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Satu Taskinen

Kinder

Roman

Aus dem Finnischen von Regine Pirschel

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Wir danken für die Unterstützung

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www.residenzverlag.at

Die Originalausgabe »Lapset« erschien 2017 bei teos, Helsinki.

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Jenni Saari

ISBN Printausgabe: 9783701716838

Für Susanna

Inhalt

Kinder

Der Berufungssenat des Bezirksgerichts entschied: KATER HELLI DARF DRAUSSEN STREUNEN.

Kater Helli hatte sich zwei Kaninchen aus Nachbars Garten geholt, was den Besitzer der Kaninchen veranlasst hatte, den Besitzer des Katers zu verklagen. Im August 2012 hatte das Landesgericht dahingehend entschieden, dass der Kater an der Leine geführt oder in Innenräumen gehalten werden musste. Nach diesem Urteil hatte der Kater jedoch besagten Tieren auf dem fremden Grundstück weiterhin vehement nachgestellt, woraufhin der Kaninchenhalter den Besitzer des Katers erneut verklagt hatte. In diesem zweiten Verfahren hatte das Landesgericht, anders als bei seinem früheren Urteil und in Anlehnung an einen Präzedenzfall des Obersten Gerichthofes aus dem Jahre 2011, entschieden, dass Kater Helli frei streunen durfte. Der Nachbar hatte dagegen Berufung beim Bezirksgericht eingelegt. Dieses hatte jedoch keinen Anlass für eine Aufhebung gesehen und das Urteil bestätigt.

Bei dem Präzedenzfall aus dem Jahre 2011, als der Oberste Gerichtshof die Urteile des Landes- und des Bezirksgerichts in einem ähnlichen, den Auslauf der Katzen Mogli und Minki betreffenden Streitfall kassiert hatte, hatte die Bewertung der Größe der Tiere die entscheidende Rolle gespielt. Während das Landesgericht 2011 eine ausgewachsene Katze mit Schafen und Hunden gleichgestellt hatte und das Bezirksgericht, nach der Beschwerde des Antragsstellers, dieser Auffassung gefolgt war, hatte der Oberste Gerichtshof befunden, dass eine Katze zu den kleinen Tierarten gehörte. In seiner Entscheidung für das freie Streunen berücksichtigte er außer der Größenklasse und den natürlichen Lebensgewohnheiten einer Katze auch die Tatsache, dass Mogli und Minki nicht von klein auf gelernt hatten, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten.

Somit wurde bei der dritten Behandlung des Streitfalls um den Kater Helli das freie Streunen selbst großgewachsener Kater in dieser Gegend (Tirol, Bezirk x), sofern es im üblichen Rahmen blieb und unter Berücksichtigung des Präzedenzfalles des Obersten Gerichtshofes, nicht als relevante Gefährdung benachbarter Grundstücke eingestuft, die oberste Verantwortung für den Schutz der Kaninchen vor sämtlichen Raubtieren wie zum Beispiel, außer vor Katzen, auch vor Raubvögeln und Füchsen, trug der Halter, entschied das Gericht. Auch stellte es klar, dass nach dem dritten Verfahren keine weiteren Rechtsmittel mehr zulässig wären. Der Berufungssenat des Bezirksgerichts beharrte jedoch darauf, dass die Verpflichtung, die er dem Besitzer des Katers Helli zuvor auferlegt hatte und die besagte, dass er als Verantwortlicher zu verhindern hatte, dass der Kater die Kaninchen des Nachbarn jagte, quälte und riss, weiterhin Gültigkeit hatte. Beobachtet wurde das Verfahren u. a. vom Nachrichtendienst des Österreichischen Rundfunks ORF sowie von der Zeitung Kurier, beide berichteten am 6. 3. 2013 über das endgültige Urteil.

Kaninchen starben. Schadensersatzzahlungen wurden geleistet. Man wollte beweisen, wozu eine Katze fähig ist und wie schlimm ihre Taten sind. In der Nachbarschaft nahm man die Sache einerseits ernst, andererseits fand man sie völlig aberwitzig. In dieser Stimmung wurde (vielleicht scherzhaft und provokant) eine Wette vorgeschlagen: Wie viele Kaninchen würde man opfern müssen, um zu beweisen, dass die Position der Kaninchen die richtige war, nicht die der Katze? Der Besitzer (der Kaninchen, der Katze?) verstand in der Sache keinen Spaß und war schwer verärgert. Er lud die Nachbarn nicht mehr zu seinen Festen ein. Er grüßte ihre Kinder nicht mehr. Er hatte sie ohnehin bereits aus anderen Gründen kaltstellen wollen und konnte dieses Vorhaben nun endlich umsetzen.

Auf dem Gebiet standen x Häuser, es erstreckte sich über x Quadratkilometer. Einer der Nachbarn wollte herausfinden, wie groß das Auslaufrevier eines solchen ausgewachsenen Katers eigentlich war, und kam auf x.

Von weiteren getöteten Tieren hörte man nie. Vielleicht gab es sie, aber sie waren niemandes Haustiere, sodass sie nicht im selben Maße wahrgenommen wurden wie die erwähnten Kaninchen.

He! Ihr könnt aufhören. Es reicht.

Im Gegensatz zu dem, was ich gedacht und sogar ganz sicher zu wissen geglaubt hatte – rannten die Kinder nicht vor Glück schreiend aus der Klasse, nein, sie schienen es überhaupt nicht eilig zu haben. Sie brachten mir ihre Zettel, packten ihre Sachen zusammen, sagten im Hinausgehen auf Wiedersehen. Ich schob die Stühle unter die Arbeitstische, hob eine Bananenschale auf, auch ein Stück Papier, es war die Hülle eines Schokoriegels, und wischte die Tafel ab, man konnte der Putzfrau keinen unordentlichen Raum hinterlassen. Ich seufzte auf. Was kann man von einem Menschen verlangen? Es ist noch nicht lange her, dass wir darüber im Unterricht gesprochen hatten. Darüber, und anschließend über Tierrechte. Erst über Menschenrechte und dann über die Rechte von Tieren, ich hatte die Hierarchie der Schöpfung erklärt: die verschiedenen Kriechtiere und so weiter, das Schmerzempfinden der Lebewesen und so weiter. Ich ergriff meine Tasche, raffte meine Bücher zusammen, meine Mappen mit den Notizen, die Stifte, dann klopfte ich an die Klassentür einer Kollegin, um ihr zu sagen, dass ich etwas früher ginge. Sie riet mir, einen Arzt zu konsultieren, Schwindel hatte unter Umständen ernste Ursachen, und ich könnte mich gerne später noch melden, falls ich am nächsten Tag nicht kommen würde. Ich bedankte mich. Sie drehte sich um und ging wieder in ihre Klasse, schloss die Tür hinter sich. Mein Blick verharrte einen Moment, und einen zweiten, auf der geschlossenen Tür, ihrem grünen Rahmen, dem am linken Rand eingelassenen länglichen Fenster, durch das man einen ganzen Menschen vom Kopf bis zu den Füßen sehen konnte.

Wie auf einem Gemälde, dachte ich. Oder in einem hochkant aufgestellten Fernseher. Anschließend ging ich durch den langen Flur, nickte hierhin und dorthin, auf Wiedersehen und hallo und einen schönen Tag noch. Vor Verlassen des Gebäudes machte ich halt, stellte die Tasche ab und zückte mit der frei gewordenen Hand ein Taschentuch. Ich trocknete meine Augen, putzte mir die Nase. Ich fühlte mich nicht besonders. Einen Arzt brauchte ich trotzdem nicht. Alles wäre gut, wenn nur erst diese für Pollenallergiker schreckliche Zeit vorbei wäre. Und irgendwann würde es soweit sein. Nach dem Sommer sähe alles anders aus. So war es bisher immer gewesen. Zum Glück. Es wäre ja schlimm, wenn die peinigende Jahreszeit irgendwann überhaupt nicht mehr enden würde. Dann könnte mir nicht mal mehr der Arzt helfen. Ich würde jetzt ein Antihistamin nehmen, könnte so den Einkauf erledigen, gut und sicher auf die Autobahn gelangen und diese an der richtigen Ausfahrt wieder verlassen. Ich würde die Ausfahrt Gramatneusiedl nicht verpassen, was mir tatsächlich schon passiert war, sondern ich würde zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankommen, wir würden gemeinsam für Becky ein Happy Birthday anstimmen, das sie an diesem Tag schon zigmal gehört hätte, ich würde mich aufs Wohnzimmersofa ihrer Mutter Martha, meiner ältesten Tochter, setzen, man würde mir die neue Erdenbürgerin in den Arm legen, mir eine Tasse schwarzen Kaffee hinstellen, und ich könnte dem achtjährigen Geburtstagskind endlich das Geschenk übergeben, das ich für sie ausgesucht und gekauft hatte. Mit anderen Worten, die Herausforderung des Tages bestand nicht in dem lästigen Schnupfen und auch nicht in dem – zweifachen! – Kindergeburtstag an sich, sondern darin, dass man Becky noch nicht gesagt hatte, ob Sara kommen würde. Die Herausforderung bestand auch darin, dass Marthas Antwort auf Beckys Fragen ausnahmslos lautete: Frag Großvater, er sagt es dir. Großvater erklärt.

Ich warf das gebrauchte Taschentuch in den Mülleimer, hob die Tasche auf, in der sich der dicke Stapel mit den Aufsätzen der Schüler befand. Die Kinder hatten mich heute in Ruhe gelassen, ich hatte ihnen gleich morgens als Erstes gesagt, dass mein Befinden nicht das beste war, und auch versprochen, dass wir den Tag gewiss gemeinsam mit Anstand durchstehen würden, wenn nur …, und sie hatten verstanden: Zur Belohnung würden sie ein wenig früher als sonst von ihrem Leiden erlöst werden. Sie hatten ihre Aufgabe erledigt, das heißt, sie hatten mucksmäuschenstill einen Essay über die Aufteilung der Weltressourcen geschrieben, so, wie ich es ihnen aufgetragen hatte. Insofern war alles so gewesen, wie es sein sollte. Aber diese Grabesstille? He!, hatte ich gesagt und gespannt gewartet. Denn ganz so hatte ich es ja nicht gemeint. Aber die Stille hatte angedauert, als nahtloser und gleichförmiger, ein wenig schwindelerregender, sich irgendwie sogar langsam verbreiternder oder einfach nur gleichmäßig vorwärtsfließender, drängender Strom, ganz, als hätte sich uns allen, die wir dort saßen, etwas genähert oder würde uns bereits umgeben …, irgendeine seltsame … oder gefährliche, möglicherweise feindselige, auf jeden Fall unbekannte, leicht säuerlich – vielleicht nach Essig und Zwiebeln (gekochtem Rindfleisch?) – riechende Wolke, oder vielleicht besser gesagt: eine Brühe!, keine Ahnung. Kann der Mensch etwas für das, was er tut? Ich war aufgestanden und hatte gesagt: Geht nach Hause. Jetzt öffnete ich also die Schultür und, aus Erfahrung klug geworden, passte ich auf, dass ich auf den Stufen nicht danebentrat.

Beim Blick nach unten sah ich, dass an meiner Schuhspitze Kreide haftete. Ich ging durch die Neustiftgasse, die mit Kaugummis übersät war, überquerte dann die Kreuzung Zieglergasse, um durch die Schottenfeldgasse zur Lerchenfelder Straße und zu meinem Parkplatz zu gelangen, der heute etwas abgelegener war, denn gestern war eine Gruppe Schüler an meinem Auto vorbeigekommen und hatte mich gesehen. Unter den Kindern war mein Schüler Ismail gewesen, der mit mir im selben Haus wohnt. Der fleißige Ismail. Der stille Ismail. Wenn ich mich richtig erinnere, war er im Jahre 2000 als zweites Kind seiner Eltern geboren worden. Seine Eltern betreiben im Stadtzentrum ein türkisches Restaurant, er und seine Familie wohnen im selben Haus wie Sara und ich, zwei Etagen tiefer, in der Wohnung zur Straße hin. Oder sie wohnten dort. Inzwischen haben wir die Wohnungen getauscht. Meine Töchter Martha und Daniela sind längst erwachsen und haben ihr eigenes Zuhause, und wir benötigen nicht einmal mehr die Hälfte des Platzes, sodass jetzt sie, die Mitglieder der großen – der großen und ständig wachsenden! – Familie dort wohnen, wo wir früher gewohnt haben. Mein Fußgelenk knackste unangenehm im Schuh, ich verspürte ein Stechen, auf der Straße gab es anscheinend eine unebene Stelle. Ich hatte zu viel Gepäck, außerdem rutschten die Sachen und drohten, herunterzufallen. In der einen Hand trug ich die halb volle, aus gelbem Leder gefertigte Aktentasche, am Handgelenk baumelte noch eine Plastiktüte, die unangenehm scheuerte, und unter dem anderen Arm klemmten zwei überquellende Ordner.

Entschieden zu viel. Trotzdem wollte ich nicht stehen bleiben, um meine Lasten zurechtzurücken und besser zu verteilen, sondern ich wollte nur so schnell wie möglich zum Auto gelangen. Ich beschleunigte meine Schritte, so gut es ging, was nicht sehr viel war, ich überquerte die Straße, als die Ampel bereits blinkte, und erreichte, mit meiner Traglast vermutlich an ein schwankendes Kamel erinnernd, die andere Seite, kurz bevor die wartenden Autos wieder anfuhren. Ein kleiner, weißer Pudel trippelte auf flinken Pfoten vor mir her, er lief neben, hinter und vor seinem Frauchen, sein sauberes Fell war hier und da zu Puscheln geformt, er drehte den Kopf rasch nach links und rechts, sogar nach hinten, versuchte so viel wie möglich von seiner Umgebung zu erfassen, das lange »Stirnhaar« fiel ihm in die Augen, das Tier hätte auch mich gern beschnuppert, aber sein Frauchen war in Eile und ließ ihm nie länger als eine Sekunde Zeit, die Dinge zu untersuchen, was dazu führte, dass sich die Leine um seinen Hals ein ums andere Mal straffte. Dies ist ein Moment des Leids, seien wir freundlich zu uns selbst. Momente des Leids, ja, in der Tat. Leid kann echt eine Menge, es vermag nicht nur die Gegenwart und die Zukunft, sondern sogar die Vergangenheit zu beeinflussen. Alexander und Ines und ihre wiederholte Nachlässigkeit ärgerten mich deswegen jetzt noch mehr als vorhin in der Klasse. Aus Leid allein kann man nichts bauen, aber Leid kann sehr wohl etwas bewirken oder in Gang setzen. Leid raubt einem die Kräfte und gibt gleichzeitig Kraft. Sowohl, als auch. Es verändert den Menschen. Erneuert ihn. Zuerst die Furcht und dann das Leid. Da hätten wir die zwei wirksamsten Werkzeuge zur Bearbeitung des Menschen. Wo ist mein Herz? Was sagt es? Es ist unschlüssig. Es hat Schmerzen, schneidende, kann ich wohl sagen. Das liegt am Sodbrennen. Zu viel Kaffee. ein schlechtes Mittagessen, nur Bananen. Ein Auto hat gehupt. Warum? Wem galt es? Tuut tuut tuut. Ich entdeckte hinter einer Windschutzscheibe ein Gesicht und eine winkende Hand. Das Gesicht wirkte freundlich und auch etwas ungeduldig, der Fahrer wollte mich hinüberlassen, er forderte mich auf, mich endlich zu bewegen, husch husch, verstand ich denn nicht, er wollte helfen, machte mir Platz, öffnete eine Gasse für mich, er wartete, vergeudete seine kostbare Zeit für mich. Ich hob dankend das Kinn und überquerte die Straße.

Oft wird vom Enthüllen gesprochen. Geht es da um Ehrlichkeit? Als wäre der Mensch ein Paket, das man öffnet? Man fragt: Woraus ist der Mensch gemacht? Man möchte das Paket öffnen, möchte hineinblicken. Wessen Herz ist rein? Wessen Adern und Därme sind rein? Es heißt zum Beispiel: Die neue Untersuchung enthüllte den wahren Charakter der Autofahrer. Oder: Die Stresssituation zeigte, dass x … Es wird berichtet, wie irgendeine menschliche Wahrheit allmählich ans Licht kommt. Daniela war von klein auf ein Kind gewesen, das Gerechtigkeit verlangte. Schon ab ihrem fünften Lebensjahr hat sie Dinge gesagt wie: es ist nicht schön, wenn …, könnte es nicht so sein, dass alle …, und weshalb ginge es nicht auch ebenso …? Und als sie dann älter wurde, wechselten die Themen, Ausdrücke wie »Wahrheit« und »Echtheit« tauchten in ihrem Wortschatz auf. Die Wahrheit schälte sich heraus. Oder wurde herausgeschält. Manchmal auch mit Gewalt, man zeigt mit dem Finger auf die nackte Oberfläche und sagt: Seht euch das an, so wurden und werden wir betrogen, mit Absicht. Aber jetzt nicht mehr, denn wir leisten Widerstand. Damals waren Dinge wie Vegetarismus, Low-Carb-Diäten und so weiter neu. Heute kann man darüber nur mehr lächeln, heute gehören die Bios, die Veganer, die Laktosefreien und der Rest ja zum Alltag.

Daniela sagte: Wider. Stand. Weil wir unterdrückt werden. Ach ja?, sagte ich, und sie antwortete: die ganze Zeit unterdrückt. Wenn wir nicht bald aufwachen und unser eigenes Wohl erkennen und uns widersetzen. Zu hohe Treibstoffpreise, zu niedrige Lebensmittelpreise, jede Menge falscher Preise, zu hohe oder zu niedrige Zinsen, Lebensmodelle. Man nützt unsere Gutgläubigkeit aus. Unser gutes Herz. Man bedient sich unserer Bereitschaft, uns an Sammlungen zu beteiligen, an freiwilligen Arbeitseinsätzen, an den Hilfstruppen der Heilsarmee, an vielen anderen Hilfstruppen, daher müssen wir unsere Kräfte vereinen und eigene Truppen bilden. Martha war anders. Sie bewunderte Daniela und deren Gabe, von einer Sache überzeugt und dadurch unerschütterlich sicher und ihrerseits überzeugend zu sein. Für Danielas Themen interessierte sich Martha allerdings nicht, vermochte es nicht, hätte es vielleicht gewollt, und auch wieder nicht: Allen Ernstes? So also ist das? Martha mochte Musicals. Sie war ein einsames Kind. Der Gedanke an irgendwelche Truppen war ihr fremd.

Dass man sich zusammenschließen und etwas Derartiges bilden sollte, richtig konkret und zielbewusst. Außer auf der Theaterbühne. Während ich ging, dachte ich an meine Töchter, die dreiundzwanzigjährige Daniela und ihre zwei Jahre ältere Schwester Martha, an meine Frau Sara, an Ismail, an die anderen Schüler in meiner Klasse, an meine Mutter, meinen verstorbenen Vater Karl, an Saras Eltern, sogar an meine erste Liebe Isabella. War es überhaupt möglich zu existieren, ohne gegen etwas zu sein? Fünf Sekunden. Wenigstens eine. Ist es möglich, Entwicklungen gegen das Leid voranzutreiben, ohne selbst die ganze Zeit weiteren Zank und weiteres Leid zu produzieren? Ist das überhaupt vorstellbar? Es war ein gewöhnlicher Junitag, der Wind wehte böig, mein Haar sah aus wie ein Hexenbesen, die Böen zerrten an der Kleidung. Ich kam nur mühsam voran und begann zu schwitzen. Hätte ich doch wenigstens Rückenwind gehabt, aber nein, der Wind wehte hauptsächlich von vorn und von der Seite. Es war lächerlich, wie mein Haar von einer Seite zur anderen und in die Augen und wieder zurück gezaust wurde. War ich etwa ein wandernder Berg mit einer Wiese oben auf dem Gipfel, die der Wind malträtieren konnte, wie er wollte? Würde und Respekt. Auch da verläuft eine Grenze. Wenn man dem Menschen beides nimmt, dann ändert man auch sein gesamtes Weltbild und seine Taten. Wollte ich mir so meine Scham und meine Frustration erklären, wo es doch nur um meine Haare ging? Um Borsten, die aus meiner Kopfhaut sprossen, so wie bei allen Menschen.

Wie dem auch sei. Unterwegs zum Familienfest, von einer Etappe zur nächsten. Jetzt um diese Straßenecke, dann um jene und dann noch ein Häuserblock, diesmal nur bergab. In einer Familie wird vieles versprochen, und wir alle wissen ja, worum es geht bei diesen Dingen. Sag nicht »wir alle wissen ja«, das nervt und klingt lehrerhaft, wies mich Sara stets zurecht, mit der Macht und Autorität der Ehefrau. Aber ich sagte es trotzdem, da es nun mal so war. Was meine Erfahrungen mich lehrten, darauf konnte ich bauen. Auf die eigenen Erfahrungen kann man stets bauen. Auf die Kämpfe mit dem Wind und dem Gepäck. Mit der triefenden Nase. Nur Erfahrung ermöglichte mir, zu der Überzeugung zu gelangen, dass ich das hier überstehen würde. Straßen sind Grenzen, und auch diese Straße überquerte ich erst, als die Ampel bereits umschaltete. Der lange Weg zum geparkten Auto war mir als echtes Ärgernis erschienen, aber als ich nun endlich, nach Absolvierung der ganzen Etappenkette, einer echten Tour de Neubau, von der Zieglergasse in die Lerchenfelder Straße einbog, eröffnete sich vor mir ein Bild, das selbst den verbissensten, eiligsten und schlechtgelauntesten Stadtmenschen überwältigt hätte. Bäume.

Cafés, Menschengewimmel. Geschäfte, eine Kirche, davor ein Platz, der, bald nach ihrem Tod, nach der mutigen Ceija Stojka benannt worden war, das plätschernde Wasser eines Springbrunnens, trinkende Vögel. Wie auf dem Silbertablett präsentierte sich all das Gute, das es in einer kleinen, europäischen Großstadt geben kann. Wien wird in den kommenden Jahrzehnten um viele tausend Einwohner wachsen. Die Seestadt, ein ganz neuer Stadtteil, und all das andere, man wird sehen. Dies ist meine Erinnerung. Ich liebte diese Straße. Ich wollte mir den Anblick einprägen, wollte meinem Gedächtnis eintrichtern, dass dies die Welt in einer europäischen Hauptstadt im Jahre 2014 sei, eine Straße wie diese, das Leben: friedlich, reich, vielschichtig, spannend. Es gibt Menschen, die den Kot ihrer Hunde von der Straße aufsammeln, in eine Tüte tun und diese in den Müll werfen. Es gibt Menschen, die bei der Arbeit ihr Bestes geben. Menschen, die sich umeinander, um ihre Kinder und um ihre Eltern kümmern. Und ihr kleinen Tölpel Alexander und Ines, oh je, wie ist euch bloß beizubringen, dass man auf einen Essay seinen Namen schreiben muss und dass als Adresse eines ernstzunehmenden Bürgers nicht nur Straße und Hausnummer erforderlich sind, sondern außerdem auch die Tür, die Postleitzahl und die Stadt. Gerade hatte ich zu Sara gesagt, jetzt drück nicht länger diese Knöpfe, lass die Maschine sein, wir sehen sie uns dann nachher in aller Ruhe an …, und habe ich nicht gesagt, wie kann jemand nur so stur sein, oder so stolz, oder wie? Es ist der Stolz, oder? Herrgott noch mal, dass alles so schwierig und traurig sein muss.

Aber weg jetzt damit, ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen, weil sie wieder feucht geworden sind und auch weiter feucht werden, ich öffne die Augen, sehe mich um, und bevor ich ein neues Taschentuch finde, bin ich ein mit den falschen Linsen ausgestatteter Fisch in einem Wasserglas, die Stadt wogt, wabert und zerfließt, die Straße, die Häuser, die Autos und Passanten, alles wird zu einem einzigen farbigen Aquarell. Ein Regenbogen. Ich blinzle, die Tränen rollen mir die Wangen hinunter, der Blick schärft sich, und ich denke: Heute ist Geburtstag, eigentlich ein doppelter, könnte man sagen, also eine doppelte Freude, und wenn man diese Straße betrachtet, sieht man, dass alles mit allem in Verbindung steht, und man kann hören, wie Gott spricht: Alles ist, wie es ist.

Wenn ich selbst nun noch der lebhafte, schmächtige Schuljunge wäre, der ich vor vierzig Jahren war, und wenn jetzt Weihnachten und dies der erste meiner »Ausflüge« wäre, würde ich eine Ansichtskarte schreiben: »Ihr Lieben zu Hause, die Lerchenfelder Straße dürfte die schönste Straße in dieser Stadt sein. Die Woche ist letztlich recht gut verlaufen, wenn auch wegen diverser Zufälle und Überraschungen anders, als ich geplant hatte. Ich habe mich jedoch darauf eingestellt, und alles ist gut. Die Weihnachtslichter sind jedenfalls schon angezündet, und es macht nichts, dass die Tage wegen des Wetters größtenteils grau waren, abends nach dem Dunkelwerden war die Stimmung auf jeden Fall warm und weihnachtlich. Um nicht zu sagen romantisch. Man kann sagen: Der Mensch wird verwöhnt.« So denke ich. Und dann bin ich einfach nur mittendrin als ein Gegenstand, gleichsam wie eine Frucht oder eine Bank, wie irgendein Möbel. Ich höre Geräusche, die ich erkenne, die ich aber trotzdem keiner Handlung oder keinem Ereignis zuordnen kann. Es folgt eine Pause.

Leere. Und dann plötzlich wie der Blitz aus heiterem Himmel Jervaar! … happy birthday. Danach ein Hrm. Ein bekanntes Hrm. Ein gutes Hrm. Es ist der Atem. Hrm. Ich atme und höre nur Hrm. Dieses Hrm füllt meinen Brustkorb, er wird vom Kartoffelsack zum Luftballon. Gefeliciteert happy birthday. Ich stehe still, mein Blick ruht auf dem grauen Asphalt. Ich sehe meinen abgetretenen Schuh. Dann ist da die im Wind wehende Plastiktüte. Jemand stößt mich an und sagt im Vorbeigehen ’tschuldigung. Und nach einer Weile: Vom Kiosk weht der Duft von Grillwurst herüber. Wer versteht, der macht sich im selben Moment zum Schuldigen. Prometheus. Meine Jacke bleibt an einem Rucksack hängen, den ein vorbeigehender Passant trägt, ich reiße sie los, entschuldige mich, der andere entschuldigt sich ebenfalls, eine kurze Begegnung, bereits jetzt am Vormittag sind viele Leute in der Stadt unterwegs, hoo und hrm, und auch ich sollte mit meiner Tasche und den Ordnern endlich zusehen, dass ich weiterkomme. Während ich gezielt an mein Gepäck denke, wird es noch schwerer, totes Gewicht, meine Arme baumeln hinunter. In meinem Mund der Geschmack eines Glückwunsches, der – es ist fast vierzig Jahre her – nicht in perfekter Form vorgetragen worden war, sondern verzerrt, fehlerhaft, unvollständig, wie ein Stolperer des Zungenmuskels. Jervaar, hahaha, jervaar stößt mich an der Schulter, knufft mich, es ist sein Witz, der Jervaar-Witz, keluggige jervaardag! Pahhy Dirthbay! Und der Held selbst, der holländische Austauschschüler und Kumpel, hatte gelacht jervaardag!

Und das ganze Festpublikum hatte gelacht jervaar!, und es war nicht einmal sonderlich beleidigend gewesen, vielleicht ein kleines bisschen peinlich, sonst nichts, trotzdem war mir diese Episode aus irgendeinem Grunde als Diareihe im Gedächtnis geblieben, sie war eines dieser Dinge, die man auf der Leinwand des Unterbewusstseins sah, immer mal wieder aus irgendwelchen Gründen, sie stellten einem vielleicht eine Frage. Sie tauchten auf, sprangen einen regelrecht an, auch jene Jervaar-Diareihe hatte damals ihre wortlose Fragen gestellt, etwa so: Wo komme ich eigentlich her, warum bin ich da, was denke ich darüber, diese Nuss musst du jetzt knacken. Früher war das wichtigste eine fragende Haltung. Früher war es noch so. Heute trat die Erinnerung weniger fordernd auf, sie begnügte sich damit, sich zu zeigen und zu sagen: Weißt du noch, ich bin noch da, als Gedanke, gelukkige verjaardag. Der Zungenmuskel übersprang eine Silbe, das Wort kam nicht richtig heraus, eine Silbe hatte an der falschen Stelle Purzelbaum geschlagen, ein jervaar, das versehentlich in die Welt geschlüpft war und sich darin festgesetzt hatte. Das war alles. Von der ganzen Feier war mir nichts weiter in Erinnerung geblieben als jener Moment an der Tür und die beiden Worte. Was hatte es nur damit auf sich, und wieso gerade jetzt dieses ständig sich wiederholende jervaar? Weit ist mein Weg nun nicht mehr. Ich habe Hunger. Und auch ein wenig Durst.

Ein Imbisskiosk neben dem anderen. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke. Mittelmeersalat, Salamiknäckebrot, Falafel. Bratwurst, Schnitzelsemmel, Leberkässemmel. Doch ich soll ja nicht. Man hat ja seine Diät und einen festen Entschluss. Aber. Ein Käsesandwich, ein Becher mit Tee, im Tee Honig, und es war Nachbars Tom, der… Und Sara pflegte zu sagen: Du kannst eine Geschichte nicht mitten aus deinen Gedanken heraus beginnen, das versteht kein Mensch! Und ich lachte und erzählte von Anfang an, ging noch weiter zurück, begann: Es gab einmal in der Nachbarschaft eine böse, geizige, reiche Frau und Mutter, die raffte und raffte Besitz, während andere hungerten und froren, sie sammelte und sammelte, ohne dass sie je beabsichtigt hätte, all das für irgendeinen Zweck zu gebrauchen, eine richtige Königin des Werts an sich, ein weiblicher Onkel Dagobert und so weiter. Aber jetzt lache ich nicht, sondern ich weine. Sara. Und. Und die Allergie. Und der Schuh rutscht mir vom Fuß. Und die Aktentasche fällt herunter. Das Haar klebt mir auf der Stirn. Ich sehe nichts. Wo ist die Brille. Honig im Tee und du blödes Huhn, du dummes, dummes… dummer Mensch! Sara. Fast dreißig Jahre lang ein Auf und Ab, Für und Wider. Und dann so etwas! Eine unglaubliche Frechheit! Ich kann den Schuh mühsam wieder zurechtrücken, indem ich mehrmals aufstampfe und mit dem Fuß im Schuh hin- und herrutsche. Die Brille ist in der Aktentasche, sie muss dort sein, sie wird noch gebraucht. Und falls sie da nicht ist, dann eben nicht. Kaufen wir halt eine neue. Die Welt geht nicht unter, an Kleinigkeiten scheitert mein Leben, wenn es denn scheitert, hatte jemand gesagt, und he!, hatte ich heute gerufen. Hatte die Schüler nach Hause geschickt. Die Sonne hatte mit voller Kraft gestrahlt. Beginn und Ursprung des Lebens und der Nahrungskette, höchster Gott des alten Ägypten. Die Fenster des Klassenraumes waren ziemlich schmutzig. Macht nichts. Ich hatte mich hinausgebeugt, um sie zu schließen, und dabei eine Spinne auf dem Fensterbrett entdeckt. Ich nahm ein Stück Papier, denn ich wollte ihr hinaushelfen.

Aber die Spinne huschte weg. Wohin war sie verschwunden? War sie bereits draußen? Hoffentlich. Dann tauchte sie wieder auf, kam von draußen zurück nach drinnen, so ein dummes Tier. Ich konnte sie auf das Stück Papier locken, schüttelte es draußen kräftig, und weg war sie. Man muss einem Tier entweder hinaushelfen, es in Ruhe lassen oder rasch töten. Die humanste Art. Ich habe gesagt: Ich verspreche, alles richtig zu durchleuchten, sichere Quellen zu finden, dort können die Schüler sich Informationen holen, tiefer graben, sich gründlich mit der Sache befassen, Wege finden, sich verirren, selber denken. Ich habe gesagt: Wir folgen in Gedanken unseren eigenen Wegen. Und ich sage außerdem: Wir alle wissen, dass es wichtig ist, den eigenen Wegen zu folgen, und dann lache ich, aber die Schüler begreifen nicht, was ich gesagt habe, sie verstehen den Witz nicht, der entsteht, wenn man etwas und gleichzeitig das Gegenteil davon behauptet, sie sind noch zu jung dafür. Dieser Tag. Und als ich die Schultür geöffnet habe, die erst kürzlich von außen schön restauriert und lackiert worden ist, hat mich die Sonne begrüßt.

Und dieser böige Wind, der möglicherweise einen Wechsel des Luftdrucks ankündigt, alles ist zu etwas gut. Der Juni war bisher außergewöhnlich drückend gewesen, sowohl heiß als auch feucht, tropisch, kann man sagen, ich habe fast schon automatisch wochenlang einen Regenschirm mit mir herumgetragen. Als ich aus dem Schulgebäude hinaustrat, freute ich mich über die Sonne, die immer noch schien, und über die Wärme, ich dachte jedoch auch an meine älteste Tochter Martha, an ihr Leben, an ihren Lebenskreis und die damit verbundenen Dinge und Ereignisse selbstverständlich, und ich dachte, dass Kühle wünschenswert wäre, weil schwangere Frauen und neugeborene Babys vermutlich sonst ziemliche Qualen litten. Iit-iit! Iit-iit!, sagt mein Telefon. War es schon die zehnte neue Nachricht? Kann sein. Ein paar Nachrichten auf der Liste. Mutter. Martha. Martha. Martha. Ich würde sie mir im Auto genauer ansehen, sehr bald also. Ich würde dort antworten. In Ruhe. Keine Hektik. Ich kann deine Klasse übernehmen, falls du morgen nicht kommen kannst, hatte die Kollegin gesagt. Wir unterrichteten schon länger als zehn Jahre an derselben Schule. In der Freizeit trafen wir uns nicht, aber in der Schule kannten wir die Gewohnheiten und Vorlieben des jeweils anderen. Wir hatten uns angewöhnt, nach Abschluss des Unterrichts die Hand zu schwenken, eine Geste, die man durch das Fenster in der Klassentür sehen konnte. Ein schönes Wochenende und so weiter. Das war nett. Danach begann das Alleinsein oder die Einsamkeit. Nicht die Einsamkeit, sondern das Alleinsein.

Diese Ruhe. Sie hatte nicht nach Sara gefragt. Hatte nichts gesagt, was das Thema berührt hätte. Die Schultür ließ sich am besten mit dem eigenen Körpergewicht öffnen, wenn man sich im richtigen Winkel dagegen lehnte. Dann trat man hinaus auf die Straße, ging zum Auto, öffnete die Tür und ließ, und das würde ich bald erneut tun, den Stapel Material – größtenteils Bücher und Ordner – auf die Rückbank gleiten. Dinge erledigen, das war der übliche Ausdruck, und ist es immer noch. Das Auto war schon zu sehen. Ein grüner Fiat, der Wagen von Commissario Montalbano. Oder sagen wir, aus derselben großen Familie. Im Mund der Kaffeegeschmack. Gegen Schwindel hilft Kaffee. Wer hatte das behauptet oder gesagt? Großvater war es gewesen. Kaffee hilft gegen Schwindel. Ihn schwindelte manchmal. Er war allerdings auch schon sehr alt gewesen. Über neunzig Jahre. Er wurde fast hundert. Und noch eine Straßenüberquerung, dann gelangte ich endlich ans Ziel, ich holte den Autoschlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Das Auto ist altmodisch, es gibt keinen elektronischen Öffner, keine Belüftung und keine abgedunkelten Scheiben, die Sitze kann man nur ganz wenig vor- und zurückschieben und sie lassen sich nicht in die Waagrechte absenken, wie es in den modernen Autos oftmals möglich ist. Die Sachen muss man hinten im Kofferraum aufbewahren. Ich lege die Aktentasche, die Ordner und den Beutel vorsichtig neben den Blumenstrauß, schiebe alles auseinander. Ich kontrolliere den Zustand der Blumen: gut. Der Plastikbeutel. Die Papiere. Die Ordner. Die Aufsätze der Kinder, ihre Gedanken. Ismail hat ein leeres Blatt abgegeben. Wieder ein leeres Blatt. Nichts hatte geholfen. Er war einfach nur anwesend. Oh, wie hatte ich manchmal Lust, ihn zu schütteln. Ich holte aus der blauen Sporttasche ein sauberes Hemd, Strümpfe und Unterwäsche. Den Kamm fand ich nicht. Ich zog das Sakko aus, faltete es und legte es auf die Rückbank.

Die Essays. Die Bücher. Ismail. Nur ein paar Worte. Es tut mir wirklich leid. Immer dieselben Worte, obwohl ich ihm wer weiß wie oft gesagt habe: nicht deine Schuld. Wenn irgendwas sicher war, dann: nicht deine Schuld. Am Hemd fehlte mitten auf dem Bauch ein Knopf. Er hatte, als er sich löste, ein kleines Stückchen Stoff mit abgerissen, aber das Loch ließ sich reparieren. Wenn man es wollte. Wenn man es könnte. Unten am Hemdsaum war ein Ersatzknopf befestigt und wartete auf seinen Einsatz. Das war sehr freundlich und verständnisvoll. Kein Tadel wegen des schlechten Umgangs mit dem Hemd, im Gegenteil, eher eine Botschaft: Sowas kann passieren, wo gehobelt wird, fallen Späne, das wissen wir ja und versuchen zu helfen. Allerdings wäre auch eine Nadel erforderlich und ein Faden. Die standen mir jetzt hier nicht zur Verfügung. Ich zog mein Hemd aus, rollte es zusammen und schob es zwischen das Gepäck, schüttelte das saubere Hemd auf, steckte die Hände durch die Ärmel und öffnete den Hosengürtel. »Sie wollen doch nicht etwa …?«, fragte jemand und unterbrach mich. Ich blickte auf. »Ist dies wirklich …?« Ein Mensch, ein Mann in Jeans und Sakko, sah mein Auto und mich an, fasste uns beide mit einer kreisenden Handbewegung zu einer Einheit zusammen, für die er anscheinend eine passende Bezeichnung oder einen Ausdruck suchte, und, wie er da die Luft quirlte, wirkte er missbilligend und besorgt und geniert und amüsiert, alles auf einmal. Dennoch vermochte er in seinem Gefühlschaos Stil und Takt zu wahren, auch er vielleicht ein Abkömmling der Familie Salvo Montalbano, jedenfalls schien er von mir eine Erklärung zu erwarten oder zu verlangen. Aber nein, gar nicht aus Italien, sondern wie Ismail! Genau wie Ismail. Nur etwas älter, sagen wir zehn Jahre, und andere Ohren, rundere, aber sonst, hier hatten wir Ismail in zehn Jahren, dasselbe Auftreten, dieselbe Miene, dieselbe Haltung das gibt es ja nicht unendlich oft, jeder Mensch ist und ist nicht einzigartig, das ist seine Rettung und sein Verderben. Aber ich hatte ja nichts beabsichtigt oder gesagt, ich redete einfach nur mit mir selbst, das kommt manchmal vor, wenn man etwas sehr intensiv erlebt, und der Mann, der zukünftige Ismail, lächelte ebenfalls und entfernte sich zu seinem eigenen Fahrzeug. Es ist ja wohl kein so außergewöhnliches Ereignis, dass man in seinem Auto das Hemd wechselt – an so einem windigen und trotzdem schwülen Tag –, jedenfalls nicht in dem Maße, dass sich da jemand einmischen müsste. Mit welcher Begründung denn? Das schmutzige Hemd nach hinten und das neue übergestreift, ein Ärmel, der andere Ärmel, und dann die Knöpfe, die Krawatte.

Ein Mann zieht sich an, wie sich ein Mann normalerweise anzieht, was ist schon dabei? Ich war erleichtert, weil dieser zukünftige Ismail mit all seinen Schwierigkeiten gut fertigzuwerden schien, er war stark, sah gut aus und stand mit beiden Beinen im Leben. Ihm war es gut ergangen. Man könnte dies und das auf seine Schultern laden, und er würde es mühelos tragen. Und dann vergaß ich die Erleichterung, denn in Wahrheit handelte es sich natürlich um eine ganz andere Person, und Ismails erfolgreiche Zukunft war nur mein Wunschtraum. Es handelte sich um den neuesten und jüngsten Kollegen an meiner Schule, der unter anderem Geografie unterrichtete. Grund genug, ihn mit einem Hallo zu grüßen, einen schönen Tag und einen schönen Abend zu wünschen. Ich sagte also Hallo und machte eine Bemerkung dazu, wie schwül die Luft sei, trotz des Windes. Er sagte, oh ja, das stimmt, puh!, wenn doch der Luftdruck durch den Wind ein bisschen sinken würde, wer weiß, vielleicht kommt es zu einer Art Sommersturm, er musste unbedingt daran denken, die Balkonstühle zusammenzuklappen und das Auto in die Garage zu bringen, um es vor Hagelschlag zu schützen, er wollte keinen Kartoffelacker auf dem Dach seines Wagens haben. Ja, und natürlich wegen der Windschutzscheibe, das ist schließlich nicht bloß ein kosmetischer Schaden. Er öffnete die Tür seines Autos und setzte sich hinter das Steuer. Ich kann nicht wirklich wissen, wie es Ismail einmal ergehen wird. Die Hose.

Der Reißverschluss. Die Knöpfe. Der Gürtel. Ich gieße mir aus der Thermoskanne Kaffee in eine Tasse und trinke. Der junge Kollege fährt nicht los, sondern sitzt reglos in seinem Auto. Und jetzt öffnet er die Tür, zieht ebenfalls das Sakko aus und wirft es auf die Rückbank. Dann steht er auf und sagt: »Ich wollte noch etwas fragen.« Ich lächle ihn an. Ich bringe ihn lächelnd zum Schweigen. So was geht. Es ist ja nichts passiert. Nichts Erwähnenswertes. Ich trinke Kaffee. Die jüngste Studie zum Kaffee kommt aus Finnland. Dort wird laut Statistik am meisten Kaffee auf der ganzen Welt getrunken. Und weil im Land viele Herz- und Kreislauferkrankungen auftreten, untersucht man eifrig die Wirkung des Kaffees. Der Kollege hat zugehört. Ich mache eine Pause. Ich warte so lange, bis er fragt, bis er gezwungen ist zu fragen: »Und das Ergebnis?« Ich antworte: Ergebnis null. Kaffee hat keine negativen Auswirkungen in diesem Zusammenhang. Niente. Nada. Null. Welcher Ort Deutschlands war es doch gleich, aus dem Sie kommen? »Hamburg«, erwidert er. Ja, richtig, Hamburg, sage ich und fahre fort: In Wien kursierten über den Ursprung der Kaffeehäuser allerlei Behauptungen. Früher wurde eine Heldengeschichte erzählt, die mit den Türkenbelagerungen in Zusammenhang stand. Das war Unsinn und hörte sich einfach nur gut an, schon allein das Wort »Türkenbelagerungen«, da konnte man durchaus eine Prise Propaganda hineinlegen, wenn man wollte. Oder eine Handvoll. Aus der Prise wird leicht sogar ein Kübel, fast unbemerkt. Der teuerste Kaffee der Welt hingegen kommt aus der Heimatgegend der Schleichkatzen in Südostasien. Fünf Zehner für hundert Gramm. Die monatlichen Heizkosten einer kleinen Wohnung. Oder achteinhalbmal Besuch der Schwimmhalle. Der Ursprung der Veredelung der Kaffeebohnen. Und Kaffee an den unterschiedlichsten Orten. Was bedeutet er dort, wo er wächst? Kaffee und Kakao. Luxusgüter.

Absolut. Der junge Kollege ist still, denkt über etwas nach, kaut auf den Lippen. Dann sagt er: Nein, eigentlich nichts weiter, wir sehen uns. Ich antworte: Ja, wir sehen uns. Als nach dem Krieg die Pakete mit dem Kaffee kamen, sagte Vater, erzählte Geschichten davon. Wertete den Kaffee in den Hilfspaketen als gutes Zeichen. Und der Kollege startet seinen schwarzglänzenden, schönen, pumagleichen Wagen und gleitet hinein in den Verkehrsstrom. Er wartet an der roten Ampel, blinkt nach rechts und verschwindet, als die Ampel umschaltet, aus dem Blickfeld. Ein schönes Auto, flüssiger Fahrstil, da gibt es gar nichts. Ich schnalle den Gürtel enger. Dann setze ich den Kaffeebecher in die dafür vorgesehene Halterung, kontrolliere, ob die Thermoskanne fest verschlossen und diesbezüglich alles in Ordnung ist. Einige Monate vor seinem Tod wurde Vater seltsam. Er war in guter Verfassung, aber ein Eigenbrötler. Die Haushälterin schilderte ihre Beobachtungen, machte sich Gedanken und erzählte. Sie sagte: nicht sehr besorgniserregend, aber seltsam. Vater war der erste gewesen, dem Saras Rückzug aufgefallen war, er erkannte in ihr wohl eigene Wesenszüge, billigte ihre wiederholte Abwesenheit nicht, erkundigte sich immer wieder nach ihr. Er sagte, da haben wir ja mal einen empathischen Menschen, der so ist, wie ein Mensch sein soll, er erkennt auf einen Blick, was nötig ist, weiß immer, was los ist. Die Haushälterin fand Vaters Vergesslichkeit befremdlich. Und das war sie wirklich. Es schien Trotz zu sein, er gab nicht mir die Schuld, sondern der ganzen Welt, er hatte der ganzen Welt den Rücken gekehrt und sagte: Ein Mensch wie Sara dürfte doch nicht schwer zu behandeln sein. So einer von der mitfühlenden Sorte. Was kann daran so schwer sein, jemanden am Leben zu erhalten. Unter Kontrolle? Wenn er von Sara sprach, meinte er anscheinend im gleichen Maße sich selbst. Die Haushälterin mochte ganz offensichtlich keine seltsamen Dinge. Dinge, die sie »nicht verstand«.

Ihre Nackenhaare sträubten sich, wenn da einer gleichsam wie in einem freiwilligen Gefängnis lebte. Oder in einem Zuchthaus. Sie sagte: »Mir ist nicht ganz klar, ob dein Vater dem Tod als typischer Österreicher begegnet: Ich lasse dich nicht aus den Augen. Wenn du mir drohst, bin ich schneller als du. Und wenn ich mich in den Sarg lege und auf dich warte und schneller bin als du, dann habe ich gewonnen.« Ismail sprach in der Klasse kein Wort. Erst war es weniger geworden mit seinem Sprechen, dann war er ganz verstummt. Einmal hatte er sogar Prügel dafür bezogen, dass er nie antwortete, jemand hatte sich über sein hartnäckiges Schweigen geärgert, hatte es für Überheblichkeit gehalten. Ismail wurde verdroschen, sagte aber trotzdem nichts, gab keinen Mucks von sich, nahm die Schläge entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war grauenhaft. Ich ziehe die Schuhe aus, wechsle die Strümpfe. Die Unterwäsche hätte ich ebenfalls gern gewechselt, aber das würde jetzt hier nicht funktionieren, in der Öffentlichkeit zwischen Auto und Gehsteig. Ich stopfe die saubere Unterhose und die Krawatte in die Aktentasche, die schmutzigen Stücke finden ihren Weg in den schwarzen Müllsack, der in einer Ecke des Kofferraumes liegt. Die gebeugte Haltung ist nicht gut für meinen Rücken. Ich richte mich auf. Mit dem Umziehen bin ich fertig. Ich blicke auf die Uhr. Vor der Abfahrt müsste ich noch Martha und Mutter antworten. Martha, dem einsamen Kind.

Martha war ein einsames Kind. Damit sie Gesellschaft hätte, besorgte ich ihr eine Katze, ich holte das Tier von einem Bauernhof, wo die Leute stets zu viele Katzen haben. Damals war es für Martha natürlich die einzige Katze der Welt. Aber später, als sie älter wurde, kam sie dahinter, dass es sicherlich mehrere kleine Kätzchen gegeben hatte. Sie wollte wissen, was mit den anderen geschehen war und wie ich diejenige ausgewählt hatte, die sie bekommen hatte. Ich atme langsam aus und ein. Ich hebe das Kinn, schließe die Augen, lasse mich von der Sonne wärmen, lasse den Wind über Stirn, Wangen, Nase und Lippen streichen, massiere mir die Schläfen. Wir alle wissen. Der Wind weht jetzt womöglich noch heftiger als vorher. In der blauen Sporttasche im Kofferraum gibt es noch zwei von den sauberen Hemden. Unterwäsche und Strümpfe für eine Woche. Im Waschsalon standen an einer Wand neun Waschmaschinen, von denen jede mit höchstens sieben Kilo Trockenwäsche beladen werden konnte. An der anderen Wand standen vier riesige Trockner, die aus irgendeinem Grund besonders freundlich wirkten. Die durfte man jeden Donnerstag von 12 bis 18 Uhr kostenlos benutzen. Eine Bügelmöglichkeit hingegen gab es nicht, lediglich die große Mangel. Ich hatte das Bügelproblem dadurch gelöst, dass ich die Hemden sorgfältig faltete und mit einem leichten Gewicht beschwerte. Bei der ersten Wäsche hatte diese Technik gut funktioniert, danach hatten die Hemden immer zerknitterter ausgesehen. Saras Standardreaktion auf meine Ratlosigkeit angesichts all jener Hausarbeiten, die nicht mit der Essenszubereitung zu tun hatten: »Ich helfe dir dann.«

Sie sagte oft: »Ich kann ja helfen / machen / bügeln / waschen, das ist kein Problem.« Und sie hielt auch gewissermaßen ihr Versprechen, sie wollte sich nur keine genauen Termine setzen. Sie fand das vielleicht irgendwie belastend, sie wollte die Möglichkeit haben, nach freiem Ermessen zu handeln, wollte, dass die Dinge weitgehend »von selbst« liefen, und vielleicht hatte sie damit auch recht, sie zeigte nie irgendwelche körperlichen Symptome von Stress, hatte keine Kopfschmerzen, keine Rückenschmerzen, Nacken- oder Hüftprobleme. Alles zu seiner Zeit, sagte sie. Aber für mich ist eine solche Planlosigkeit, dieser Mangel an praktischem Sinn, schwer zu ertragen. Und so folgte eines Tages eine besonders heftige Auseinandersetzung, über die wir beide wohl so sehr erschraken, dass dergleichen danach nie wieder vorgekommen ist. Wir waren an eine Grenze gelangt, und es war gut so. Ich hatte gebeten, dass wir unmittelbar nach dem Essen die DVD einschalteten, die wir bereits zuvor ausgewählt hatten, weil ich vor dem Schlafengehen noch die Küche aufräumen und die Spuren des Kochens beseitigen müsste, und wir hatten aus meiner Sicht schon genug herumgetrödelt. Der Film war gut. Danach sprang ich auf und ging in die Küche. Nach ein paar Minuten kam die Ich-helfe-dir-Sara hinterhergeschlurft und fing an, auf einem Nebentisch irgendwelche Post zu sortieren. Sie störte mehr, als sie half. Ich regte mich auf. Sie regte sich noch mehr auf. Warum ich dauernd bestimmen und dominieren müsse. Ich sagte, dass ich absolut nicht den Ehrgeiz hätte, den Küchenchef oder Reinigungschef oder sonstigen Chef zu mimen.

Wenn jemand die Initiative ergreifen, die Zügel in die Hand nehmen und einen Plan machen würde, hätte ich keine Probleme damit, diesen Plan zu befolgen und abzuwaschen oder zu trocknen und Töpfe und Pfannen so ordnen, wie man es mir sagt. In genau dieser Reihenfolge. Ich fühle mich keineswegs gedemütigt, wenn ein anderer den Küchenputzplan erstellt. Wenn jemand sich Gedanken macht, handelt, führt und für die gemeinsamen Angelegenheiten Verantwortung übernimmt. Denn auch das ist nötig, gerade das ist nötig, sagte ich. Sara war beleidigt, ihre Art, mit den Dingen umzugehen, verblüffte mich immer wieder. Solche Dinge gingen über meinen Verstand. Solche glasklaren Dinge, wie war das nur möglich? Wie kann Sara oder irgendjemand nur? Du meine Güte, diese ganze ausufernde Diskussion, »aus einer Mücke einen Elefanten machen« beschreibt nicht einmal annähernd ihre Dimensionen, die gewaltigen Ausmaße, die ein Streit annehmen konnte, der aus einer bei der Küchenreinigung angebotenen Hilfe, aus dem Samen der Worte »ich helfe«, hervorgegangen war. Was also existierte und was nicht? Wie verhielten sich die Dinge und wie nicht? Worum ging es überhaupt und worum nicht? Was war wahr? Ich helfe dir dann, das ist kein Problem. All das lag allerdings in der Vergangenheit. Heute jedoch stellten sich in einer ganz anderen Situation die gleichen Fragen: Ismails leeres Essayblatt. Darauf stand absolut nichts, kein Wort, kein Gedanke, nichts. Obwohl ich gesagt hatte und sage: nicht deine Schuld, überhaupt nicht. Ich bücke mich, um die Schnürsenkel besser zu binden, sie sind verschlissen und das Band am rechten Schuh reißt, während ich die Schleife korrigiere. Ismail war mit der Zeit nachdenklich, dann schweigsam und schließlich – so kann man sagen – stumm geworden. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt, dass er in der Schule nicht mehr sprach, zu Hause sprach er normal mit seinen Eltern, jedenfalls erzählten sie das. Generell sprach er mit allen Leuten, die er vor seinem achten Lebensjahr kennengelernt hatte. So hatte man mir berichtet.

Früher hatte er in der Schule immerhin geschrieben, heute keine Spur mehr davon. Die Klasse war auch sonst unerträglich reglos gewesen. Alle Schüler. Sie waren angespannt. Lauernd. Leidend. Worauf warteten sie? Nur auf die Sommerferien? Oder worauf? Was vermuteten, fürchteten, beabsichtigten sie? Ich hatte den Anblick nicht ertragen können. Ihr könnt Schluss machen, hatte ich gesagt. Los, geht nach Hause. Vergesst nicht, eure Namen draufzuschreiben, hatte ich hinzugefügt. Sie hatten mir ihre Zettel gebracht, hatten auf Wiedersehen gesagt, als sie gingen. In dem leeren Klassenraum hatte ihr Aufenthalt nachgehallt, ihr Atem, das Kratzen kleiner Hände, leise Worte und Antworten, das Schurren der Schuhe auf dem Fußboden. Die Herzen, Hoffnungen, Träume und Fragen der Kinder. Ich hatte alledem gelauscht. Mir wollte das Herz brechen. Gleichzeitig war es wie ein undefinierbarer Brei. Und ich war hungrig gewesen. Jetzt stehe ich hier auf dem Parkplatz, gegenüber der Kirche, am Straßenrand, im Wirkungsbereich der Gerüche des Würstelstands.

Mach nicht das, was ich mache, sondern das, was ich sage