimund Löw und Kerstin Witt-Löw beschreiben diese Vorgänge in ihrem Buch sehr genau, und sie beschreiben damit das System. Alles, was zu persönlicher Freiheit führen könnte, darf nicht zugelassen werden. Das weltweit gespannte Internet ist in China verboten, blockiert. Stattdessen hat die chinesische Führung ein eigenes, chinesisches Internet samt Facebook und Twitter geschaffen, das unter der strengen Kontrolle der Partei funktioniert, und alles, was in irgendeiner Form der Partei gefährlich sein könnte, wird Tag für Tag aus dem Netz gelöscht.

Der Mann, der heute an der Spitze der Partei steht und unangefochten das gesamte Land regiert und führt, ist der als Staatspräsident bezeichnete Generalsekretär der Partei, Xi Jinping. Er war ein Opfer der Kulturrevolution. Sein Vater wurde als Parteifunktionär abgesetzt und der Sohn zwangsweise auf das Land geschickt, das heißt, er musste in einer Kommune hart arbeiten und lebte in einer Erdhöhle. Aber Xi Jinping übt heute keine Rache an seinen damaligen Verfolgern. Sein Blick ist vorwärtsgerichtet und er verkündet das verheißungsvollste Programm aller bisherigen Parteiführer: Xi Jinping will den »chinesischen Traum!« erfüllen, China in seiner alten Pracht und Herrlichkeit wiederauferstehen lassen: das China, das einst lange vor den Europäern den Buchdruck, das Schießpulver und die Raketen erfunden hatte, das seine Flotte weit über alle Meere segeln ließ, das Reich der Mitte, das auch wirklich der Mittelpunkt der Welt war. Und Xi Jinping legt der Verwirklichung dieses Traums auch Daten zugrunde: Bis zum Jahr 2020 hat China die letzten Reste seiner Armut zu überwinden, alle Chinesen müssen bis dahin zum Mittelstand gehören. Bis zum Jahr 2035 hat China auf allen Gebieten, aber insbesondere auf denen der modernsten Technik, die gesamte Welt zu überholen. Nicht das Silicon Valley in den USA, sondern die entsprechenden Institute in China hätten in allen Techniken und Entwicklungen an der Spitze der Welt zu stehen. Und dieses Unterfangen nimmt schon seinen Lauf. Werke mit entsprechendem Know-how werden in aller Welt von China eingekauft, oder zumindest wird China an ihnen beteiligt. Spitzenprodukte insbesondere in der Informationstechnik, Robotik und bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz werden von China aufgekauft oder imitiert. Bis zum Jahr 2035 hat China laut Xi Jinping auf allen technischen, aber auch militärischen Gebieten die Spitzenposition der Welt zu erreichen – hat auch imstande zu sein, einen großen Krieg zu führen und zu gewinnen. Und bis dahin hat es auch seine territorialen Ansprüche durchzusetzen, insbesondere im Südchinesischen Meer, wo es Anspruch auf die dort befindlichen kleinen Felsinseln erhebt oder sogar welche dazubaut. Denn unter ihnen werden große Rohstofflager vermutet. Und in aller Welt ist China dabei, Infrastrukturen zu schaffen, die es ihm ermöglichen, die örtlichen Rohstoffe für sich zu reklamieren.

Um das große Ziel zu erreichen, hat sich Xi Jinping 2018 die uneingeschränkte Macht in China für lange Zeit gesichert: Auf seinen Antrag beschloss der Volkskongress, ihm die unbeschränkte Wiederwahl seiner bisher auf zehn Jahre beschränkten Position an der Spitze der Partei zu gestatten.

Dieser neue Machtgewinn und die Zielsetzungen Xi Jinpings, die China zur Weltmacht Nummer eins machen sollen, werden Auswirkungen für die gesamte Welt haben. Umso mehr gilt es zu verstehen, was in China vor sich geht.

Raimund Löw und seine Frau Kerstin Witt-Löw haben genau deshalb dieses Buch geschrieben. Und mit ihren humorigen Tagebuchblättern macht Frau Witt-Löw das Lesen dieses Buches auch zum Vergnügen.

Einleitung

China wirkt für Europäer wie ein Stück Menschheit aus einer anderen Welt. Niemand kennt bei uns die Blockbuster und Stars aus dem Reich der Mitte. Nicht einmal bekannte Namen kann man in den Schlagzeilen der Zeitungen entziffern, weil uns die Schriftzeichen fremd sind. Schnell stößt man auf Städte, deren Namen in Europa noch kaum jemand gehört hat. Chongqing, Shenzhen, Chengdu, Tianjin. Die unbekannten Städte haben jedoch häufig mehr Einwohner als Paris, London und Wien zusammen. Chinas Politiker sind supermächtig, liest man. Aber kaum jemand kann sie auseinanderhalten. Wenigstens Mao Zedong war ein weltweit bekanntes Gesicht. Damals schrieb man den Großen Vorsitzenden aber noch Mao Tse-tung. Und wie spricht man das X bei Xi Jinping, dem Mao unserer Zeit, aus? Es ist ein »Sch«. Dem amerikanischen Präsidenten Trump haben Berater vor seinem großen Chinabesuch geraten, als Gedächtnisstütze an eine Frau zu denken, »she«, also »sie«, wenn ihm der Name des Gastgebers nicht einfalle. Schi Tschinping wäre die lautschriftliche Übersetzung ins Deutsche. Xi Jinping, wie der Präsident weltweit heißt, ist die phonetische Umschreibung des chinesischen Namens in das lateinische Alphabet auf der Grundlage der inzwischen allgemein akzeptierten, sogenannten Pinyin-Schreibweise. Xi ist der Familienname, der im Chinesischen immer vorangestellt wird.

Die Dimensionen des Landes verschrecken. In Wirklichkeit ist es ein Kontinent. Fast 1,4 Milliarden Menschen wurden 2016 in der Volksrepublik China gezählt. Das ist doppelt so viel wie die Gesamtbevölkerung der Europäischen Union inklusive Großbritannien plus die USA. Wie schwierig es ist, unsere kleine EU zu regieren, erleben wir seit Jahrzehnten. Wie es überhaupt möglich ist, ein derartiges Riesenreich in eine bestimmte Richtung zu führen, ist ein Mysterium.

Und jetzt will dieses Riesenreich, das in so gar kein Schema passt, Weltmacht sein. Die aufstrebende Supermacht China fordert die ermatteten USA auf der Weltbühne heraus. Bis nach Europa reichen plötzlich die chinesischen Interessen. Ungarn, die Tschechische Republik und Griechenland, die normalerweise gegenüber Auslandseinflüssen skeptisch sind, schielen nach Peking, wenn Brüssel ihrer Meinung nach zu viel kontrolliert. Die historisch interessierten Europäer erfahren, dass China dabei sein könnte, wieder in die Rolle der weltweit führenden Zivilisation zu schlüpfen, die das Land bis ins späte 18. Jahrhundert innehatte.

Die Herausforderung, diese Entwicklung besser zu verstehen, hat uns nach China geführt. Der Österreichische Rundfunk ermöglicht es Korrespondenten, mit Familie in ihre Einsatzgebiete zu übersiedeln. Wir waren gemeinsam mit unseren beiden Töchtern 1988–1990 im Moskau Michail Gorbatschows, 1991–1997 im Washington Bill Clintons, 2003–2007 neuerlich in Washington zur Zeit George W. Bushs und 2007–2014 in Brüssel, rund um die Eurokrise. 2014 bot uns ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz die Chance, nach Peking zu übersiedeln. Wir haben das Angebot mit großer Freude angenommen.

Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit. Wir haben uns China nicht als Sinologen oder als Politikwissenschaftler angenähert, obwohl einer von uns – Raimund Löw – einst das Fach Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert hat. Wir sind mit den offenen Augen von Korrespondenten durch China gereist. Auslandskorrespondenten sind eine eigene Spezies, selbst unter Journalisten. Wir sind eine Stimme von außen. Gleichzeitig müssen wir das Land, aus dem wir berichten, mit einem österreichischen Blick betrachten, sonst sind wir von der heimischen Öffentlichkeit, für die wir arbeiten, zu weit entfernt. An diesem Zugang versuchen wir auf den folgenden Seiten festzuhalten.

Das Buch basiert auf unseren Recherchen und Berichten. Aufmerksame Hörer und Seher werden manches in der ZiB des ORF oder im Weltjournal, im Mittagsjournal oder im Journal Panorama sowie in der Wiener Wochenzeitung »Falter« in Beiträgen von Raimund Löw schon gesehen oder gehört haben. Kerstin Witt-Löw hat jede Woche Wochenberichte an Freunde nach Wien und Verwandte nach Hamburg geschickt. Sie haben sich bei der Rekonstruktion unserer zahlreichen Reisen als unverzichtbare Stütze erwiesen. Ausschnitte aus diesen Wochenberichten finden sich unter dem Titel »Kerstins Tagebuch« auch in diesem Buch. Gleichzeitig haben wir versucht, Wissen einzubauen, das Experten und Forschungseinrichtungen in Europa, Amerika, Asien und Australien über die chinesische Entwicklung veröffentlichen.

Wenn dieses Buch hilft, Nachrichten aus dem Fernen Osten besser zu verstehen und unser eigenes europäisches Bewusstsein als Teil der neuen Welt zu schärfen, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

Wien–Peking, Juli 2018

Raimund Löw und Kerstin Witt-Löw

1

Der große Sprung nach Peking

Die Welt erlebt den Aufstieg Chinas als ein Stakkato von Superlativen. Jedes Jahr bringt mehr Wolkenkratzer, mehr Milliardäre und neue großartige Pläne aus dem Reich der Mitte. Die Skyline der Wirtschaftsmetropole Schanghai mit dem World Financial Center, das aussieht wie ein Flaschenöffner, und dem Shanghai Tower, der einem riesigen Korkenzieher gleicht, steht für das atemberaubende Tempo, mit dem sich China vom armen Agrarland unter Mao Zedong zur zweiten Wirtschaftsmacht des Planeten gewandelt hat. In Peking leben heute mehr Milliardäre als in New York City. Das Kommando hat die KP Chinas, die größte kommunistische Partei der Welt.

Aus Peking, der alten Kaiserstadt und seit Maos Sieg 1949 das politische Machtzentrum des Riesenlandes, kennt man den bösen Smog und die endlosen Staus auf den Stadtautobahnen. Eltern und Großeltern der geduldigen Autofahrer kamen zum großen Teil vom Land. Viele von ihnen waren so arm, dass sie sich Fleisch nur an hohen Festtagen leisten konnten. Jetzt überlegen die Mittelstandsbürger, ob sie ein chinesisches, ein südkoreanisches oder gar ein deutsches Auto kaufen wollen. Die marktwirtschaftlichen Reformen der letzten 40 Jahre haben ihr Leben revolutioniert. Nie zuvor in der ganzen Menschheitsgeschichte haben sich die Lebensbedingungen für eine derart große Zahl von Menschen innerhalb so kurzer Zeit so dramatisch verbessert wie in der Volksrepublik China. Nie zuvor war es für eine Elite von 90 Millionen Menschen, die Mitglieder der Kommunistischen Partei, so schwer, die Kontrolle über 1400 Millionen Menschen zu behalten, die mit unterschiedlichen Wünschen, Träumen und Traditionen in die Zukunft stürmen.

Als westliche Reporter kommen wir in ein Land, in dem die Führung das gigantische Experiment in eine zweite Phase führen will, in der China das Erbe der Armut endgültig beseitigt. Nur das um vieles kleinere Südkorea und Taiwan haben den Anschluss an die entwickelten Industriestaaten geschafft, den die riesige Volksrepublik jetzt anstrebt. Der ökonomische Erfolg wird China zur Weltmacht machen, versprechen die offiziellen Medien. Den Bürgern wird der Staat bis zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei 2021 ein Leben ermöglichen, das mit den Verhältnissen in Amerika und Europa vergleichbar ist. Zweifel sind keine erwünscht, Widerspruch ist nicht erlaubt.

Die kleine Gruppe von Auslandskorrespondenten in Peking ringt jeden Tag damit, durch den dichten Nebel von Propaganda und Zensur herauszufinden, wohin die Reise geht. Wir sind in der gleichen Situation wie die Bürger des Landes, über das wir berichten. Sie wissen auch nicht, was passiert und warum. Aber die Selbstherrlichkeit der Behörden stört die meisten weniger als uns, die wir jeden Tag an unsere Redaktionen berichten sollen, wie die neue Weltmacht tickt. Die Menschen in China sind gewohnt, dass der Staat hinter dicken Mauern, fern von der Öffentlichkeit, agiert.

Die Verbotene Stadt, in der in Peking einst der kaiserliche Hof residierte, ist heute das berühmteste Museum der Stadt. 890 Tempel und Paläste sind von einer großen Mauer und einem Kanal umgeben. Ab umgerechnet zwölf Euro können Touristen ein Ticket erwerben. In der Qing-Dynastie, die bis zur demokratischen Revolution von 1911 regierte, durfte kein Normalsterblicher das kaiserliche Viertel betreten. Von der Balustrade des Tiananmen-Tors, ein paar Steinwürfe entfernt, hat Mao Zedong 1949 seinen Sieg im Bürgerkrieg mit der Proklamation der Volksrepublik China verkündet. Die Bilder kennt jedes chinesische Schulkind. Wir besteigen das weltberühmte Tor an einem der ersten Tage nach unserer Ankunft in Peking. Vor lauter Smog ist das Mao-Mausoleum in der Mitte des Platzes kaum zu erkennen. Es ist ein symbolisches Bild: Die Kommunistische Partei hat aus den Wirren des Maoismus herausgefunden und China stark gemacht. Aber der Raubbau an der Natur, der mit dem Wachstum verbunden ist, schafft Grenzen für die weitere Entwicklung.

An allen Ecken des Tiananmen-Platzes finden Sicherheitskontrollen statt. Sie sind so streng wie auf Flughäfen in Europa. Geduldig stellen sich die Bürger zur Leibesvisitation an. Die strenge Überprüfung wundert in der Hauptstadt niemanden. Sogar in jeder U-Bahn-Station werden in Peking Koffer und Taschen durchleuchtet. Die Angst vor Terrorangriffen hat einen riesigen Sicherheitsapparat entstehen lassen. Der einzige bekannt gewordene Anschlag am Platz des Himmlischen Friedens fand 2013 statt, als Selbstmordattentäter mit einem Kleinlaster in die Menschenmenge vor dem riesigen Mao-Porträt rasten. Die Regierung machte muslimische Separatisten der uigurischen Minderheit verantwortlich.

Einige Hundert Meter westlich des Tiananmen-Platzes beginnt eine neue Mauer. Viel Polizei ist zu sehen, dazu Sicherheitspersonal in Zivil. Durch das Eingangstor sieht man eine Kalligrafie mit einem berühmten Spruch Mao Zedongs: »Dem Volke dienen«. Es sind die Schriftzüge des Großen Vorsitzenden. Hinter der Mauer verbirgt sich das geheimnisvolle Regierungsviertel Zhongnanhai, das wie einst die Verbotene Stadt für Normalbürger tabu ist. Mao selbst hat in Zhongnanhai gewohnt, genauso wie Mitkämpfer und Rivalen. Die höchsten Parteifunktionäre haben auch heute Wohnhäuser und Arbeitsplätze hinter den geheimnisvollen Mauern. Nur ganz selten passieren ausländische Gäste das Tor in das Regierungsviertel.

Österreichs früherer Bundespräsident Heinz Fischer hatte 2015 dazu die Gelegenheit, als er den früheren Ministerpräsidenten Wen Jiabao besuchte. Das chinesische Protokoll will ehemalige Regierungsmitglieder für immer aus dem Verkehr ziehen. Um den Besuch Fischers bei dem alten Bekannten wurde tagelang gerungen. Wen Jiabao hatte schon begonnen, seine Grüße schriftlich zu formulieren, als im letzten Augenblick das grüne Licht von oben für den österreichischen Besuch kam, der österreichische Bundespräsident durfte das Allerheiligste der chinesischen Staatsmacht betreten. Heinz Fischer berichtet von einer »herrlichen, schönen Parkanlage mit einer wunderschönen Villa«, in der der pensionierte Ministerpräsident auf den österreichischen Bundespräsidenten wartete. Heinz Fischer hat, so sagt er, mit dem ehemaligen Regierungschef eine echte Freundschaft entwickelt. Es gibt sogar, ganz altmodisch, einen Briefwechsel zwischen dem ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten und dem ehemaligen chinesischen Regierungschef.

Das allererste Mal aufmerksam wurde ich auf die Bedeutung des Ortes Zhongnanhai im Jahr 1999, als Hunderte Demonstranten der inzwischen verbotenen Falun-Gong-Sekte vor dem Eingang gegen die Repression protestierten. Geduldig und in langen Reihen standen, saßen und lagen die Demonstranten auf dem Gehsteig vor der Mauer von Zhongnanhai. Die meisten waren ärmlich gekleidet, sie kamen aus der Provinz. Einige Demonstranten meditierten, andere hielten Fahnen und Transparente. ORF-China-Experte Helmut Opletal, mit dem ich für eine Reportage über den zehnten Jahrestag der Demokratiebewegung für die ZiB 2 des ORF unterwegs war, zog mich weg. Ein auffälliges Interesse von uns westlichen Journalisten hätte sowohl die Demonstranten als auch uns selbst gefährdet. Auch während der Studentenproteste 1989 hatte es Kundgebungen vor dem eingemauerten Regierungsviertel gegeben.

Mehr als ein Vierteljahrhundert später sind mit Straßenprotesten verbundene politische Erschütterungen Vergangenheit. Die Bürger haben erlebt, dass sich unter der eisernen Faust der Partei ihre Lebensbedingungen dramatisch verbessert haben. Die Statistiker der Weltbank in Washington haben errechnet, dass die Wirtschaftsleistung in China pro Kopf der Bevölkerung heute nahezu zehnmal so hoch ist wie vor 25 Jahren. Das ist eine Zahl, in der auch die Hunderte Millionen Menschen enthalten sind, die es noch nicht in die Mittelschicht geschafft haben. Jene Familien, die zu der heute rund 300 Millionen Menschen umfassenden, konsumorientierten Mittelklasse gehören, haben einen noch ungleich größeren materiellen Sprung vorwärts gemacht. Wie viele der 1,4 Milliarden Bürger tatsächlich zur Mittelschicht zu zählen sind, ist umstritten. Der langjährige China-Korrespondent des »Standard«, Johnny Erling, zitiert den chinesischen Soziologen Li Pelin mit der Aussage, dass für die nächsten zehn Jahre mit »bis zu 500 Millionen Menschen mit mittlerem Einkommen« zu rechnen sei. Das wäre mehr als ein Drittel der Bevölkerung.

Wir kommen aus dem pessimistischen Europa und wundern uns, wie überzeugt unsere Gesprächspartner in China sind, dass es ihnen in fünf Jahren besser gehen wird als jetzt. Denn auch in den letzten fünf Jahren war das so, und auch in den vorletzten fünf Jahren. Dass die Kinder es noch viel besser haben werden, wenn sie nur hart arbeiten und den Eintritt in eine gute Schule schaffen, gilt als selbstverständlich.

Fast religiös zelebriert die Regierung jedes Jahr die aktuellen Zahlen zum Wirtschaftswachstum, das wie durch Zauberhand gelenkt fast punktgenau bei den Planvorgaben landet. Von 2010 bis 2020 soll das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt werden. Ein zweistelliges Wachstum wie früher gibt es nicht mehr. Rund 6,5 Prozent pro Jahr lautet das offizielle Wachstumsziel. 2017 waren es 6,9 Prozent, für 2018 werden 6,6 Prozent erwartet. Wie verlässlich diese Zahlen sind, ist unklar. Aber dass China als Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft fungiert, bleibt unbestritten.

Das ORF-Büro in Peking

Das Korrespondentenbüro des Österreichischen Rundfunks in Peking liegt in einer Wohnanlage in Chaoyang, die vor Jahrzehnten für Ausländer errichtet wurde. Chaoyang gilt als Diplomatengegend, weil hier die meisten Botschaften liegen. Mit der U-Bahn erreichen wir vom Arbeitsplatz mit einmaligem Umsteigen in etwa 40 Minuten den Platz des Himmlischen Friedens. Das gilt als kurze Fahrzeit. Chaoyang liegt in Zentrumsnähe und ist einer von 16 Bezirken der chinesischen Hauptstadt. In Europa wäre Chaoyang alleine schon eine Großstadt: Unser neuer Heimatbezirk hat vier Millionen Einwohner, mehr als sieben der (noch) 28 EU-Staaten und halb so viel wie ganz Österreich.

Glücklicherweise haben wir auf Rat unserer Vorgänger eine Wohnung gemietet, die nur wenige Hundert Meter von der Korrespondenten-Arbeitsstätte entfernt ist – ein einfacher Fußweg mitten durch das belebte Sanlitun-Viertel. Die kurze Distanz ist ein Luxus in Peking, wo Anfahrtswege von weit über einer Stunde in übervollen U-Bahnen und auf verstopften Straßen normal sind. Auch dem Arbeitsrhythmus des Auslandskorrespondenten kommt die Nähe von Büro und Wohnung entgegen, er richtet sich nach den Zeitzonen der Heimatredaktion: In Washington muss man als europäischer Korrespondent daher sehr früh aufstehen, in Asien muss man lange aufbleiben. Der reguläre Zeitunterschied nach Mitteleuropa beträgt sechs Stunden. Wenn die Radio- oder Fernsehkollegen in Wien ihre Arbeit aufnehmen, ist in China Nachmittag. Die intensivsten Arbeitszeiten in Peking sind der Nachmittag und der Abend. Live-Auftritte für die ZiB-Sendungen des ORF finden tief in der Nacht statt.

Auf dem Weg von unserer Wohnung zum Büro des ORF passieren wir Transparente und Plakate, die von der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei aufgehängt und regelmäßig gewechselt werden. Im Patio unserer Wohnanlage hängt ein riesiger Videoscreen, auf dem in rascher Abfolge Werbespots für Luxusautos, exotische Touristendestinationen und die Chinesische Volksbefreiungsarmee laufen. »Das Volk hat Vertrauen. Die Nation Hoffnung. Der Staat hat Macht«, flimmert die aktuelle Losung über den Bildschirm. Es folgt die Liste der Sozialistischen Kernwerte. Sie ist lang, aber jedes Kind lernt sie auswendig: »Wohlstand – Demokratie – kulturelle Entwicklung – Harmonie«, »Freiheit – Gleichheit – Gerechtigkeit – Rechtsstaatlichkeit«, »Patriotismus – Hingabe – Aufrichtigkeit – Freundlichkeit.« Präsident Xi Jinping beschwört das Vertrauen des Volkes in den Traum vom erstarkten China. Der Korrespondent der »New York Times«, Javier Hernandez, zählte auf seinem täglichen, 30-minütigen Weg zur Arbeit in unserer Gegend über 70 politische Plakate und Transparente. Die Partei ermahnt die Bürger, die Straßen sauber zu halten und respektvoll miteinander umzugehen. Immer wieder gibt es auch Plakate, die junge Frauen vor ausländischen Bekanntschaften warnen, weil fremde Männer Spione sein könnten. Auf einer Plakatwand sieht man herzige Comics von dicken Kindern, die alte konfuzianische, chinesische Tugenden beschwören: etwa sich um die eigenen Eltern zu kümmern und zu Vorgesetzten loyal zu sein. Der Ton ist paternalistisch und patriotisch. Und überall weht die rote Fahne mit den gelben Sternen. Unsere Chinesisch-Lehrerin, eine junge Studentin, wundert sich, dass wir uns für die Losungen auf den Transparenten interessieren. Wir kämpfen uns durch die Slogans: »Bekämpft Korruption! Sauberkeit und Ehrlichkeit«. Die Einheimischen sind politische Straßenpropaganda gewöhnt, sie gehen achtlos daran vorbei.

Um das Ausländer-Areal zu betreten, in dem das ORF-Büro liegt, muss man den Kontrollpunkt des Wachpostens passieren. Es ist nicht allzu lange her, da hatten Soldaten der Chinesischen Volksbefreiungsarmee diesen Job inne, jetzt hat ein Securitydienst übernommen. Chinesische Staatsbürger brauchen einen Passierschein. Die deutsche ARD, der amerikanische Radiosender National Public Radio und der italienische Botschaftskindergarten befinden sich in der ausgedehnten Anlage. Die ORF-Korrespondenten sind in Büroräumen der chinesisch-deutschen Videofirma China Television Services (CTVS) untergebracht, die Kameraleute, Videocutter und die für die Fernsehproduktion erforderliche Technik beisteuert.

Die besondere Aufmerksamkeit, die dem Gelände von den chinesischen Sicherheitsbehörden zuteilwird, erleben wir jede Woche, wenn die Printausgabe der britischen Wochenzeitschrift »Economist« zugestellt wird: Seiten mit kritischen Artikeln über Staatspräsident Xi Jinping fehlen, sie sind vor der Zustellung feinsäuberlich mit einer Rasierklinge herausgeschnitten worden.

Wir Auslandskorrespondenten sind für die chinesischen Behörden eine ganz eigene Spezies. Wir reisen mit einem sogenannten J1-Visum. Dieses Visum ist heiß begehrt. Es ermöglicht es einem ausländischen Reporter, ein Jahr lang in China zu arbeiten. Jedes Jahr im Dezember muss es erneuert werden. Zu diesem Zweck ziehen die Behörden die Pässe aller Korrespondenten für mehrere Wochen ein, in denen wir mangels gültigen Ausweispapiere China nicht verlassen können. Die internationalen Journalisten, die von Peking aus oft über halb Asien berichten, sitzen dann in der chinesischen Hauptstadt fest. Das Prozedere schafft manch böses Blut. Zuletzt ist der französischen Korrespondentin des linksliberalen Magazins »L’Observateur« die Visaverlängerung verweigert worden, weil sie einen unfreundlichen Artikel über die Politik Pekings gegenüber der islamischen Minderheit der Uiguren in Westchina geschrieben hat. Die Kollegin musste das Land vor Jahresende in Richtung Paris verlassen. Unser Verhältnis zur Ausländerpolizei ist freundlich-professionell, überlange Wartezeiten blieben uns erspart.

Sanlitun – unser Grätzl in Peking

Unser Zuhause in Peking liegt im 23. Stock von Turm 16 einer supermodernen Wohnanlage mit integrierter Shoppingmall namens Sanlitun Soho. Sanlitun ist eine begehrte Ausgehgegend im Pekinger Bezirk Chaoyang. Wie viele andere Hochhäuser ist auch unser Wohnkomplex erst zehn Jahre alt. Sanlitun Soho war Teil der umfangreichen Bautätigkeiten vor den Olympischen Spielen 2008 in Peking, die das Stadtbild komplett verändert haben. In den Untergeschoßen befinden sich auf mehreren Etagen Restaurants und Geschäfte, auf den Glasfassaden zeigen große Videoscreens Werbung. Geschäfte und Restaurants wechseln ständig die Betreiber. Kaum sperrt ein Friseursalon zu, nimmt schon 48 Stunden später an der gleichen Stelle eine Arztpraxis ihre Tätigkeit auf. Die Mittagssuppe um die Ecke kostet umgerechnet drei Euro. Die meisten Kunden greifen für das Kleingeld nicht in die Tasche, sondern halten der Verkäuferin nur schnell ihr Smartphone hin. Ein Barcode wird gescannt und die Transaktion ist erledigt.

In den teuren Wohnungen wohnen Ausländer und wohlhabende Chinesen. Immobilien sind für die Mittelschicht die wichtigste Geldanlage, für einige auch Spekulationsobjekte. Unsere Wohnung gehört einer Geschäftsfrau, die gleich zwei Wohnungen in unserem Wohnturm erworben hat. Die Objekte sind inzwischen, nach zehn Jahren, fast das Zehnfache wert. Auch die Mieten klettern Jahr für Jahr und müssen immer wieder neu verhandelt werden. Die Wohnungsmiete in Sanlitun ist um einiges höher als in Brüssel, unserem letzten Korrespondentenposten.

Wenn wir vom 23. Stock aus den bis zum Boden reichenden Fenstern blicken, sehen wir an schlechten Smog-Tagen höchstens zwei, drei Häuserreihen. Öfter, als wir erwartet haben, gibt es aber auch klare Tage. Dann reicht die imposante Skyline aus Wolkenkratzern bis zu den Westbergen am Stadtrand. Dass wir in China sind, zeigen die riesigen, beleuchteten chinesischen Zeichen auf dem Dach des Nachbargebäudes: Mei Lin–Da Sha, Schöner Wald–Großes Gebäude, heißen sie übersetzt. Gleich dahinter sehen wir das Arbeiterstadion, wo mehrmals in der Woche lautstarke Fußballspiele stattfinden. Während der Kulturrevolution gab es in dem Stadion öffentliche Demütigungsspektakel. Rotgardisten zwangen den Bürgermeister und andere hohe Funktionäre zu einem erniedrigenden Spießrutenlauf, die Gefangenen wurden beschimpft und bespuckt. An diese Vergangenheit erinnert allerdings niemand. Und ganz unten, direkt unter unserem Fenster, befinden sich zweistöckige Container mit blauen Dächern. Hier wohnen die Wanderarbeiter aus der Provinz, die das neue Luxushotel Intercontinental gleich nebenan bauen. Jeden Morgen marschieren sie mit den gelben Arbeitshelmen los und wir sehen, wie Stockwerk um Stockwerk das neue Gebäude wächst. Am Ende unseres Peking-Aufenthalts überragt das Intercontinental Beijing Sanlitun mit seiner in allen Farben blinkenden Fassade die Türme unseres Grätzls und das Container-Dorf wird leer.

Kerstins Tagebuch

Die Einrichtung unserer Wohnung ist so weit abgeschlossen. Die Übersiedlungskartons sind letzte Woche angekommen, wir haben die Bilder aufgehängt und es ist erstaunlich, wie schnell damit eine Wohnung wieder zum vertrauten Zuhause wird.

In meinem Arbeitszimmer hängt eine halbe Weltkarte, die ich mir täglich anschaue: In der Mitte liegt China und nicht, wie wir es gewöhnt sind, unser Europa, und es ist beeindruckend, wie sich damit auch die Perspektive verändert. Europa erscheint ziemlich weit weg, auch wenn wir jeden Tag BBC hören, ich den »Spiegel« lese und Raimund mir die Neuigkeiten aus »FAZ« und »New York Times« erzählt.

Für die vielen fehlenden Kleinigkeiten wie Untersetzer oder rutschfeste Badematten hat mich die Assistentin des ORF-Büros Yoyo Weiran zu Ikea begleitet. Ikea ist beliebt bei den chinesischen KundInnen: Von September 2016 bis August 2017 hat Ikea einen Jahresumsatz von 13,2 Milliarden Yuan gemacht, umgerechnet sind das 1,7 Milliarden Euro. Ikea heißt auf Chinesisch yijia, was so viel wie »gemütliches Zuhause« heißt, und so verhalten sich die Chinesen dort auch. Sie bewohnen nämlich die Ausstellungszimmer, schlafen in den Betten unter den Decken, füttern ihre Kinder oder liegen auf den Couchen, um Videos auf den Smartphones anzuschauen. Ikea-Richtlinien sollen verhindern, dass alle Betten und Couchen von Schlafenden belegt sind, aber sie werden offensichtlich nicht befolgt. Ikea ist ein beliebtes Ausflugsziel und wir mussten uns sehr lange bei der Essensausgabe anstellen. Und weil es so exotisch ist, essen die Chinesen hier auch mit Messer und Gabel statt mit Stäbchen. Yoyo ist begeistert von Ikea, sie wollte vor allem tiefgefrorenen skandinavischen Lachs mitnehmen. Bei den chinesischen Lebensmitteln weiß man nicht so recht, wie gesund sie wirklich sind. Erst vor Kurzem gab es einen Skandal um verseuchte Babymilch.

Das Leben in einer Shoppingmall hat den Vorteil, dass alles, was man zum täglichen Leben braucht, in greifbarer Nähe ist. Geschäfte, die öffnen und wieder schließen, zeigen uns die Trends an. So staunen wir über Katzencafés, in denen vor allem junge Frauen ihren Kaffee trinken und dabei eine der vielen dicken Katzen streicheln können. Brot wird plötzlich modern, allerdings in für uns unerwarteten Geschmacksrichtungen wie Matcha, Mango oder Thunfisch. Und gleich neben dem großen Apple-Flagship-Store gibt es in den Winkeln der Mall kleine Anbieter von identisch aussehenden Fake-Produkten. Das iPhone, das wir in Brüssel neu gekauft haben, macht ernsthafte Schwierigkeiten. Der offizielle Apple-Store erklärt sich für nicht zuständig, weil wir das Gerät in Europa gekauft haben. In der inoffiziellen Reparaturwerkstätte holt man einen jungen Mann, der für schwierige Fälle zuständig ist. Nach zwei Tagen bekommen wir unser iPhone zurück, es funktioniert auch noch vier Jahre später problemlos. Unser Respekt vor dem technischen Know-how der falschen Apple-Geschäfte wächst.

Jeder Einkauf im chinesischen Supermarkt ist anfangs ein Abenteuer und verbunden mit einer Recherche, die uns mit den Lebensgewohnheiten der Bürger vertraut macht. Die teure australische Milch im chinesischen Regal überrascht. Bis uns jemand darüber aufklärt, wie groß das Misstrauen der Konsumenten nach wie vor ist, weil aus den heimischen Molkereien so oft verunreinigte Produkte kommen. An die Garküchen mitten im Supermarkt gewöhnen wir uns innerhalb weniger Tage. Um punkt zwölf Uhr, der heiligen Mittagszeit Chinas, strömen die Menschen aus allen Büros und Arbeitsstätten in kleine Restaurants, Imbissstuben oder in den Supermarkt. Innerhalb weniger Minuten bekommt man seine scharfe Suppe, gebackenen Reis, Teigtäschchen oder Salate mit Soßen in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen. Die Speisen nimmt jeder in Plastikbeuteln mit ins Büro. Dort lassen sich die Kollegen gerade per Zustelldienst ähnliche Mahlzeiten liefern. Vor dem Eingang zu unserem Ausländerwohnblock warten die Lieferanten auf ihren Elektrobikes auf die Kunden. Ein einfaches Mahl kostet 15 bis 35 Yuan, umgerechnet zwei bis fünf Euro.

Die Auswahl der Restaurants ist so groß und die Speisen sind für uns in Peking so günstig, dass wir am Ende unseres Aufenthaltes zur eigenen Überraschung feststellen, dass wir in unserer Küche kaum gekocht haben. Chinesische Wohnungen haben oft nur einen winzigen Kochplatz für den mit Gas erhitzten Wok, immer aber einen elektrischen Reiskocher. Elaborierte Küchen des Westens sind in China selten. Die junge Studentin, mit der wir mehrmals in der Woche Chinesisch pauken, findet beim Besuch unserer geräumigen Wohnung, unsere Küche, die aus unserer Sicht gar nicht besonders groß ist, sei der überflüssige Raum der Wohnung.

Das Leben zwischen unseren Wohntürmen folgt einem Tagesrhythmus. In der Früh werden Schoßhunde Gassi geführt, denn seit Kurzem sind Haustiere ein neues Statussymbol für die gehobene Mittelklasse. Tierhandlungen schießen aus dem Boden. Manchmal werden auch auf der Straße winzige Welpen oder Kätzchen zum Kauf angeboten. Die Spuren des Gassi-Gangs werden vom Putztrupp beseitigt, der ohne Unterbrechung den ganzen Tag lang das gesamte Areal wischt und poliert. Auch kleine Kinder werden ausgeführt, von den Ayis, wie die Kinderfrauen und Haushälterinnen genannt werden, oder von den Großeltern, die zur Unterstützung der jungen Eltern vom Land gekommen sind. Chinesische Mütter sieht man kaum, die Karenzzeit dauert nur drei Monate. Mittags haben die vielen kleinen Nudelküchen und Restaurants Hochbetrieb. Aber die belebteste Zeit ist der Abend, denn Sanlitun ist ein beliebtes Ausgehviertel. Viele sitzen nach der Arbeit bei einem Tsingtao-Bier oder Wassermelonensaft unter freiem Himmel an einer Bar, Skateboarder zischen vorbei und es wird geshoppt – schließen doch die Geschäfte erst nach 21.00 Uhr. Vor dem japanischen Bekleidungsgeschäft »Uniqlo« warten Fotografen auf besonders schöne und gut gekleidete Menschen. Sie sammeln Modetrends, die dann im Internet auf der Plattform Baidu zu sehen sind. Im Sommer 2015 war diese »Uniqlo«-Filiale plötzlich landesweit bekannt, denn zwei Teenager hatten sich beim Sex in der Umkleidekabine gefilmt und die Szene ins Internet gestellt. Der Beitrag wurde so populär, dass die Zensur einschritt. Mehrere Wochen war unsere »Uniqlo«-Filiale berühmt und belagert von jungen Menschen, die Selfies vor dem Geschäft machten.

Gleich neben unseren Glastürmen findet ein anderes Leben statt: In der Seitenstraße wird Müll sortiert, an einer Ecke werden Fahrräder repariert. Mobile Garküchen bieten bis 9.00 Uhr früh dicke Palatschinken zum Frühstück an, dann verschwinden sie wieder. Dreirädrige Elektromotor-Rikschas kurven auf den Gehsteigen und werben um Kunden. Es ist immer laut und voller Menschen in Bewegung.

Immer wieder bringt uns in China der Kontrast zwischen dynamischer Veränderung und Tradition zum Staunen. Es ist die Mischung aus überwältigender Modernität und einem vitalen traditionellen Leben, die uns fasziniert.

Polizei und Völkerfreundschaft

Wir hatten ein problemloses Verhältnis zu der für den ORF zuständigen chinesischen Sicherheitsbehörde. Bei der Pekinger Ausländerpolizei ist ein eigenes Beamtenteam für uns zuständig. Der verantwortliche Polizeioffizier hat uns seine Handynummer gegeben, für den Fall, dass wir unerwartete Schwierigkeiten haben sollten. Das Angebot mussten wir nicht in Anspruch nehmen. Beim Höflichkeitsbesuch der gesamten Mannschaft des ORF-Büros versichern wir einander des gegenseitigen Respekts und der Bedeutung der Völkerfreundschaft zwischen China und Österreich. Dass wir uns an die in China geltenden Regeln für Journalisten zu halten haben, ist selbstverständlich. Diese Erwartung wurde uns auch beim Antrittsbesuch in der Botschaft der Volksrepublik China in Wien deutlich gemacht.

In der Praxis betreffen uns die Einschränkungen der gelenkten chinesischen Medienwelt nur indirekt. Kein Bewacher überprüft die Berichte für Radio und Fernsehen, bevor wir sie nach Wien schicken. Mit der strengen Zensur sind wir allerdings konfrontiert, weil wir den Beschränkungen im Internet ausgesetzt sind und die chinesischen Medien, die eine der Grundlagen unserer Arbeit sind, gelenkt sind. Für Auslandskorrespondenten gelten die inhaltlichen Vorschriften und Begrenzungen, an die sich chinesische Kollegen zu halten haben, nicht. Der ORF berichtet über den Dalai Lama genauso wie über Dissidentenprozesse und die Protestbewegung in Hongkong. Nie hat ein chinesischer Behördenvertreter in unsere ORF-Berichterstattung eingegriffen.

Was nicht bedeutet, dass die Behörden desinteressiert an dem sind, was wir berichten. Es gibt einen regen Meinungsaustausch mit offiziellen Vertretern. Dazu gehört es auch, dass Mitarbeiter von Korrespondentenbüros von der Polizei zum Tee geladen werden, um zu besprechen, wie diese oder jene Situation zu behandeln sei. Auslandskorrespondenten melden immer wieder unangenehme Situationen, wenn Menschenrechtsaktivisten vor Gericht stehen und Polizisten in Zivil, die sich manchmal als normale Bürger gebärden, Reporter daran hindern, den Prozess zu verfolgen. Solche Zwischenfälle sammelt der Klub der Auslandskorrespondenten, Foreign Correspondents Club of China, dem die meisten Korrespondenten angehören. Der Klub versucht im Gespräch mit den Behörden bürokratische Hürden aus dem Weg zu räumen. Für Auslandskorrespondenten ist die Vereinigung eine wichtige Plattform zum Meinungsaustausch. Mehrmals im Monat sind Wissenschaftler aus chinesischen Institutionen und China-Experten aus Europa oder den USA zu aktuellen Vorträgen geladen. Die Vorträge finden in westlichen Botschaften statt, das ist der sicherste Rahmen, um auch über die heikelsten Fragen offen zu sprechen.

Zu den Projekten des ORF in Peking gehört es, ein Experiment zu versuchen: eine politische Talkshow für das Fernsehen aus Peking, ohne Zensurvorgaben der chinesischen Behörden. Weil sich der ORF an ein europäisches Publikum wendet und in China nicht sendet, ist das möglich. Die Sendung »Inside Asia« auf ORF III soll den Zusehern in Österreich die Entwicklung Chinas und chinesische Sichtweisen auf die Welt, von Trump bis Nordkorea, näherbringen. Das Hotel Kempinski in Peking stellt uns die Räume zum Aufbau eines Fernsehstudios zur Verfügung. Erfahrene Journalistenkollegen warnen uns, würden die Behörden nicht eingebunden, könnten plötzlich eintretende, unvorhersehbare Hürden das Projekt im letzten Augenblick gefährden. Im ORF-Büro Peking entscheiden wir uns daher für einen kühnen Schritt: Wir gehen dorthin, wo die wirkliche Macht im Staat liegt, und werden direkt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas informieren. In der Auslandsabteilung des ZK empfängt uns bald darauf tatsächlich der für die deutschsprachigen Länder zuständige Funktionär. Sun Shouliang ist über die politischen Verhältnisse in Österreich und Deutschland bestens informiert. Wir diskutieren über die Schwierigkeiten der Europäer mit der Krise in Griechenland. Ich werbe für den ORF, in unserer Sendung »Inside Asia« könnte ein Vertreter der Kommunistischen Partei die Vorzüge des Sozialismus chinesischer Prägung darlegen. Aber Sun Shouliang schüttelt den Kopf. Er empfiehlt ehemalige Botschafter oder Universitätsprofessoren als Diskussionspartner für westliche Journalisten. Beim Hinausgehen wundert sich eine ZK-Mitarbeiterin: »Wir wissen, dass Politiker im Westen die halbe Zeit in TV-Studios verbringen«, sagt sie, »bei uns haben sie für so etwas keine Zeit.« Tatsächlich geben chinesische Politiker fast nie Interviews, selbst in chinesischen Medien ist das nicht üblich. Zur Beeinflussung der Öffentlichkeit dienen die Anweisungen an die Medien selbst. Westliche Korrespondenten haben so gut wie nie die Möglichkeit, politische Verantwortliche zu interviewen. Ausländische Reporter haben bei uns einen schlechten Ruf, heißt es im Zentralkomitee.