image

Marek Šindelka

Der Fehler

Roman

Aus dem Tschechischen von Doris Kouba

image

Dieses Buch wurde mit Unterstützung des Kulturministeriums der Tschechischen Republik gedruckt.

© Marek Šindelka, 2008

© 2018 Residenz Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn

ISBN Printausgabe 978 3 7017 1694 4

Für Matěj Lipavský, Jakub Sýkora, Vojta Kiss,
Ondřej Soukup und Zuzana Brečanová
(in Erinnerung an eine Reise an die Ostsee
im Sommer 2002)

Inhalt

Kryštof

Andrej

Die Blume

Anmerkung der Übersetzerin

Kryštof

Kryštofs Leben endete genau dort, wo es einmal angefangen hatte. Ihm selbst fiel das zum Zeitpunkt seines Todes nicht auf, denn er hatte jede Menge anderer Sorgen. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er bemühte sich, den letzten Moment wachen Bewusstseins zu nutzen, um zu begreifen, was hier eigentlich mit ihm geschah. Die Welt um ihn herum zerfloss in eine seltsam homogene Masse, die er mit jedem Atemzug unter stechenden, brennenden Schmerzen inhalierte. Als ob er Chlorwasser atmen würde. Er verschluckte diese Masse, während er in ihr ertrank, und mit jedem Schluck versuchte er, etwas Raum zu schaffen für eine Blase reiner Luft, die jedoch nie bis zu ihm durchdrang. In seinen Adern explodierte etwas. Es fühlte sich an wie die Überdosis irgendeiner Droge. »Goldener Schuss!«, jagte es ihm durch den Kopf. Er hörte auf, sich zu wehren. Er kapitulierte, da ihm sowieso nichts anderes übrig blieb. Mit tiefen Zügen sog er die Außenwelt – die er inzwischen nur mehr ahnte – in sich ein. Seine Sinne waren mehr oder weniger außer Funktion. Ein schwindelerregendes Gefühl eigenartiger, nie erlebter Wollust durchströmte ihn. Er neigte den Kopf nach hinten und öffnete den Mund. Er öffnete sich der Agonie, die ihn vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen durchfloss. Er atmete bis in den Weltenraum. Und vielleicht noch weiter …

Nach einer endlosen Weile spürte er, wie Regen in seinen offenen Mund fiel. Den Mund zu schließen hatte er keine Kraft mehr. Er schlief ein. Der Regen drückte ihm die Augen zu und legte zwei flüssige Münzen darauf, damit er etwas zum Bezahlen hätte auf der Reise zum anderen Ufer.

Kryštofs Leben (wie er selbst es wahrnahm) begann mit der ersten und ältesten Erinnerung, die er hatte.

Es war etwa so gewesen: Sie waren mit dem Zug unterwegs. Er und seine Mutter. Es war Abend. Gegen Ende des Sommers. Geschwindigkeit. Eine Landschaft unweit der polnischen Grenze. Das Abteil roch nach Eisen, Kunstleder und dem Linoleum des Bodenbelags. Er stand auf der Armlehne und konnte kaum atmen wegen des Luftstroms, der am Zugfenster vorbeirauschte. Ein Frösteln lief ihm den Rücken hinunter, als er spürte, wie sich der Wind in seinen Haaren verfing. Hinter den hügeligen Fichtenwäldern ging die Sonne unter, und über der Landschaft breitete sich kühle Luft aus. Der Geruch eines Flusses. Danach lange ein Feld. Der Zug bremste, wurde immer langsamer, fuhr schließlich nur noch Schritttempo. Und dann kam es.

Sie fuhren in einen Wald hinein. In einen wundersamen Wald. Kryštof hielt den Atem an. Sogar seine Mutter stand auf, um einen besseren Blick auf diese sonderbaren Bäume zu haben. Er spürte, wie sie, ohne es zu merken, seine Hand fest umfasste. In den Nachbarwaggons ratterten die Fenster hinunter, da den neugierigen Reisenden der Blick durch die fettigen und zerkratzten Scheiben nicht genügte. An ihnen vorbei huschten mächtige Stämme und weiße, eigenartig verzweigte Kronen unbekannter Gewächse. Die geäderten Äste waren von einer sattgrünen, manchmal violett durchwirkten Farbe, sie wuchsen aus einem dicken Stängel heraus, liefen gleichmäßig auseinander und trugen an ihren Enden riesige Blüten. Im Abteil verbreitete sich ein intensiver Geruch. Stickig wie in einem Viehstall. Und irgendwie sonderbar salzig.

»Das sind Herkulesstauden«, sagte seine Mutter.

Ein paar Mal wiederholte er diesen Namen still und leise nur für sich.

»Kryštof, niemals … hörst du … niemals darfst du mit diesen Blumen spielen, hast du mich verstanden?«

Er nickte.

»Die sind sehr, sehr giftig«, erklärte sie ihm. »Innen drin ist so ein Saft, der dir die Haut verbrennt. Auf dem Feld hat der Opa mal welche abgemäht, und dabei ist ihm der Saft auf die Hand getropft … Und noch Monate später hat er dann eine Blase gehabt, die so groß war wie eine Tomate!«

Kryštof verzog das Gesicht. Er stellte sich vor, wie dem Großvater eine Tomate aus der Hand wuchs.

Ohne es zu ahnen, blickte er damals genau auf die Stelle, an der er vierundzwanzig Jahre später sterben würde.

Herkulesstauden. Seitdem ging Kryštof dieses Wort nicht mehr aus dem Kopf. Seine gesamte Kindheit hindurch fürchtete er sich vor dieser Pflanze. Fürchtete sich davor wie vor einem gefährlichen Tier. Fürchtete, dass diese Pflanze einmal in ihrem Prager Haus wachsen würde. Vielleicht im Keller oder auf dem Gang, und sie würden nicht entkommen können. Er bekam Albträume. Seine Mutter beruhigte ihn zwar, dass nichts dergleichen geschehen könnte, weil in Städten keine Herkulesstauden wüchsen, aber das half ihm ganz und gar nicht. Kryštof hatte das Gefühl, dass diese Pflanze eher so etwas wie ein Gespenst war, das sich nur als Pflanze getarnt hatte. Zahllose Nächte verbrachte er schließlich starr vor Grauen, vor Angst wie versteinert, wobei er unter seiner Bettdecke fast erstickte, weil er immerzu dieselbe Luft atmete. Nicht das kleinste Luftloch wagte er aufzudecken. Er wusste, dass durch solch einen Spalt eine giftige Wurzel hineinkriechen oder ein gieriges, scharfes Blatt nach ihm greifen würde.

Herkulesstauden. Alles, was er später über diese Pflanzen hörte oder selbst herausfand, grub sich tief durch alle anderen Erlebnisse, die sich in seinem Gedächtnis abgelagert hatten, und drang bis zu seiner ältesten Erinnerung durch, um sich dort festzusetzen. Herkulesstauden umgrenzten sein Leben. Nie würde Kryštof begreifen, warum er sich nur an dieses eine Detail ihrer Reise erinnerte. Schließlich war er damals mit der Mutter unterwegs gewesen, um den Vater zu besuchen. Warum nur konnte er sich nicht an ihn erinnern? Und warum an nichts anderes aus dieser Zeit? Kryštof wusste es nicht. Am 25. August des Jahres 2002 bekam er die Chance, das alles zu begreifen, aber wie bereits gesagt: Am Ende hatte er andere Sorgen.

image

Antonín Brom wurde von dem Fall abgezogen. Aus gesundheitlichen Gründen war er nicht länger in der Lage, die Ermittlungen zu leiten. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Knapp zwei Wochen später starb er an den Folgen einer bis zuletzt nicht näher diagnostizierten Infektionskrankheit. Da Brom unmittelbar nach seiner Suspendierung ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte er den Bericht über den bisherigen Verlauf der Ermittlungen nicht mehr abschließen können. Die Akte über den Fall hatte er nicht sehr sorgfältig geführt, was die Vermutung nahelegt, er hätte vorsätzlich etwas verschwiegen. Freilich ist das nur eine Mutmaßung, aber es ist durchaus möglich, dass der Fall für Brom zum persönlichen Anliegen geworden und er einer Sache auf der Spur gewesen war, die er bewusst aus der Akte herausgehalten hatte.

Momentan steht uns für unsere Arbeit nur wenig Material zur Verfügung. Aus diesem Grunde bedienen wir uns aller zugänglichen Quellen einschließlich des persönlichen Tagebuchs von Brom, in dem er über den Verlauf der Ermittlungen relativ detaillierte Angaben macht (leider ungeordnet und unvollständig), um die Umstände des Falls im Nachhinein so genau wie möglich zu rekonstruieren.

image

Im Tagebuch Antonín Broms fanden sich zwei Briefe in Kopie (die Originale sind als Anlage Nr. 4 der Akte Kryštof Warjak beigefügt).

Der erste Brief trägt das Datum 26. 8. 2002 und ist an Dr. Josef Unterlinden adressiert, einen Fachmann für die Flora Asiens einschließlich bedrohter Arten auf den japanischen Inseln; Unterlinden war unter anderem Mitarbeiter des Instituts für Botanik an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften:

Betreff: Wissenschaftliches Gutachten zur beiliegenden Probe

Sehr geehrter Herr Dr. Unterlinden,

wie bereits am 25. 8. 2002 telefonisch vereinbart, übersende ich Ihnen hiermit die betreffende Pflanze zur Begutachtung. Aus den uns zugänglichen Quellen konnten wir leider nichts Konkretes über die Art in Erfahrung bringen. Mit der Bitte um alsbaldige Erledigung verbleibe ich dankend,

A. Brom

Beim zweiten Brief handelt es sich um Unterlindens Antwort vom 28. 8. 2002:

Sehr geehrter Herr Kommissar,

zunächst einmal Folgendes: Die von Ihnen eingesandte Pflanzenprobe (Teil einer Blüte sowie Wurzelbestandteile) stammt höchstwahrscheinlich vom letzten Exemplar dieser Art. Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass Sie nichts unternommen haben, um die Pflanze am Leben zu erhalten, wiewohl dies durchaus möglich gewesen wäre. Für die moderne Botanik ist das ein unermesslicher Verlust, was ich an dieser Stelle betonen möchte. In einem so ungewöhnlichen Fall hätten Sie unverzüglich einen Fachmann kontaktieren und alle voreiligen Schritte unterlassen sollen. Sie machen sich gar keine Vorstellung davon, wie groß der Schaden ist, den Sie durch Ihr unüberlegtes Handeln angerichtet haben.

Doch nun zu Ihrer Anfrage: Die Pflanze trägt keinerlei offiziellen Namen, da man sie aus der Klassifizierung herausgenommen hat. Das Problem dieser halbfantastischen Art (siehe weiter unten) wurde zuletzt von einigen Fachleuten eher allgemein und nur am Rande einer internationalen Konferenz in Tokio im Jahre 1982 diskutiert, wobei sich definitiv bestätigt hat, dass es sich lediglich um eine fiktive und durch nichts zu erhärtende Theorie handelte. Einen anderen Standpunkt zu vertreten war völlig unmöglich. Bis heute gab es keinerlei Beweis, der die Existenz dieser Pflanze belegt hätte, und somit erübrigte sich jede weitere Diskussion.

Ich selbst habe erst recht spät und eher zufällig von dieser »Spezies« erfahren. Vor zwölf Jahren führte mich ein Studienaufenthalt nach Kyoto, wo ich an einem umfangreicheren Artikel über interessante ausgestorbene Arten der Insel Honshu arbeitete. Im Zuge dessen stieß ich auch auf einige Informationen über diese Pflanze, deren Reste Sie mir nun zukommen ließen. In meinem Artikel ließ ich dies alles jedoch unerwähnt, denn damals hielt ich die Pflanze – insbesondere im Hinblick auf das Wesen der genannten Informationen (Informationen kann man das eigentlich gar nicht nennen, waren es doch eher vage Gerüchte) – für ein reines Hirngespinst bzw. eine Art Botanikerlegende.

Zum ersten Mal gestoßen bin ich auf diese Pflanze beim Studium einer Sammlung alter asiatischer Schriften, die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ist und mir während meines Kyoto-Aufenthalts in die Hände fiel. Es handelte sich um eine relativ umfangreiche Überlieferung japanischer Sagen, volkstümlichen Aberglaubens sowie merkwürdiger Phänomene und Mysterien. Übrigens sind in Japan seit jeher als Kaidan bezeichnete Erzählungen beliebt: Schilderungen unerklärlicher Begebenheiten, die teils als Märchen, häufiger jedoch als Horrorgeschichten daherkommen. Die erwähnte Sammlung bot etwas Vergleichbares. Ich las die Geschichten also in meiner Freizeit. Vor allem eine hat mich besonders fasziniert, wies sie doch (wenn auch nur oberflächlich) einen gewissen Bezug zu meinem Fach auf. Es war die Sage von der Blume Ushimitsuzoki (»Mitternacht«). In dieser Sage wird von einem einsamen Mann erzählt, der vor sehr langer Zeit eine Blume züchten ließ, die zu einem getreuen Abbild der Trauer werden sollte. Deshalb nannte er sie »Mitternacht«. Für ihre Veredelung opferte er seinen gesamten Besitz. Die Blume war wunderschön, aber das Tageslicht schien ihr zu schaden, und schon nach kurzer Zeit begann sie zu welken. Der bekümmerte Mann, der nun außer dieser Blume nichts mehr besaß, entschloss sich, dieser Blume sein Leben zu opfern. Er verübte Seppuku (ein Samurai-Ritual zur Selbsttötung) und starb mit dem an die Götter gerichteten Wunsch, seine Seele möge in diese Blume fahren. Und wirklich, nicht lange nach seinem Tod blühte die Blume wieder auf – und zur Erinnerung an diese merkwürdige, in den Augen der damaligen Adelsgesellschaft romantische Tat wurde die Blume zu einer besonderen Auszeichnung des Hochadels.

Da mir die Geschichte gefiel, wollte ich herausfinden, ob sie nicht mit irgendeiner konkreten Pflanzenart zusammenhing, denn dann hätte ich diese erstaunliche Erzählung in meinen Artikel aufnehmen können. Ich versuchte also, mehr in Erfahrung zu bringen, und besuchte diverse Archive. Nach langer, ergebnisloser Suche fand ich schließlich in einem uralten Herbarium weitere Details. Das Werk in seiner Gesamtheit wirkte äußerst laienhaft. Am Rande jedoch wurde ein japanischer Adliger aus dem 17. Jahrhundert zitiert (Beginn der Edo-Zeit, aber an den Namen des Adligen kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern), der eine Blume mit der Bezeichnung »Mitternacht« beschrieb: Ihre Blüte ähnele der des Lotos, insgesamt sei sie jedoch wesentlich zarter, und noch dazu tiefschwarz … Ich erinnere mich, dass dieser Adlige zum Vergleich Begriffe wie »Finsternis« oder »Tusche« gebraucht hat. Angeblich hatte die Blume keinerlei Blätter, sondern nur lange, haarfeine Wurzeln (was genau Ihrer Probe entspricht). Sicher erwähnenswert ist, dass dieser Adlige die Blume weniger als eine Pflanze, sondern eher als eine Art »Wesen« beschrieben hat. Als habe sie eine ganz besondere Anrede verdient.

Diese Pflanze also kam angeblich ausschließlich in Japan vor, niemals jedoch in der freien Natur. Sie war künstlich gezüchtet worden (dem Vernehmen nach als hochwirksames Verdauungsmittel; exakt zu diesem Zweck wurde sie später angeblich auch in der gehobenen Tokioter Gesellschaft verwendet, was im seltsamen Widerspruch zu der von mir weiter oben ausgeführten Legende steht). Die gesamte Pflanze war angeblich extrem giftig, und eine aus der Blüte extrahierte Substanz kam geringdosiert wohl auch als Droge mit stark halluzinogener Wirkung zum Einsatz; konkretere Ausführungen fanden sich aber keine.

Die Ushimitsuzoki-Blume war ungeheuer selten. Gezüchtet wurden stets nur einige wenige Exemplare. Es handelte sich um ein sehr teures Luxusgut. Den Aufzeichnungen lässt sich im Grunde entnehmen, dass der Pflanze auch eine Art gesellschaftlicher oder, genauer gesagt, fast ritueller Stellenwert zukam. Zuweilen bezeichnete man sie gar als Kleinod, Juwel oder Schmuck, allerdings auch das ohne weitere Details. Grundsätzlich gibt es viele Unklarheiten; aus mir unerfindlichen Gründen scheinen manche Tatsachen gar absichtlich verschwiegen worden zu sein.

So viel also zu all den Legenden und Gerüchten. Was meine aktuelle Kenntnis anbelangt, so kann ich nur Folgendes ergänzen: In Anbetracht der Pflanzenfarbe, also der Abwesenheit irgendwelcher grüner Teile enthält die Pflanze wohl keinerlei Chloroplasten. Folglich betreibt sie keine Photosynthese, was daraufschließen lässt, dass es sich um eine Art Parasit handelt. Der Verdacht, den Sie bei unserem Telefonat hinsichtlich der ungewöhnlichen Nährstoffaufnahme geäußert haben, lässt sich aber nur durch genauere Laboruntersuchungen erhärten. Da die gesamte Pflanze wirklich extrem giftig ist, besteht natürlich die Möglichkeit, dass Kryštof Warjak an einer Vergiftung gestorben ist. Das Resultat meiner Analyse werde ich Ihnen zu Vergleichszwecken alsbald zukommen lassen.

Alles Weitere ist Mutmaßung und reine Spekulation. Sie erwähnten noch irgendwelche krampfartigen Bewegungen, die die Pflanze vollzogen hätte, als Sie sie entdeckt haben. Könnten Sie mir eine detailliertere Beschreibung nachreichen? Oder wäre es vielleicht möglich, dass wir uns treffen, um das Ganze persönlich zu besprechen? Sehr gern würde ich weitere Einzelheiten erfahren.

Zum Abschluss noch dies: Offensichtlich ist diese Pflanze für eingeweihte Privatsammler von unschätzbarem Wert. Deshalb würde ich auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass K. Warjak in den Handel mit seltenen Pflanzen involviert gewesen ist.

J. Unterlinden

image

Aus Antonín Broms Tagebuch, Seite 23:

(undatiert)

Auffindungssituation der Leiche von Kryštof Warjak

Den Fund gemeldet hat am 25. 8. 2002 um 20:05 Uhr eine Anna Bielinsky. Die Leiche wurde zunächst von zwei Kindern aus einem vorüberfahrenden Schnellzug (Intercity Prag–Breslau) entdeckt: Petr und Štěpán Bielinsky, die Söhne der Anna Bielinsky.

Kurz vor 20:00 Uhr teilte A. Bielinsky dem Schaffner mit, neben den Gleisen liege offenbar ein Toter. Im nächsten Bahnhof wurde der Zug für zehn Minuten gestoppt, und die Bielinsky meldete ihre Beobachtung über das Bahnhofstelefon. Der Zug konnte jedoch nicht länger angehalten werden. Deshalb wurden die Bielinsky und ihre beiden Söhne erst am Folgetag in Breslau vernommen.

Um 21:20 Uhr, also eine Stunde und 15 Minuten nach Eingang der Meldung, trafen wir am Fundort ein. Den Angaben der Bielinsky zufolge lag der Tote in einem Feld aus Herkulesstauden (eine eingewanderte Pflanze, die im betreffenden Gebiet große Flächen überwuchert hat und als Schmarotzer auf ehemaligen Weiden und Feldern gedeiht) unweit der polnischen Grenze. Vom Bahnhof Těchonín aus gelangten wir mit einer von zwei Bahnangestellten bedienten Draisine zum Fundort. Langsam fuhren wir die Bahnstrecke ab, die der Beschreibung der Bielinsky entsprach. Links und rechts der Gleise erhob sich ein hoher Wall aus Herkulesstauden. Der Fundort war problemlos zu lokalisieren. Das Erste, was wir sahen, war die rote Jacke des Toten, die durch den Raum zu leuchten schien.

Auf dem betreffenden Streckenabschnitt fahren die Züge immer langsamer. Beim späteren Verhör teilte mir der Lokführer mit, dies sei wegen der veralteten Schienen, die bald instandgesetzt würden. Die Obduktion K. Warjaks ergab, dass dieser weder aus dem Zug gefallen noch von jemandem gestoßen worden war. Wahrscheinlicher scheint, dass er absichtlich ausgestiegen ist. Nach wie vor ist jedoch unklar, warum.

Vorsichtig betraten wir also das schattige, mit Herkulesstauden überwucherte Feld. Der Tote lag direkt neben der Bahnstrecke, keine zehn Meter entfernt. Aus unerfindlichen Gründen schienen alle in einem Radius von etwa drei Metern um Warjaks Leiche herumstehenden Pflanzen abgestorben und waren schwärzlich verfärbt. Teilweise bedeckten sie den Toten. Der gesamte Fundort wirkte irgendwie sonderbar. Fast unheimlich. Es herrschte eine nahezu unwirkliche Stille, ganz so, als wären wir in einen Todesstreifen geraten. Nicht das Mindeste schien dort lebendig zu sein. Alles war verdorrt. Wir bemerkten, dass nicht einmal mehr Insekten vorhanden waren, obwohl überall sonst in der schwülen, fast tropischen Luft zahlreiche Mückenschwärme hingen.

Das war uns bereits bei unserer Ankunft aufgefallen. Weil es schon dunkel war, hatten wir den Fundort mit Taschenlampen ausgeleuchtet. Nachdem alles fotografiert worden war, machten wir uns daran, die störenden Herkulesstauden zu beseitigen und die Leiche zu untersuchen. Bis irgendwer (wahrscheinlich Waldner) uns darauf aufmerksam machte, dass die vom Licht angezogenen Nachtfalter nicht bis zu unseren Lampen geflogen kamen, was normal und natürlich gewesen wäre, sondern dass sie exakt den um den Toten herum freigebliebenen Umkreis von drei Metern aussparten und dessen Grenze nicht überflogen. Da aber immer mehr Falter Richtung Licht flatterten, dauerte es nicht lange, bis wir von einer unangenehm summenden Wand aus Insekten umgeben waren, die zwischen den noch lebenden und den bereits abgestorbenen Herkulesstauden herumschwirrten.

Befremdet und beunruhigt zugleich machten wir uns zunächst daran, die nähere Umgebung der Leiche zu untersuchen. Wir nahmen Proben von den abgestorbenen Pflanzen und vom Erdreich. Das spätere Gutachten ergab Erstaunliches. Es gab in diesem Radius wirklich nichts Lebendiges mehr. Allerdings waren die abgestorbenen Herkulesstauden nicht verfault. Sie wiesen keinerlei Zersetzungsreaktion auf. Und auch im Boden fand sich nicht die geringste Spur irgendeines Bakteriums. Nicht das kleinste Lebewesen wurde entdeckt. Und an einer bestimmten Grenze, zu einem bestimmten Zeitpunkt war der Tod dann einfach stehen geblieben, hatte sich nicht weiter ausgebreitet. Wie eine Art Fehler im Ökosystem. In diesem Moment waren unsere Körper das einzig Lebendige innerhalb dieses beklemmenden Kreises, in dessen Mitte in Embryonalstellung der tote Warjak lag.

Ich untersuchte die Leiche. Warjak lag zusammengerollt auf dem Boden, den Kopf nach oben verdreht, die Knie an die Brust gezogen. Er trug eine rote Trainingsjacke, ein blutüberströmtes hellblaues Polohemd, Cordhosen und weiße Turnschuhe. Seine Hand verdeckte die linke Hüfte, die eine zehn Zentimeter lange Verletzung aufwies – offenbar eine Schnittwunde (doch das Polohemd war intakt). Laut Obduktionsbericht war diese Wunde aber nicht die Todesursache. Als ich die verkrampfte Hand wegschob, mit der Warjak sich den Bauch gehalten hatte, sah ich, dass der Schnitt stümperhaft, schlampig, krumm und schief mit grünem Garn genäht worden war, und zwar mit vierzehn Stichen, zwischen denen das Blut herausgeflossen sein musste, das sich an des Toten Kleidung befand. Andere äußere Verletzungen konnte ich keine entdecken. Erst die Obduktion ergab weitere Details.

Nachdem wir alles dokumentiert hatten, wurde die Leiche auf die Draisine geladen und schließlich vom Bahnhof von Techonín aus ins Krankenhaus von Hradec Králové gebracht. Als wir den Toten auf die Bahre hoben, stellten wir fest, dass er von unten durch sonderbare Spinnfäden mit dem Boden verbunden war. Bei der späteren, detaillierteren Analyse zeigte sich, dass der gesamte Fundort durchwirkt war von feinen Fäden unbekannter Herkunft. Von einer Art trockener, grauer Härchen. Und die Leiche bildete keine Ausnahme. Sie war förmlich überwuchert von einem dichten Netz aus Fäden.

image

Es ist Abend, nach dem Regen. Draußen fliegt die Erde in Wellen vorbei. Wind im Mund. Metallische Geräusche, und über all dem ein metallischer Geruch. Von außen klappert der Reißverschluss eines Anoraks gegen die Scheibe.

»Lehn dich nicht so weit raus«, sagt die Frau im Abteil.

Im rasanten Fahrtwind schlagen die Kinder sich gegenseitig die Haare ins Gesicht. Sie lachen und rufen hinaus, trunken vom Rhythmus der Eisenbahnschienen. Die umliegende Landschaft läuft wie ein Filmstreifen ab. Einzelbilder, die durch hölzerne Strommasten voneinander getrennt werden. Rhythmus. Herzschlag. Puls der Felder. Rhythmus der Erde, der Sträucher. Rhythmus der Bahngebäude. Fliehende Stahllinien. Zwei glänzende, durch die Landschaft verlaufende Fäden. Zwei Fäden in die Unendlichkeit.

Zwei Jungen streichen mit ihren Händen über den Himmel. Formen mit ihren Handflächen den Wind, bilden zwischen ihren Fingern Spalten und Luftkanäle. Fast so, als berührten sie etwas Wirkliches, Lebendiges.

Bei einer heruntergelassenen Schranke läutet eine Glocke. Aus Bächen und sumpfigen Wiesen dringt kühle Luft in abendstille Dörfer. Auf den kleinen Dorfbahnhöfen, durch die sie fahren, riecht es nach Öl, bisweilen nach Zigarettenrauch, vor allem aber feucht nach den aufgeplatzten Betonplatten der Bahnsteige, zwischen denen Gras und niedriges Unkraut wächst. Auf einigen Bahnsteigen gleiten wie in Zeitlupe die Augen von Unbekannten vorbei. Für Sekundenbruchteile verlieren sich die Blicke dann in diesen wundersamen, von Weiß umgebenen Pupillentunneln.

Inmitten eines Feldes huschte eine von Gestrüpp überwucherte Betoneinfassung vorbei; nach einer Weile nähert sich ein Wasserwehr. Sie fahren an einem Flussarm entlang. Die am Ufer stehenden Bäume und Wochenendhäuschen spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. In einem der Gärten brennt ein kleines Laub- oder Heufeuer. Ein Angler in einem Boot blickt dem Geräusch des sich durch das Flusstal windenden Zugs hinterher. Für einen Moment vergisst er die feinen Kreise, die von der bewegungslos aus dem Fluss ragenden Schnur ausgehen, von der Schnur, die ihn mit der Unterwasserwelt verbindet.

Der Zug wird langsamer. An dieser Stelle wird er immer langsamer. Der ältere der beiden Jungen lehnt sich ein wenig hinaus, schürzt die Lippen und spuckt. Daraufhin ducken sich beide lachend vom Fenster weg und springen auf den Sitz zurück, auf dessen Lehne sie eng nebeneinandergestanden haben, um besser hinaussehen zu können.

Das Bild dieses Abends mit all seinen Düften und seinem Licht prägt sich den beiden Jungen für alle Zeiten ein. Immer, wenn sie in ihrem späteren Leben daran denken werden, wird sie wegen etwas längst Vergangenem eine seltsame Bangigkeit heimsuchen. Ein Hauch von Wehmut wird aufkommen und das Gefühl, etwas Wichtiges unwiederbringlich verloren zu haben. Und die beiden Jungen werden nie erfahren, dass die Stimmung dieses weit zurückliegenden Erlebnisses, dieser fast vergessenen Fahrt durch die Grenzlandschaft, dieselbe ist wie jene der ersten Kindheitserinnerung des Toten, den genau diese beiden Jungen schon in einem kleinen Weilchen, in nur wenigen Minuten, zu einem Knäuel zusammengerollt in einem seltsam überwucherten Herkulesstauden-Feld liegen sehen und auf den sie dann ihre Mutter hinweisen werden. Nur: »Mami, schau …«, weiter geht ihr Interesse nicht. Sogleich bestaunen sie wieder diese riesigen Blumen, die längs des Streckenrandes schwanken. Blumen, so hoch wie ihr Zug.

Ja, genau dieselbe Erinnerung trug auch der Tote in sich, und alles, was die beiden Jungen im Abteil des nach Breslau fahrenden Schnellzugs jetzt wahrnehmen, ist eigentlich nur eine Wiederholung dessen, was auch er vor langer Zeit erlebt hat. Auch er hat damals diese abendfeuchte Erde gerochen. Auch er hat diese kühle Luft geatmet, genau wie diese beiden jetzt. Auch er hat die draußen am Zug vorbeiziehende Landschaft betrachtet, und seine Augen sind hin und her gehuscht, als ob all die dahinjagenden Dinge seine Pupillen anziehen und an sich binden würden, genau wie diese Dinge jetzt die Pupillen der beiden Jungen an sich binden.

Alles wiederholt sich. Ein Leben beginnt erst mit der frühesten Erinnerung. Der Zug wird langsamer. An dieser Stelle wird er immer langsamer. Die früheste Erinnerung, die der Tote, dessen halb geöffneter Mund voller Nachmittagsregen ist, in sich trug, schreibt sich jetzt mit jedem Atemzug in das Gedächtnis zweier sich aus dem Fenster lehnender Kinder ein, während ihr Zug langsam vorüberfährt an diesem Toten im Herkulesstauden-Feld.

image

Wenn wir aus dem toten Gehirn Kryštof Warjaks die letzten darin herumirrenden Gedanken herauslösen könnten wie ein Bild, das sich auf einer toten Netzhaut abzeichnet, würden wir wohl auf Folgendes stoßen:

Er dachte an Andrej. An seinen Freund aus Kindheitstagen. An den Jungen, mit dem er aufgewachsen war. Auch später waren ihrer beider Leben stets miteinander verwoben gewesen.

Er dachte an eine Blume. An die einzige Blume, die einzige kleine Pflanze, die er in Gedanken immer nur »die Blume« genannt hatte, und die sein Leben geworden war und er das ihre.

Er dachte an Nina, Andrejs Frau. Der Himmel weiß, warum er an die Handbewegung denken musste, mit der sie sich immer eine Haarsträhne aus der Stirn gestrichen hatte.

Er dachte auch an Kristýna, Andrejs vierjährige Tochter, die Ende Mai gestorben war. Versehentlich hatte sie giftige Pilze gegessen.

Er dachte an Marián, mit dem er ein Drittel seines Lebens auf Reisen verbracht und einen Großteil der Welt gesehen hatte. Mit dem er in der schwülen Luft und im warmen Erdreich des Dschungels all die lebendigen Sterne gesucht hatte, die zweifellos bei einem galaktischen Zwischenfall vom Himmel gestürzt waren. Die wuchernden Überreste von in Regenwäldern gelandeten Sternen, die dort in der Erde, auf rankenden Lianen und fauligem Holz Wurzeln geschlagen hatten. Die Menschen hatten ihnen einen Namen gegeben. Hatten sie mit einem Wort versehen, das ganz genau ihrer Gestalt entsprach. Orchideen … Schon Millionen Male hatte er sich diesen vollkommenen Klang aufgesagt, der aus sich selbst heraus so erhaben war. Voller Leidenschaft und Sehnsucht.

Er dachte an den Schatten. Die Gestalt, die er in den vergangenen Tagen ständig im Rücken gespürt hatte. Der seine Reise bis hierher verfolgt hatte, bis tief hinein in das alte Europa, bis zur polnischen Grenze. Wohin auch immer Kryštof ging, er war sich sicher: Der Schatten würde denselben Ort betreten, noch bevor seine eigenen Fußabdrücke auf einem Teppichboden wieder verschwunden waren; der Schatten würde eine Türklinke oder einen Haltegriff in der Metro berühren, noch bevor die Wärme seiner eigenen Hand verflogen war. Den Namen des Schattens kannte er nicht. Vielleicht hatte er gar keinen. Oft hatte es den Anschein, sein Verfolger gehöre gar nicht hierher. Sei nicht von hier, nicht von dieser Welt.

Auch dachte Kryštof an den eigenen Körper, der irgendwie nichts mehr fühlen wollte, an die Welt um sich herum, die auf einmal nicht mehr so funktionierte, wie sie hätte sollen.

Er dachte an die kleinen aderförmigen Wurzeln, die er, wenn er sich konzentrierte, in all seinen Gliedmaßen spürte. Jeden Millimeter spürte er und sah, wie sie wuchsen und sich wanden vor seinen Augen, einander durchwoben im Flirren hinter seinen zusammengekniffenen Lidern.

image

Irgendwann vor langer Zeit.

Kryštof überquerte die kleine Brücke am Bach. Viermal erklang leise unter seinen Schritten die Metallkonstruktion des Stegs. Das Geräusch des über die Steine plätschernden Wassers nahm er erst wieder wahr, als der Staub des Feldweges unter seinen Füßen knirschte. Andrej, sein Freund, lief ein Stück voraus. Sie kamen am Garten des letzten Hauses vorbei. Hier roch es nach dem schwarzen Altöl, mit dem der Schuppen und der lange Zaun gestrichen waren. Kryštof fuhr mit der Hand an den Planken entlang. Die Sonne, die schon tief am Horizont stand, blendete ihn, wenn sie zwischen den Latten hindurchblitzte. Ihm war nach Lachen und Jauchzen. Vor sich sah er wie im Licht eines Stroboskops die von der Sonne unterbrochenen und zerstückelten Bewegungen von Andrejs schmaler Statur.

»Schneller!«, rief Andrej über die Schulter.

Sie rannten auf die Wiese. Um sie herum ein Rauschen. Das hohe Gras streifte ihre Beine. Andrej bahnte den Weg, den Kryštof hinter sich schloss. Durch die Luft flogen Flaum und Blütenstaub. Vor ihnen lag der Wald, dessen Inneres in der Abendstunde dunkelblau schien. Schon von Weitem roch man das klebrige Harz, und gelegentlich war ein Ächzen zu hören, als stimme jemand ein übergroßes Musikinstrument.

Andrej war vierzehn und Kryštof zwölf. Von klein auf war Kryštof mit Andrej befreundet gewesen. Wann sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, daran erinnerte er sich nicht mehr. Immer, wenn er ins Dorf kam, auch wenn er ein halbes Jahr nicht da gewesen war, kehrte Andrej mit einer solchen Selbstverständlichkeit in sein Leben zurück, dass ihm vorkam, als hätten sie sich nie voneinander getrennt. Durch Andrej konnte er sich an alles erinnern, an all die vergangenen Jahre, an all die hier verbrachte Zeit.

Am Vorabend war Kryštof mit seiner Mutter angekommen. Für die Sommerferien ließ sie ihn bei den Großeltern. Ferien im freien Raum. Unter Ferien hatte er immer dies verstanden: Landschaft, weite Felder, Wiesen und Wald. Etwas völlig anderes als Stadt. Kryštof rannte und atmete unter einem freien Himmel.

»Also was jetzt?«, schnaufte er, sobald sie den Wald erreicht hatten.

»Runter zum Bach!«

Andrej rannte weiter. Atemlos passierten sie die Stämme der ersten Kiefern. Im Vorbeilaufen riss Kryštof von einer Kiefer etwas Rinde ab und zerkrümelte sie zu kleinen Stücken. Mit denen zielte er auf die umstehenden Bäume.

»Hör mal«, meinte Kryštof dann etwas unsicher, »bald wird’s dunkel.« Er lief schneller, um Andrej einzuholen.

»Also willst du’s jetzt sehen oder nicht?«, blaffte Andrej zurück. Er war ungeduldig. In seiner Aufregung nahm er nichts mehr wahr. Beim Laufen stolperte er über Steine oder Wurzeln, die aus dem Weg ragten, schwankte, streckte die Arme aus. Ein Wunder, dass er nicht hinfiel. Schon am Morgen, als sie sich getroffen hatten, hatte er verschwörerisch von seinem Geheimnis erzählt. Raunend und mit stolzem Grinsen hatte er Kryštof gesagt, am Abend müsse er ihm etwas zeigen.

Sie kletterten seitwärts zum Bach hinunter. Der Wald ringsum verwandelte sich und wurde dunkler. Je tiefer sie vordrangen, desto mehr Laubbäume verdeckten den Himmel. Kryštof hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre ins Dorf zurückgerannt, wollte das aber nicht zugeben. Stur stemmte Andrej seine Füße in den Hang. Steinchen und Erdstücke rollten hinab. Mit beiden Händen hielt er sich an umstehenden Baumstämmen fest, und kein einziges Mal sah er sich nach Kryštof um. Unweit raschelte der Flügelschlag eines Waldvogels, den sie aufgescheucht hatten. Dieses Rascheln drang in Kryštofs Brust und beschleunigte seinen Herzschlag. Sein Puls pochte ihm bis in den Hals.

»Wohin genau gehen wir denn?«

»Verdammt, wir sind doch gleich da!«, meinte Andrej barsch. »Hast du Schiss oder was?« Um nicht auszurutschen, verkantete er seine Schuhe weiter in der weichen Erde und schwieg. Kryštof war beklommen zumute. Er lief direkt hinter Andrej her und setzte seine Schritte in die von ihm ausgetretenen Spuren. Atmete den Geruch der aufgewühlten Erde (feucht und nach Pilzen duftend) und bemühte sich, den über ihnen fortschreitenden Sonnenuntergang durch seine Blicke anzuhalten.

Nun waren sie unten in der Schlucht angelangt und liefen ein Stück am Bach entlang. Nach einer Weile blieb Andrej stehen und sah sich aufmerksam um. Kryštof hatte Angst. Nicht einmal das versprochene Geheimnis lockte ihn noch, er wollte nur noch raus aus dem Wald. Auf einmal war ihm alles an Andrej zuwider. Er war wütend auf ihn und darauf, wie anders er jetzt war, nur noch stur das eigene Ziel vor Augen – etwas, was Kryštof nicht verstand. So kannte er Andrej nicht; er schien ihm auf einmal wesentlich älter, ferner. Wütend war er auch auf sich selbst, weil er am Waldrand nicht kehrtgemacht und zurückgelaufen war zur lauen, sonnendurchwärmten Wiese. Wer weiß, was ihnen hier jetzt zustoßen würde. Sie würden von irgendeinem Tier gebissen werden, von einem streunenden, tollwütigen Hund, oder schlimmer noch.

Bei einem der großen Felsen, die das Bachufer säumten und überall in der Gegend herumlagen, ging Andrej in die Knie. Er begann, trockenes Reisig und Laub vergangener Herbste wegzuscharren. Dann setzte er sich, legte sich schließlich hin und schob einen Arm weit hinein in eine kühle, finstere Felshöhle. Gleich darauf zog er einen etwa meterlangen, in Plastikfolie gewickelten und mit Bindfaden verschnürten Gegenstand hervor.

»Jetzt schau her!«, kommandierte Andrej siegesgewiss, während er, dieses Ding auf den Knien, die Plastikfolie abwickelte.

Ein Gewehr! Kryštof traute seinen Augen nicht.

Ein Jagdgewehr. Sein Großvater besaß auch so eins. Er bewahrte es im Flur oben auf dem Kleiderschrank auf, damit Kryštof nicht heranreichte. Kryštof war es strengstens verboten, das Gewehr auch nur anzufassen. Er aber fühlte sich magisch angezogen, denn es gefiel ihm doch so sehr. Und natürlich rückte er, wenn ausnahmsweise mal keiner zu Hause war, einen Stuhl vor den Schrank, stellte verkehrt herum den allergrößten Kochtopf darauf, und bebend vor Aufregung sah er sich dann das Gewehr aus allernächster Nähe an. Es anzufassen wagte er freilich nicht. Die Großmutter hatte ihm nämlich einmal von einem Jungen erzählt, der seiner Schwester beim heimlichen Spielen mit dem väterlichen Gewehr nicht nur ein paar Finger, sondern die ganze Hand weggeschossen hatte.

»Zeig mal. Wo hast’n das her?«, wollte Kryštof jetzt wissen. Für einen Moment hatte er vergessen, dass es im Wald bereits stockdunkel war. Er näherte sich Andrej. Der grinste nur.

Kryštof streckte eine Hand aus, aber Andrej weigerte sich, ihm das Gewehr zu geben.

»Lieber nicht. Du bist noch zu klein und kannst damit nicht umgehen.«

Das saß. Kryštof drehte sich um und schnappte nach Luft, die aufsteigenden Tränen unterdrückend. Er fühlte sich verraten. Andrej hatte ihn ja nur mitgenommen, um sich aufzuspielen. Um ihm zu beweisen, dass er schon groß war und kein Kind mehr so wie Kryštof. Und dabei hatten sie doch immer zusammengehalten. Meistens. Wenn sie nicht gerade wegen irgendwas stritten.

»Dann erstick doch dran«, gab Kryštof zurück, den Tränen nun wirklich nah. Er drehte sich um und begann, den Hang wieder hochzuklettern. »Komm ich eben ein anderes Mal her! Und dann schau ich’s mir trotzdem an!«, rief er noch.

»Versteck ich’s eben woanders«, vermeldete Andrej ruhig und blieb an den Felsen gelehnt sitzen. Nun begann Kryštof vor lauter Wut zu weinen.

»Das sag ich daheim«, schluchzte er. »Dass du’s gestohlen hast.«

Da sprang Andrej auf. Kaum hatte Kryštof sich wieder umgedreht, als Andrej schon hinter ihm stand, ihn zu Boden rang und ihm den Gewehrlauf zwischen die Schulterblätter drückte.

»Lass mich!«, kreischte Kryštof. Er stützte sich auf eine Hand und versuchte, Andrej wegzudrängen, ihn irgendwie abzuschütteln, aber er war nicht stark genug.

»Nichts sagst du!«, grinste Andrej und drückte ab.

Der Bach floss bergauf.

Alle Geräusche des Waldes waren verklungen, so dass Kryštof das Knirschen der eigenen Zähne hörte. Er jedoch war sich sicher, dass dieses Knirschen weit tiefer aus seinem Inneren kam. Irgendwie so musste es klingen, wenn einem das Rückgrat brach. Zertrümmerte, aus dem Leib gerissene Wirbel, die mit dem Gewehrschuss tief in die Erde drangen.

Er hörte dieses Knirschen noch lange, nachdem er begriffen hatte, dass der Schuss lautlos gewesen war und das Gewehr nicht geladen. Andrej lachte. Dieses Lachen kam von sehr weit her und vermischte sich mit dem Knirschen und Pfeifen in Kryštofs Kopf.

Schluchzend und Rotz hochziehend machte Kryštof sich wieder daran, den Hang hochzuklettern. Er rutschte aus und fiel. Andrej rief ihm hinterher, er solle doch nicht so rumspinnen.

»Komm doch zurück«, hörte Kryštof irgendwo hinter sich. »Meinetwegen darfst du’s auch mal halten.« Aber so, als hätten diese Worte nicht ihm gegolten, glitten sie über die umliegenden Hänge des stillen Waldes hinauf und hinab und zum Bach zurück.