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Bernhard Herrman

Robert Streibel

Der Wein des
Vergessens

Roman

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Das Weingut Eschenhof Holzer hat aus Anlass des Erscheinens einen »Wein des Vergessens« gekeltert. (www.eschenhof-holzer.at)

Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien gedruckt.

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Salzburg – Wien

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Coverfoto: Winzer Krems, fotografiert von Dr. Franz Haas, Parteifotograf der

NSDAP in Krems, Archiv Robert Streibel

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4586 9

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1696 8

Inhalt

Ein paar Worte vorab …

1 Fronleichnam: Es liegt was in der Luft …

2 August Rieger, der »Herr Baron«

3 Paul Josef Robitschek, der Weingroßhändler

4 Albert Herzog, der Aufsteiger: vom Maurer zum Gutsverwalter

5 »Der Jugend muss geholfen werden …« Albert und Gretl in der neuen Welt

6 Franz Aigner und der Weingarten der Lüste

7 Die Entmündigung

8 Vor dem Abgrund

9 März 1938: Finis Austriae

10 »Wach auf, deutsche Wachau!«

11 Die Stadt steht Kopf

12 Abschlussbilanz

13 In den Fängen der lokalen NS-Bürokratie

14 Die Kunst der Verschleierung

15 Auf der Flucht

16 Der »Deutsche Frühling« in der Wachau

17 Flucht nach Triest und Kampf um die Sandgrube

18 Die Flucht geht weiter

19 Prosit 1939!

20 Krieg, Haft und Verfolgung

21 Überleben auf Kredit

22 Das Winzerjahr 1945 – und schicksalhafte Begegnungen

23 Verzögerung von Amts wegen

24 Paul Robitschek in Caracas

25 Ein Ende wie im Film

26 August Rieger: ein unschöner letzter Akt

27 Kein Blitz und Donner über Krems

28 Post Mortem: Albert, Gretl, »Guggi«

Ein paar Worte danach

Anhang

»Nie hätte ich geglaubt, dass ich in einen so abenteuerlichen Roman verwickelt werde.«
(PAUL JOSEF ROBITSCHEK, TAGEBUCH)

»Es ist unmöglich meinen ganzen Leidensweg zu schildern. Ich müsste buchstäblich ein Buch verfassen.«
(AUGUST RIEGER, EXPOSÉ V. 1. JULI 1946)

Ein paar Worte vorab …

Wenn es nach der »Winzergenossenschaft Krems« ginge, dann hätten Sie nur ein Buch mit leeren Seiten in Händen. Das Umblättern wäre nur eine andere Form des Schweigens.

In insgesamt drei E-Mails an den Vorstand der Winzergenossenschaft hatten die Autoren (erstmals am 15. September 2015) um ein Gespräch gebeten, in dem sie über das Vorhaben des Buches und ihre Recherchen berichten wollten. Der zentrale Satz der letzten elektronischen Post vom 31. Juli 2017 lautete: »In unserer Beschäftigung mit der Vergangenheit und der NS-Zeit geht es uns nie darum, die nachfolgende Generation für etwas verantwortlich zu machen, wichtig ist es jedoch, dass sich jedes Unternehmen seiner Geschichte stellt.« Die Reaktion auf das letzte E-Mail kam prompt am Morgen des folgenden Tages: ein Anruf von Direktor Franz Ehrenleitner, Geschäftsführer und – laut Homepage der Winzer Krems – »Denker und Lenker« des Unternehmens, sowie Träger des Ehrenrings der Stadt Krems. Seine Botschaft war klar und im Befehlston gehalten: »Lassen Sie uns endlich damit in Ruhe! Ich will Ruhe, ein für alle Mal! Wir haben darüber nichts zu sagen, ich will mich damit nicht beschäftigen, ich bin ein christlich denkender Mensch, ich habe viel Gutes getan, ich blicke in die Zukunft. Ich fordere Sie auf, uns in Ruhe zu lassen! Wenn Sie das nicht tun, werden wir unsere Schritte unternehmen! Wir blicken in die Zukunft. Wir sollten selbstbewusster sein, wir Österreicher. Immer schauen wir in die Vergangenheit. Ich weiß, dass alles für rechtens erklärt wurde, und das ist es. Wen interessiert das? Mich nicht. Es ist schon viel, dass ich Sie anrufe. Ich will mich nicht mit Ihnen treffen. Was soll das für einen Sinn haben? Warum? Ich habe dafür keine Zeit. Ich bin 1954 geboren. Wer gibt mir meine beiden Onkel zurück, die im Krieg gefallen sind? Mein Vater ist schwer krank aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, das ist emotional für mich. Es gibt keine Zeitzeugen, die wirklich wissen, wie es gewesen ist, aber ich sage Ihnen, ich werde mit Ihnen nicht sprechen und mich auch nicht mit Ihnen treffen, und kein Mitarbeiter der Winzer Krems wird mit Ihnen sprechen. Ich muss nicht über diese Dinge sprechen, mich interessieren auch keine Tätowierungen, auch wenn viele Menschen heute tätowiert sind. Und wenn ich nichts über die Homosexuellenehe sagen will – bin ich deswegen ein schlechter Mensch? Ich bin kein Politiker, ich muss nichts sagen und ich will nichts sagen. Manche Dinge kann ich nicht ändern, und wenn ein Erdrutsch in Chile ist, so will ich das nicht sehen, denn ich kann nichts tun. Ständig werden wir mit solchen Meldungen bombardiert.« Auf den Einwand, dass die »Winzer Krems« durch diese Gesprächsverweigerung vielleicht in einem schlechten Licht erscheinen könnten, meinte Vorstand Ehrenleitner, dass die »Winzer Krems« schon ganz andere Dinge überlebt hätten. »Wir haben auch den Weinskandal überlebt und hatten gar nichts damit zu tun gehabt. Ich bin nicht verantwortlich für das, was passiert ist, Punkt! Aus! Lassen Sie uns in Frieden! Es geht doch immer um Wiedergutmachung, um Zahlungen! Das ist doch immer so, da müssen dann die Firmen zahlen. Lassen Sie uns in Frieden. Wen interessiert das heute?«

Mit dem Weinskandal haben die »Winzer Krems« tatsächlich nichts zu tun, mit ihren eigenen Ursprüngen schon. Die »Winzergenossenschaft Krems« – gegründet im Sommer des »Anschlussjahres 1938« – war nur durch die »Arisierung« des Weingutes der jüdischen Eigentümer Paul Josef Robitschek und seiner Mutter Johanna ermöglicht worden.

Den Vorstand der »Winzer Krems« hat die eigene Unternehmensgeschichte nicht interessiert, die Autoren aber sehr wohl.

Am Anfang der Vorgeschichte steht ein kleines Haus in Salzburg-Elsbethen, das Bernhard Herrman von seiner kinderlosen Cousine Ingrid Herzog 2008 geerbt hatte. Im Nachlass fand sich auch eine versperrte Metallkassette, eine Art Mini-Tresor, 40 cm lang, 30 cm breit, 30 cm hoch. Der Inhalt bestand aus Briefen, Dokumenten, amtlichen Schreiben und Fotos. Einige der Adressaten und fotografisch Abgebildeten waren Bernhard Herrman bekannt, die meisten nicht. In den Schriftstücken tauchte immer wieder der Name »August Rieger« auf. Diesen Namen kannte er aus Erzählungen seiner Mutter. Sie hatte immer von einem »Baron Rieger« geschwärmt, von seiner stattlichen Erscheinung, seiner sonoren Stimme und seinem imponierenden Auftreten. Aber sie sprach auch von gewaltigen Schulden und davon, dass er einen jüdischen Geliebten gehabt hätte, einen Wiener Weingroßhändler. Auch Albert, der Mann ihrer Schwester Margarethe, sei mit dem Baron »innig« gewesen. Und dann gab es in der Kassette einige Schreiben mit Hakenkreuzstempel, datiert von 1938, in denen es um »Paul Josef Israel Robitschek« ging, Weinhändler und Eigentümer des »Sandgruben-Gutes Krems«. Der Name »Sandgrube« machte die Autoren stutzig. War »Sandgrube 13« nicht die Adresse der »Winzergenossenschaft Krems«, des niederösterreichischen Vorzeigebetriebs schlechthin, der seinen Wein höchst erfolgreich in alle Welt exportiert? War nicht der 2002er-Jahrgang unter großem Presserummel vom Vorstand Ehrenleitner als Wein für den Wiener Opernball präsentiert worden? Was aber hatte jener Paul Josef Israel Robitschek mit der »Sandgrube 13« zu tun? Was mit der »Winzergenossenschaft Krems«? Die Neugier war geweckt. Ob sich auf der Homepage der »Winzer Krems« vielleicht ein Hinweis auf diesen Paul Josef Israel Robitschek fände? Unter der Rubrik »Geschichte« fand sich dort zwar kein Hinweis auf ihn, aber ein Satz machte stutzig: »1938 gründeten verantwortungsbewusste Winzer der Hauerinnung Krems und Stein die WINZER KREMS.« Da stellte sich sofort die Frage: Worin bestand im Jahr des sogenannten »Anschlusses« Österreichs an Nazi-Deutschland die »Verantwortung« der Gründungswinzer in Krems? Auffallend war der Beiname »Israel«. Denn den Beinamen »Israel« oder »Sarah« erhielten von den Nazis ausschließlich Juden und Jüdinnen. Dass Paul Josef Robitschek mit den Winzern Krems etwas zu tun hatte, war damit klar. Also lag es nach einigen Gesprächen und Überlegungen für die Autoren nahe, gemeinsam den historischen Tauchgang in ein offenbar sehr gut verstecktes Stück Kremser Wirtschaftsgeschichte zu unternehmen. Dafür standen Tausende Seiten an Dokumenten zur Verfügung: Tagebücher, Briefe, der Arisierungsakt »Winzer Krems / Paul Josef und Johanna Robitschek« der NS-Vermögensverkehrsstelle, lagernd im Österreichischen Staatsarchiv, NS-Gauakten, Gestapo- und Volksgerichtshofakten, Akten der Rückstellungskommission sowie Aussagen von Zeitzeugen und direkten Nachkommen der Familie Robitschek in Caracas / Venezuela und in den USA, in Florida und in New York. Also gab es doch – anders als Herr Ehrenleitner vermutete – außer den historischen Dokumenten auch Zeitzeugen, die wissen, wie es damals wirklich gewesen ist. Jedenfalls war es sehr anders, als Hans Frühwirth in seinem Buch »Der Kremser Wein und die Kremser Weinkultur« (2005) die Leserinnen und Leser glauben machen möchte, wenn er behauptet: »Der Keller des 1938 geflüchteten Paul Robitschek, von einem Treuhänder verwaltet, war frei. Er wurde zu einem der damaligen Zeit entsprechenden Preis angekauft. Dass es kein ›unredlicher Erwerb‹ war, wurde 1947 von einem Beamten des Volksgerichtshofes bestätigt.« Und weiters suggeriert Frühwirth unterschwellig das Klischee der »jüdischen Gier und Unredlichkeit«: »Trotzdem forderte 1946 der nunmehr in Venezuela beheimatete Robitschek die Rückstellung des Kellers ein. Die völlige Erfüllung seiner Forderung (eine Million) hätte die Genossenschaft schwer geschädigt oder sogar zu deren Auflösung geführt. (…) Im Juni 1948 kam nach einem Lokalaugenschein unter dem damaligen Obmann Gottfried Preiß ein Vergleich zustande: Die WG zahlte einen Abschlagsbetrag von S 600.000 und kaufte damit den Keller zum zweiten Male.« Frühwirth erwähnt nicht, dass der angeblich »der damaligen Zeit entsprechende« Kaufpreis von 22.000 Reichsmark auf ein Sperrkonto überwiesen worden und so dem Fiskus des Dritten Reiches zugefallen war und nicht den jüdischen Eigentümern.

Erstaunlich an Frühwirts Text über die Winzergenossenschaft Krems ist auch, dass das Wort »Nationalsozialismus« kein einziges Mal vorkommt. Frühwirth blendet damit ganz bewusst die Gründungsgeschichte aus, die Profiteure in Krems, die antijüdische NS-Gesetzgebung (»Entjudung«) und deren dramatische Auswirkungen auf das Schicksal der jüdischen Eigentümer der Sandgrube und das ihrer Freunde.

Nach achzig Jahren ist es nun Zeit, die Wahrheit über die Gründungsgeschichte der Winzergenossenschaft im Sommer 1938 ans Licht zu bringen.

1

Fronleichnam: Es liegt was in der Luft …

»Wir brauchen eine Aller-Weltkirche,

wo jeder seine Andacht verrichten kann nach seiner Art,

ob Christ oder Jude, Mohammedaner oder Buddhist,

es gibt nur einen einzigen Gott, der für alle ist.«

(PAUL JOSEF ROBITSCHEK, TAGEBUCH)

Die Kremser Landstraße ist mit frisch gemähtem Gras bestreut. An den Hausmauern lehnen Birkenstämme, deren grünes Laub bereits etwas verblasst und welk ist. An ein paar Stellen blitzt es blutrot aus dem Grün der Straße und dem Gezweig an den Wänden. Auch anlässlich dieses Fronleichnamsumzugs 1937 haben die Nazis wieder Flugzettel gestreut …

»Ankommen Krems Bahnhof Donnerstag 27. Mai mit Frühzug. Im Hotel Alte Post für 12 Uhr Tisch reservieren. Freuen uns Dich und Grete zu sehen. Alles Liebe. Gustl, Robi, Erzsi«. Albert Herzog, der Empfänger des Telegramms, hat den Auftrag sogleich ausgeführt. Er ist nicht nur der Privatsekretär des Wiener Weingroßhändlers Paul Josef Robitschek und von dessen Kompagnon August »Baron« von Rieger, sondern seit Anfang März 1937 auch ihr Verwalter für das Weingut Sandgrube in Krems.

An Telegramme wie dieses ist Albert Herzog gewöhnt. Diesmal nutzen seine Dienstherren das verlängerte Wochenende, um sich wieder einmal in Krems zu zeigen und ein wenig auszuspannen. Albert freut sich auf ihren Besuch, denn es ist schon ein paar Wochen her, dass er sie gesehen hat. Schmunzelnd fragt er sich, welch extravagante Kleidung der Herr Baron diesmal tragen wird. Ein fliederfarbenes Hemd? Den hellen Leinenanzug mit Stecktuch in dunklem Violett? Dazu vielleicht den hellen Panama oder gar den neuen cremefarbenen Borsalino? Was immer der Herr Baron auch anziehen wird, er wird an diesem hohen katholischen Feiertag garantiert ein auffälliger Farbtupfer im festlich-bunten Weichbild der Kleinstadt sein. Und sicherlich wird Paul Josef Robitschek – wie immer – einen dezent-klassischen Anzug aus feinstem, englischem Tuch tragen oder ein sportliches Knickerbocker-Ensemble.

Als Gustl und Paul, begleitet von Erszi Farkas, am Fronleichnamstag mit dem Frühzug aus Wien ankommen, warten Albert Herzog und seine Frau Margarethe bereits am Bahnsteig. Albert im Kalmuck, der Wachauer Winzerjoppe, und Gretl im Dirndlkleid. Gemeinsam wollen sie an der Fronleichnamsprozession teilnehmen, denn alle Fünf lieben Spektakel, und so ein Umzug, besonders in einer ländlichen Region, kann einem mit seinem Pomp schon sehr ans Herz greifen: die kleinen Mädchen in ihren weißen Kleidern, Rosenblätter streuend, die kleinen Buben mit Schärpen geschmückt, der Priester, die goldene Monstranz in Händen, würdevoll schreitend unter dem »Himmel«, einem reich bestickten Baldachin, den vier ernst blickende Männer tragen, Weihrauchfässer schwingende Ministranten mit vergoldeten Kruzifixen an langen Stangen. Dazu spielt die Blasmusik, und die Gläubigen, viele in Tracht, sprechen Gebete und singen Lieder: »Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenschar …«, »Meerstern ich dich grüße … oh Maria hilf! … Gottesmutter süße … oh Maria hilf! … Hilf uns allen … in unsrer tiefen Not …«

Ja, religiöse Feste gehen den Fünf zu Herzen, sei es ein katholisches Hochamt im Stephansdom mit Weihrauchschwaden und Orgelbrausen, seien es die Gesänge des Kantors in der großen Synagoge in Wien, sei es eine erbauliche Predigt in der evangelischen Kirche in der Dorotheergasse, gehalten von Pfarrer Hans Rieger, dem Bruder des Herrn Baron, oder eben eine Prozession wie diese in Krems. In Wien besucht man nach der religiösen Erbauung stets einen Heurigen. Hier in Krems werden sie nach dem Umzug in die »Alte Post« gehen. Dort, davon ist Albert überzeugt, wird es sicher wieder heiter werden, wenn der Paul und der Gustl Schnurren aus dem Wiener Gesellschaftsleben erzählen und die Erszi mit ihrem Lachen alle Gespräche im Speisesaal übertönt.

Und so reihen sich die Fünf in die Prozession ein, knieen manchmal mit den Gläubigen vor den Birkenaltären nieder, schlagen das Kreuzzeichen, singen Lieder mit und senden Gebete zu Gott und Jesus Christus, dem göttlichen Erlöser, weniger aus religiöser Ergriffenheit, denn der feierlichen Stimmung wegen. Aber, wenn man genauer schaut, kann man sehen, dass manche in der Schar der Gläubigen neben Jesus, dem jüdischen Erlöser aus Nazareth, noch eine andere Lichtgestalt verehren, einen Erlöser aus Deutschland mit Polterstimme und rechteckigem Schnauzer unter der Nase. In der Menge hat Robitschek einige dieser »Doppelgläubigen«, wie Gustl diese katholischen Nazis einmal genannt hat, an winzigen Hakenkreuzansteckern erkannt, die sie – obwohl verboten – kaum sichtbar am Rockrevers tragen. Ihm scheint, dass sie die Worte im »Vaterunser«: »… Dein Reich komme, Dein Wille geschehe …« mit besonderer Inbrunst sprechen.

Ja, wenn der Jude Paul Josef Robitschek und der Protestant August Rieger so einträchtig nebeneinandergehen, spürt man, dass sie einander auf besondere Weise zugetan sind. Und seit ein paar Monaten ist Albert Herzog, der Katholik, der Dritte in ihrem Männerbund. Wo die modisch auffällig gekleideten Herren auftreten, da schenkt kaum noch jemand den beiden hübschen Frauen in ihrer Begleitung Beachtung. Das wird auch heute so sein. Da helfen selbst die tief dekolletierten Dirndlkleider von Erszi und Gretl als Blickfang nichts. Bei manchen Tischgesellschaften sind Frauen die Zierde der Herrenrunden, hier sind sie Aufputz und Alibi zugleich.

Müde vom frühen Aufstehen und von der Zugfahrt und hungrig nach der Prozession, begeben sich die Fünf nach dem Schlusssegen zum Essen in die »Alte Post«. Der Gasthof ist eine gute Wahl. Denn der Besitzer ist immerhin bei der Vaterländischen Front und – als glühender Anhänger von Kanzler Kurt Schuschnigg – ein Feind der Nazis.

Als Erster betritt Gustl den Gastraum. Er hat die Lässigkeit zu warten, bis die Blicke der Anwesenden auf ihn gerichtet sind. Das ist immer und überall so. Auch in Krems war es bisher nie anders. Eilfertig ist ein Kellner zur Stelle und geleitet die kleine Feiertagsgesellschaft zum reservierten Tisch. Gustl, ob seiner Kleidung und seines vornehmen Gebarens von den Gästen verstohlen, aber interessiert beäugt, geht voran. Aber die Blicke hier in der Wachau sind nicht stumm, und so ist eine geflüsterte Bemerkung deutlich vernehmbar: »Die Warmen sind wieder da! Und so ein G’wand an so einem Feiertag! Wärmer geht’s nicht mehr! Das Arschloch sollt’ man ihnen zunähen!« Mit der ihm eigenen Noblesse ignoriert August Rieger die Worte und tut, als habe er nichts nicht gehört. Die heitere Stimmung soll nicht getrübt werden. Man nimmt Platz, grüßt mit freundlichem Nicken die Gäste an den Nachbartischen und bestellt zu essen und zu trinken. An einem der Tische erblickt er den Weinbauern Franz Aigner mit einigen Freunden. »Sonderbar«, denkt Rieger, als er den Aigner erblickt, »dass die Nazis jetzt auch schon in der ›Alten Post‹ sitzen …« Einer aus Aigners Tischrunde kann es sich nicht verkneifen, zu Robitschek hinzustänkern: »Irgendwann werden die Juden nichts mehr zu bestellen haben! Auch hier in Krems nicht mehr!« Schlagartig ersterben Wortgeraune und Besteckgeklimper. Die meisten Gäste senken die Köpfe und starren auf ihre Teller. Die Luft im Speisesaal fühlt sich plötzlich eisig an, als wäre ein Frostschauer durch Türen und Fenster gegangen. Unausgesprochen hängt die Frage im Raum: Wie wird der Angepöbelte reagieren? Paul Robitschek erhebt sich langsam vom Sessel, nimmt – Brust heraus, Bauch hinein – stramme militärische Haltung an, reißt den rechten Arm hoch und ruft im Kasernenhofton, Hitlers Sprechduktus nachahmend, zu Aigner und seiner Männerrunde hin: »Jaaawolll, mein Führer!« Erlösendes Gelächter erfüllt den Gastraum. Robitscheks kleines, rechteckiges Oberlippenbärtchen, jenem von Hitler nicht unähnlich, hat der Parodie Authentizität verliehen. Die Munterkeit ist zurück, die Essbestecke klimpern und die Gespräche nehmen wieder ihren Lauf. In der Tat, Paul Josef Robitschek ist nicht nur ein guter Weinhändler, sondern besitzt auch schauspielerisches Talent. Bei Gesellschaften in Gustls Wohnung in Wien warten die Gäste in den letzten Jahren immer schon darauf, dass er zu vorgerückter Stunde wieder den Hitler gibt. Diese Verhöhnung und Beleidigung des Führers, tönt es erbost von Aigners Tisch her, noch dazu durch einen Juden, die wird dem Herrn Robitschek und auch dem Herrn Baron noch leidtun! Darauf können sie Gift nehmen! Und auch der Herr Sandgruben-Verwalter brauche nicht so blöd zu grinsen und die Damen schon gar nicht! Heute mögen sie sich in aller Öffentlichkeit noch einen Jux auf Kosten des Führers erlauben und über ihn lachen. Aber der Tag wird kommen, da wird ihnen allen, wie sie da sitzen, das Lachen gründlich vergehen. Wie es ihre Art ist, lacht Erzsi Farkas über diese Drohungen von Aigners Kameraden am lautesten und streichelt Paul dabei verzückt und anerkennend die Wange.

Später, beim Verlassen der »Alten Post«, schnappt August Rieger Äußerungen des Erstaunens auf. »Na, die trauen sich was!«, meint einer, und ein anderer: »Das sind vielleicht komische Vögel!«

2

August Rieger, der »Herr Baron«

»Ein seltsamer Charakter mit einer ganz großen Herzensgüte, viel zu gut für die heutigen Menschen.«

(PAUL JOSEF ROBITSCHEK, TAGEBUCH)

Wer also sind diese drei als »komische Vögel« bezeichneten Herren, die in der »Alten Post« Aufsehen erregt haben? August Rieger, der »Herr Baron«, und Paul Josef Robitschek sind seit etwa zwölf Jahren nicht nur Freunde und Geschäftspartner, sondern auch ein Liebespaar. Beide sind gebürtige Wiener und nennen einander »Gustl« oder »Gusti« und »Paul« oder »Robi«. Sie sind Anfang vierzig, wohlhabend, sehen blendend aus, haben tadellose Manieren und sind stets elegant und immer nach der neuesten Mode gekleidet. Wenn die Anlässe es erfordern, wechseln sie bisweilen zwei- oder dreimal am Tag die Garderobe. Sie blättern gern in Modemagazinen, haben das Theatermagazin »Die Bühne« abonniert und legen größten Wert auf ein gepflegtes Äußeres: sauber geschnittene Haare, manikürte Hände, glattrasierte, gecremte und gepuderte Wangen, darauf ein Hauch Rasierwasserduft. Bei August Rieger ist der Wille zum guten Aussehen so stark, dass er, wann immer er einen Spiegel entdeckt, seinem Bild darin wohlgefällig zulächelt und dabei zugleich kontrolliert, ob die Frisur noch sitzt und ob nicht eine Nachmittagsrasur nötig wäre. Beide sind der festen Überzeugung, dass ein gepflegtes Äußeres und kultiviert-weltläufiges Auftreten in gutsitzender Kleidung unabdingbar für geschäftlichen Erfolg seien. Beide sind weltoffen und weitgereist, können sich aber nicht vorstellen, jemals an einem anderen Ort zu leben als in ihrer geliebten Geburtsstadt Wien.

Finanziell geht es beiden gut. Bei Paul Robitschek ist klar, woher das Geld stammt: Er ist Weingroßhändler, er besitzt in Wien Häuser und Weinkeller sowie Rieden in Krems und in der Steiermark. Doch wie es August Rieger möglich ist, sich ein so luxuriöses Leben zu leisten, etwa jedes Jahr drei Wochen Sommerfrische im internationalen Luxushotel »L’Europe« in Bad Gastein zu verbringen, das ist für viele ihrer Freunde ein Rätsel. Gustl hat einfach Geld – oder eben manchmal nicht; und alle sprechen ihn mit »Herr Baron« an, ohne dass jemand mit Sicherheit zu sagen wüsste, ob er tatsächlich adeliger Abstammung ist.

Seit einiger Zeit kursieren unter den Freunden Gerüchte, dass Gustl finanzielle Schwierigkeiten hätte und entmündigt sei. Dennoch folgen alle immer gerne seinen Einladungen nach Bad Aussee in seine Hotelpension zum Wandern und Baden. Manchmal nur für einige Tage, manchmal gleich für ein paar Wochen. Die meiste Zeit des Jahres aber lebt August Rieger in Wien – zur Miete – im zweiten Bezirk, in der Praterstraße 46, im ersten Stock auf Tür Nummer 6. Seine Wohnung ist groß, hat hohe Räume und ist, wie man zu sagen pflegt, »herrschaftlich« eingerichtet. »Du wohnst so plüschig wie der Makart, der Malerfürst«, meinte einer seiner Freunde. Immer schon hatte August Rieger den Ehrgeiz, »fürstlich« zu wohnen. Mächtige, achtzehnflammige Kristalllüster lassen die großen Räume erstrahlen. Entlang der tapezierten Wände stehen dunkle Truhen und wuchtige Schränke, manche mit geschnitzten Beinen, die in Adlerklauen oder Löwenpranken enden. In allen Zimmern ticken auf kleinen Wandkonsolen Uhren, stehen zierliche chinesische Vasen. Im großen Salon zeigt eine mächtige Standuhr die Zeit an. Große, weiche Teppiche decken die Böden und machen den Tritt lautlos. Auf ihnen stehen, zu geschmackvollen Gruppen arrangiert, repräsentative, altertümlich anmutende Sessel und Tischchen, mächtige Fauteuils, Stehlampen und lange Esstische. Auf den Sofas und Ohrenstühlen liegen Kissen und Decken aus Brokat. In seinem Schlafzimmer, über dem Kopfende seines breiten Empirebetts, schweben zwei pausbäckige Barockengel. Es habe, behauptet Rieger, Marie-Antoinette gehört, der glücklosen, von französischen Revolutionären geköpften Tochter der Kaiserin Maria-Theresia. In jedem Zimmer hängen Tapisserien, große und kleine Ölbilder in glänzenden, schwarzen und vergoldeten Rahmen. Zwar sind sie nicht von großem Wert, doch ergänzen sie den eleganten Gesamteindruck. Vor den Fenstern hängen weiße Spitzenvorhänge mit grünen Seitenteilen aus schwerem Samt. Wenn sie zugezogen sind, dringt kein Licht herein oder nach draußen, und bei geschlossenen Fenstern dämpfen sie fast vollständig den Lärm und die Geräusche der geschäftigen Praterstraße. Wenn August Rieger, wie meist im Sommer, zu früher Stunde die Vorhänge öffnet und die erste Morgendämmerung den großen Salon in ihr rosafarbenes Licht taucht, herrscht da fast die andächtige Stille einer Kapelle. Gustl liebt den morgendlichen Blick auf die Praterstraße, diesen von Alleebäumen gesäumten Boulevard. Auch wenn Österreich nach dem Zusammenbruch der Monarchie von einem machtvollen Imperium zu einem kaum lebensfähigen, republikanischen Kleinstaat geschrumpft ist, so hat sich die Praterstraße doch das kosmopolitische Flair des habsburgischen Vielvölkerstaates bewahrt. Noch immer ist sie – wie zu Kaiser Franz Josephs Zeiten – eine Avenue der Betriebsamkeit. Gemeinsam mit der Taborstraße bildet sie die pulsierende Schlagader des zweiten Bezirks, der Leopoldstadt. Auf den breiten Gehsteigen herrscht geschäftiges Treiben. Dicht gedrängt reihen sich große und kleine Kontore aneinander, Cafés und Läden mit schön arrangierten Waren. Manchmal öffnet Rieger in der warmen Jahreszeit frühmorgens ein Fenster, einfach nur, um die Geräusche der beginnenden Geschäftigkeit hereinzulassen. Für ihn als Musik liebenden Menschen, der gerne und gut Klavier spielt, ist das, was von draußen zu ihm heraufdringt, eine berauschende Symphonie: Da rasseln beim Öffnen der Geschäfte die hochschnellenden Rollläden aus Wellblech, da rufen Händler und Lieferanten, da hupen Autos, da klingeln die ersten Straßenbahnen, da quietschen ihre stählernen Räder in den Schienen, da rumpeln und rattern die Lastfuhrwerke auf den Pflastersteinen, da scheppern beladene Handwägelchen und knirschen ihre eisenbereiften Holzräder, da klirren die Hufeisen Lasten ziehender Pferde und da bellen die Hunde. Manchmal mischt sich in diese morgendliche Polyphonie auch der Singsang der Leierkastenmänner auf ihrem Weg in den Prater oder das Glockengeläute der Kirche zu Sankt Nepomuk, die Riegers Wohnung schräg gegenüberliegt, wie auch das anrüchig beleumundete Café »Alhambra«, wo, wie Rieger es ausdrückt, »Lebedamen« ihrem Geschäft nachgehen.

Rieger ist von mittelgroßer Statur, einen Meter sechsundsiebzig groß. Seine selbstsichere Art lässt ihn stattlich erscheinen. Er kommt nicht einfach zu Besuch, zu einem Geschäftstreffen, einem Amtstermin oder einer Abendgesellschaft, nein, er erscheint. Nach einer knappen militärischen Verbeugung heißt es stets: »Gestatten, Baron von Rieger.« Durch sein Auftreten gelingt es ihm meist mühelos, jedes Gegenüber von seiner adeligen Herkunft zu überzeugen. Jene, die nicht so recht daran glauben, halten ihn zumindest für einen amüsanten, höchst gebildeten und kultivierten Müßiggänger, einen Lebemann mit Etikette, einen stets perfekt gekleideten wienerischen Dandy. Wenn Hausmeister Schmittner seiner ansichtig wird, macht er einen tiefen Bückling und grüßt – untertänigst – den »Herrn Baron«.

Durch seine Weltläufigkeit und Großzügigkeit hat Rieger es verstanden, seine Wohnung zu einem beliebten Treffpunkt lebenslustiger und einflussreicher Leute aus Wirtschaft, Politik und Kultur zu machen. Seine Hausbälle, Soireen, Musikabende und Tanzpartys dauern fast immer bis in die frühen Morgenstunden. Jedes Mal, wenn er eine Gesellschaft gibt, staunt Hausmeister Schmittner, wer da aller an seiner Portierloge vorüber- und in den ersten Stock zum Herrn Baron schreitet: Männer im Frack und Frauen in extravaganten Abendroben. Aber manchmal ist Schmittner schon irritiert. Als einmal ein Nachbar von ihm wissen wollte, was denn da wieder los sei, eben habe er Herrn Raoul Aslan vom Burgtheater und die Schauspielerin Alma Seidler zum Herrn Baron hochsteigen sehen, da antwortete Schmittner augenzwinkernd, der Herr Baron feiere wahrscheinlich wieder einmal eine Orgie. Unter seinen Gästen seien oft zahlreiche ältere Herren, aber auch auffallend schöne junge Männer. Aber, Spaß beiseite, meinte Schmittner, der Herr Baron feiere natürlich keine Orgie. Er habe eben oft ein buntes Volk zu Gast. Es handle sich meist um Geschäftstreffen. Allerdings, so der Hausmeister, habe er einmal einen späten Gast zur Türe des Herrn Baron geleitet, und als diese geöffnet wurde, sei schwüle Musik und Lachen aus der spärlich beleuchteten Wohnung auf den Gang gedrungen, und er meinte, er habe zwei Herren gesehen, einen alten und einen jungen, die einander ungeniert liebkost hätten. Aber sicherlich habe er, Schmittner, sich nur getäuscht, denn unter den Gästen des Herrn Baron seien manchmal auch sehr junge, knabenhafte Damen mit Bubikopf in Anzug und Krawatte. Und, Gott bewahre, er wolle dem Herrn Baron keinesfalls eine Anrüchigkeit nachsagen oder gar andichten; nein, auf keinen Fall, denn der Herr Baron sei ein nobler Herr, der mit Trinkgeld nicht knausere, wenn er, Schmittner, manchmal, weit nach Mitternacht, Gäste aus dem Haus lassen muss.

Auch in den Cafés, wo Rieger seine Freunde und Geschäftspartner trifft, Zeitung liest oder Kaffee trinkt, vornehmlich im Café Siller am Donaukanal, erweisen ihm die Kellner mit einer Verbeugung und einem »Habedjehre, Herr Baron« ihre Reverenz. Immer erregt auch die Vielfalt, manchmal die Farbigkeit seiner maßgeschneiderten Garderobe allgemeines Staunen. Selbstverständlich sind auch alle seine Schuhe handgefertigt. Im Winter trägt er dicke Mäntel mit Pelzkragen und über den Schuhen graue Filzgamaschen. In den Übergangszeiten, zu Frühlings- oder Herbstbeginn, schlüpft er in einen hellen, englischen Staubmantel, im Sommer bevorzugt er leichte, helle Anzüge, in den Sakkos immer ein Stecktuch und am Kopf meist einen hellen Panama. In seiner Hotelpension in Bad Aussee wiederum zeigt er sich in Steireranzug, Lederhosen, weißen Stutzen und festen Wanderschuhen. In die Oper, ins Theater und zu besonders festlichen Anlässen oder gesellschaftlichen Ereignissen geht er in Lackschuhen und Frack, mit weißem Seidenschal und Zylinder. Ein Bekannter meinte einmal: »Der Gustl ist ein rechtes Chamäleon.«

Rieger ist zwar redegewandt, meist spricht er das weiche Wienerisch der guten Gesellschaft, und hat vollendete Umgangsformen, aber fürs Geschäftliche mangelt es ihm gehörig an Talent. Im engsten Freundeskreis gilt er deshalb weniger als Geschäftsmann, sondern eher als »Meister des geschäftigen Müßiggangs«, dessen Maxime »leben und leben lassen« lautet. Und weil sein Hotelbetrieb so gut wie keinen Gewinn abwirft, hat Rieger schon vor Jahren Kapital ins Geschäft seines Liebes- und Lebenspartners Paul Josef Robitschek gesteckt und ist dessen stiller Teilhaber geworden. Wann immer Paul zur Erweiterung des vom Vater geerbten Weingeschäfts Geld braucht, Gustl hilft – sofern vorhanden – mit entsprechenden Summen aus oder bürgt mit seiner Hotelpension für Pauls Bankkredite. Die Liebe zu Paul und die Teilhaberschaft in dessen Weingeschäft geben Gustl nicht nur Sicherheit, sondern auch eine Aufgabe im Leben.

3

Paul Josef Robitschek, der Weingroßhändler

»Er war unermüdlich tätig. Immer in Bewegung. Nie gönnte er sich Ruhe.«

(BRIEF VON LEO ARTHUR ROBITSCHEK)

Im Gegensatz zu seinem Lebensgefährten ist Paul Josef Robitschek ein hart arbeitender und scharf kalkulierender Weinhändler. Seine Firma hat ihren Sitz in einem einstöckigen Haus im 19. Wiener Gemeindebezirk, in der Heiligenstädterstraße, auf Nummer 67, dort, wo Wien schon ins Umland ausläuft. Im Parterre des um 1870 am Fuß eines steilen Abhangs erbauten Gebäudes befinden sich das Büro und die Kellerei. Im ersten Stock liegen Pauls Wohnräume und eine kleine Terrasse mit Blick auf die Stadtbahnbögen. Hinter dem Haus, hügelan, erstreckt sich eine fast zwei Hektar große weitläufige Wiese mit Obstbäumen.

Robitscheks Heiligenstädter Weinkellerei ist bestens eingeführt und zählt zu den größten in Österreich. Sie besteht aus drei über hundert Meter langen, gewölbten, miteinander verbundenen Tunnelröhren in Ziegelbauweise, gut ausgestattet mit Gleisanlagen für Transportloren, riesigen Lagerfässern, Betonbottichen, Pumpen- und Filteranlagen, mit Hunderten Metern an Weinschläuchen, einer Flaschenbefüllanlage und Flaschenregalen. Konkurrenten wie die Sekterzeuger Schlumberger und Kattus haben schon lange ein neidvolles Auge auf Robitscheks Betrieb geworfen. Wegen der riesigen Kellerröhren hätten sie die Immobilie nur zu gerne für die Lagerung ihrer Schaumweine genutzt. Zu Robitscheks Unternehmen gehören zwei Lastwagen und ein schwarzer PKW, ein Weingut in Mahrensdorf bei Fehring in der Steiermark sowie das Weingut Sandgrube mit Kellerei in Krems. Es gehört Paul Robitschek weitgehend allein, nur an einem geringen Teil hat auch seine Mutter Johanna Eigentumsanteile. Das Firmenschild über dem Heiligenstädter Kontor wie auch der Briefkopf spiegeln die Größe des Unternehmens: Weingut Paul J. Robitschek, Krems an der Donau in der Wachau, Niederösterreich, mit den berühmten Rieden Weinzierlberg, Sandgrube, Marthal, Thalland.

Um die Weingärten in Krems kümmern sich die Winzer Leopold Zeiner und Franz Paradeiser. Sie besorgen den Rebschnitt, die Schädlingsbekämpfung, die Weinlese und das Pressen der Trauben. Auf Zeiner und Paradeiser kann sich Robitschek verlassen, und die Pächter schätzen ihn, weil er ihnen immer Arbeit und guten Lohn gegeben hat, auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Dass die beiden Winzer Robitscheks Rieden aufs Beste bestellen, beweist die seit Jahren gute Ernte und die Qualität der Weine. Robitschek vermarktet sie stets erfolgreich als »Wachauer Qualitätsweine«.

Doch nicht nur das Weingeschäft, auch das Künstlerische liegt in der Familie. Johanna Robitschek, Pauls Mutter, 1868 in Magyarbel in Ungarn geboren, ist die Tochter des Weinhändlers Moritz Reiser und eine resolute Frau. Ihr Bruder ist der in Wien hochgeschätzte Architekt Ignaz Reiser, zu dessen Bauten etwa die Zeremonienhalle und das Verwaltungsgebäude der Israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs zählen. Emil Robitschek, Pauls Vater, 1857 in Jungbunzlau, heute Mladá Boleslav in Tschechien, geboren, betreibt seit 1896 auf dem Mathildenplatz 1, heute Gaußplatz, in der Nähe des Wiener Augartens äußerst erfolgreich eine Flaschenbierhandlung und einen Fasshandel. Außerdem ist Emil Robitschek (gemeinsam mit Meschulim Scharfstein, seinem Sohn Paul Josef Robitschek und Bernhard Sinnreich) Geschäftsführer der Weinverwertungsgesellschaft mit einem Stammkapital von immerhin 600.000 Kronen (1,2 Mill Euro) sowie Teilhaber der Weingroßhandlung von Adolf Blau, Nordwestbahnhof (Magazin VII). In einem Notariatsakt aus dem Jahr 1920 legte er fest, dass seiner Frau die Hälfte des jährlichen Reingewinns, rückwirkend ab dem Geschäftsjahr 1919, zusteht. Sie habe ihn in »selbstloser und aufopferndster Weise« bei der Führung des Geschäfts unterstützt und ihm »fast den größten Teil des Einkaufs der Weine, die hiezu nötigen Reisen abgenommen«. Sollte in einem Geschäftsjahr kein Reingewinn anfallen, so verpflichte er sich, einen Betrag von 50.000 Kronen zu bezahlen. Als Emil Robitschek 1921 starb, belief sich das hinterlassene Vermögen auf 1,1 Millionen Kronen.

Paul Josef Robitscheks Unternehmen ist also gut organisiert und steht wirtschaftlich auf einem soliden Fundament, weil er stets – wie sein Vater – als guter Geschäftsmann seine Chancen rasch erkennt und zupackt. Bei Banken nimmt er nur so viel Kredit auf, wie er problemlos zurückzahlen kann. Gewinne investiert er sofort in die Erweiterung des Geschäfts. Sein Geschäftssinn hat ihn wohlhabend, aber nicht rücksichtslos oder hochmütig gemacht. Er ist unermüdlich tätig. Immer in Bewegung. Nie gönnt er sich Ruhe. Regelmäßig reist er durch Österreich: zu Winzern in die Wachau, nach Röschitz ins Weinviertel, nach Purbach ins Burgenland, in die Steiermark, nach Ungarn und Jugoslawien. Besonders gern fährt er nach Italien, nach Triest, wo er beste Kontakte zur Firma Cusin unterhält. Um »im Geschäft zu bleiben« oder »neu ins Geschäft zu kommen«, besucht er persönlich Hotels und Gaststätten in ganz Österreich. Egal, wie groß oder klein der Auftrag ist, Robitscheks Motto heißt: »Kleinvieh macht auch Mist.«

In geschäftlicher Hinsicht bereitet ihm nur Gustl, sein »Liebchen«, Kopfzerbrechen. Denn wenn Gustl Geschäfte macht, dann kommt es oft vor, dass er unter jener Summe abschließt, die er leicht hätte lukrieren können. Sobald Kunden an sein Mitgefühl appellieren, wird Gustl schwach. Aus Höflichkeit und Nachgiebigkeit schafft er es kaum, nein zu sagen. Und bleibt ihm ein Gewinn, dann verbraucht er ihn, statt ihn sofort ins Unternehmen zu investieren. Trotz seiner großen Liebe zu Gustl macht Paul sich keine Illusionen über dessen geschäftliche Fähigkeiten. Seinem Tagebuch vertraut er an: »Seine größte Untugend war: Er konnte niemandem etwas abschlagen.« Aber so ist er eben, sein geliebter Gustl – ein schwankender, weicher Mensch, nicht geschaffen fürs harte Verhandeln und Feilschen. Ein Träumer.

So unterschiedlich ihre Charaktere auch sind, sie lieben einander und sind einander eng verbunden. Was sollte daher auch falsch daran sein, dass sie seit Jahren als Paar in Gustls Wohnung zusammenleben? Ist denn, fragen sie sich immer wieder, die Liebe von Mann zu Mann wirklich so anders als jene zwischen Mann und Frau? Gustls Bruder Hans, ein in Wien allseits bekannter protestantischer Pfarrer und Theologe, befremdet zwar ihre Beziehung, und er kann jede Menge biblischer Argumente dagegen anführen, aber schließlich tröstet er sich mit dem Satz: »Gott ist bei den Liebenden«.

Zwölf Jahre ist es jetzt her, seit Gustl und Paul einander in Grinzing beim Heurigen gefunden haben. Paul saß in einer größeren Runde und unterhielt sich angeregt mit Erzsébet Farkas, einer eleganten, jungen Dame aus einer gutbürgerlichen, jüdischen Budapester Familie, die seine Geschäftsfiliale in Budapest leitet. Paul liebt seine »Erzsi«. Aber seine Liebe hat Grenzen. Er liebt ihren Witz und ihr herzliches Lachen, mehr nicht. Allerdings hat sie auch eine dunkle Wesensseite. Von einem Augenblick auf den anderen kann sie den Glanz und das Strahlen in den Augen verlieren und in tiefe Schwermut fallen. Immer, wenn er bemerkt, dass ihr Gemüt in Melancholie versinkt, versucht er, sie aufzuheitern: »Erszi, du meine große Liebe, was ist mit dir?« Ja, wäre er Frauen zugetan, Paul hätte sicher um ihre Hand angehalten. Ihre Eltern hätten die Heirat begrüßt. Auch seine Mutter Johanna wäre froh über die Heirat ihres Sohnes gewesen. Aber sie hat sich nie etwas über die Neigung ihres Sohnes vorgemacht.

An jenem Heurigenabend saß Gustl an einem anderen Tisch in Begleitung irgendeines bedeutungslosen, aber durchaus hübschen Burschen. Irgendwann hat Paul einen flüchtigen Blick aufgefangen. Dann haben sich ihre Blicke abermals getroffen. Und dann immer wieder. Aber nicht mehr zufällig, sondern gewollt. Ein wundersamer Schrecken hat Paul durchzuckt. Später hat ihm Gustl gestanden, dass ihm ebenfalls ein Zittern durch den Körper gegangen sei. Auch seine Blicke waren nur anfangs zufällig. Was war das doch für ein verrückter Moment gewesen, im Frühsommer 1926 in Grinzing, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hat! Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Am Schanktisch des Heurigen sind sie dann miteinander ins Gespräch gekommen. Ein wenig scheu anfangs und verkrampft plauderten sie zunächst übers Wetter und den herrlichen lauen Abend, dann entdeckten gemeinsame Vorlieben für Cafés und gewisse Etablissements in Wien. Und die folgenden Einladungen ins Café Siller am Donaukanal, dem Treffpunkt der besseren Wiener Gesellschaft, hatten sie schon mit mutigerer Stimme ausgesprochen. Im Juli war Paul dann – ganz in gutbürgerlicher Wiener Tradition – mit seiner Mutter auf Sommerfrische gefahren. Zuerst auf den Semmering und danach zwei Wochen ans Meer, nach Venedig, wo sie am Lido logierten. Aus Venedig schrieb er Gustl eine Postkarte und fragte: »Warum melden Sie sich nicht?« Daraufhin gingen Telegramme hin und her, und kaum aus Italien zurück, hat sich Paul mit Gustl getroffen; und von da an waren die beiden unzertrennlich.

Auch wenn Paul und Gustl einander in Liebe zugetan sind, so sind sie nicht unempfänglich für die Reize junger Männer. Besondere Geistesgaben sind ihnen dabei nicht so wichtig wie gutes Aussehen, Witz und Manieren. Und so gibt es seit Jänner 1937 in ihrem Leben den 24-jährigen Albert Herzog, einen schlanken, verheirateten Burschen mit schimmernden, braunen Augen. Wegen seiner geringen Körpergröße nennen sie ihn den »kleinen Herzog« oder einfach nur ihren »Kleinen«. Besonders August Rieger fühlt sich stark zu dem um 17 Jahre Jüngeren hingezogen.

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Albert Herzog, der Aufsteiger: vom Maurer zum Gutsverwalter

»Der Albert is’ a 175er und die Gretl nur die Alibifrau.«

(KARL HERRMAN, JUSTIZWACHEBEAMTER, SCHWAGER VON ALBERT HERZOG)

Albert kam 1913 in Pola zur Welt und wurde katholisch getauft. Seinen Vater, Johann Herzog aus Hinterschneeberg bei Bad Gastein, hatte es 1911 beruflich in die Hafenstadt an der Adria verschlagen, wo er für die kaiserliche Marine als Zimmermann und Baupolier arbeitete. In Pola lernte er das Zimmermädchen Josipa Drelje-Jelaska aus Split kennen, und als sich herausstellte, dass seine um mehr als ein Jahrzehnt jüngere Geliebte von ihm schwanger war, war es für ihn, der einst Berufssoldat gewesen war, eine Sache der Ehre, sie zu heiraten. Von da an wurde aus der istrischen Josipa eine Josefine; und als die kleine Familie – mit dem kleinen Albert und ihrer mittlerweile geborenen Tochter Rosalia – 1916 nach Wien übersiedelte, wurde sie eine wienerische »Fini«. Herzogs waren nicht reich, aber das Baupoliergehalt des Vaters reichte für ein angenehmes Leben, für ein kleines Glück, das bereits an einem neblig-nasskalten Novembertag 1916 zerbrach. Johann Herzog rutschte auf einem regennassen Brett aus, stürzte vom schlecht gesicherten Baugerüst, erlitt einen Schädelbasisbruch und verstarb zwei Tage später im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Nur mit größter Sparsamkeit und unter äußersten Entbehrungen brachte Alberts Mutter sich und ihre zwei Kinder als Näherin, Packerin, Bedienerin und Putzfrau über die Runden. Weil das Geld trotz aller Entbehrungen nie reichte, mussten die Drei in immer beengtere Wohnverhältnisse umziehen. Schließlich landeten sie in einer Zinskaserne in der Engerthstraße 140, auf Tür Nummer 14, im zweiten Bezirk. Ihr neues Zuhause bestand aus einem dunklen Wohnzimmer, das in einen düsteren Lichthof schaute, einem Kabinett und einer winzigen Küche. Wasser und Mehrparteienklosett befanden sich am Gang. Nein, Albert war kein Glückskind, er hatte bei seiner Geburt keinen goldenen Löffel im Mund gehabt. Nach acht Klassen Volksschule wurde er Maurerlehrling. Kurz vor dem Ende der Lehre verliebte er sich in die Blusennäherin Margarethe Babis, die älteste der vier Töchter des Damenschneidermeisters Franz Babis, der sich in einem Straßenladen in der Wolfgang-Schmälzl-Gasse im zweiten Bezirk als Stückmeister für Konfektionsfirmen mehr schlecht als recht durchs Leben brachte. Bis zu 16 Stunden arbeitete er an manchen Tagen, oft auch an den Wochenenden und manchmal die Nächte durch. Von der Liebschaft seiner Tochter mit dem Maurergesellen war Meister Babis wenig begeistert. Besonders wurmte ihn, dass Gretl sich – sein Verbot missachtend – heimlich mit Albert traf. Nicht auszudenken, wenn sie schwanger würde! Gegen seinen Willen heirateten die beiden. Mangels eigener Wohnung blieb Albert weiterhin bei seiner Mutter und Margarethe bei ihrer Familie. Sie zahlte Kostgeld und sparte, so gut es ging, um irgendwann von zu Hause wegzukommen. Aber immer wieder waren die Finanzen von Schneidermeister Babis so katastrophal, dass er sich von seiner Tochter ihr mühsam Erspartes borgen musste. Einmal sogar 300 Schilling, also drei Monatslöhne, die er nicht zurückzahlen konnte. Babis machte sich Sorgen, wovon die beiden eigentlich leben sollten. Sie waren doch genau solche Habenichtse wie er. Besonders störte ihn, dass sein Schwiegersohn ständig seinen klammen Geldbeutel und sein Dasein als Maurergeselle bejammerte. Oft schmiss Albert die Arbeit hin. Öde sei sie und anstrengend, langweilig und schlecht bezahlt. Was Albert vorschwebte, war ein aufregendes, abwechslungsreiches, nicht alltägliches Leben. Gastwirt, sagte er immer wieder, das wäre was für ihn. Er und Gretl wären ein ideales Gespann. Denn er konnte witzig sein, Klatsch- und Tratschgeschichten erzählen, gut zuhören, und er mochte es, unter Menschen zu sein. Gretl war eine gute Köchin. Auch sie wollte nichts wie weg aus ihrem ärmlichen Leben als Blusennäherin. Sie konnte sich nicht vorstellen, ein Leben lang Knopflöcher zu säumen, Krägen zu endeln, Borten auf Bettwäsche zu nähen oder Monogramme hineinzusticken. Doch um den Traum vom eigenen Gasthaus wahr werden zu lassen, fehlte ihnen das Geld, und Kredit bekamen sie keinen. So versuchten sie es mit einer Hühnerfarm in Weikersdorf bei Wiener Neustadt, die ihnen Alberts Mutter finanzierte. Zwei Mal brannte der Hühnerstall ab und die Hennen verkohlten. Sie weinten dem Projekt nicht nach, denn schnelles Geld war auch mit Eiern nicht zu verdienen, die Verkehrswege waren lang, und so gaben sie das Eiergeschäft wieder auf. Auf die Frage ihres Vaters, wie Gretl sich ihre Zukunft mit ihrem Habenichts nun vorstellte und wovon sie und ihr Mann jetzt leben wollten, antwortete Gretl: »Wir werden jetzt hochstapeln.«