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Tamar Tandaschwili

Löwenzahnwirbelsturm in Orange

Roman

Aus dem Georgischen übersetzt
von Natia Mikeladse-Bachsoliani

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© Tamar Tandaschwili, 2012
© der georgischen Ausgabe: Siesta Publishing House, 2016
© 2018 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

ISBN E-Book 978 3 7017 4581 4
ISBN Print 978 3 7017 1691 3

Inhalt

1. Das Prachtvolle der Welt

2. Casta Diva

3. Erleuchtung

4. Megrelische Delikatessen

5. Der Saburtalo-Friedhof

6. To Kill a Mockingbird

7. Optische Täuschung

8. ALAWERDI

9. Der Stern meines Lebens mit leuchtendbunten Galaxien in den Augen

10. Verzweiflung

11. Selbstmord

12. Das Geheimnis der Grabstätte der Russadses

13. Amputation

14. Hypomanie

15. Katharsis

16. Löwenzahnwirbelsturm in Orange

Glossar

1.
Das Prachtvolle der Welt

Lisas Garten, Lisas Paradies, keiner nennt es Lisas Zuhause. Ich bin gespannt auf den Garten, der diese Frau mit der Existenz des Allmächtigen versöhnt hat. Eine Frau, die im vorigen und auch noch in diesem Jahrhundert jede Ikone des Heilands immer nur bespuckt hat, egal, wo sie mit ihr konfrontiert wurde, solange, bis ihr die Spucke ausging. Und wenn sie dann schließlich irgendwer wegzerrte, blickte sie dem Heiland in die Augen und fügte sehr ruhig, wie nach einer Ohnmacht, hinzu: »Du weißt schon warum, Jesus!«

Lisa sagt: Nur wenn ich mich um die Pflanzen kümmere, spüre ich das Prachtvolle der Welt. Nur dann befällt mich der Glaube an die Existenz eines Allmächtigen, an den ich sonst nicht glauben kann.

Lisa ist die Freundin meiner besten Freundin, aber eher mit mir befreundet, wovon meine Freundin gar nichts weiß.

Lisa hatte eine vierzehn Jahre alte Tochter, Natalie. Die kämmte sich ihr langes Haar meist auf dem Balkon. Eines Tages riefen ihr Freunde von unten etwas zu. Natalie beugte sich nach vorn, der Kamm rutschte weg und glitt ihr aus der Hand. Lisa und ihre Tochter lebten im fünften Stock.

In Lisas Paradies gibt es nur Kakteen. Wenn sie nicht blühen, was meistens der Fall ist, kommt man sich vor wie in einer Kolonie von grünen Kondomen, aus denen Nadeln sprießen. Das Prachtvolle der Welt empfindet jeder auf seine Weise. Ich zum Beispiel – durch die Straßenhunde.

»Haben Sie vielleicht ein Laken?«

»Was ist passiert?«

»Ein Hund ist von einem Auto angefahren worden und wir müssen ihn wegbringen.«

»Ins Tierheim?«

»Nein, auf den Bürgersteig, er liegt mitten auf der Straße.«

Sobald ich den Raum betrete, erkennt er mich aus dem Nebenzimmer und kriecht mit seinem an drei Stellen gebrochenen Hüftknochen auf meine Stimme zu.

»Rexa, Rexa, mein lieber Hund, bist du das?«

Im Wartezimmer denkt man bestimmt, ich sei verrückt oder eine alte Jungfer. Doch so sehe ich nicht aus. Hier kann man einen Straßenhund ganz getrost streicheln. Ich habe ihm so viele Pampers-Windeln Größe 4 gekauft, dass sie für eine ganze Woche reichen und noch immer nicht aufgebraucht sind. Rexas Kopf passt quer in meine rechte Hand. Seine mit Buchweizenbrei beschmierte Schnauze hängt über meiner Hand, die andere Seite seines Kopfes ist von Zecken befallen.

»So ein schöööner Junge!«

Der Tierarzt und das Herrchen des Irischen Setters drehen sich gleichzeitig zu Rexa um. Ein Mutterherz ist schon etwas Besonderes, denn der rötliche Schäferhundmischling entspricht keinerlei Schönheitskriterien. Der hartgesottenste Kubist würde beim Anblick dieses schäbigen Skeletts aufschreien. Noch dazu hatte ihn Arthur vor der OP am Fuß rasiert und diese Stelle ist nach zwei Wochen immer noch so kahl wie eine koschere Rinderkeule über dem jüdischen Fleischerladen.

Ein Deutscher tritt triefend nass aus dem Regen herein, als hätte er den Zweiten Weltkrieg gerade erst verloren. Keti, die Tierärztin, erzählt mir, er hätte auf der Rennbahn ein Pferd gesehen, das nur aus Haut und Knochen bestand und »Skelett« heißt. Er will es zu seinem Vater auf die Farm schicken. Keti sagt, sie konnte ihn auch für unseren schielenden Jeko gewinnen. Er adoptiert ihn gemeinsam mit dem jaulenden Wollknäuel von Hund, das nach Neujahr im Müllcontainer steckte, und nimmt beide mit nach Düsseldorf. Mein lahmer Vierbeiner bräuchte auch einen gutmütigen Ausländer, klage ich Keti, die es dem Deutschen übersetzt. Er wirft Rexa nur einen kühlen Blick zu, ich muss wohl nach einem anderen Deutschen Ausschau halten. Düsseldorf ist eine große, unansehnliche Stadt, ich bin schon mal dort gewesen. Obwohl das einem Hund einerlei sein kann und erst recht einem Pferd.

Tea sagt, ich soll Rexa ja nicht verlassen, bis er jemanden in Deutschland gefunden hat. Das könnte ich sowieso nicht tun. Wenn ein Hund auf der Straße von einem Auto angefahren wird, soll man ihm lieber nicht in die Augen schauen, denn er beginnt im Schock wohlartikuliert zu reden. Rexa sprach mich zum Beispiel mit meinem Namen an: »Frau Eka, helfen Sie mir. Stellen Sie sich vor, ich wäre einer Ihrer Patienten. Mein Leben ist nicht weniger dramatisch.«

Bald erweiterte sich mein Freundeskreis um zwei wichtige georgische Hundeliebhaber, selbstverständlich zwei Frauen. In meinem Land gibt es auch Männer, die Hunde lieben, nur fürchten sie die gesellschaftliche Verachtung. Ich denke dabei an die beiden Tierärzte des städtischen Tierheims, an den Mann von der Stadtverwaltung, der sich um angefahrene Tiere kümmert, an die Typen von der Einsatzgruppe des Tierheims, von denen einer Kobra genannt wird. Er hat früher mal im Zooterrarium gearbeitet. Ein riesiger, gelber Python hatte sich so an ihn gewöhnt, dass er ihn direkt auf den Mund küsste, wenn er lange weggeblieben war. Er gab ihm dann einen Kuss auf die Augen und nannte ihn dabei »Papas Schal«. Es gibt da noch zwei Tierärzte (für die zweite Meinung) und den Chirurgen Arthur, der Röntgenbilder immer gegen die Sonne hält und meinem Rexa das Bein mit drei Schrauben verkehrtherum angeschraubt hat.

2.
Casta Diva

»Tea, ich habe es zu Ende geschrieben. Ich hoffe, es klingt beeindruckend.«

»Hm, es fehlt da am Dramatischen. Willst du nicht etwas mehr Mitleid erregen?«

»Was kann ich denn daran noch ändern?«

»Also gut, den letzten Absatz schreibe ich selbst. Du hast doch bestimmt in deiner Jugend Victor Hugo gelesen?«

»Was müssen wir Tanja zahlen, hat sie was gesagt?«

»Du denkst immer nur ans Geldausgeben. Sie will nichts dafür.«

»Sie wird ihn doch nicht umsonst pflegen?«

»Letztens habe ich ihr Body- und Gesichtslotion gebracht. Nächste Woche bekommt sie Ischias-Medikamente von mir. «

»Du denkst, Body- und Gesichtslotion reichen dafür aus? Vielleicht fragen wir sie direkt?«

»Was ist, hast du zu viel Geld?«

»Ich könnte ihr 300 Lari im Monat zahlen.«

»Wenn diese Regierung aufhört, Leute im Gefängnis zu foltern, wirst du noch vor Hunger umkommen. Spar dir lieber dein Geld.«

Sie gleicht einer Unzurechnungsfähigen. Wer aber den konspirativen Geist einer Mata Hari in Verbindung mit dem revolutionären Elan eines Che Guevara erleben will, muss auf jeden Fall Tea kennenlernen. Dabei habe ich vergessen, Gandhis Gerechtigkeitsgefühl und Florence Nightingales Güte zu erwähnen.

»Awto, dein Hund, den du auf die Straße gesetzt hast, ist tot. Er hat drei Monate im Tierheim auf dich gewartet, ehe er eingeschläfert wurde. Ich komme gerade von dort.«

Sie wirft es ihm mitten auf der Straße vor und geht weiter.

Awto steht wie angewurzelt da und wird von zahlreichen »He, du hast sie wohl nicht alle« und hupenden Autos auf den Bürgersteig geschwemmt.

»So ein Arsch, wegen ihm konnte ich den Hund nicht nach Deutschland zur Adoption geben, er gehörte ihm. Dann wurde der Hund von einem Auto angefahren und er hat ihn nicht mal im Tierheim besucht. Man sollte ihn an den Eiern aufhängen, an denen er sich dauernd kratzt, dieser Onanist!«

»Wenn er das vor Leuten tut, heißt das Exhibitionismus, Tea.«

»Komm, ein bisschen schneller, wenn du bei uns noch was essen willst. Mamaaa … Eka ist mitgekommen, sie ist total unterzuckert. Gibt’s was zu essen?«

»Ach Gott, meine Liebe, stirbst du, wenn du nichts isst?«

»Nein, mir wird nur übel, ich habe keine klinische Diabetesform.«

Teas Schwester ist Opernsängerin. Sie sitzt im Nebenzimmer am Flügel und singt aus vollem Hals Arien. Tascho, dem pechschwarzen Dackel, gefällt das nicht besonders, aber er begleitet sie mit herzzerreißendem Geheul.

»Sag ihm, er soll still sein, sonst bring ich ihn um, ich schwöre es!«

»Tascho, halt still, sonst schneidet dir diese Verrückte wirklich die Kehle durch.«

Taschos Geduld hält aber nicht lange an und schon bald hört man auf der ganzen Straße ein verzweifeltes Duett von Hund und Mezzosopran.

»Du bist Psychiaterin, meine Gute, nicht wahr?«, fragt mich Teas Mutter mit einem Stück Fleisch in der einen und dem Messer in der anderen Hand.

»Mama, warum kommst du wie eine Massenmörderin daher, leg doch wenigstens das Messer weg.«

»Ich will dir jetzt ganz schnell die Tragödie meines Lebens erzählen.«

»Hör ihr gut zu. Sie wird dir Sachen erzählen, die dich gleich für die höhere Psychiatrie qualifizieren«, meint Tea.

»Hier in der Familie sind alle verrückt, außer mir. Das hast du bestimmt schon gemerkt, wir sind ein richtiges Zigeunerlager. Seit heute Morgen gehen hier Gäste ein und aus. Mein Mann glaubt, dass unsere Wohnung ein Restaurant ist. Zum Schluss war nur noch eine Schüssel Borschtsch übrig, die ich der Gesangslehrerin angeboten hab. Jetzt bin ich dabei, Brot zu rösten.«

Ich gehe zur Toilette und drücke gerade die Türklinke runter, als mich jemand von hinten an der Taille fasst. Ich drehe mich um und sehe eine winzige Frau vor mir stehen, die mich anlächelt.

»Haben sie dir das schon gesagt, ich bin Teas Tante«, sagte sie auf Russisch.

»Sehr angenehm, ich bin Eka.«

»Ich weiß, ich weiß, du bist eine Ärztin für Verrückte. Hier kannst du ganz gut üben, wenn du öfters herkommst.«

»Werd ich versuchen.«

Ich gehe rückwärts zur Toilette.

»Geh schon, geh, ich werde hier warten.«

Nachher steht sie tatsächlich immer noch vor der Toilettentür und spricht mit mir auf gut Georgisch weiter.

»Bald werde ich auch noch verrückt. Drei Hunde, der eine hasst Opern, die anderen zwei hassen uns. Ich weiß nicht mal, wohin ich flüchten kann?!«

Sie spricht kaum zu Ende, da wird es im Hof so laut, dass keiner mehr an den Mezzosopran und an Taschos Performance denkt.

»Sie bringen sich noch um!«

Teas Vater sehe ich zum ersten Mal im Leben und noch dazu mit einer Schaufel in der Hand.

»Schlag ihn nicht zu arg, hol nur einmal aus und dann ist es gut … Hast du verstanden? Ich habe einen Idioten geheiratet. Wohin hab ich bloß geschaut!«

»In den Arsch«, sagt die winzigkleine Frau.

»Jetzt mach mich nicht verrückt!«

3.
Erleuchtung

»Frau Eka, ich versuche seit einer Woche, Sie anzurufen, Ihr Handy ist aus. Ich dachte, Sie sind nicht in Georgien. Anno sagte mir, was los war. Hoffentlich sind Sie wieder gesund?«

»Sura, wie geht’s? Willst du diese Woche kommen?«

»Ja gern, aber es geht um eine Bekannte. Sie spricht mit niemandem und ist sehr niedergeschlagen. Dass sie sich nur nichts antut! Sie kann meinen Termin haben, falls nötig. Darf sie kommen?«

Eine hochgewachsene, magere, sehr ernste Frau tritt ein, um die siebenunddreißig Jahre alt, in zerrissenen Jeans, einem lässigen T-Shirt und kakifarbigen Sportschuhen. Sie setzt sich und fängt sofort zu reden an, ohne mir Zeit zu geben, sie zu begrüßen.

»Was ich Ihnen erzähle, ist weder ein psychotischer Zusammenbruch noch eine traumatische Dissoziation. Wenn ich bei den ersten drei Sätzen merke, dass Sie an dem zweifeln, was ich sage, stehe ich auf und gehe. Sie sind die vierte Psychologin, die ich besuche.«

»Nita, sind Sie selbst Psychologin von Beruf?«

»Nein, ich bin Ingenieurin für Straßen- und Brückenbau.«