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Yara Lee

Als ob
man sich auf
hoher See
befände

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Salzburg – Wien

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Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub
978 3 7017 4577 7

ISBN Printausgabe
978 3 7017 1687 6

Inhalt

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 4

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 1

Kapitel 1

Wie James und Marla einander
zum ersten Mal begegnen

Es sieht aus, als würde Marla von zwei Koffern aus dem Zug geschoben, weil sie einen Moment in der Tür steht, sich umschaut und dann zwei Schritte hinunterstolpert, als sei das Aussteigen keine Absicht. So kommt dieses Wesen, das den Namen Marla Maria erhalten hatte und bei der Geburt 51 Zentimeter gewesen war, in Wien an. Sie ist heute laut Personalausweis 1,72 Meter groß. Marla Maria hat schulterlange Haare, der Mittelscheitel ist gerade, als wäre er mit einem Lineal gezogen. Die Haarspitzen bleiben auf den Schultern liegen, als ruhten sie sich dort aus.

James ist groß, und weil James groß ist, fällt er auf, und weil er auffällt, fällt er auch Marla auf. Marla lächelt. James weiß in dem Moment nur, dass er auf Marla zugehen muss, und geht deshalb auf Marla zu.

»Entschuldigung, darf ich?«, fragt er und wartet die Antwort nicht ab, sondern hält den Regenschirm über Marlas Kopf. Unter den Regenschirm passen zwei Köpfe. Nur die Koffer werden nass. Der eine Koffer, den Marla vor einem Fahrscheinautomaten abstellt, ist aus rotem Plastik. Der andere ist ein hellbrauner Lederkoffer. James hilft Marla, ein Ticket für den Nahverkehr zu lösen. Er tippt auf den Fahrscheinautomaten, als hätte er sein Leben lang nie etwas anderes getan. Der Automat reagiert auf die Berührung positiv und wirft ein Ticket aus.

»Danke!«, sagt Marla.

»Kein Problem!«, sagt James.

»Entschuldige, dass ich nicht so gesprächig bin. Die Fahrt war anstrengend, ich komme gerade aus Dresden.«

James zögert, aber nur kurz. Dann zieht er einen Stift aus der linken Brusttasche seines Hemdes und schreibt 12 Zahlen auf die Rückseite des Tickets.

»Kein Problem! Hier, meine Nummer! Kannst ja mal anrufen, wenn du wieder etwas gesprächiger bist!«, antwortet er mit einem leichten Augenzwinkern, das typisch für ihn ist, wie Marla später noch feststellen wird.

Marla zögert ebenfalls nur kurz und zieht die Mundwinkel dann zu einem breiten Lächeln nach oben.

»Alles klar. Bis bald!«

Wenig später steht James an einer Straßenbahnstation. Als die Straßenbahn einfährt und das rote Alarmlicht über den Türen, die sich öffnen, mehrmals aufleuchtet, steigt er ein und setzt sich hin. Vor ihm sitzt einer, der einen Hut trägt, und hinter ihm einer, der hustet. Dann betritt einer die Straßenbahn mit zwei Hunden und einem Luftballon. Neben jenen Mann mit den zwei Hunden und dem Luftballon setzt sich ein Mädchen, das aufgeregt telefoniert. Sie sagt, dass sie jemanden kennengelernt habe, der sie mitnehmen wird, habe er gesagt, sagt sie, nach Amerika, oder war es Neuseeland? Weit genug jedenfalls, um. Ja, was eigentlich? Egal. Sie würden jedenfalls nachts, und die Sterne, das Ganze! Ihr fehlen die Worte. Nachdem sie telefoniert hat, schaut sie aus dem Fenster, wo alles aussieht wie ein ganzes Stück Arbeit und Straßen aufgerissen werden.

Zur selben Zeit erkämpft sich Marla mit ihren Koffern einen Weg in die U-Bahn und wenig später einen Weg aus der U-Bahn hinaus, weil sie umsteigen muss, und wieder hinein in eine andere U-Bahn. Da sitzt ihr einer gegenüber, der sie anschaut, wenn er glaubt, sie würde es nicht bemerken. Sie beobachtet ihn dabei, wie er sie anschaut, immer wenn er glaubt, sie würde es nicht bemerken, und schaut ihn an, wenn sie glaubt, er würde es nicht bemerken.

»Geh nach Hause und genieß dein Leben!«, sagt einer zu einem andern und wieder ein anderer sagt:

»Wahnsinn ist woanders.«

»Was weißt du vom Wahnsinn?«, fragt der Erste. »Warst ja noch nicht ein Mal raus aus der Stadt!«

»Eben drum!«, sagt der andere. »Wie oft ich mich schon in die Stadt hineinmanövriert habe, obwohl ich eigentlich rauswollte.«

Noch einer sagt: »Das ist aber schwach, da muss man gar nicht erst nachdenken, das bringt ja genau null! Null! Und was ist mit den Kindern?«

Schließlich steigt Marla aus und stolpert fast über eine Harfenistin. Die Harfenistin sitzt wie gestrandet auf dem Platz und zupft gleichmütig die Saiten. Es erklingt etwas, das klingt göttlich, findet Marla. Die Harfenistin muss ein Engel sein oder dergleichen Geschöpf mit dünnen, ergrauten Haaren und einer blauen Wollmütze auf dem Kopf …

Marla kommt an einem Restaurant vorbei, dessen Hof irgendwie ungepflegt aussieht. War das schon immer so oder hat sich das mit der Zeit verschlimmert? How can we win, when fools can be kings? Kopf hoch, mit Smiley. Denk Mut zum Glück!

»Entweder sind’s Banken, Versicherungen oder Telefongesellschaften, die einem das meiste Glück versprechen«, denkt Marla. Sie selbst steht oft am Wasser, das gibt ihr das meiste Glück. Auch jetzt stützt sie die Ellenbogen aufs Brückengeländer und schaut hinunter. Da stehen fünf Angler am Ufer. Marla bezweifelt, dass es in diesem Wasser Fische gibt. Dafür treiben Äste, Orangenschalen, Algen, Zigarettenstummel und Blechdosen im Wasser. Etwas treibt darin, das ist so groß, fast wie ein ganzer Baum, und treibt ein Feuerzeug auch mit und all das treibt an einem Schiff vorbei. Da sind riesengroße Schiffsbewegungen, ein Auf- und Abtauchen von Lichtflächen, bis die Sonne verschwindet, als würde auch sie jetzt weitergetrieben. Das Wasser ist von Lichtflecken gepunktet wie ein blaues 50er-Jahre-Kleid. Marla hält nach Fischen Ausschau. Keine Fische in Sicht. Marla hält nach Tieren Ausschau, aber findet nur Menschen, nur Spiegel, meist trübe, und dann schnappt doch ein Mensch, ein Fisch, ein einzelner, nach Luft, nach einer Oberfläche schnappt der Fisch und findet ja, vielleicht nur kurz, auch etwas Klares dort.

Kapitel 2

Die unglückliche Jugend
und die darauffolgende Reise von Lelius,
welcher später und von da an für immer der
Vater von Ulysses sein wird, und seine erste
Begegnung mit Estrela de Mar

Lelius wurde in den 40er-Jahren geboren und bemühte sich wie die meisten Menschen, unabhängig zu welcher Zeit sie geboren wurden, das eigene Glück zu finden. Er verbrachte jedoch eine eher glücklose Kindheit und Jugend in Amerika. Seine Mutter war eine Varietékünstlerin mit französischen Wurzeln und hatte ein neurotisches Temperament, was es Lelius’ Vater, einem bodenständigen, aber cholerischen Amerikaner, oft schwer machte, und so machte er, dem das Leben schwer gemacht wurde, wiederum anderen das Leben schwer. Es war da also viel Schweres, und so hatte Lelius, noch bevor er volljährig geworden war, beschlossen, sein Glück woanders zu suchen.

Während seine Eltern sein Verschwinden einige Tage lang nicht bemerkten – sie waren wie so oft mit sich selbst beschäftigt –, befand sich der Ausreißer als blinder Passagier auf einem Schiff, von dem er nicht wusste, wohin es fuhr, und es war ihm auch egal, denn mit Sicherheit, so dachte er, war alles besser als das Zurückliegende.

Lelius besaß keinen Schulabschluss und auch sonst kein besonderes Talent, zumindest war es von niemandem entdeckt worden. Er hatte sich zwar für Geschichte interessiert und vermutete, in Wirklichkeit von Christopher Columbus abzustammen und nur aufgrund eines Missverständnisses bei seinen Eltern gelandet zu sein. Er glaubte ferner auf idealistische Weise an die Bedeutsamkeit der Kolonisation als Mittel der Ausbreitung der Kultur und wusste, dass die griechische Kolonisation in zwei Wellen zwischen dem 11. und 10. Jahrhundert sowie zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erfolgte. Doch was würde ihm sein Interesse nutzen? Ungewiss darüber, was die Zukunft für ihn bereithalten würde, aber zufrieden schloss er die Augen und ließ sich vom Auf und Ab der Wellen, die das Schiff hin- und herschaukelten, in den Schlaf wiegen.

Es war ein regnerischer Tag, als das Schiff die französische Küste erreichte. Lelius’ Glück war, dass er zweisprachig aufgewachsen war und sowohl Französisch als auch Englisch sprechen konnte. Er fragte sich, ob es hier wohl noch Verwandte seiner Mutter gäbe. Jedoch wusste er nichts von ihnen und beschloss, sie auch nicht zu suchen. Sie hätten ihn womöglich direkt zurückgeschickt. Aber wohin? Es war kalt an der Küste. Warum nicht nach Paris? Ja, er wollte nach Paris! So machte er sich auf den Weg und erhielt in Paris bald eine Stelle in einem unscheinbaren Büro im Quartier Belleville, wo er kleine Übersetzungen schrieb. Durch seinen ihm eigentümlichen Fleiß brachte er es rasch weit und verfasste bald größere Übersetzungen. Langsam und diszipliniert stieg er die Karriereleiter hinauf, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen oder sich unbeliebt zu machen. Er war erst Mitte 20, da bot man ihm einen Job als Reporter an. Etwa zur selben Zeit lernte er Estrela de Mar kennen. Sie war etwas jünger als er und arbeitete in einer Bibliothek.

»Estrela! Das ist ja ein himmlischer Name!«, rief Lelius verzaubert, als er gerade in jener Bibliothek nach einem Buch suchte, und Estrela erklärte ihm, dass ihr Name einem Roman eines nicht ganz so berühmten Schriftstellers, dessen Namen sie selbst nicht mehr wüsste, entnommen sei. In dem Roman ginge es um einen Dichter, der glaube, das ganze Glück seines Lebens in der hingebungsvollen Treue einer käuflichen Frau namens Estrela zu finden.

»Das ist ja faszinierend!«, erwiderte Lelius, dessen Interesse an Frauen eben erst so richtig erwachte.

Und so kam es, dass sich Lelius und Estrela de Mar kennenlernten. Sie verliebten sich heftig und bezogen nach kurzer Zeit gemeinsam eine Wohnung in Belleville. Das Leben war harmonisch und Lelius hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Zuversichtlich blickte er der Zukunft entgegen.

Kapitel 3

Womit sich Marla befasst
und wie das gelegentlich ausartet

Als Kunsthistorikerin verblüfft Marla Maria ihre Gesprächspartner häufig mit unnötigem Wissen, wovon auch James noch ein Lied singen wird. Mozarts Geburtsjahr? 1756. Uraufführung der 8., damals 4. Sinfonie Dvoraks? 1890. Der Umbau des Leopoldstädter Theaters erfolgte 1838, das daraufhin sogenannte Carltheater wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, die Ruine 1951 abgerissen. Kaiser Josef II. machte den Prater 1766 öffentlich zugänglich.

Marla sitzt nicht gerne am Schreibtisch. Während ihrer Arbeit über das Venusfest von Rubens war sie in ausufernder Recherche versunken. Sie wusste jetzt vieles, nur nicht das, was sie wissen sollte.

Sie wusste zum Beispiel, dass Alma Rubens, 1897–1931, eine US-amerikanische Schauspielerin war, deren Karriere erst nach einigen kleineren Rollen, unter anderem neben Charles Ruggles in Peer Gynt, begann. Peer Gynt wiederum ist ein 1867 von Henrik Ibsen geschriebenes dramatisches Gedicht. Von Henrik Ibsen stammt das Zitat: Die Menschen sind verwandt mit dem Meer. Möchten dorthin zurück. Das Meer kann hypnotisieren. Alma Rubens erreichte den Höhepunkt ihrer Laufbahn zu Beginn der 20er-Jahre. Zu der Zeit stand sie unter Vertrag bei Paramount Pictures und spielte meist Nebenrollen als Vamp oder exotische Schönheit.

Bernice Rubens, englischsprachige, walisische Schriftstellerin, 1926–2004.

Heinrich Rubens, deutscher Physiker, arbeitete über elektromagnetische Strahlung, besonders im Infraroten. 1900 wies er durch Messungen nach, dass das Wien’sche Strahlungsgesetz für den langwelligen Bereich nicht zutrifft. Das Wien’sche Strahlungsgesetz war ein empirischer Versuch von Wilhelm Wien, die von einem Schwarzen Körper ausgesandte thermische Strahlung in Abhängigkeit der Wellenlänge zu beschreiben.

Rubens Barrichello, ein 1972 in São Paulo geborener brasilianischer Automobilrennfahrer. São Paulo, portugiesisch für Sankt Paulus, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates und größte Stadt Brasiliens. Paulus von Tarsus, geboren vermutlich ums Jahr 5 in Tarsus, gestorben ums Jahr 64, vermutlich in Rom, war nach dem Neuen Testament ein erfolgreicher Missionar des Urchristentums und einer der ersten Theologen der Geschichte des Christentums.

Rubens ist außerdem der Name des Blockadebrechers der Kaiserlichen Marine, der im April 1915 eine Versorgungsladung für die Schutztruppe von Oberst Paul von Lettow-Vorbeck und den Kreuzer Königsberg unter Fregattenkapitän Max Looff durch die britische Blockade von Deutsch-Ostafrika transportierte.

Marla gibt auf, fährt den Computer herunter, zieht ein sommerliches Kleid an und spaziert Richtung Prater, der ja zum Glück von Kaiser Josef II. im Jahr 1766 öffentlich zugänglich gemacht worden war. Marla Maria macht dabei den Eindruck einer umhergehenden Untergeherin, hofft aber, dass sie aufgehen wird wie so ein Rätsel, wenn schon nicht wie eine Blume. Sie setzt sich vor einem Teich auf eine Holzbank, ihr in die Sommerstille eingefädelter Oberkörper aufrecht. Der Sommer kriecht die Hauptallee hinunter und in Marlas Gedanken hinein, kriecht über Marlas Haut, klebt auf ihr, ruht auf den Ellenbogen, versteckt sich unter den Kniekehlen. Marla steht auf und steht kurz darauf vor dem Teich und streckt ihre nackten Füße ins Wasser. Sie denkt an Bakterien, die jetzt auf ihrer Haut kriechen, und geht dann weiter, zum Lusthaus, und keine Ahnung – einfach wieder nach Hause.

Kapitel 4

Skandal um Sartre und: Estrela und Lelius heiraten

Gegründet im Jahr 1949, stellte die Bibliothek, in der Estrela arbeitete, einen kulturell wichtigen Ort der Nachkriegsära dar. Künstler und Autoren trafen sich in der Bibliothek und diskutierten anschließend im Café de Flore, im Les Deux Magots oder in der Brasserie Lipp.

Im Jahr 1951 stellte erstmals ein Fotograf namens Doisneau seine Werke in jener Bibliothek aus. Diese Ausstellung bekamen Estrela und Lelius noch nicht mit, doch es folgten weitere Ausstellungen von Fotografen namens Boubat, Izis, Facchetti, Brassaï und später auch die Straßenaufnahmen von New York. Lelius berichtete immer wieder für ein kleines Pariser Tagblatt über diese Ausstellungen. Für einen Moment durchzogen Lelius beim Anblick der New Yorker Fotografien schmerzliche Gedanken und ein Stechen in der Brustgegend machte ihm das Atmen schwer. Dann jedoch tat er dieses Gefühl rasch ab, keinesfalls konnte das Heimweh sein. Auch heiterte Estrela ihn durch ihr herzliches Lachen schnell wieder auf.

Man kann vermuten, dass Lelius an diesem Ort sogar Jean-Paul Sartre begegnete, denn als Sartre 1964 den Literaturnobelpreis erhalten sollte und ablehnte, war das ein viel diskutierter Skandal, den Lelius hautnah mitbekam. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er über diese Kontroverse, an der sich unter anderem Jean Dubuffet, Pierre Alechinsky und Max Ernst beteiligten, einen Artikel fürs kleine Pariser Tagblatt schrieb. Ja, man kann mit gutem Gewissen behaupten, die Bibliothek, in der Estrela arbeitete, zog zu jenem Zeitpunkt die renommiertesten und modernsten Künstler an. Duchamp, Magritte, Picasso und Calder stellten mehrmals ihre Werke aus. Unter diesen Einflüssen wollte Lelius am liebsten selbst Schriftsteller, Maler oder Philosoph werden, anstatt weiterhin Übersetzungen von Gebrauchsanweisungen für Gegenstände, die er selbst nie benutzte, oder kleine Artikel fürs Tagblatt zu schreiben.

Nur etwa eine Generation zuvor hatte der damals in Paris lebende James Joyce seinen Roman Ulysses fertiggestellt. Lelius, der damals in eben jener Bibliothek das Buch entdeckte, blätterte fasziniert Seite für Seite um und las das Buch, was sonst vermutlich kaum ein Mensch geschafft hatte, in zwei Tagen und Nächten durch, ohne zu schlafen. Es ist vermutlich diesem Umstand zuzuschreiben, dass Lelius beschloss, sollte er je einen Sohn haben, müsse dieser den Namen ›Ulysses‹ tragen. Wenn jemand, manchmal auch Estrela, skeptisch behauptete, kein Mensch hieße doch Ulysses, klärte Lelius sie bereitwillig auf. Durch die Arbeit als Reporter an Recherche gewohnt, wusste er eine ganze Handvoll Menschen namens Ulysses zu nennen: Ulysses Simpson Grant Sharp Junior, 2. April 1906, Oberbefehlshaber der United States Pazifikflotte. Im Zweiten Weltkrieg kommandierte er den Zerstörer USS Boyd und verdiente sich zwei silberne Sterne. Im Koreakrieg kommandierte er den Zerstörer Squadron. Später würde er Artikel über den Vietnamkrieg schreiben mit Titeln wie: ›Wir hätten den Vietnamkrieg schon vor langer Zeit gewinnen können‹, ›Strategien der Verteidigung‹, usw. Ulysses Simpson ›Killer‹ McPherson, Junior, Football-Coach für die Mississippi Valley State University Delta Devils und sportlicher Direktor an der Alabama State University in Montgomery, Alabama, und der University of Maryland Eastern Shore. Oder Ulysses ›Crazy Legs‹ Curtis, Footballspieler, geboren am 10. Mai 1926. Ulysses Davis, geboren am 5. November 1872, amerikanischer Regisseur von 86 Filmen. Am bekanntesten vermutlich ›The Kiss‹ aus dem Jahr 1914 mit Margaret Gibson und William Desmond Taylor.

Es dauerte nicht lange und Lelius und Estrela heirateten, doch die Hochzeit war ein Fiasko. Der betrunkene Priester reichte dem unsicheren Trauzeugen die Bibel, damit der Trauzeuge, ein eigentlich schweigsamer und etwas stotternder Jugendfreund der Braut, eine zuvor vereinbarte Stelle daraus der versammelten Gemeinde vorlese, welche hauptsächlich aus Lelius’ Kolleginnen und Kollegen und Estrelas Familie bestand. Da las der Trauzeuge also mit zitternder Stimme und stockend aus der Bibel vor. Doch er fasste nach und nach Vertrauen und seine Stimme wurde lauter. Es war ja alles vorher abgesprochen, was sollte schiefgehen? Lelius konnte sich nicht mehr erinnern, was der Trauzeuge eigentlich hätte lesen sollen, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, was er tatsächlich gelesen hatte. Es war jedenfalls nicht die Stelle aus der Bibel über die Liebe gewesen, die zuvor ausgewählt worden war. Nein, der Trauzeuge las stattdessen in dem Moment, als seine Stimme am lautesten und sichersten war und man ihn endlich verstand: Und der Herr sah, dass die Menschen auf der Erde völlig verdorben waren. Alles, was aus ihren Herzen kam, ihr ganzes Denken und Planen, war durch und durch böse. Das tat ihm weh, und er bereute, dass er sie erschaffen hatte. Er sagte: ›Ich will die Menschen wieder von der Erde ausrotten – und nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere auf der Erde, von den größten bis zu den kleinsten, und auch die Vögel in der Luft. Es wäre besser gewesen, wenn ich sie gar nicht erst erschaffen hätte.‹

Der Priester taumelte, als er dem Bräutigam erlaubte, die Braut zu küssen. Der Trauzeuge sah sich nervös um und die Mutter der Braut brach in Tränen aus.

Kapitel 5

Womit sich Marla neben den Werken großer und kleiner Meister am liebsten befasst, sind Kirchen

Begonnen hatte Marlas Interesse an Kirchen während eines Paris-Aufenthalts. Sie sang auch im Kirchenchor und wurde von allen für ihre klare Stimme gelobt. Allerdings beeindruckte sie nicht nur die Gemeinschaft, die sie in der Kirche fand, sondern auch die Architektur der Kirchen. Ehrfürchtig stand sie zum Beispiel lange und andächtig vor einer Marmorarbeit, der Muttergottesstatue, Trösterin der Betrübten. Auch das Fresko mit dem Titel ›Die Aufnahme des heiligen Maurus in den Himmel‹, beeindruckte sie sehr. Da waren die Kapelle der heiligen Theresia von Lisieux, des heiligen St. Benedikt und der heiligen St. Anna, der Jungfrau Maria, des heiligen Germanus, die Herz-Jesu-Kapelle, die Kapellen des heiligen Petrus, des heiligen Paulus und des heiligen Joseph. Bei so viel Heiligkeit erschien ihr das eigene Leben erträglich. Die Fensterfragmente aus dem 13. Jahrhundert zeigten Bilder aus dem Marienleben und Werke der Barmherzigkeit. Im Andachtsraum setzte sie sich nieder, um still zu beten, aber neben sie setzte sich eine Frau und redete unaufgefordert drauflos, denn Marla hatte sie nicht aufgefordert und sonst war niemand da.

Die Frau erzählte ihr, dass sie bislang noch gar nicht viel gelesen habe, eigentlich nur die Bibel. Die dafür immer wieder. Von vorne nach hinten und dann auch von hinten nach vorne. 1. Korinther 15,24. »Der HERR sah ihre Not an, als er ihre Klage hörte, und gedachte an seinen Bund mit ihnen.« Noch ein Psalm. »Gib das Leben deiner T U R T E L T A U B E nicht den Raubthieren.« Was da so alles passieren kann in einem Leben. Aber das wusste sie alles damals noch gar nicht, als sie es hätte wissen müssen, auch wenn sie schon einiges wusste. Das meiste davon aus der Bibel. Dass man nämlich zwei Backen hinhält und einem trotzdem die Zähne ausgeschlagen werden, zum Beispiel. Was da so alles sein kann in so einem Leben und wie’s einem wohl so vorkommt am Ende, wo sie ja aber noch lange nicht ist. Wie sie’s hoffnungsvoll einem sagte: Ich lieb’ dich, worauf er’s sicherlich hätte erwidern können, aber zuvor gestorben ist, und wie sie deshalb sehr lange sehr traurig war, aber das zeigte sie dem Nachbarn nie. Der kam nämlich manchmal. Fast immer kam er allein, nur selten kam sie mit ihm. »In der Seele tut’s immer noch weh«, sagte sie und erzählte weiter, dass sie ehrenamtlich Brei ausgeschenkt hatte. Das wusste der Nachbar, dass sie immer aus den großen Töpfen was schöpfte und es anderen gab, weil sie sich’s irgendwann geschworen hatte, als Kind nämlich schon, ein guter Mensch zu sein. »Das näht vielleicht die eigene Wunde irgendwann zu, dachte ich«, sagte sie, »wenn man viele andre Wunden zugenäht hat im Leben.« Sogar der Präsident ging manchmal hin, wenn ausgeschenkt wurde. Das wurde fotografiert und in der Zeitung allen als Bild zugänglich gemacht. Auf so einem Bild stand sie dann auch mal neben dem Präsidenten, also in der Zeitung, unauffällig inmitten von Menschen, denen Gutes aus den Herzen direkt in die Suppentöpfe tropfte. »Ich atmete«, erzählte sie, »immer den Geruch von urindurchsetzter Kleidung, Zigaretten, Bohnen- und sonstigen Suppen ein, was vielekeits erregte. Nur keine Heiterkeit.« Und der Nachbar, der immer kam, wenn er manchmal kam, brachte ihr öfter was mit. Und was der Nachbar so brachte, wenn sie zu Hause war. Mal was mit Marmelade, eine Torte oder was anderes.

Dann schwängerte er sie aus Versehen. Sie war gerade einundzwanzig geworden. »So passiert das den guten Menschen«, seufzte sie. »Die Biologie lässt sich da nicht austricksen. Nur vom lieben Gott vielleicht, aber der kann nicht alle Backen gleichzeitig retten. Gott verhüte!, dachte ich noch«, sagte sie. Aber da war’s für Verhütung zu spät. Sie machte sich Vorwürfe und weinte viel, aber der Nachbar nahm sie fest in seine Arme, presste ihre Nasenspitze in seine Achsel und tätschelte ihren Kopf mit seiner wurstigen Pranke. Dann haute er ihr ein paarmal auf den Po. »Der ist schon ganz prall«, sagte er. Davon heulte sie noch mehr und er tätschelte ihn noch mehr und auch den Kopf.