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Elisabeth Beck-Gernsheim

Die
Reproduktionsmedizin
und ihre Kinder

Erfolge – Risiken – Nebenwirkungen

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Dank für die Unterstützung an das Literaturhaus Graz

© 2016 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Redaktion: Harald Klauhs, Astrid Kury
Wissenschaftliche Beratung: Thomas Macho, Peter Strasser
Lektorat: Jessica Beer
Umschlaggestaltung: Kurt Dornig
Grafische Gestaltung, Satz: Ekke Wolf, typic.at

ISBN Printausgabe 978-3-7017-1655-5
ISBN e-Book 978-3-7017-4512-8

Inhalt

Kapitel I
Erkundungen im Kinderwunsch-Land: eine Einführung

1. Paulchen oder der Weg ins Familienglück

2. Vergebliche Hoffnung, verlängertes Leid

3. Weniger Bindungen, weniger verlässliche Bindungen

4. Umstrittene Zugehörigkeiten: Wem gehört das Kind?

5. Über professionelle Blindheit und strategische Lücken

Kapitel II
Social Freezing – die neue Freiheit der Frau?

1. Was ist und wozu dient Social Freezing?

2. Von der Pille lernen

3. Eine unsichere Versicherung

4. Teure Freiheit

5. Alte Zwänge, neue Zwänge

Kapitel III
Kinderwunschtourismus: Die Globalisierung der Fortpflanzungsmedizin

1. Google Baby oder: die transkontinentale Baby-Produktion

2. Die Vorteile

3. Besondere Zutaten

4. Legal, translegal, illegal

5. Arm und reich

6. Hierarchie der Hautfarben und ethnischen Gruppen

Kapitel IV
Kommerzialisierung: Im Wilden Westen der Medizin

1. Goldgräberstimmung

2. Erfolgszahlen: die kreative Aufbereitung statistischer Daten

3. Begriffsnebel und Makler-Lyrik

4. Auf dem Weg in die industrielle Warenproduktion

Kapitel V
Ausblick: Bedenkenträger gesucht

Literaturverzeichnis

Kapitel I
Erkundungen im Kinderwunsch-Land: eine Einführung

1. Paulchen oder der Weg ins Familienglück

Dieses Buch ist Paulchen gewidmet.

Paulchen ist heute zwei Jahre alt. Seine Eltern, Thomas und Katharina, hatten lange auf ein Kind gewartet, doch das Wünschen blieb immer vergeblich. Immer wieder erlebten sie das Auf und Ab der Gefühle, immer wieder die Hoffnung und dann die Enttäuschung. Thomas erbte ein altes Haus, dunkel und eng. Katharina, selbständige Architektin, baute um, menschenfreundlich und hell. Vorne die Terrasse, daneben das Kinderzimmer, ein paar alte Bäume, ein kleines Gärtchen. Doch das Kinderzimmer blieb leer. Und im Gärtchen spielten die Kinder der Freunde.

Nachdem ein paar Jahre vergangen waren, gingen Thomas und Katharina zum Arzt und in die Kinderwunsch-Sprechstunde. Es folgten Untersuchungen, Tests, Hormongaben. Neue Hoffnung, neue Enttäuschung, neue Tränen. Noch immer kein Kind. Dann die nächste Stufe, die Invitro-Fertilisation (IVF) – auch Zeugung im Reagenzglas genannt –, heute der Standardweg der künstlichen Befruchtung.

Und schließlich, nach mehreren Anläufen, das Happy End. Paulchen wird geboren – ein sogenanntes Retortenbaby. Er ist das Glück seiner Eltern. Er lacht, er jauchzt, er ist voller Leben und Energie.

Ich bin Paulchens Tante und erlebe in dieser Nebenrolle sein Aufwachsen mit. Sein Lachen wärmt auch mein Herz. Ich weiß, ohne In-vitro-Fertilisation gäbe es dieses Lachen nicht. Ohne die Angebote der modernen Fortpflanzungsmedizin gäbe es Paulchen nicht.

Kinder wie Paulchen sind die Erfolgsbotschafter der Fortpflanzungsmedizin. Bilder, die fröhliche Kinder zeigen, sind Hoffnungsträger und gehören zum gängigen Repertoire vieler Internet-Auftritte. Sie werben für die eine oder andere der zahllosen Kliniken, die Kinderwunsch-Behandlungen anbieten – von Kalifornien bis Indien, von der Ukraine bis Zypern. Auch die Pioniere der Reproduktionstechnologie erzählen gern solche Erfolgsgeschichten. Zum Beispiel Hans-Harald Bräutigam und Liselotte Mettler, zwei der frühen Spezialisten der modernen Fortpflanzungsmedizin in Deutschland:

»Es gibt nicht wenige Ehepaare, deren Schicksal Kinderlosigkeit ist … Viele begreifen dieses Defizit als Krankheit und leiden seelisch darunter … Es ist nicht wegzuleugnen, dass für viele Frauen das eigene Kind nicht nur sehnlichster Wunsch, sondern auch ureigenes biologisches Bedürfnis ist. Daher überschreiten Ärzte mit ihren klinischen und wissenschaftlichen Bemühungen auch nicht die ihnen gesetzten ethischen Begrenzungen, wenn sie einem Ehepaar dazu verhelfen, ein eigenes, von ihnen abstammendes Kind zu bekommen.«1

Wenn man solche Geschichten genauer betrachtet, so findet man einen typischen Aufbau und typische Rollen. Die immer wiederkehrenden Elemente sind Leid und Erlösung, und zwar in einer dramatisch sich zuspitzenden, zeitlichen Abfolge: am Anfang das Leid, dann die Erlösung. In den tragenden Rollen finden wir auf der einen Seite das verzweifelte Kinderwunsch-Paar, auf der anderen Seite den entschlossenen und mutigen Retter, also den Fortpflanzungsmediziner.

Die Frage ist allerdings, wie angemessen dieses Erzählmuster ist. Wie typisch ist dieses Skript, wie typisch sind solche Erfolgsgeschichten? Wie oft ist die Fortpflanzungsmedizin tatsächlich damit befasst, dem verzweifelten Paar zum Kind zu verhelfen, und wie oft gelingt ihr das auch? Und was ist aus den Warnungen geworden, aus den erhitzten Debatten, die die Anfangszeit der In-vitro-Fertilisation begleiteten? Haben sich die Alarmrufe als unbegründet erwiesen, sind sie von der Wirklichkeit widerlegt worden, sind sie anachronistisch geworden?

Spurensuche: Über die Kehrseiten des Glücks

Erste Hinweise liefern die Statistiken, die von den internationalen Institutionen und Standesverbänden der Fortpflanzungsmedizin gesammelt werden. Daraus wurden über die Jahre hinweg immer neue Erfolgszahlen generiert, die in den Medien regelmäßig für Schlagzeilen sorgen. Eine der frühen Rekordmarken hieß: »Weltweit eine Million Retortenbabies geboren«, einige Jahre darauf waren dann zwei Millionen erreicht, und inzwischen ist die Fünf-Millionen-Marke schon überschritten.

Es wäre zweifellos ein grandioser Erfolg, wenn sich die Geschichte der modernen Fortpflanzungsmedizin auf solche Zahlen reduzieren ließe. Aber in den letzten Jahren sind zunehmend wissenschaftliche Untersuchungen, journalistische Recherchen und persönliche Erfahrungsberichte entstanden, die dokumentieren, dass dieser Erfolg auch seinen Preis hat: dass die Fortpflanzungsmedizin nicht nur den Weg zum Familienglück öffnen kann, sondern auch ein erhebliches Potenzial an problematischen Folgen enthält. Diese reichen von physischen und psychischen bis hin zu sozialen und ökonomischen Konsequenzen; sie betreffen Männer und Frauen mit Kinderwunsch, aber auch Samenspender, Eispenderinnen, Leihmütter und last, but not least die mit den neuen Methoden gezeugten Kinder. Dies alles ist bislang nicht systematisch geordnet abrufbar, sondern muss aus einer Vielfalt von Quellen erst zusammengesucht werden.

Um die Bedeutung der Fortpflanzungsmedizin realistisch einschätzen zu können, muss man beides in den Blick nehmen, die Erfolge wie die Kehrseiten. Deshalb wird hier in exemplarischen Ausschnitten immer wieder die Frage verhandelt: Wann, unter welchen Umständen und für welche Gruppen bringt die Fortpflanzungsmedizin nicht das ersehnte Kind und den Weg ins Familienglück, sondern hat ganz andere Folgen?

Finanzielle und andere Kosten

Der Erfolg hat seinen Preis, und zwar zunächst im ganz wörtlichen, finanziellen Sinn. Die hochtechnisierte Kinderwunschmedizin ist teuer, wie andere Sparten der hochtechnisierten Medizin auch, wobei bestenfalls – je nach Land, Versicherungsbedingungen etc. – ein Teil der Kosten von Staat oder Krankenkasse übernommen wird, im weit häufigeren Fall aber alles privat bezahlt werden muss. Das kann, selbst bei gehobenem Einkommen, erheblichen finanziellen Einsatz verlangen und für niedrigere Einkommensklassen schnell unerreichbar werden (auch die Eltern von Louise Brown, dem ersten Retortenbaby der Welt, konnten sich die Behandlung nur deshalb leisten, weil sie kurz zuvor in einer Lotterie ein paar hundert Pfund gewonnen hatten). Hinzu kommen die physischen Belastungen. Die Behandlungsangebote der hochtechnisierten Kinderwunschmedizin sind mit einem nicht geringen Potenzial an gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen verbunden, mit invasiven Eingriffen, Hormongaben, sonstigen hochwirksamen Medikamenten etc. Zwar sind die Behandlungen inzwischen so weit zur Routine geworden, dass bei genauer Kontrolle und sorgfältiger Überwachung meist keine größeren Komplikationen auftreten. Aber »meist« heißt, anders formuliert, dass über den Verlauf der verschiedenen Behandlungsetappen hinweg immer ein Restrisiko bleibt (zum Beispiel als Konsequenz hormoneller Überstimulierung).

2. Vergebliche Hoffnung, verlängertes Leid

Auch die psychischen Belastungen und sozialen Beeinträchtigungen sind nicht zu vernachlässigen. Sie sind inzwischen hinreichend dokumentiert, durch wissenschaftliche Untersuchungen, journalistische Reportagen, persönliche Erfahrungsberichte. Sie lassen folgendes Grundmuster erkennen: Im Verlauf der Behandlungen erleben viele Patientinnen ein dauerndes Wechselbad der Gefühle, das Schwanken zwischen Hoffnung, Enttäuschung, neuer Hoffnung, im Vierwochen-Rhythmus sich wiederholend. Darüber hinaus sind die Kliniktermine sehr eng in einen genauen Zeitplan eingebunden, der strenge Disziplin und oberste Priorität gegenüber den Anforderungen aller anderen Lebensbereiche erfordert. Ob Beruf, Freundschaften, Urlaub, Dienstreisen oder Familienbesuche – alles muss den Vorgaben der Behandlungstermine angepasst, andernfalls verschoben, auf später verlegt oder ganz gestrichen werden. So werden alle anderen Lebensbereiche immer weiter an den Rand gedrängt, und alles Planen, Denken, Hoffen wiederum konzentriert sich umso mehr auf das eine: das Kind.

Wenn es dann tatsächlich kommt, dieses Kind, dann sind solche Belastungen früher oder später meist vergessen. Aber was, wenn kein Paulchen kommt? So viel ist sicher: Auch erfolglose Behandlungen bleiben nicht folgenlos, im Gegenteil, sie tragen wesentlich dazu bei, psychisches Leid zu verlängern und zu vertiefen. Statt sich mit der Kinderlosigkeit abzufinden und nach Lebenswegen jenseits von Elternschaft zu suchen, halten die Betroffenen weiter am Kinderwunsch fest, bis sie irgendwann einmal die Aussichtslosigkeit ihrer Wünsche erkennen müssen – oft erst dann, wenn sie andere Interessen, Wünsche, Optionen schon fast vergessen haben.

In der Hoffnung gefangen

Das ist die andere Seite der Fortpflanzungsmedizin, die oftmals außer Acht gelassen wird, wenn man nur die Erfolge zählt. Die amerikanisch-irische Autorin Pamela Tsigdinos hat dies eindringlich beschrieben. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen, schildert sie den langen Leidensweg derer, für die die Verheißungen der modernen Fortpflanzungsmedizin nicht in Erfüllung gingen:

»What began as a hopeful albeit tentative dance with multiple ›best-in-class‹ clinics complete with invasive diagnostics and reassurances led to multiple surgeries, pharmaceuticals, procedures, Chinese herbs, more western pharmaceuticals, acupuncture and, finally, a few rounds of ICSI, IVF and FETs … More than a decade later – after many gut-wracking sobbing fits and prolonged low-grade depressions punctuated with the body blows that accompany the calls from the clinic saying that the alpha pregnancies didn’t make it to beta – slowly, slowly the realization took hold that a successful childbirth would forever be out of reach.«2

In eine ähnliche Richtung weist der Bericht einer jungen Ärztin, die – wiederum aus eigener Erfahrung – den Sog beschreibt, der von diesen Hoffnungen ausgeht. Obwohl sie als Ärztin den Medizinbetrieb von innen kennt und damit auch um dessen Risiken weiß, wird sie genauso von dieser Sogwirkung erfasst. Dabei war die junge Ärztin lange Zeit äußerst skeptisch gegenüber allen Versuchen, mittels Medizintechnologie zu einem Kind zu kommen. Dann aber, als sie selbst einen drängenden Kinderwunsch spürte, setzte ein Umdenken ein. Plötzlich war sie voll guter Hoffnung im wörtlichen Sinn: »Ich war völlig euphorisch und zielstrebig und sah mich schon mit dickem Bauch herumlaufen.« Ob morgens früh oder spät am Tag, jeder Termin war ihr recht, mit jedem war sie ja näher am Kind. Die Hormonspritzen vertrug sie schlecht, bekam Hitzewallungen, machte trotzdem weiter. Umso tiefer war dann der Absturz, als beim ersten Versuch nicht genug Eizellen heranreiften. Sie sah darin eine Art persönliches Scheitern und sich selbst als Versagerin. Um der Verzweiflung ein Ende zu setzen, beschlossen sie und ihr Mann, mit der Behandlung nicht weiterzumachen. Aber dann spürte sie doch wieder die Verlockung, die Hoffnung, und sie meldete sich zum nächsten Versuch an. Diesmal reiften acht Eizellen heran, und die Hoffnungen wuchsen zum Himmel. »Für die Spritze, die den Eisprung auslösen sollte, mussten wir den Wecker stellen, auf zwei Uhr nachts. Aber wir haben es mit Humor getragen, es war ja klar, wir würden bald ein Kind im Arm halten«. Doch die so sehnlich erhoffte Schwangerschaft blieb wiederum aus, stattdessen setzten massive Nebenwirkungen ein, ihre Gesundheit litt immer mehr. Und das war im Grunde ihr Glück, denn dadurch schaffte sie schließlich den Absprung. Später erinnert die Ärztin sich, noch immer schaudernd: Der schnelle Wechsel zwischen Glücksfantasien und Panikausbrüchen, das war »der absolute Horror«.3

Andere Frauen werden immer wieder von einer inneren Stimme angelockt, die leise flüstert: Dieses Mal wird es klappen, dieses Mal werde ich schwanger. Weil die immer zahlreicheren Angebote zur künstlichen Befruchtung einen Markt der Hoffnungen geschaffen haben, fällt der Ausstieg nicht leicht. Nicht wenige Frauen bleiben über Jahre hinweg im Kreislauf von Hoffnung, Enttäuschung und neuer Hoffnung gefangen.

Das Geschäft mit der Hoffnung

Für den distanzierten Betrachter mag es naheliegen, diesen fatalen Kreislauf den Frauen selbst zuzurechnen, darin ein Ergebnis übersteigerter Fantasien und Wünsche, kurz: weiblicher Neurosen zu sehen. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Denn eine zentrale Rolle spielt hier die immer stärkere Kommerzialisierung, die die Fortpflanzungsmedizin in den letzten Jahren geprägt hat (siehe Kap. IV). Diese geht mit einem massiven Gewinnstreben sowie mit Werbemethoden einher, die in variierenden Formen das eine suggerieren, nämlich: die in die Klinik kommenden Frauen sind schon fast am Ziel ihrer Wünsche, das heiß ersehnte Kind liegt fast schon in ihrem Arm.

Bleibt die Frage nach der tatsächlichen Erfolgsquote: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, über die diversen Angebote der In-vitro-Fertilisation zu einem Kind zu kommen? Zahlreiche Kliniken bieten hier beeindruckende Zahlen, aber vieles davon ist zum Zwecke der Werbung geschickt aufgeschönt. Seriöse Angaben findet man eher bei Experten wie Robert Winston, einem der führenden und international bekannten Spezialisten auf dem Gebiet der In-vitro-Fertilisation. Nach Winston ist die Erfolgswahrscheinlichkeit in den letzten Jahren nur wenig gestiegen und liegt heute bei etwa 30 Prozent pro Behandlungszyklus4. Das heißt, von den Frauen, die sich einer IVF-Behandlung unterziehen, wird nur ein knappes Drittel sogleich schwanger und nach neun Monaten tatsächlich Mutter. Gut zwei Drittel dagegen erleben eine Enttäuschung. Sie können zwar im nächsten Behandlungszyklus ihr Glück wieder versuchen. Aber damit beginnt dann schon jener fatale Kreislauf, in dem andere Lebensbereiche immer mehr an Bedeutung verlieren.

3. Weniger Bindungen, weniger verlässliche Bindungen

Als die In-vitro-Befruchtung zum ersten Mal erfolgreich praktiziert wurde, im Jahr 1978 bei Louise Brown, ging es um ein eng definiertes medizinisches Anwendungsgebiet, nämlich darum, trotz blockierter Eileiter eine Schwangerschaft möglich zu machen. In dem knappen halben Jahrhundert, das seitdem vergangen ist, sind die Methoden der künstlichen Befruchtung in schnellem Tempo verfeinert, ausdifferenziert, erweitert worden. Damit ist zugleich eine breite Palette von Optionen entstanden, die in ganz neue Formen und Dimensionen der Fortpflanzung hineinführen. Längst sind es nicht mehr nur Paare, oder gar Ehepaare, die die Hilfe der Fortpflanzungsmedizin suchen, und längst geht es nicht mehr nur um blockierte Eileiter oder andere Probleme biologisch bedingter Unfruchtbarkeit. Stattdessen sind es immer mehr neue Formen des Kinderwunsches, für die jetzt medizinische Hilfe gesucht wird und die das Arbeitsgebiet der Fortpflanzungsmedizin enorm erweitern.

Neue Formen von Kinderlosigkeit und Kinderwunsch

Heute geht es oft nicht mehr um biologisch bedingte Hindernisse, die der Verwirklichung des Kinderwunsches entgegenstehen, sondern es wird vielmehr zur Aufgabe der Medizin, denen zu helfen, bei denen persönliche oder soziale Umstände das Hindernis sind. Zur Erläuterung möchte ich hier drei Fallbeispiele anführen:

Vor einigen Monaten sorgte eine Berliner Lehrerin für Schlagzeilen. Sie war 65 Jahre alt, alleinstehend, hatte bereits 13 Kinder von fünf Männern, dazu etliche Enkel. Weil sie nun noch ein weiteres Kind wollte, fuhr sie in die Ukraine, ließ sich dort befruchtete Eizellen implantieren. Die Behandlung war erfolgreich, ja, sie übertraf alle Erwartungen. Nicht eine normale Schwangerschaft mit einem Kind kam zustande, sondern, so der medizinische Fachbegriff, eine »höhergradige Mehrlingsschwangerschaft«: Vierlinge. Die Kinder wurden weit vor dem normalen Termin geboren, aber sie leben, und die 65-Jährige ist jetzt Mutter von vier Kleinkindern.5

Ein junges Ehepaar in Großbritannien hatte gerade beschlossen, dass es jetzt an der Zeit sei für die Familiengründung, da bekam der Mann Hirnhautentzündung. Als er im Sterben lag, ließ die Ehefrau ihm von den behandelnden Ärzten noch Sperma entnehmen. Das Recht, sich damit befruchten zu lassen, musste sie gegen erhebliche Widerstände vor Gericht durchsetzen. Sie gewann – und gebar dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Mannes einen gemeinsamen Sohn. Ein paar Jahre später, als der Mann bereits sieben Jahre tot war, ließ sie noch einmal Eizellen mit dem Sperma des verstorbenen Mannes befruchten und wurde wiederum schwanger.6

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