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Barbara Frischmuth

Machtnix

oder
Der Lauf, den die Welt nahm

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© der Erstausgabe 1993 Residenz Verlag, Salzburg und Wien
© 2018 Residenz Verlag GmbH, Salzburg–Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin/buero 8

ISBN E-Book 978 3 7017 4580 7
ISBN Print 978 3 7017 1703 3

Alles, was man denken kann, denkt selbst.
Novalis

Den Kindern, die die Welt
in diesem Zustand vorfinden
.

Inhalt

WIE AUS MACHT NIX MACHTNIX WURDE UND SIE DER ZWEIFALTIGEN KRÖTE BEGEGNETE

DER KRIEG SETZT WEITERE HAUFEN

DIE ENTSTEHUNG DER WELT

DIE BESCHAFFUNG VON BROT

WIE DIE KRÖTE UNBEDINGT IN DIE VERSUCHSSTATION WOLLTE

DIE UREIGENEN LAICHSCHNÜRE

DER ERHALT DER BOTSCHAFT

ERFAHRUNGEN VOM HÖRENSAGEN

KLEIN-GOTTFRIED FÄLLT AUS ALLEN WOLKEN

WO DIE BOTSCHAFT HERKAM

WIEDER UNTERWEGS

DIE ARMENSTADT

VOM ARSCH DER ERDE ZU IHREM ANGESICHT

DIE ELITE DER FAMILIE

DIE SPIEGELSTADT

FRAU HOLLE & CO

BANG SO BANG

DER DURCHRUTSCH

WAS DAHINTERSTECKT

NICHTS WIRD VERGESSEN

WAS NUN?

WIE AUS MACHT NIX MACHTNIX WURDE UND SIE DER ZWEIFALTIGEN KRÖTE BEGEGNETE

Der Krieg war zu Kräften gekommen und mischte sich andauernd ein. Er kam überall hin und konnte jede beliebige Gestalt annehmen. Das Mädchen hatte er aus seinem Haus vertrieben, aus seiner Stadt und aus seinem Land. Er stank Tag und Nacht durch die Gegend. Gerade hatte er wieder einen großen Haufen hingesetzt, und als das Mädchen näher kam, waren es lauter tote Frösche.

»Sei kein Frosch«, rief der Bursche, dem das Mädchen schon im Lager begegnet war, »sonst muss ich dich auch aufspießen!«

Das Mädchen schob die Unterlippe vor. »Macht nix!« Der Krieg zerplatzte beinah vor Wut, und der Bursche näherte sich mit seinem hölzernen Spieß. Damit schlug er dem Mädchen auf die Knie.

Da kam zufällig die zweifaltige Kröte angewatschelt und blies sich auf, dass ihre Giftdrüsen sich nur so beulten.

»Das ist ja gar kein Frosch!« Der Bursche erschrak und rannte mit seinem Spieß davon.

Da schaute die zweifaltige Kröte dem Mädchen unter den Rock und machte »Hm!« Dann schaute sie dem Mädchen ins Gesicht und fragte: »Woher kommst du?«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Wer sind deine Eltern?«

Das Mädchen antwortete wieder nicht.

»Und wie heißt du?«

Das Mädchen antwortete noch immer nicht. »Entschuldige, ich konnte ja nicht wissen, dass es so schlimm ist.«

»Macht nix!«, sagte das Mädchen.

Dieser Satz war ein Zauberspruch. Er machte unverwundbar und stammte aus dem Lager, wie der Bursche, der die Frösche aufgespießt hatte.

»Irgendwie muss ich dich ja nennen.« Die zweifaltige Kröte blinzelte. »Die Menschen werden einander von Tag zu Tag ähnlicher, und ich möchte dich nicht verwechseln.«

»Macht nix!«, wiederholte das Mädchen.

»Also gut, das hätten wir.« Die zweifaltige Kröte sah aus, als denke sie nach. »Ich will sehen, was sich mit diesem Namen anfangen lässt. Macht Macht mächtig oder macht Macht ohnmächtig? Wer weiß, was so ein Nix, ein Nixchen alles fertigbringt?!«

Die zweifaltige Kröte schaute Machtnix an, und Machtnix schaute die zweifaltige Kröte an, in deren Augen Goldstaub schwamm.

Außer dem, was es auf dem Leibe trug, war dem Mädchen nichts geblieben als eine Tube Klebstoff, die es aus dem Büro des Lagerleiters mitgenommen hatte.

»Ich will mich nicht erinnern«, sagte Machtnix in der Sprache, die ihr gerade einfiel. In ihrem Kopf waren keine Eltern, kein Haus und kein Name mehr.

»Eine ehrliche Antwort«, gab die Kröte zu, »und nun zu mir …«

»Herrlein oder Fräulein?«

Machtnix bohrte mit ihrem Turnschuh ein Loch in den Weg, den sie gekommen war.

Die zweifaltige Kröte hob den Kopf. »In meinem Alter nimmt man es nicht mehr so genau. Einmal so und einmal so. Einerseits bin ich Dem Krottok, der Schöpfer …«

»Der Schöpfer?«

»Ich war an der Schöpfung der Welt beteiligt, wenn du verstehst, was ich meine.« Die Kröte lächelte selbstgefällig.

Machtnix überlegte. »Bist du sicher, dass es nicht wegen deinem Maul ist? Es schaut einem Schöpfer ziemlich ähnlich.«

Die Kröte überging Machtnix’ kränkenden Vergleich. »Und andererseits bin ich Bufo-ma-bufo, die Mutter aller Kröten. Aus meinen Laichschnüren sind nämlich alle anderen Lebewesen entstanden.«

»Aus deinen was?« Machtnix riss die Augen auf.

»Aus meinen ureigenen Laichschnüren, glaub es oder glaub es nicht!«

Machtnix schaute verdattert.

»Sehr gebildet scheinst du nicht zu sein. Aber wenn du ein wenig Geduld hast, zeige ich dir schon noch, wo das mit den Laichschnüren hinführt.«

Sie befanden sich an der Grenze und überlegten, wie sie am besten hinüberkämen. Der Krieg hatte alles zur Grenze gemacht, die Berge, die Wälder, die Flüsse, die Seen, und wenn es ihm gerade einfiel, konnte auch ein Feld die Grenze sein oder ein Dorf, ja sogar die Straße. Sie versuchten also, die Grenze hinter sich zu lassen, indem sie sich nicht um sie kümmerten. Sie hatten Glück. Auch die Grenze kümmerte sich nicht um sie. So gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her und ließen die Sonne auf sich herunterscheinen.

»Gehörst du zu einem Volk?«, fragte die zweifaltige Kröte.

»Volk? Was soll das denn schon wieder sein?«

»Volk«, erwiderte die Kröte, »das sind die, die einem wie mir volken, wenn du verstehst, was ich meine. Darum sind sie mein Volk.«

Machtnix überlegte. »Ich dachte, es heißt folgen.«

Die Kröte schloss vor Genugtuung die Augen. »Womit bewiesen ist, dass du zu einem anderen Folg gehörst.«

Plötzlich setzte sich Machtnix.

»Hungrig?« Die zweifaltige Kröte schnappte sich einen Käfer vom nächsten Blatt und schluckte ihn ohne viel Federlesens.

Machtnix nickte, und da kein Butterbrot des Weges kam, holte sie die kleine Tube hervor, strich sich ein wenig von dem Klebstoff auf den Handrücken und schnüffelte daran.

»Was ist das für eine Unart?«, fragte die Kröte, während sie nach dem nächsten Gabelbissen Ausschau hielt.

Machtnix zuckte mit den Achseln und verdrehte die Augen.

»Wenn du hungrig bist, dann iss!«, sagte die Kröte im Befehlston. »Man ist, weil man isst.«

Machtnix starrte alles mögliche an, aber es wurde nichts Essbares daraus.

»Das kommt davon, weil ihr Menschen mit dem Kochen angefangen habt, glaub es oder glaub es nicht.« Die zweifaltige Kröte wischte sich ein Käferbein vom Saum ihres breiten Maules. »Und was ist dabei herausgekommen? Schmutzige Teller und sonst nichts.« Sie setzte sich in Bewegung. »Ich kenne da einen Baum, der dir vielleicht helfen kann.«

Als sie an dem Haufen toter Frösche vorbeikamen, blieb die Kröte stehen und schimpfte: »Diese Verschwendung!« Sie hob den Blick suchend zum Himmel auf. »Wann immer einer dieser klappernden Aasgeier vonnöten wäre, lässt sich kein Schwanz blicken. So ist das. Wir brauchen uns wirklich nichts einzubilden auf diese Welt.«

Sie gingen weiter, und als sie eine Weile gegangen waren, stellte sich ihnen ein Zaun in den Weg, ohne viel gegen sie auszurichten. Machtnix betrachtete den Zaun aufmerksam – es handelte sich um einen Bretterzaun –, dann kletterte sie über die Balken, während die Kröte bequem unten durch ging. Eigentlich zäunte der Zaun gar nichts ein, oder er lief um ein so großes Stück Land, dass man ihn nur auf dieser Seite sehen konnte.

Sie wandelten über eine Wiese, auf der das Schaumkraut wie ein Spitzentaschentuch lag. Büsche und Sträucher hatten ihre Blätter entfaltet und setzten gerade grüne, noch sehr harte Beeren an, an denen Vögel vergebens die Schnäbel wetzten, während die Wegwarten an den Wegrändern freundlich dazu nickten. Grenze hin, Grenze her, die Kröte hatte ohnehin etwas gegen öffentliche Verkehrswege, vor allem gegen Asphaltstraßen. Manch eine ihrer Art hatte für den geraden Weg als Schatten ihrer selbst gebüßt. Also nahmen sie lieber alle möglichen Windungen und Wandungen in Kauf und gingen querfeldein, wo auch die Grenze nicht mehr den richtigen Biss hatte.

Plötzlich hielt die zweifaltige Kröte inne und deutete mit dem Kopf nach vorn. »Siehst du diesen Graben?« Machtnix sah diesen Graben, aber es schien ihr nichts Besonderes an ihm zu sein, führten doch Treppen hinunter und auf der anderen Seite, wenn auch um ein Stück verschoben, wieder hinauf.

»Die Sache ist nämlich die, dass sich durch diesen Graben eine Schlange schlängelt. Und Schlangen lieben Kröten von alters her.« Die Kröte lachte so unbefangen, wie es nur gehen mochte. »Sie haben sie zum Picknicken gern, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Verstehe.« Machtnix machte sich noch immer nicht die Mühe, ich zu sagen.

»Bei dir ist es etwas anderes. Dich beißt sie, aber nur, wenn du auf sie trittst.«

Die zweifaltige Kröte umklammerte Machtnix’ Beine. »Nimm mich hoch!« Wahrscheinlich konnte sie die Schlange schon riechen. »Du musst die Krot ja nicht schlucken! Es genügt, wenn du sie an die Brust nimmst!« Sie verkutzte sich beinah an ihrem eigenen Witz.

Machtnix bückte sich, nahm die Kröte in beide Hände und setzte sie sich auf den Kopf. Da machte sie sich gut als verknautschter Hut, noch dazu konnte sie sagen, wohin es gehen sollte.

Die Schlange musste längst Wind von der Sache bekommen haben, denn als Machtnix die Treppe hinunterstieg, kam sie schon angezischelt. Sie hatte eine Abneigung gegen Menschen, aber der Krötenduft zog sie unwiderstehlich an. Also ringelte sie sich neben Machtnix her, die sehr darauf achtete, nicht auf sie zu treten, und züngelte mit ihrer schnuppernden Zunge auf Teufel komm raus. Machtnix schwitzte, als sei die Kröte hundertmal so schwer, und ihre Knie wurden immer steifer.

»Was bist du für ein merkwürdiges Wesen?« Die Schlange nuschelte beim Sprechen. »Siehst aus wie ein Mensch und schmeckst nach Kröte. Erstaunlich, äußerst erstaunlich.« Die Schlange sprach auch noch mit einem S-Fehler.

Machtnix konnte die andere Treppe, die aus dem Graben wieder hinausführte, bereits sehen, was ihr wenig half, denn die Schlange legte es geradezu darauf an, von ihr getreten zu werden, so oft schlang sie sich unter ihren Beinen durch.

»Ich könnte dich ohne weiteres beißen!«

»Kannst du nicht«, widersprach Machtnix, was die Schlange dermaßen überraschte, dass sie über den eigenen Schwanz stolperte und sich mit sich selber verknotete. Machtnix begann zu laufen, und als die Schlange wieder aus sich herausgefunden hatte, stieg Machtnix bereits die Treppe empor. Da hatte die Schlange das Nachsehen, sie war eine bekannt schlechte Stufensteigerin.

Oben angekommen, bückte sich Machtnix und ließ die Kröte, die »gewonnen, gewonnen!«, schrie und gleich darauf bedächtig fragte: »Na, wie haben wir das wieder hingekriegt?«, herunter. »Dazu noch die Aussicht von deinem Kopf. Ich bin begeistert.«

Aus der Wiese wurde mit der Zeit ein Obstgarten, in dem alles durcheinanderwuchs. Manche der Bäume waren kahl, andere verblühten gerade oder trugen erst ganz kleine, grüne Früchte, die wie unreife Stachelbeeren aussahen, an anderen hinwiederum hatte sich das Laub bereits verfärbt.

»Äpfel gibt es hier immer, glaub es oder glaub es nicht.«

Machtnix spürte, wie ihr Speichel troff. Sie schloss rasch den Mund und folgte der Kröte auf dem Fuß, und da sie diesmal weniger achtgab als bei der Schlange, trat sie ihr auf den Schwimmzeh. Die zweifaltige Kröte wurde im Augenblick doppelt so groß, und ihre Giftdrüsen dampften, aber dann besann sie sich und jammerte nur ein bisschen, während Machtnix zur Entschuldigung schwieg und nicht einmal »macht nix!«, sagte.

Die Kröte überschlug sich beinahe, so plötzlich war sie stehen geblieben. In Machtnix’ Nase kroch Apfelduft, wenn auch gemischt mit etwas Ekligem. Diesmal stank der Krieg aus einem anderen Loch, und Machtnix, die der Nase nachgegangen war, stieß mit dem Kopf gegen die durchlöcherten Stiefel eines Mannes, der vom stärksten Ast des Apfelbaumes hing. Sie sprang auf die Seite und starrte mit Augen wie Serviettenringe auf den sich an seinem Strick drehenden Toten. Und obwohl sie sich an nichts erinnern wollte, schon gar nicht an die Uniform, in der die Leiche steckte, kam mit der Spucke das Wort aus ihrem Mund. »Volkskrieger!«

Die zweifaltige Kröte sperrte das Maul auf, hüpfte näher heran und schimpfte lauthals: »So etwas muss einem erst einfallen, sich gegenseitig in die Bäume zu hängen!«

Machtnix schluckte ihre Spucke. »Vielleicht hat er es selbst getan.«

»Selbst?« Die Kröte hatte schon wieder das Maul aufgerissen, wobei sie sich vor Grausen schüttelte. »Man kann mir alles mögliche vorwerfen, nicht aber, dass ich es nicht vorhergesehen habe. Es war nicht vorherzusehen. Sich selbst in einen Baum zu hängen …«, jammerte sie. »Ohne Rücksicht auf die Folgen. Ich hatte mir schließlich etwas gedacht dabei, als ich die Lurche aus dem Urschlamm holte.«

»Und was?«, fragte Machtnix.

Die zweifaltige Kröte schien es vergessen zu haben. Sie versuchte erst gar nicht zu antworten, sondern blieb bei ihrer Jeremiade. Und sie hatte recht. Der Gestank hatte alle Äpfel verdorben.

»Alles hat Folgen, und daraus folgt, dass in der Folge alles verfault.«

Sie machten sich wieder auf den Weg, und die Kröte behauptete, es gebe noch einen dieser Apfelbäume, die immer Äpfel tragen.

Machtnix holte die kleine Tube aus ihrer Rocktasche und schmierte sich ein wenig Klebstoff auf den Handrücken, um den Gestank zu übertönen. Die Kröte beobachtete sie dabei und bat dann, ihr ein klein wenig abzugeben. Sie war neugierig, ob es helfen würde. Machtnix hielt ihr die offene Tube unter die Nase, und gleich darauf fiel die Kröte um. Und das war das erste Mal, dass Machtnix lachte. Niemand sah, niemand hörte es.

Als die Kröte wieder zu sich kam, richtete sie sich auf, als sei nichts geschehen, und hüpfte los, obgleich sie noch taumelte. Da setzte Machtnix sie sich wieder auf den Kopf, bis sie zum nächsten Apfelbaum kamen.

Diesmal war es der reine Apfelduft. Die Äpfel prangten handtellergroß und hatten je eine gelbe und eine rote Backe. Da gab es für Machtnix kein Halten mehr, und sie griff gehörig in die Äste. Der Hunger ließ sie den ersten Apfel mit einem einzigen Biss in zwei Hälften spalten.

»Möchtest du?« Sie hielt die eine Hälfte der Kröte, die noch immer auf ihrem Kopf saß, unter die Nase, aber die wehrte heftig ab. »O nein, danke!«, rief sie mehrmals. »Ich weiß zwar nicht mehr genau, wie die Geschichte ausgeht, aber irgend etwas ist auch an diesen Äpfeln faul.« Und dann fügte sie noch hinzu: »Auch Äpfel können einem schwer im Magen liegen.«

»Macht nix!«, sagte Machtnix und schlug sich den Bauch so voll, wie er sich nur vollschlagen ließ. Und als sie sich schließlich mit beiden Händen draufschlug, spannte er sich wie eine Trommel vor ihrem Leib, die einen dumpfen Ton von sich gab. Daraufhin legte sie sich ins Gras und schloss die Augen, während die Kröte sich unter einem der Steine ein paar Schnecken hervorfingerte.

Mit den Äpfeln hatte es tatsächlich eine Bewandtnis, sie machten merkwürdige Träume. Mit einem Mal sah Machtnix eine Gasse, die zwischen semmelgelben Häusern mit grünen Jalousien hindurchführte, die wiederum von schmiedeeisernen, mit Geissblatt überwachsenen Zäunen von ihr getrennt waren. Und je länger sie die Gasse entlangspazierte, desto lieber war ihr alles, so lieb, dass sie sogar die Stimme des bellenden Hündchens wiederzuerkennen glaubte. Sie schrie und riss die Augen ganz weit auf, bis die Gasse und das Hündchen wieder verschwunden waren.

Die zweifaltige Kröte schaute ihr besorgt ins Gesicht. »Wer sagt es denn?! Alles hat Folgen, wenn du verstehst, was ich meine.« Sie kratzte sich an den Giftdrüsen. »Ich hatte eine lurchgerechte Welt im Sinn. Ich und die meinen, eine geglückte Schöpfung, da kannst du sagen, was du willst. Und was waren die Folgen? Vor allem dein Folg …« Die Augen der Kröte schwammen im Goldstaub und ertranken fast darin. »Erdkröte, Geburtshelferkröte, Wechselkröte, von den verschiedenen Fröschen gar nicht zu reden. Ich habe mir etwas einfallen lassen für diese Welt.« Die Stimme der Kröte bebte einerseits vor verletztem Schöpferstolz. »Und doch ist letztlich nichts als der Mensch dabei herausgekommen. Man hat nichts dagegen tun können«, quäkte sie und fuhr sich über den Bauch. »Aus diesen meinen Laichschnüren. Glaub es oder glaub es nicht. Aus diesen meinen ureigenen Laichschnüren.

Ich hatte zu viel darin angelegt, wenn du verstehst, was ich meine. Der Mensch ist die übertriebenste Spielart meiner Anlagen. Da wendet sich selbst ein Schöpfer mit Flausen.«

Machtnix starrte noch immer mit weitaufgerissenen Augen vor sich hin, und die zweifaltige Kröte verfiel in einen anderen Ton.

»Entschuldige, das war nicht persönlich gemeint. Einige meiner besten Freunde waren Menschen. Aber du siehst ja selbst, was alles geschieht auf dieser Welt.«

»Ich will mich aber nicht erinnern«, stöhnte Machtnix und drückte sich wieder einen Tropfen Klebstoff auf den Handrücken.

»Bitte, mir auch!« Die Kröte hielt ihren Daumen hin und Machtnix wischte mit der Tube darüber, bevor sie sie wieder verschloss.

Diesmal blieb die Kröte aufrecht sitzen, und Machtnix lachte auch nicht.

DER KRIEG SETZT WEITERE HAUFEN

Machtnix hatte sich die Taschen mit Äpfeln vollgestopft, denn der Hunger war zudringlicher als eine Laus, und wenn gar nichts anderes aufzutreiben war, würde sie eben ein wenig Erinnerung in Kauf nehmen müssen. Sie und die Kröte hatten die Nacht in einem alten Heuhaufen zugebracht, nicht weit von einem blinden Huhn, das eigentlich ein kriegsblindes Huhn war, obwohl es den Krieg nie gesehen hatte. Es hatte die Augen geschlossen, als die Granate explodierte, die ihm die Sicht raubte. Anstelle eines Apfelfrühstücks hatte Machtnix dem Huhn das noch warme Ei weggenommen, das dieses gerade gelegt hatte. Warum musste es auch so ein Geschrei darum machen?! Sie schlug mit dem Zahn ein Loch in die Schale und trank es, während das Huhn, das gar nicht so dumm war, »Wohl bekomm’s!« sagte. Dann grub es eine Mulde in den trockenen Sand der Heidelandschaft und badete darin.

»Bist du am Ende gar nicht blind?« Machtnix war misstrauisch geworden.

Das Huhn hielt seine ausgelaufenen Augenhöhlen gegen die aufgehende Sonne, die gerade einen der entfernten Kalkgipfel streifte. »Ich konnte dich schlürfen hören.« Es fuhr mit dem Schnabel, nach Fressbarem suchend, über den Boden, an dem sich stellenweise kleine Mooshügel gebildet hatten, wobei es sich ganz auf seinen Spürsinn verließ.

»Alles, was ich dir dafür geben könnte, ist ein Apfel, bei dem du dich erinnern musst«, sagte Machtnix ein wenig schuldbewusst.

Das Huhn schüttelte sich, bis sein Gefieder strahlend weiß geworden war. »Lass nur, ich kann Eier ohnehin nicht ausstehen, wenn du mich fragst.«

»Und warum nicht?« Eigentlich wollte Machtnix es gar nicht wissen, aber da ihr die Frage nun einmal herausgerutscht war, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Antwort abzuwarten.

»Dieser ewige Streit, seit man die Zeit erfunden hat …«

»Wie?« Machtnix interessierte sich nun doch ein bisschen.

»Nun, wer zuerst da war.« Das Huhn bewegte sich tatsächlich wie ein blindes Huhn, langsam, tastend, aber es kam vom Fleck. »Es hat in dieser Sache sogar Kriege gegeben.«

Jetzt hielt die zweifaltige Kröte es nicht mehr aus. »Was für eine Frage?! Wo doch beides gleichzeitig in meinem Plan vorhanden war. Ich gebe zu, das mit der Zeit war keine besonders gute Idee, und eigentlich gehört sie zu den Folgen, die alles hat. Wenn ich nämlich von Anfang an gewusst hätte … aber was soll’s, zu spät.«

»Ist das das Wesen, das sich einbildet, die Welt erschaffen zu haben?«, flüsterte das blinde Huhn. »Ich habe schon von ihm gehört. Muss ziemlich anstrengend sein, mit ihm zu wandern.« Das Huhn hatte einen Wurm erwischt und versuchte, ihn ein wenig emporzuschleudern, damit er ihm in den Schnabel fiele, ohne sich weiter um ihn herumzuwinden oder zu beiden Seiten herabzuhängen. Es tat das gelassen und hatte auch bald Erfolg, ohne den Wurm je erblickt zu haben.

Machtnix und die Kröte wurden ein bisschen schneller, während das blinde Huhn zurückblieb. »Gib mir die Schalen wieder. Ich brauche den Kalk für das nächste Ei.«

»Ich dachte, du kannst Eier nicht ausstehen?« Die Kröte schüttelte verständnislos den Kopf.

»Aber ja. Darum bin ich auch so froh, wenn ich wieder eines rausgedrückt habe.«

Machtnix brachte dem Huhn die leeren Schalen, und sie und die Kröte gingen weiter ihres Weges. »Ich hätte es nicht einmal zu einem Schnabel kommen lassen dürfen. Genaugenommen kann auch schon ein Schnabel als Waffe dienen. Und beim Fressen ist er nur hinderlich. Hast du gesehen, wie umständlich es sich den Wurm reingezogen hat? Da lachen ja die Frösche.« Und die zweifaltige Kröte holte sich mit einem eleganten Zungenschlag ihr Zusatzhäppchen in Form einer noch morgensteifen Libelle aus der Luft, ohne dabei auch nur den Kopf zu drehen. »Wenn du verstehst, was ich meine.«

Es war ein herrlicher Tag, mit einem alles überstrahlenden, einäugigen Himmelsangesicht, das sich nur im Westen ein winziges Wolkenbärtchen stehen ließ, und die Wiesen atmeten auf in dem zahmen Wind, der den Blüten die Kelchblätter strählte. Der Wald im Hintergrund schwang leise mit und ließ die Häher aus purem Mutwillen kreischen. Der Bach, an dem Machtnix und die Kröte entlanggingen, leckte keck an der Uferböschung, umkreiste gurgelnd einen bemoosten Stein und knabberte an den Wurzeln einer Trauerweide, die die Wasserratten bloßgelegt hatten, gleich darauf gebärdete er sich wie ein Wasserfall und sprang eine Stufe hinunter.

Es hätte eine bemerkenswert friedliche und angenehme Wanderung werden können, wären nicht schon aus der nächsten Talsenke furchtbarer Lärm und sengender Brandgeruch aufgestiegen. Machtnix und die zweifaltige Kröte verließen den Weg, schlugen sich über die abgemähten Wiesen zum Wald hin durch und kletterten schließlich auf einen kleinen Felsvorsprung, von dem aus sie sehen konnten, was sich unten zutrug.

Volkskrieger und Landeskrieger waren aufeinandergestoßen, und da keiner dem anderen traute und keiner die Sprache des anderen verstehen wollte und keiner bereit war, sich zurückzuziehen, hatten sie ein wüstes, ohrenbetäubendes Palaver angefangen, und während sie noch aufeinander einplärrten, schossen sie bereits und warfen Handgranaten durch die Luft, als wären es Handbälle, und wer dumm genug war, eine davon zu fangen, explodierte mit ihr.

»Aus meinen Laichschnüren, aus meinen ureigenen Laichschnüren …«, jammerte die zweifaltige Kröte angewidert vor sich hin. »Sieh sie dir an, sie werden sich gegenseitig ausrotten.«

Machtnix hielt sich die Augen zu.

»Hörst du?« Die Kröte klang ziemlich aufgeregt. »Hörst du sie rufen?«

Machtnix schüttelte den Kopf. Wie sollte man bei dem Krach auch nur ein einziges Wort verstehen.

»Sie rufen nach dem großen Garscht.« Die Kröte lauschte wieder eine Weile, dann wandte sie sich Machtnix zu. »Das war einmal einer meiner vielen Namen.«

»Garscht?« Der Name klang ziemlich hässlich, und Machtnix hatte ihn noch nie gehört, oder sie erinnerte sich nicht daran.

Die zweifaltige Kröte fuchtelte ergriffen mit den Armen. »Sie verstehen nicht, dass es immer um ein und dasselbe geht. Bloß die Namen sind verschieden. Und dafür bringen sie einander auch noch um. Dabei ging es von Anfang an immer nur um das eine …«

Die Kröte hüpfte verzweifelt davon. Machtnix schaute ihr verständnislos nach. »Um das eine? Du meinst um dich?«

Und dann tauchte die Kröte plötzlich in einiger Entfernung wieder auf und wurde größer und größer, so groß, dass sie beinah die Sonne verfinsterte. Ihre Giftdrüsen waren angeschwollen, bis sie aussahen wie Raketen, und ihre Augen sprühten Feuer, während sie sich knirschend und dröhnend auf Machtnix zubewegte. Machtnix konnte gerade noch zur Seite springen, während die Riesenkröte sich weiterwälzte und aus ihrem Maul ein Krachen fuhr, als knacke sie Eisen und spucke es in hohem Bogen von sich. Vor Schreck verlor Machtnix das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, hörte sie ein klägliches Stimmchen an ihrem Ohr. »April! April!« Es war die zweifaltige Kröte, die sich auf geradezu mitleiderregende Weise wichtig machte. Und als sie merkte, dass Machtnix die Augen aufschlug, hüpfte sie um sie herum und rief: »Der große Garscht hat wieder zugeschlagen, da staunst du, was?«

Aber Machtnix kannte den Krieg schon zu gut, um sich täuschen zu lassen. Und die Kröte fügte kleinlaut hinzu: »Sie schrecken vor nichts zurück, nicht einmal vor meiner Gestalt.« Im Wald blieb eine tiefe Schneise voller zerbrochener Äste und geknickter Bäume zurück, und die Luft war erfüllt von Benzingestank, der sich nur langsam verflüchtigte.

»Es geht ihnen nur um das eine, alles kaputtzumachen.« Die Kröte besah sich die Bescherung. »Zuerst brechen sie auf, um irgendwohin zu kommen, und wenn sie da sind, brechen sie alles auf, um dahinterzukommen, was in ihnen steckt. Es steckt also in ihnen, alles kaputtzumachen.«

DIE ENTSTEHUNG DER WELT

Machtnix war von dem Schrecken, den ihr der große Garscht eingejagt hatte, so durstig geworden, dass sie zum Bach hinunterlief, um sich vollrinnen zu lassen. Sie hoffte, keinem Volks- und keinem Landeskrieger mehr zu begegnen, aber die hatten sich mittlerweile wohl schon gegenseitig umgebracht.

»Warte!«, rief die Kröte ihr hinterher. »So warte doch!« Aber Machtnix hörte nicht, und als sie am Bach unten angelangt war, legte sie sich an sein Ufer und trank und trank und trank. Und während sie trank, konnte sie sehen, wie der Wasserspiegel sank und die Höhleneingänge verschiedener Uferbewohner zum Vorschein kamen. Aber sie konnte nicht aufhören zu trinken. Ihr Bauch schwoll an, und ihre Arme und Beine stiegen immer höher, bis sie waagrecht in die Luft standen, und als sie mit dem Mund den Bach nicht mehr erreichen konnte, griff sie sich einen hohlen Wiesenkrautstengel und verwendete ihn als Trinkhalm. Mittlerweile kam auch die zweifaltige Kröte angewatschelt und meinte, als sie das Unglück sah: »Du wirst platzen, wenn du nicht aufhörst zu schmatzen.«

Machtnix zuckte nur mit den Achseln. »Ich kann aber nicht aufhören!« Und da sie tatsächlich nicht aufhören konnte, blubberten nur ein paar Töne aus dem unteren Teil des Trinkhalms.

Da sprang die zweifaltige Kröte ins Wasser, genau vor Machtnix hin, und verschloss mit ihrem Hintern das Trinkrohr. Das war selbst dem Durst von Machtnix zuviel. Er verschwand so rasch, wie er gekommen war, und ließ sie als Kugel zurück.

»Was soll ich jetzt tun?« Machtnix hatte den Trinkhalm fallen lassen. »Ich kann mich nicht rühren und aufstehen schon gar nicht.« Und ihre Arme kreisten hilflos in der Luft.

Die Kröte betrachtete sie ungerührt, und das Gold in ihren Augen wurde immer grünstichiger. »Spuck es aus!«

Machtnix schüttelte den Kopf, der genauso freischwebend wie der einer Spielzeugschildkröte war, spuckte aber dann doch, vielleicht gerade weil ihr Kopf so freischwebend wie der einer Spielzeugschildkröte war. Und schon begann das Wasser aus ihr herauszulaufen und lief und lief und lief und stieg im Bach, so dass die Höhleneingänge der verschiedenen Uferbewohner wieder geschützt waren. Die zweifaltige Kröte ließ ein tiefes, befriedigtes »Unk!« hören, und Machtnix war dermaßen durchgespült, dass sie sich nun, da sie wieder beweglich war, bloß ein wenig aufrichtete, um sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm zu lehnen.

Es war Mittag, und die Sonne durchbrach an einigen Stellen das Blätterdach, zog ein paar goldene Streifen durchs Weidengrün und ließ die eine oder andere Stromschnelle aufblinken, während über allem anderen das zarte Gewicht des Schattens lag, das den letzten Rest von Kühle beschirmte. Gedankenverloren griff Machtnix nach einem der Äpfel und biss hinein. Der große Durst hatte sie hungrig gemacht. Die Kröte hielt sich mit den Armen an einem Stück Wurzel fest, und ihr Körper trieb im fließenden Wasser. Ihre Augen waren von Tränen ertränkt, und sie begann zu erzählen, ohne dass Machtnix sie darum gebeten hätte.

»Glaub es oder glaub es nicht, aber am Anfang war die Gier oder sagen wir besser die Neugier.« Ihre Worte stiegen aus dem Wasser, wie die ersten Lebewesen, die die Lust überkommen hatte, an Land zu gehen.