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Peter Rosei

Das große Töten

Roman

 

 

 

 

Residenz Verlag

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ISBN eBook:
978-3-7017-4515-9

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1530-5

ERSTES BUCH

1. Ein nicht mehr ganz junger Mann saß vorgebeugt an einem weiß angestrichenen, simplen Küchentisch und betrachtete in Gedanken versunken das Photo eines anderen, eines, im Vergleich zu ihm, jüngeren Mannes. Er hielt das Photo, das mit einer einfachen Leiste aus gebeiztem Holz gerahmt war, in der schweren Hand. Das eine oder andere Mal beugte er sich zu dem Bild vor, wie um zu ihm zu reden oder, wenn möglich, es noch genauer ins Auge zu fassen.

Das verblichene Photo zeigte einen Uniformierten, einen Mann in Uniform, einen Soldaten. Auf dem Käppchen oder Schiffchen, das er schief und unternehmungslustig auf dem Kopf trug, war eine runde Kokarde befestigt, in deren Mitte das Hakenkreuz stand.

Der Mann auf dem Bild lächelte. Oder versuchte er bloß zu lächeln, tapfer zu lächeln, wie man sagt? Seine Lippen standen ein wenig offen, was ihn fast kindlich und jedenfalls unerfahren aussehen ließ. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Ebenheit und offene Durchsichtigkeit seines glattrasierten Gesichtes, durch die etwas abstehenden Ohren. Haare sah man auf dem Bild nicht, nur ein paar ganz kurze, helle Stoppeln rechts und links des Käppchens.

Der Mund war breit, vielleicht ein wenig zu breit im Verhältnis zur Größe des Gesichts, zur Nase – die man erst zweimal anschauen mußte, um sie zu sehen, so unausgeprägt war sie.

Der Mann drehte das Bild um: Auf der Hinterseite, auf grauem Karton, der mit angerosteten Stecknadeln am Rahmen befestigt war, stand, mit Bleistift hingeschrieben: 1939, Oberwart.

Nachdem er diesen Schriftzug eingehend studiert hatte, als enthalte der in seiner Lakonie irgendeine verborgene oder verklausulierte Nebenbedeutung, eine Botschaft, die sich vielleicht gerade an den Betrachter jetzt richtete, senkte der Mann langsam den Kopf, so als bedenke er, was er gesehen, ging er aus der Küche, in der er gesessen war, in die anliegende Kammer hinaus und betrachtete sich im Spiegel, der da über dem Waschtisch hing: Ja – ohne Zweifel: Er sah dem Vater ähnlich!

Warum schaute er das Foto nur so gern an? Waren das nicht Dummheiten?

Langsam ging der Mann jetzt wieder in den anderen Raum, in die weiß möblierte und mit einem Kohlenherd ausgestattete Küche, und setzte sich neuerlich an den Tisch. Er überrechnete, das Bild wieder zur Hand nehmend, wie lang die Aufnahme jetzt zurücklag.

Dreißig, fünfunddreißig Jahre?

Eine kleine Weile studierte der Mann den lose fallenden Uniformrock des Vaters. – War es ein Mantel? In der Mitte war ein großer, runder Knopf, der den Kragen zusammenhielt.

Das Photo war wohl im Herbst oder Spätherbst aufgenommen.

Als der Mann von draußen, vom Hof her, eine Tür, die Eingangstür gehen hörte, hängte er das Photo, das er so ausführlich betrachtet hatte, rasch an den Nagel an der Küchenwand: Dort hing das Bild alle Tage.

»Hallo, Franz!« sagte die Frau, die jetzt geschäftig in die Küche trat.

»Hallo, Mama!« sagte er, ohne indes vom Tisch aufzuschauen oder sich sonstwie freundlich zu zeigen. Die Mutter ging, ihr schwarzes Kopftuch abbindend, an den großen Kühlschrank, nahm eine Flasche Bier heraus, machte sie auf und stellte sie vor ihren Sohn hin.

»Bist frei heute?« fragte die Frau.

»Was dagegen?!« antwortete der.

Das Dorf lag zwischen zwei Bächen ausgebreitet auf einem Hügelrücken, der gegen die Zusammenmündung der Bäche hin abfiel.

Man darf sich keine richtigen, keine munter springenden Bäche vorstellen, bloß zwei Gerinne, die nur im Frühling und im Herbst hoch gehen.

Auf dem sanft abfallenden Rücken zwischen den Bächen stehen, an zwei krummen Straßen entlang, die Häuser des Dorfes.

Das sonntägliche Läuten der Glocken an der Kirche, sie steht in der Mitte der Siedlung, hört man weit in die Felder hinaus.

Vom Dorf weg kann man entweder den Weg an den Gleisen der aufgelassenen Bahnlinie entlang zur Zuckerfabrik nehmen, oder man geht den zweiten Weg, der vom ersten abzweigt und an einem der unreguliert mäandernden Bäche entlangführt.

Im Frühling wachsen unter der Brücke, die über den Bach führt, allerhand Blumen, Vergißmeinnicht, Hahnenfuß, Sumpfdotterblumen. Das klare, um diese Jahreszeit frisch und rein sich ringelnde und fortplätschernde Wasser geht fröhlich und gut, wie es scheint, um die grünen Stengel der Pflanzen.

Es gibt eine Hauptstraße im Dorf; parallel zu ihr gelegen, die Obere Straße.

Schäbig die kleinen Häuser mit grauen, windschiefen Einfahrtstoren, mit lieblos eingesetzten Fenstern und Türen. Der Kirchturm überragt alles um ein Beträchtliches.

Der niedrigere, schlankere Turm des Feuerwehrhauses.

Scheunen, Ställe, Hütten, Gärten.

Anna Wukitsch war die Mutter von zwei Söhnen. Sie lebte jetzt, wie ihr immer einmal vorkam, eine Ewigkeit schon in Kirchdorf, tatsächlich waren es, rechnete sie nach, ein bißchen mehr als dreißig Jahre, ihr ganzes Erwachsenenleben.

Sie selber stammte aus einem der Dörfer in der Umgebung, wo, verstreut da und dort, die weitläufige Verwandtschaft wohnte.

Anna konnte sich gut erinnern an den Ort ihrer Kindheit. – Jetzt, und das heißt seit vielen, vielen Jahren, kam sie nur mehr zum Kirtag und anderen öffentlichen oder familiären Ereignissen in das Heimatdorf zurück.

Einem auswärtigen Besucher mochten alle diese Ortschaften und Dörfer gleich vorkommen, mit ihrem Kirchenbau in der Mitte und den an einer oder mehr Straßen entlang angeordneten, gefärbelten und staubbedeckten Häusern.

Für Anna war, nach so vielen Jahren, noch immer Kirchdorf der fremde Ort, wenngleich sie natürlich da und dort mittlerweile verbunden und ihr Leben eingesunken war in die allgemeinen Gegebenheiten des Dorfes.

Wie gut konnte sie sich noch erinnern an das Gänserupfen der Frauen, ans Wasserholen, das Sortieren der Federn im Winter, wenn sie alle in der Küche beim Herd beisammengesessen waren.

Wie klar und deutlich stand etwa das Bild vor ihr, als sie, auf ihrem nagelneuen Fahrrad, zum ersten Mal die Dorfstraße heruntergefahren war. – Gekauft hatte sie es von ihrem ersten Gehalt.

Wie könnte sie je vergessen die Tage, als sie ihren Josef gerade kennengelernt hatte, es war bei einer Tanzerei gewesen, als er immer einmal gegen Abend an den hinteren Zaun des Grundstücks gekommen war und sie, unter den Zweigen des großen Kirschbaumes da, einander geküßt hatten? – Wie hätte sie das vergessen können?

Viel vorgehabt hatte der Josef. Hatte die Elendswirtschaft, wie er es nannte, hinter sich lassen wollen. Auf Arbeit gehen! – Das war sein Zauberwort gewesen.

Viele aus der Gegend waren nach Amerika ausgewandert. Oder sonstwohin fortgezogen. Gut möglich, daß ganz im Innersten auch der Josef daran gedacht hatte auszuwandern.

Im Wesentlichen gehört der Grund und Boden in der Umgebung von Kirchdorf und überhaupt im Burgenland, wo Kirchdorf liegt, der Kirche und den Adeligen. Zwar zum Ende des Ersten Krieges und mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie ihrer Titel beraubt, haben die Adeligen ihren Grundbesitz behalten. So blieb für die Bauern nicht viel übrig. Ein durchschnittlicher Bauer konnte von den Erträgnissen seiner Wirtschaft nicht leben, sie war zu klein. Derart war es üblich, daß die Männer sich auf dem Bau, beim Straßenbau oder in den Steinbrüchen der Gegend verdingten, und daß die Wirtschaftsführung auf dem Hof im Großen und Ganzen den Frauen zukam.

Für die Arbeit im Steinbruch, in den Hügeln der Gegend wurde Gneis und anderer Baustein gebrochen, war Josef zu schwach. Zwar hatte er einmal, und gern erzählte er davon, mit einer Arbeiterkolonne aus seinem Dorf an einer Straße weit fort, in den Hochalpen, in Vorarlberg, fast schon an der Schweizer Grenze, gearbeitet. Da hatte er ordentlich verdient! Noch dazu in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit! – Für die Art Arbeit war er aber nicht gemacht gewesen.

Die fremden Schweizer Berge und die vage Vorstellung von den Weiten von Amerika – in der Hauptsache stellte sich Anna ein großes Feld, einen gewaltigen Acker vor, mit Traktoren, die da erntend auf und ab fuhren, wie sie es einmal auf einem Bild in der Missionszeitung gesehen hatte: Die beiden Bilder verbanden sich ihr zu einem einzigen, einer recht unklar zusammengefügten Landschaft, wenn sie an den Tod von Josef dachte.

Natürlich wußte sie mittlerweile, wie es in Amerika tatsächlich aussah. Sie hatte seit ihrer Kinderzeit zahlreiche Geschichten von den Wolkenkratzern und Hochhäusern von New York, von Chicago, von den großen und weitverzweigten Flüssen, den Ebenen und Gebirgen von Amerika gehört; die Auswanderer hatten, in Briefen oder gesprächsweise, davon erzählt.

Das Bild, das ihr zum Tod von Josef immer einfiel, das sich stets ganz wie von selber einstellte, waren finstere, schroffe, gleichsam unheilverkündende Berge, die ihre Gipfel in den Himmel reckten. Sie waren, nah und fern, über eine weite und schier endlose Ebene verteilt, die in Annas Vorstellung »Amerika« war.

Tatsächlich war Josef in Rußland gefallen.

Nein, er war nicht in der Partei gewesen. Freiwillig gemeldet hatte er sich nur auf Grund der Hoffnungen, die er mit einem Fortkommen aus Kirchdorf verband.

Insgeheim hatte er sich ausgedacht, er könnte bei der Wehrmacht vielleicht zu einem Kurs zugelassen werden, zum Fahrkurs zumindest, oder sonst zu einer Ausbildung: Die so erworbenen Fertigkeiten könnte er dann im Frieden, in einer friedlichen Zeit, die schon noch kommen würde, gut gebrauchen.

»Was euer Vater für einer war?« – Die Wukitsch beantwortete diese Frage nie wirklich. Das heißt, sie beantwortete sie mit einem wehmütigen Lächeln, das gleichsam die ganze Welt und ihre Möglichkeiten umschloß.

Gemustert war der Josef in Oberwart worden. Dort fand auch die Grundausbildung statt. Obwohl er doch verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte, bekam er selten Urlaub.

Zum letzten Mal sah die Anna Wukitsch den Josef auf dem Hauptplatz in Oberwart, wo die Truppe von der Kreisparteileitung feierlich verabschiedet wurde.

Unter einem Wald von Hakenkreuzfähnchen, eine riesige Hakenkreuzfahne war vom Balkon der Bezirkshauptmannschaft aus entrollt worden, waren die Mannschaften zum Bahnhof hinaufmarschiert. Am Rand der Straße, am Rand des dürftigen Stadtparks entlang war Anna neben der Truppe hergelaufen, bemüht, immer auf einer Höhe mit Josef zu bleiben.

Als sie zuletzt zur Hauptstraße hinunter und zum Hauptplatz zurückgegangen war, hatte sie all die fröhlich erregten Gesichter um sich herum, die Marschmusik aus den Lautsprechern, die Schulkinder mit den rot-weißschwarzen Fähnchen in Händen, hatte sie das alles nicht bemerkt und war wie in einem dumpf hallenden Raum vor sich hingegangen, zum Autobusbahnhof hinunter, der an diesem Tag in eine weiter unten gelegene Nebenstraße verlegt gewesen war.

Die letzte Feldpostkarte kam aus Osnabrück in Deutschland. Den komischen Namen hatte Anna sich gemerkt: Osnabrück. – Grüße und Küsse schickte er, Josef.

Viel später, beinah ein Jahr nachdem sie Nachricht bekommen hatte, daß ihr Mann gefallen war, tauchte eines Tages ein anderer, ein Invalid, ein ehemaliger Kamerad von Josef auf. Sie bewirtete ihn in der Küche. Der Mann ging an Krücken. Er stammte aus der Gegend her, aus einem anderen Dorf.

Sie sei doch eine gesunde und vollblütige Frau, sagte der Mann. Der Josef hätte ihm immer von ihr vorerzählt. – Er versuchte ihr dann, über die Jause auf dem Tisch hinweg, über Geselchtes und Brot, an die Brust zu greifen. Da war sie aber aufgesprungen und hatte ihm eine Ohrfeige verpaßt! Ein wenig über sich selber erschrokken, aber noch immer erbost hatte sie ihm die Tür gewiesen und sich, als er die Tür hinter sich zugemacht hatte, die Schürze glattgestrichen.

Der Mann hatte von Panzern erzählt, groß wie Eisenbahnwaggons, die über die abgeernteten Felder gefahren waren. Schnell, sehr schnell. Und sie, der Josef und er selber und die anderen, seien dahinter her, querfeldein. Man hatte ihnen gesagt, das sei eine einfache Sache, die einfachste Sache von der Welt. – Was? Rennen? – »Sterben.«

*

Schon vor dem Zweiten Krieg hat der Palakovic die besten Geschäfte mit dem damals noch österreichischen Heer, mit der Gendarmerie und Polizei gemacht.

Das Geld für seine Fabrik, für die Uniformnäherei soll er von Wiener Juden bekommen haben. Man erzählte es sich so. Man wußte nichts Genaueres, und Wien ist weit.

Der Palakovic war ja auch nichts weiter als ein kleiner Schneidermeister aus Pinkafeld gewesen, damals. Mit dem Judengeld ist er nach Kirchdorf herein und hat dort seine Fabrik aufgemacht. Die Frauen sind zu ihm arbeiten gegangen, hat er doch den einzigen Betrieb weit und breit gehabt, wo man etwas verdienen konnte.

Aber so richtig ins Geschäft gekommen ist der Palakovic erst mit dem Hitler. Mit der Kreisparteileitung zusammen. Da ist auch Geld geflossen, das weiß jeder. So ist der Palakovic groß bei der Wehrmacht eingestiegen und hat deutsche Uniformen hergestellt. Mit den Juden war es dann natürlich aus und vorbei.

Den ganzen Krieg durch hat das Geschäft floriert. Vor den einrückenden Russen, beim Zusammenbruch, ist der Palakovic auf und davon. Bestimmt hätten sie ihn aufgehängt. Jahrelang hat er in der Steiermark, in der englischen Zone, wieder als kleiner Schneidermeister gelebt.

Dann kam der Staatsvertrag, 1955, und Österreich war wieder ein eigenes, ein freies Land. – In dem Moment ist der Palakovic gleich in Kirchdorf aufgetaucht; und wieder ist er, so sagt man, mit Judengeld aus Wien, mit dem Geld von reichen Juden, ins Textilgeschäft eingestiegen.

Nicht so großartig freilich gleich von Beginn an, aber bald war die Fabrik wieder in Schwung. – Mit den Frauen aus der näheren und weiteren Umgebung hat er auf seinem angestammten Gebiet zu arbeiten und zu produzieren begonnen: Uniformen für Militär, für Polizei und Gendarmerie, und für die Feuerwehr.

Die Wukitsch hat, nachdem sie sich schon vorher mit allerhand Nähereien für sich und die Kinder, die zwei Buben, zur Landwirtschaft gelegentlich dazuverdient hat, vom ersten Tag weg, von der Neueröffnung der Firma nach dem Staatsvertrag, wieder für den Palakovic gearbeitet.

Viele Jahre hat die Wukitsch für den Palakovic gearbeitet. War nie einen Tag krank. In der Hauptsache hat sie Hosen genäht. Hosenbünde – das war ihre Spezialität.

Der Palakovic ist bei der Tür gestanden, in der Früh, beim Einlaß in den großen, schmucklosen Saal, der die Fabrik gewesen ist. Hat auf die Uhr geschaut. Wer auch nur ein paar Minuten zu spät war, dem hat er eine halbe Stunde abgezogen. Akkordarbeit, aber der Lohn war auf Regie. Der Palakovic hat seine einzigartige Position gut ausgenützt. Zu Weihnachten gab es einen Gutschein zu hundert Schilling – auf Waren vom Palakovic. Da hat man noch Geld dazulegen müssen, wenn man um den Gutschein was kaufen wollte.

Der Palakovic ist ein wendiger, etwas vierschrötiger, nicht weiter auffälliger Mann mit einem sehr breiten Gesicht. Ein Bärtchen über der Oberlippe. Das hat er sich nach einem Vorbild aus einem amerikanischen Film wachsen lassen. Geheiratet hat er eine Bürgerstochter aus Oberwart. Sie hat sich von allem Anfang an für was Besseres gehalten und hat auf ihren Mann heruntergeschaut. Eine Villa hat er ihr gebaut, mit breiter Zufahrt, mit Blumenterrasse, mit Marmorbad, Kristallustern und echten, handgeknüpften Teppichen. – Die Frau ist bald gestorben, an Krebs. In dem Moment hat der Palakovic seinen ganzen Mut verloren, seinen vielberedeten unternehmerischen Mumm: Er hat die Fabrik zugesperrt und ist nur noch zu Haus gesessen. Was er da gemacht hat? – Manchmal ist er nach Ungarn hinüber. Man weiß nicht, was sich dort abgespielt hat. Gesoffen hat er wahrscheinlich. Weiber. Man kennt das. – Abends oder nachts, im hereinbrechenden Abend, ist der Palakovic durch die Straßen gegangen und hat seine ehemaligen Arbeiterinnen, ist er ihnen zufällig begegnet, scheu gegrüßt.

Kirchdorf im Burgenland, im Südosten von Österreich gelegen. An Föhntagen sieht man von der Anhöhe hinter dem Dorf über die offene, durch niedere Rücken gegliederte Ebene hinweg bis zu den Alpen, die sich, Wall hinter Wall, dort erheben.

Von Kirchdorf aus, sind die Berge oder, besser, die Umrisse der Berge dunkel und hart zu erkennen; oder sie sind in Traumlicht getaucht, das die Landschaft, aber auch die Berge märchenhaft verschleiert.

Die Dörfer mit ihren Häusern verschwinden schier in der Weite.

Wirkt aber die Landschaft einmal erdrückend durch ihre Leere, scheint sie, kehr um die Hand, von einer bloß noch verborgenen, doch unterirdisch schon vorhandenen Verheißung zu beben.

Als der Krieg aus war, sollen die Soldaten, die überlebt hatten, aus der östlichen Ebene einfach auf die heimatlichen Berge zumarschiert sein.

*

Die Wukitsch hat zwei Söhne. Der Erstgeborene, Paul oder Pavel gerufen, war von Anfang an ein auffälliges Kind. Er lernte erst sehr spät sprechen. Vielleicht, weil die Eltern immer auf Arbeit waren und nie Zeit für ihn hatten.

Pausbäckig und reglos saß er im langgestreckten Hof vor der Küche auf dem nackten, hartgetretenen Erdboden und sang halblaut vor sich hin: Die Wukitsch hat ihn oft durchs Küchenfenster beobachtet. Kaum aber rief sie ihn an: »Pavel! Pavel!« – oder ging zu ihm in den Hof hinaus, hörte er mit dem Singen auf.

Als der Mann noch lebte, hatten sie auf dem Hof allerhand Tiere gehalten, Gänse und Hühner natürlich, Schweine, aber auch eine Kuh, eine einzige. Bald konnte Paul die Tierstimmen nachmachen. Er behielt diese Künste aber für sich und übte sie nur aus, wenn er sich allein glaubte.

»Was wird das in der Schule werden?!« sagte die Wukitsch zu ihrem Mann. Lachend hatte der Josef auf die kräftigen Arme und Beine des Buben hingedeutet: »Den nehmen sie bestimmt im Steinbruch! Solche wie den können sie bestimmt brauchen.«

So war es wie ein Wunder über die Familie gekommen, und oft betete die Wukitsch auch sonntags in der Kirche oder dankte dem Herrgott vor dem Herrgottswinkel, wo der Gekreuzigte hing: daß er ihren Pavel so klug gemacht hatte.

In der Schule nämlich war Pavel immer der beste und erste. Obwohl er auch dort nur redete, wenn der Lehrer ihn direkt fragte. Mit den Mitschülern gab er sich nicht ab. Nur mit seinem Bruder Franz, der etliche Jahre jünger war als er und dementsprechend später in die Schule eingetreten war.

Mit seinem Bruder konnte Paul stundenlang spielen. Unter dem großen Nußbaum, der am Rand des Grundstückes stand, wo der Hofraum nach einem Saum wilder Wiese unversehens in Felder und offenes Land überging, hatten sie aus ein paar alten Brettern einen Platz gerichtet, wo sie spielten.

Worum es bei diesen Spielen auch ging, um Kriege und Schlachten meistens, um die Begründung von Reichen und Armeen, deren Untertanen oder Soldaten aus Kieselsteinen und Ziegelscherben bestanden, eines hatten all diese Spiele gemeinsam: Pavel erfand die Regeln, nach denen gespielt wurde, und der kleinere Bruder fand sich damit ab.

Der Platz unter dem Baum am oberen Ende des Hofes, der, von Gebäuden und Mauern eingefaßt, als Wiesenstreifen zu Tor und Eingang hin abfiel, dieser entlegene und unscheinbare Ort, war tatsächlich das Reich der Pavelschen Einbildungskraft.

Es gab nie einen König oder etwas Ähnliches in diesen Spielen. Obwohl doch alles darauf zulief, daß eine Instanz existierte, zu deren Wohlgefallen und Machtgewinn alles geschah.

Franz stellte sowieso nie Fragen. Er war schon froh, wenn er nur mit seinem Bruder beisammensein konnte. Wenn der sich dazu hergab. Paul hatte eine Art, sich zurückzuziehen, etwa auf den Ast eines Baumes oder hinten in der Wiese in ein Grasnest. War er erst einmal dort, war es unmöglich, seinen Sinn zu ändern.