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Peter Rosei

Karst

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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© 2018 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin/buero 8

Lektorat: Jessica Beer

ISBN Printausgabe: 9783701716906

ISBN E-Book: 9783701745678

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Quellcode

I

Wer kennt die Hohe Tatra nicht? Im Osten, an der Grenze zwischen Polen und der Slowakei gelegen, wird sie gern als kleinstes Hochgebirge der Welt bezeichnet. Niedrig ist sie dabei keineswegs. Das ganze Massiv ist allerdings bloß an die fünfzig Kilometer lang, also bald mit einem Blick zu überschauen. Anders als etwa bei den Alpen gibt es keinerlei Vorberge, unvermittelt erheben sich die Gipfel aus der Ebene. Kahle Felspyramiden, bloß am Fuß von Wäldern und Wiesen eingefasst, erinnern sie an Zeichnungen von Kinderhand: Gerade so, Zack neben Zack, stellen Kinder sich für gewöhnlich ein Gebirge vor.

Unwahrscheinlicher Anblick der blauen und grünen Waldungen, die vor Ruhe und Frieden rauchen, der kahlen, zerrissenen Almgründe, der blanken, von der Sonne überstrahlten Felsen.

Die Kleinstadt Poprad, in der Ebene draußen gelegen, ist Verwaltungsmittelpunkt hier, Sitz der Schulen und Behörden. Am Rand der Berge zieht sich lose eine Kette von Dörfern hin, von Kurorten, früher der Sommerfrische, heute auch und vor allem dem Wintersport gewidmet: Sie sind durch eine Art von Lokalbahn miteinander verbunden.

Nicht nur die Existenz dieser seltsam unzeitgemäß wirkenden Bahn, auch viele andere Kleinigkeiten deuten auf den Ursprung all dieser Einrichtungen in einer längst verflossenen Ära hin, der Zeit der Monarchie, des ehemaligen Kaiserreichs. Freilich hat die mittlerweile vergangene Zeit mit ihren Kriegen, Revolutionen und Umbrüchen die alten Zusammenhänge vielfach zerstört, manches wurde ganz abgeschafft, vieles aber auch bloß um- und wieder aufs Neue umgewidmet und umbenannt. Ein trüber Glanz liegt über dem Ganzen wie der Schleier in einem alten Spiegel.

Die spätere Jana Kelemen wurde als Jana Soukup in die damals noch kommunistische Volksrepublik Tschechoslowakei hineingeboren. Ihr Vater, Jaroslav Soukup, war zuerst Verwalter im Hotel Elisabeth in Starý Smokovec gewesen, eine Art von besserem Hausmeister. Jetzt wirkte er dort als Direktor: Er war eben immer schon Kommunist und Parteimitglied gewesen.

Das Hotel, ursprünglich nach Sisi, der Gemahlin des Kaisers, benannt, war nun zum Gewerkschaftsheim umfunktioniert und hieß Práca, was auf Slowakisch so viel wie Arbeit heißt.

Das Práca, ein noch immer stattlicher, wenn auch etwas heruntergekommener Kasten, war in einer Art von Schönbrunnergelb gestrichen: Jedes Zimmer verfügte über einen eigenen Balkon. Im Inneren verbinden mit roten Läufern ausgelegte Gänge die in feierlichem Weiß gehaltenen Räumlichkeiten. Kein kleines Haus, das Práca, o nein! Oben drüber, über dem von Rost gefleckten Blechdach, prangte der fünfzackige, rote Stern.

Es war allerdings die Gewohnheit des Herrn Direktor Soukup, viel und ausführlich im gleich gegenüber dem Práca großartig auf einer kleinen Anhöhe platzierten Grandhotel sich aufzuhalten, ein freilich noch respektableres Haus. Bald kam es dazu, dass Herr Direktor Soukup mehr im Grandhotel verkehrte als im eigenen Haus, und das aus sehr gutem Grund: Für führende Leute, für Mitglieder der Partei, der Regierung, war es zwar selbstverständlich und ganz unabdingbar, gesinnungsmäßig stets auf Linie zu sein: Privat und für sich zogen diese Kreise ein Leben im Stil des besiegten Klassenfeindes allemal vor.

Wie der altgediente Mixer in der Bar des Grandhotels, berühmt für seine Cocktails, gern augenzwinkernd anmerkte, meist presste er dabei den kalt beschlagenen Shaker kurz gegen die glatt rasierte Wange: »Wenn einer etwas sehr gut kann, nun, ein paar werden sich immer finden, die das zu schätzen wissen.«

Der Rum des kubanischen Brudervolkes, in der Bar des Grandhotels exklusiv ausgeschenkt, unterstützte noch die Künste des Barkeepers. Da war immer Betrieb. Reden wurden geführt. Es gab Damen. Es gab Verbrüderungen. Die Nächte hatten hier die Eigenart, sich locker und weit in den Tag hinein auszudehnen, das Leben war süß.

Ob Herr Direktor Soukup seine Agenden im eigenen Haus zuletzt überhaupt noch wahrnahm? Sein Blick war glasig, das Gesicht verschwitzt, die Nase gerötet. Kam er denn einmal heim, war er nervös, sein Nervenkostüm war sehr dünn. Man ging ihm dann besser aus dem Weg.

»Du blöde Sau!«, brüllte Herr Direktor Soukup. Mit erhobenen Fäusten stand er seiner Frau gegenüber, ja, seiner Angetrauten, die ihm, fast war es ja Zufall, bei einer seiner Heimkünfte über den Weg geraten war. Ein Wort hatte das andere gegeben. Derartige Szenen häuften sich zuletzt arg. Was Wunder, dass die Frau schließlich genug hatte und sich mit Sack und Pack davonmachte?

Herr Direktor Soukup kam, von einem seiner Angestellten im Grandhotel aufgestöbert, gerade noch dazu, als die Frau eben aus der Tür treten wollte.

»Da schaust du, was?«, sagte sie, stehen bleibend und leise, nun doch ein wenig wie ertappt.

»Du bleibst hier! Hier bleibst du!«, befahl er.

Kurz den letzten Koffer abstellend, alles andere war schon aufgeladen, sagte die Frau nun doch etwas lauter: »Du bist doch vollkommen impotent, Jaroslav. Was bringst du schon zusammen? Für gar nichts bist du gut.«

»Wer hat dir denn unser Kind gemacht, ha? Ja, wer denn? Wer? So sag schon! Sag!« – Der Herr Direktor schäumte.

Auf seine Frage bekam er allerdings keine Antwort mehr. Bläulich bauschten sich die Abgaswölkchen aus dem Auspuff des anfahrenden Autos, die Frau war dahin.

Die Kundschaft des Práca, an Ungereimtheiten weiß Gott gewöhnt, tuschelte hinter vorgehaltener Hand über den Vorfall. Zwar, man war ja allerhand gewöhnt hier: aufsässige Bedienung, dreckige Leintücher, zerkochtes Essen. Aber schließlich, man war auf Kur, war auf Ferien und brauchte, ganz im Gegensatz zum Namen des Hotels, eben nicht zu arbeiten. Da nimmt man krummes Besteck, kein Toilettenpapier und Ähnliches schon in Kauf. Einmal kam es doch dazu, dass der Begriff Schweinefraß zum Regionalkomitee der Partei nach Poprad durchsickerte. Da fuhr dann eine Kommission an, die der Herr Direktor vorsorglich gleich ins Grandhotel hinaufführte.

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Die Fenster von Janas Jungmädchenzimmer waren so angeordnet, dass Jana durch die einfallenden Sonnenstrahlen selbst geweckt wurde: Sie fielen direkt auf ihren Polster.

Wie liebte sie es, aus dem warmen Bett zu schlüpfen, barfuß ans Fenster zu treten, zu sehen, wie die Beeren der Ebereschen vor dem blauen Himmel leuchteten, die fein gesägten, grünen Blättchen im Wind zitterten. An die Felsen der Gipfel hatte sich breit ein Bündel von Sonnenstrahlen gelegt. Die Sonne selbst? Sie lag noch versteckt im Tal wie das sagenhafte Tier, das bald aufwachen wird.

Tief sog Jana die Morgenluft ein. Mit gelöstem Haar, klein in ihrem Nachthemd, stand sie am Fenster. Wie groß und hell und weit die Welt doch war! Ihr ging das Herz auf. Ach, könnte es doch nur immer so sein!

Dann fiel ihr der Vater ein, unausweichlich der, mit seinen Launen und Schrullen, den meist düsteren Mienen. Dazu die Schule in Poprad, die Lehrer, die Schularbeiten und Noten – all das.

Jana war, wie man sieht, eine empfindsame, eine poetische Natur, verträumt und zart. Sie war ja auch sehr allein gelassen. Oft ging sie im Hotelgarten auf und ab, auf den Wegen da, und wünschte sich weit fort. Dabei hätte sie nicht einmal sagen können, wohin. Dass sie das Höchste und Schönste, das schlechthin Wunderbare für sich erhoffte, ja, erwartete, so viel war klar.

Zu Zeiten schrieb sie auch eifrig in ein Tagebuch, und zwar Sachen wie: »Ich fühle mich wie ein Vogel, dem der Sommer das Nest verregnet hat«, oder: »Die Sonne scheint gar so schön – aber nicht für mich«.

Was den Alltag und seinen Betrieb anging, war Jana durchaus nicht weltfremd oder gar auf den Kopf gefallen, sie wusste, was los war, was sie wollte und brauchte. Der Papa? Na, bitte sehr! Doch, immerhin, sie war die Tochter des Hauses, Tochter des Herrn Direktor. Bedient und vom Personal rundum gehätschelt, war sie es gewöhnt, ihre Wünsche rasch und pünktlich erfüllt zu sehen. Mein Gott, was wünschte sie sich denn schon?

War das Reich, in dem sie Prinzessin war, auch etwas anbrüchig und kaum großartig zu nennen, ein Reich war es immerhin. Jana trug den Kopf hoch. Manch einer vom Personal hielt sie deshalb für kalt, für berechnend. Die Kleine konnte so ihre Art haben! Was ihre Kapricen noch verstärkte: In Phasen trüber Verstimmung kam sie sich bald arm und übersehen vor: Dann tyrannisierte sie die Leute.

Sie war an die siebzehn Jahre alt jetzt, Jana, schlank und rank, mittelgroß, mit kleinen Händen und Füßen. Frisch, sauber und hell war sie, weiß die Haut, glatt das Gesicht. Sie hatte hellgraue Augen, einen rosigen Mund, eine anmutige Art, sich zu bewegen und zu sprechen: Ja, sie war gewinnend, konnte es sein.

Ein verzogener Balg, sagten die einen. Die Ärmste hat keine Mutter gehabt, keine Familie, unter lauter Fremden ist sie groß geworden, sagten die anderen.

Der Vater kümmerte Jana nicht. Für gewöhnlich ging sie ihm aus dem Weg – was nicht allzu schwierig war. An die Mutter dachte sie kaum. So gut wie nie. Sie hatte wenig von ihr gehabt, erinnerte sich ihrer nur undeutlich.

Manchmal allerdings überkam sie wilde Sehnsucht, ein Hunger, ein Verlangen nach … ja, wonach denn? Ein Krampf packte sie dann, schnürte ihr die Kehle zu, der Mund wurde ihr trocken: Wie schön das doch sein muss, wie groß und wunderbar! Ein mächtiges Wünschen wallte in ihr auf, ein Gefühl, das, so groß es auch war, keinen Namen hatte.

Für dieses Gut, dieses unbenannte Versprechen, wer weiß, war der Augenblick erst da, sie würde alles, alles dafür geben!

Da weinte sie.

Gelang es ihr, sich von diesen Anwandlungen zu befreien, empfand sie nicht Wehmut oder Verzicht. Sie war es bloß müde. Wie satt sie es doch hatte! Widerwillen, ja, Verachtung wallten dann in ihr auf, ein Ekel vor sich selbst, aus dem wieder, wie die Münze aus dem Prägestock, der Gedanke schlussendlich herausfiel: Was geht mich das alles an?! Ich muss mich an die Dinge halten. So lasst mich doch, Gedanken! Der Teufel soll euch holen.

Das Leben, der Alltag in Smokovec ödeten Jana an. Man kann sich’s leicht ausmalen. Außerhalb der Saison war so gar nichts los. Ein paar Skirennen, ein paar Bälle, da und dort ein Flirt – das war auch schon alles. Die Freundinnen aus der Schule hatten nichts anderes als Heiraten im Kopf.

In den Ferien lernte Jana einen Musiker kennen, ein schmales und sensibles Bürschchen, Gabor Kelemen von Namen. Er spielte im Kurorchester. Er gefiel ihr schon deshalb, weil er anders war als alles, was ihr bis dahin untergekommen war. Gabor war Geiger und studierte, wie sich herausstellen sollte, noch am Konservatorium in Budapest.

Budapest?

»In Budapest kannst du wirklich was anfangen, Jana, was glaubst denn du? Die Oper! Die Cafés! Die Boulevards. Und ein Publikum dazu, ein Publikum: Die Leute haben Lebensart. Die verstehen was von Kunst und Kultur.«

Nun, an Kunst und Kultur war Jana nicht besonders interessiert, was sie sonst von ihrem Begleiter so hörte, war ihr allerdings ein Versprechen: Langweilig würde es bestimmt nicht sein, dort, in Budapest.

»Warst du schon einmal in der großen Stadt? Nein? Da hast du ja was vor dir! Stell dir die schönste und großartigste Stadt der Welt vor: Budapest!« Und Gabor schlug seine Samtaugen auf.

Wenn das Bild vom Himmel, der voller Geigen hängt, je Sinn gemacht hat – in dem Fall spielten sie eine Weile.

Gabi, wie Jana ihren Verehrer bald nannte, strich nicht nur wundervoll die Geige, er sah fabelhaft aus, ernst und edel, er malte ihr nicht nur ein Leben in Budapest in den schönsten Farben, er küsste auch großartig – doch damit nicht genug: Eines Tages ging er tatsächlich einfach zum alten Soukup und hielt in aller Form um ihre Hand an!

Heiraten, war das vielleicht doch eine Möglichkeit?

Zwei Tränen liefen dem Alten über die unrasierten Backen. Er saß im Schlafrock in der sogenannten Direktion, verdrossen und übernächtig, hinter seinem Schreibtisch, er trank gerade den Morgentee, es ging auf elf.

»Ich werde ihr alles zu Füßen legen, meiner geliebten Jana, alles, was ich bin und habe – mein ganzes Leben, meine ganze kleine Welt!« In gemessenem Abstand stand Gabor vor seinem künftigen Schwiegervater und erklärte sich.

Der wieder starrte auf die Sonnenkringel, die über den Boden spielten. Vor dem Fenster draußen zwitscherte ein Bergfink. Der Alte wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Das war doch wirklich zu toll! Zu keck. – So kratzte er sich erst einmal am Kinn.

Eigentlich hatte er seine Tochter, dass es sie überhaupt und tatsächlich gab, doch halbwegs vergessen gehabt. Gelegentlich ein Wort, irgendeine schnell hingesagte Bemerkung. Weiß Gott, ich hab’ andere Sorgen! Probleme genug am Hals: mit dem Hotel, dem Personal. Mit den Gästen! Was nicht noch alles, bitte? Soll sie doch tun und machen, was sie will.

Er führte seine Gedanken schon gewohnheitsmäßig nur halb und andeutungsweise aus. Konsequenz lohnt nicht, er wusste es nicht zuletzt von der Politik. Es geht doch immer anders aus, als man glaubt. Selbst die Partei kann irren.

Früher wäre natürlich die Frau für so etwas zuständig gewesen, die Gemahlin, fiel ihm jetzt ein. Wo die nur hin ist? Hat mich sitzen lassen, der Trampel. Die blöde Sau! – Er verlor sich in allerhand Anwürfe.

Aus Mangel an Einwänden, aus Gleichgültigkeit schließlich ließ er die Sache mit der Hochzeit durchgehen. Er wollte Jana und ihrem Glück doch bestimmt nicht im Weg stehen.

Am gewissen Tag allerdings ließ er sich nicht lumpen, der alte Soukup: In einer weißen Limousine fuhr er mit Jana bei der Kirche vor, ein livrierter Chauffeur lenkte das Gefährt mit Übersicht nach Poprad hinunter, und er führte seine Tochter unter frisch gebrochenen Zweigen, die ihre Schulfreundinnen hielten, in die festlich geschmückte Kirche hinein, wo der Bräutigam schon wartete.

Allerliebst sah sie aus, Jana!

Ein bisschen traurig war es doch.

Er schluckte.

Kaum ein paar Wochen später erfasste der große Wandel, der im Osten nichts an seinem Platz lassen sollte, auch Starý Smokovec und damit den Direktor Soukup. In Poprad, der Kreisstadt unten, gingen die Wogen besonders hoch, die Uhren plötzlich ganz anders: Sie wurden, so schien es, einfach angehalten.

Direktor Soukup wurde geschasst, seines Amtes enthoben und in Rente geschickt. Aus war’s für ihn mit dem Leben im Práca und, was ihn allerdings weit schwerer traf, auch mit dem Leben im Grandhotel oben. Letzteres brach jetzt mit Schwung in einen frischen, funkelnden Frühling auf, wurde von neuen Investoren für ein neues Publikum im alten Glanz wieder herausgeputzt. Auf Besucher wie ihn, den Herrn Direktor Soukup, wurde nun ganz bestimmt kein Wert mehr gelegt.

Mit ihm, dem Direktor Soukup, ging es noch etliche Jahre: ein Ausrangierter, ein Überflüssiger, ein Gespenst. Die Tochter sollte er nicht wiedersehen. Er vermisste sie, doch was soll’s? Hinter seinem Sarg gingen schließlich bloß ein paar seiner früheren Angestellten her, Leute aus dem Práca, die betreten um den kümmerlichen Sarg herumstanden. Das Hotel selbst hieß jetzt wieder Elisabeth.

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Nach der Hochzeit war Jana wie geplant mit ihrem Angetrauten nach Budapest gegangen. Sie lebten da in einer kleinen Mietwohnung außerhalb der Ringstraße. Während Gabor noch dabei war, die Abschlussprüfungen am Konservatorium zu machen, bemühte er sich schon, bei einem guten, ja, bei einem der führenden Orchester unterzukommen.

Jana, sie würde schon sehen: Bald würden sie die Wohnung in der Vorstadt aufgeben können und in ein großes, ein glanzvolles Apartment im Zentrum ziehen.

Abends wartete Jana immer schon am Fenster, sie beugte sich weit aus dem Fenster, schaute die lange Länge der grauen und leeren Straße hinunter, wo Gabor herkommen musste.

Da kam er auch schon den Gehsteig herauf, im Schatten an den abgeblätterten Mauern entlang. Wie lieb und vertraut war ihr doch seine schlanke, ein wenig schmalschultrige Gestalt! Schon am Gang allerdings konnte sie erkennen, an der Art, wie Gabor den Geigenkasten trug und seine Schritte setzte, dass wieder einmal nichts erreicht worden war.

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Wo Gabor eigentlich herkam? Sie kennen die Stadt Košice? Nein? Auf jeder besseren Landkarte ist der Südosten der Slowakei und dann auch das Donautal bis herauf nach Bratislava dick schraffiert. Damit will gesagt sein, dass hier auch heute noch eine starke ungarische Minderheit lebt.

Die Kelemen-Familie hatte einst zur Oberschicht, zur Crème von Košice gehört. Als die Stadt nach dem Ersten Weltkrieg an die Slowaken fiel, mit Ungarn war man bei den Pariser Friedensverhandlungen besonders streng umgesprungen, nun, die Kelemen hatten die Konsequenzen gezogen und waren erhobenen Hauptes fortgegangen: Diese Demütigung, diese Schmach wollten sie nicht hinnehmen! Sie waren Ungarn und also nach Budapest übersiedelt.

Wie sich herausstellen sollte, hatte man dort nicht gerade auf derlei Neuankömmlinge gewartet. Die schweren altdeutschen Möbel, all die Buffets, die Tische, Luster, Teppiche und Draperien wollten nicht so recht in die neue Unterkunft in Pest hineinpassen. Dort sollten diese Dinge allerdings auch nicht allzu lange bleiben: Eins nach dem anderen wanderten sie ins Pfandhaus. Zuletzt kam das Silberbesteck an die Reihe.

Der Zweite Weltkrieg! Ungarn wieder so halb auf der falschen Seite – leider! Admiral Horthy. Die Pfeilkreuzler!

Gabor erblickte das Licht der Welt, die Großeltern starben.

Zur nicht geringen Verzweiflung seiner Eltern, die ihm den Besuch des Gymnasiums selbstlos ermöglicht hatten, zeigte Gabor keinerlei Neigung zu einem der sogenannten vernünftigen Berufe. Weder Jurist, noch Beamter, noch Arzt, noch Geschäftsmann wollte er werden. Nein, ausgerechnet die Kunst, die Kunst musste es unbedingt sein.

An die Akademie also!

»Vergiss nicht, Gabor: Du bist ein Kelemen! Ein Kelemen. Frag nur einen, irgendeinen in Košice: Er wird dir sagen, was das heißt und bedeutet: ein Kelemen zu sein!«

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Da lebten sie in der schmucklosen, kahlen Vorstadtstraße, Jana und Gabor. Die Hitze der Spätsommerabende befeuerte noch ihre Liebe. Sie liebten einander bis zur Erschöpfung. Wie beglückend, wie zart und duftend, wie hart und wild, wie süß und bitter war sie doch, diese Liebe.

Er war ja nett und manierlich, Gabi, einfallsreich und ausdauernd. Vielleicht dass er ein wenig gar zu brav war, ein wenig zu, wie soll ich sagen, zu rücksichtsvoll? Jana hätte es immer einmal gern noch wilder, noch toller und verrückter gehabt. Im Übrigen, sie hatte bald das Gefühl – ja, wie denn das? –, den Mann, mit dem sie das Bett teilte, kaum zu kennen. Oberflächlich, ja, oberflächlich kannte sie ihn. Das war Gabi: seine Augen, seine Haare, sein Blick, seine Beteuerungen. Machte Jana die Augen zu und dachte an ihn, suchte ihn sich vorzustellen, war da meist bloß ein verschwommener Fleck, eine undeutliche Stelle, eine Leerstelle gewissermaßen: die sie bloß aus Gewohnheit – ja, aus Gewohnheit und Gutmütigkeit! – mit dem ausfüllte, was sie dann Gabi nannte.

Karriere