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Rosemarie Poiarkov

Aussichten sind überschätzt

Rosemarie Poiarkov

Aussichten sind überschätzt

Roman

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Wir danken für die Unterstützungimage

Die Autorin bedankt sich beim bmukk und bei der Literar-Mechana für die finanzielle Unterstützung der Arbeit an dem vorliegenden Roman.

Die Überschrift des 5. Teils »Wer die Ferne nicht schätzt, ist in der Nähe auch nicht zu gebrauchen« stammt von Otto Lechner.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

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Teil 1
Die Welt ist blau wie eine Orange

1

Kaum richtete ich mich ein wenig auf, um das Licht der Stehlampe auszuschalten, war Emil wach, den Blick auf das aufgeschlagene Buch in seinen Händen gerichtet, als hätte er die ganze Zeit über nichts anderes getan, während ich danebenlag, mit dem Rücken zu ihm, und sich Gedankennetze in meinem Kopf spannen, bei denen manchmal ganz plötzlich der Faden verloren ging und ein Bild auftauchte und wieder verschwand, sich wieder ein Gedanke in den Vordergrund zu schieben versuchte …, aber das Licht verhinderte die Momente direkt vor dem Schlaf, wenn sich alles mit allem zu verbinden begann. Ich legte meinen Kopf zurück auf das Polster und hörte zu, wie Emil gleichmäßig ein- und ausatmete, ein und aus, Emil war wieder eingeschlafen.

Ich hatte schon geahnt, dass es ein Fehler sein würde, die Nacht vor dem Abflug nach Mexiko mit Emil in einem Bett zu schlafen. Natürlich konnte ich mich auch hinüber ins Arbeitszimmer legen, um am Morgen ausgeruht in den Flieger steigen zu können. Aber die nächsten zwei Wochen würde Emil einen Atlantik weit entfernt sein.

Weil ich den richtigen Moment für gekommen hielt, beugte ich mich schnell über Emil hinweg, knipste die Lampe aus, küsste ihn auf die Wange und sog auf dem kurzen Weg zurück auf meine Seite den Schweißgeruch aus seiner Achselhöhle ein.

»Jetzt schon? Ist es schon so weit?«, fragte Emil mit einer so wachen Stimme, als habe er nicht eben noch geschlafen, legte das Buch neben das Bett, drehte sich zu mir und umarmte mich.

Emils Körper war heiß und schwer.

Ich versuchte, mir Platz zu verschaffen und rückte das Stück von ihm weg, das möglich war, weiter ging nicht, weiter hieß an der Wand zu liegen. Emil seufzte und drehte sich, das untere Stück der Decke zwischen seine Beine klemmend, auf die andere Seite. Ich zerrte an der Decke, Emils Schenkel hielten dagegen, ich stemmte meine Füße gegen Emils Oberschenkel und zog so fest an ihr, dass es mich fast gegen das Fensterbrett geworfen hätte, als ich sie endlich freibekam. Emil seufzte wieder und legte sich auf den Rücken, wobei die Decke ganz von ihm abglitt.

Durch Emils Körper ging ein Zittern. Emil brummte, kratzte sich und drückte seinen Fuß an meinen, die raue Haut seiner Fußsohle stach. Er murmelte etwas, wieder lief ein Zittern durch den Fuß, immer wieder würde es kommen, bis Emil wirklich eingeschlafen war, es schreckte mich auf. Ich legte mein Bein weg von seinem. Emil zog knatternd Luft ein und drehte sich murmelnd wieder zu mir, legte seinen Oberschenkel über meine Beine, seinen Arm um meine Hüfte, atmete in mein Ohr.

Dann begann Emil zu schnarchen. Ich wartete kurz, ob er von selbst wieder aufhören würde, bevor ich ihn einmal, und dann noch einmal mit dem Ellbogen leicht in die Rippen stieß. Emil schnappte nach Luft, drehte sich auf den Rücken und warf dabei den Arm mit einer solchen Wucht nach hinten, dass es wehtat, als er meine Schulter traf.

Emil war nur still, wenn er mit seinem Audiogerät aufnahm.

2

Als wir langsam auf die Startbahn rollten, wurde ich still. Ich freute mich darauf, dass das Flugzeug endlich Anlauf nahm, beschleunigte, abhob. Das Starten der Motoren. Das Rumpeln der Räder über den Asphalt. Wie es mich in den Sitz zurückdrückte. Schneller und schneller rollte das Flugzeug. Ein kurzer Moment der Stille, die Räder hatten sich vom Boden gelöst, und wir flogen.

In Frankfurt saßen Marta, eine ehemalige Kollegin und mittlerweile Assistentin an der Universität Wien, und ich in einem Bistro im Transitbereich und tranken Kaffee. Wir waren unterwegs zu einer Konferenz zum Thema »New Perspectives on Using Creative Writing in Developing Language Proficiency«.

Ich dachte an die Tabletten in meinem Rucksack, die mich vielleicht befreit hätten vom immer wieder auftretenden Zittern in meinem Kopf, das besonders stark wurde, wenn ich in einen der Glaskästen rauchen ging, aber sofort erinnerte ich mich wieder an die dümmliche Gleichgültigkeit, in die ich verfallen war, als ich vor Jahren, schon im Flugzeug, Beruhigungstropfen in mich hineingeschüttet hatte.

Dass die Zeit am Flughafen anderen Gesetzen folgte, hatte ich vergessen. Mit fünf Stunden anstrengendem Warten hatte ich gerechnet, aber kaum hatten wir unseren Kaffee ausgetrunken, suchten wir unser Gate, fuhren mit der futuristischen Bahn zu den Sicherheitschecks, standen eng aneinandergedrängt im Shuttlebus, und dann war ich auch schon im Flugzeug, das ich mir möglichst leer gewünscht hatte, das aber voll belegt zu sein schien.

Marta hatte ihren Sitz weit vorne. Mein Platz war im letzten Kabinenabschnitt in der Mitte zwischen zwei anderen Passagieren, in einer Reihe von sieben Plätzen mit zwei Gängen dazwischen. Auf der Blumeninsel vor dem Praterstern, an der ich meistens rechts vorbeifuhr, wenn ich nicht zur Post wollte, waren dunkelrote Tulpen in Reih und Glied gestanden. Vor mir war eine Wand. Das fleischweiche Zittern in meinem Kopf nahm wieder zu. Mein Kopf weigerte sich zu akzeptieren, dass er einen halben Tag, eingesperrt mit 300 anderen Leuten, in diesem engen Raum verbringen sollte, der mir nur auf den ersten Blick groß zu sein schien, weil ich noch die Bilder der schmalen Kabine von Wien nach Frankfurt in mir hatte. Was erzählt uns denn der Gesang der Wale? Nichts. Er erzählt uns nur etwas über die Menschen, hatte Emil gesagt. Und wieso eigentlich Tulpen? Es war Herbst. Ich rieb mit zwei Fingern den Scheitelpunkt am Kopf, massierte den Nacken genau zwischen den beiden Knochen, klopfte mit der Faust zwischen die Schulterblätter, riss für einen Moment die Augen auf und begann leise zu summen, riss für einen Moment die Augen auf, klopfte mit der Faust oben auf den Rücken, massierte den Nacken und rieb den Punkt am Kopf, an dem sich angeblich alle Linien des Körpers verbinden. Weil sich das panische Gefühl von unten, irgendwo von der Körpermitte her, nach oben zu arbeiten versuchte, begann ich noch einmal von vorne, rieb, massierte, klopfte, riss die Augen auf, summte, riss die Augen auf, klopfte, massierte und rieb. Und noch einmal. Ich war froh, dass Marta mich nicht sehen konnte. Die Blicke der Frau neben mir, die besonders das Summen zu irritieren schien, kümmerten mich nicht. Wir hatten schon abgehoben, das Brummen schien mir unerträglich, besonders wenn ich an seine Dauer dachte, den gesamten Flug lang, zwölf Stunden Dröhnen, wie sollte ich das ertragen? Wie oft war ich schon geflogen und doch vergaß ich nach jedem Flug wieder, wie laut es im Flieger gewesen war. Warum schien diese vehementen Geräusche außer mir niemand wahrzunehmen?

Hinter mir begann jemand zu hecheln. Erst leise, ich massierte den Punkt am Kopf, dann lauter, ich legte meine Finger in den Nacken, schlug mir auf den Rücken, Hyperventilation, Panikattacke, was sollte es sonst sein?, ich summte Among Clouds, drehte mich mit Gewalt um, sah einen Mann im Anzug, der seine Krawatte gelockert hatte und starrte, drehte mich wieder nach vorne, wie viel Kraft so eine Drehung kostet, wenn jede Faser des Körpers zum Loslaufen bereit ist, sollte ich nicht aufstehen und zu dem Mann gehen, um gemeinsam zu reiben, zu klopfen, zu summen? Der Teil seiner weißen Brust, der über dem aufgeknöpften Hemd sichtbar war, flirrte vor Nässe. Alles andere an ihm schien staubtrocken, die schwarzen, kurzgeschnittenen Haare, die glatte Haut, der blaugraue Anzug. Jemand sollte ihm eine Flasche Wasser über den Kopf schütten. Warum hatte er keine Medikamente mit? Warum zoger für den langen Flug einen Anzug an?

Die Menschen rund um mich herum taten so, als sei der schwitzende, hechelnde Businessman die erste Einstellung eines zu früh gestarteten Films, aber ich hörte das ängstlich missbilligende Murmeln, ich sah die verstohlenen Blicke in seine Richtung. Kinder waren keine in der Nähe. Kinder hätten laut gefragt, was denn mit dem Mann los sei. Die angezogenen Beine umarmt, den Kopf auf die Knie gebettet, verkroch ich mich in meinen Sitz, gegen das immer lauter werdende Keuchen, gegen das Flüstern rund um mich herum. Schlafen, schlafen, um dem Flug seine lauten, konturlosen Stunden zu nehmen, schlafen, um nicht mitzubekommen, wie nah ich mir war, wie weit weg dieses Ich, dieses Mich, wie weit weg, aber schlafen ist unmöglich, denn das Einschlafen ist ein Fallen, als würde mir alles entgleiten, als würde ich verrückt werden, als würde ich aus dem Flugzeug, von meinem Sitz verschwinden, nicht nach unten durch den dünnen Boden, sondern nach oben in einen Raum weit über den Wolken, als gäbe es nichts mehr außer mir, nur mehr ich ich ich ich ich, aber auf mich war kein Verlass mehr. Winzige scharfe Kristalle schießen durch meine weichen Adern, hör mir zu!, es wird dir nichts passieren, du fliegst nach Mexiko! Du fliegst auf einen anderen Kontinent! Freiheit! Österreich so weit weg wie nie zuvor! Du bist eingeladen! Hättest du dir das gedacht, dass du es als einfache Deutsch-als-Fremdsprache-Trainerin jemals so weit bringen würdest? Leuchtendes Seegras, warme Steine, im Süden riecht auch das Wasser. In Mexiko wird alles über mich herfallen. Durch das Meer zwischen hier und dort wird der Boden schwanken, und wo könnte ich mich anhalten? Im Wasser kann man nicht fallen. Das Rattern in meinem Kopf. Es rattert rattert rattert weiter rattert weiter, nimm mit, was war, vor wenigen Minuten erst, nimm es mit, keine Angst vorm Überdrehen. In Mexiko werde ich mich ebenso fremd verloren nicht mehr mit mir orientieren können. Das ist gut! Fass es in Worte! Weiter so. Und mach die Augen auf! Mexiko! In Mexiko ist es warm. In Wien ist es trüb und kalt, Herbst, viel zu viel davon, aber in Mexiko ist es warm und hell, die Sonne scheint den ganzen Tag! Sonne ist gut für viel Serotonin! Und was für einen wunderbaren Beruf du hast! Wenn du erst einmal drüben bist. Jetzt bist du hier. Im Flugzeug. Du musst die Augen aufmachen. Du musst hinsehen. Es ist nur ein Flugzeug. Fliegen ist viel sicherer als Autofahren. Es ist nur ein Flugzeug. Schau dir die Menschen an. Marta hat es doch auch gesagt. Marta hat doch gesagt, sie denke sich, sie brauche keine Angst zu haben, wenn die Menschen um sie herum ruhig sind. Die Menschen, wenn nur Marta mich jetzt nicht sieht. Wenn Marta mich sieht, ist es mir scheißegal. So viele haben Flugangst. Dröhnen sich halt zu. Eins zwei drei. Eins zwei drei. Und marsch. Das Handgepäck nach oben oder vor den Sitz. Die nasse weiße Brust. Die zerknitterte Krawatte. Das Meer! Das Meer! Mexiko ist so weit weg! Im Vergleich zu Neuseeland ein Katzensprung. Die Welt ist groß und du bist mittendrin. Der Mensch ist nicht fürs Fliegen geschaffen. Der Mensch ist auch nicht fürs Autofahren geschaffen. Und nicht für die U-Bahn. Wie sich alle gefürchtet haben, als die ersten Züge durch das Land rollten. Da konnte man die Fenster noch öffnen, wenn überhaupt Glas im Rahmen war. Da hat der Fahrtwind den Angstschweiß getrocknet. Wenn ich nur genügend Luft bekomme. Hier oben gibt es doch genug Luft? Aber sicher! Stell dir vor, du bist in einem Zug! Auch im Zug ruckelt es. Und das Schöne ist, du genießt die Ruckler und sogar die Absacker, kurz geht es hinunter, dein Bauch macht einen Sprung, du springst mit, unser Flugzeug wird wieder aufgefangen, fängt sich wieder von selbst. Das Dröhnen der Motoren ist besser als das Rattern im Kopf. Keinen Menschen in Mexiko interessiert, was Tschetschenen denken. »Mein Name ist Ahmed. Ich schreiben Geschichte.« Kein Mensch will Texte in einem solchen Deutsch lesen. Ich auch nicht. Den Fehlern Raum geben! Hervorragende Idee! Miss Diversity! Mit den Nerven, die das Buch gekostet hat, hättest du reich werden können. Leider war bei diesem Projekt von der Deckung der Unkosten nie die Rede. Serbinnen, Bosnierinnen, Kroatinnen. Und woher kommen die? Wird sich niemand zu fragen trauen. Wird auch niemanden interessieren. Vielleicht geht noch die Geschichte des Russen. Wer will schon nach Mexiko? Setz dich auf und schau dir die Menschen an. »Wenn ich nach Mexiko geflogen habe«, hatte irgendwer gesagt und irgendetwas in mir hatte so gezuckt, dass es wehgetan hatte. Dabei hatte ich damals noch keine Ahnung gehabt, dass auch ich einmal nach Mexiko fliegen würde, ausnahmsweise alle Unkosten gedeckt. Ich bin in einem Flugzeug. Ich fliege nach Mexiko. Keinen Menschen in Mexiko wird … Setz dich auf, steh auf und frag den Mann, ob du ihm helfen kannst. Und warum eigentlich ich? Hätte doch genauso gut wer anderer fliegen können. Unkosten alle gedeckt. Wer schlägt schon eine Einladung nach Mexiko aus? Steh auf und frag den Mann. Gib ihm dein Beruhigungsmittel. Und wie soll ich die Tabletten aus der Tasche nehmen? Ein Flugzeug ist ein Flugzeug ist ein Flugzeug. Die Angst wird vorbeigehen. Sie wird vorbeigehen. Du musst nur die Augen aufmachen. Oder lass sie zu. Ganz wie du willst. Irgendwann wird die Angst am Ende sein.

3

Es gab den 17-Jährigen, der jahrelang in Wien zur Schule gegangen war, und die 50-jährige Putzfrau, die ihre Hände nur mehr unter starken Schmerzen bewegen konnte; es gab die afghanische Schönheit und den russischen Alkoholiker; die junge, strenggläubige Ägypterin, die im Kurs versuchte, anderen Moslems das Lesen des Korans beizubringen, und den älteren Türken, der noch nie in einem Supermarkt einkaufen war; den 23-jährigen kroatischen Nationalisten und die 35-jährige serbische Hausfrau, die sich dafür schämte, nach so langer Zeit in Österreich so schlecht Deutsch zu sprechen; es gab immer das Klischee, und die Überraschungen gab es auch, und alles zusammenzuführen, die einen nicht zu unter-, die anderen nicht zu überfordern, die einen sich nicht dumm fühlen zu lassen und die anderen nicht zu langweilen, das hing an mir, hing oft an mir, auch wenn sich die Lernenden nach etwa einer Woche täglichen Unterrichts aufeinander eingespielt hatten, und die iranische Ärztin der thailändischen Friseuse, die gerade erst im Alphabetisierungskurs mit den lateinischen Buchstaben vertraut geworden war, bei der Lösung schriftlicher Aufgaben half.

Im Deutschkurs, wenn bis zu 15 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten in einem Raum saßen, passierte oft, worüber draußen auf der Straße, in Gaststuben, Büros, auf Symposien, im Parlament nur diskutiert wurde. Die einen unterstützten die anderen, Freundschaften zwischen Angehörigen verfeindeter Staaten wurden geschlossen; Reich oder Arm, Gebildet oder Ungebildet hob sich in diesen Stunden auf. Manchmal standen mir Tränen in den Augen, weil ich mich fragte, warum im Klassenraum möglich war, was draußen in der Welt undenkbar zu sein schien.

Nicht wenige Lernende hatten sich geweigert, an dem Projekt teilzunehmen. Als sollten sie auf einer Stufe, die es zu überwinden galt, festgenagelt werden. Wenn ihr Deutsch doch nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Perfektion war. Würden ihre Texte gedruckt werden, würden sie diese für immer daran erinnern, wie hilflos, wie ungeschickt sie selbst einmal gewesen waren. Oder – aber das sprach niemand aus, weil es unmöglich zu sein schien – es würde ihnen zeigen, dass das Provisorium zum Dauerzustand geworden war.

4

Es ist ein so stiller Morgen. Obwohl der Frühling schon begonnen gehabt hat, ist heute alles voller Nebel.

Der alles verstopft. Auch seinen Kopf.

Wenn er doch sonst so im anbrechenden Tag landet, dass es immer und überall redet, in ihm und aus ihm heraus. Voller Stimmen sein Schlaf, traumlos oder nicht, fängt ihn der frühe Morgen mit leisem Rauschen auf, ein kurzer Augenblick, bevor Minka und Mauzi schnurren. Minka und Mauzi spüren, wenn er wach ist.

Heute ist es still in Josef Grasls Kopf.

So still, dass er Angst bekommt.

Man weiß doch, wann alles still ist. Wenn man tot ist, ist alles still. Keine Ohren und kein Hirn mehr übrig, nichts mehr, eine Stille, die keinen Sinn mehr ergibt.

Im Winter hat Josef das Fenster in der Nacht geschlossen, aber kaum wird das Morgenlicht wärmer, lässt er es offen. Die Frühlingsmorgen scheinen flüsternd zu singen. Die Vögel zwitschern, die Blätter tuscheln, die Autos auf der Straße sind unterwegs in einen warmen Tag. Josef liebt die Wärme. Je heißer, umso wohler fühlt er sich. Italien ist den meisten mittlerweile nicht mehr warm genug, also wird nach Thailand geflogen, aber kaum hat es in Wien mehr als 25 Grad, fangen alle zu schimpfen an.

Josef kann es nie zu heiß sein. Für Josef gibt es bei Hitze nichts auszuhalten. Damals in Portugal hater viele heiße Tage erlebt. Damals in Portugal.

Die heißen Tage in Wien werden jedes Jahr weniger. Aber wegfahren will er nicht mehr. Alleine kommt nicht in Frage, das war einmal, und wer fährt denn mit ihm? Er hat Luise und Leo gefragt. Und was haben sie geantwortet? Superidee! SUPERidee! Wie seine Kinder reden! Ihm hätte kein Lehrer solche Wörter durchgehen lassen! Fahr doch wieder einmal nach Portugal, da warst du doch schon lange nicht mehr! Du brauchst auch nicht alleine zu fahren. Es gibt Seniorenreisen, da könntest du dich anschließen. Mit einer Gruppe von Alten auf Urlaub fahren! Das schlagen ihm seine Kinder vor. Seine Kinder! Warum rauchen Sie denn so viel, wenn Sie es auf der Lunge haben? Warum trinken Sie so viel? Warum gehen Sie denn in die Sonne, wenn Ihnen doch so leicht schwindlig wird? O meu Portugal, o meu Portugal. Was wissen die, warum es ihm die Welt verdreht.

Josef kann sich genau erinnern, wann er zum ersten Mal etwas gedacht hat. Zwei Jahre war er alt. Er weiß es noch genau.

Chorar, weinen, chorar bem, weinen tut gut. Josef Grasl ist ein alter Mann. Er weint, wenn er will, er weint, wann er will, schaut her, ich weine, chorar de Portugal. In seinem Portugal sind die Menschen, die er gekannt hat, schon alle gestorben. Em casa, lieber zu Hause bleiben. Ihm verschlägt es so leicht den Atem. Die Scheißzigaretten. Dabei raucht er nur mehr leichte. Früher ist er auf die Hohe Wand und die Rax gewandert, ist mit dem Rad ins Waldviertel hinaufgefahren, bis zur Grenze, bis zum Eisernen Vorhang, da hat er wieder umdrehen müssen. Und immer hat er gearbeitet, keinen Tag in seinem Leben ist er arbeitslos gewesen. Zeitungen hat er ausgefahren, zehn Jahre ist er alt gewesen, hat er schon mit dem Fahrrad die Zeitungen ausgefahren. Und die zwölf Stunden in der Fabrik, das Geld hat natürlich seine Mutter genommen. Ist auch gegangen. Andere Zeiten sind es, sagt Luise. Ruhe soll er geben, wenn der Leo keine Arbeit hat. Die Stelle hat er noch, wenn er auch nicht mehr ins Büro fährt, ist er noch angestellt, aber er tut nichts mehr in der Firma. Keinen Tag ist Josef ohne Arbeit gewesen, 45 Jahre lang nicht, andere Zeiten, was für andere Zeiten? Um die Arbeit gehts immer, in welchen Zeiten ist egal.

Heute Morgen steht der Nebel. Kein Schnurren. Die Katzen liegen nicht neben ihm.

Der Schlaf ist wie ein Raum ohne Fenster gewesen, irgendwo in einem hohen Stockwerk, wo sich niemand mehr hinverirrt.

Josef sucht die Katzen. Unter dem Bett, unter den Haufen im Schlafzimmer, unter der Couch, unter den zwei Fauteuils, auf dem Kamin, unter dem Fernsehtisch, hinter den Vorhängen, unter dem Klavier, unter dem Küchentisch, unter dem Regal im Badezimmer, im Schuhkasten, im Vorzimmer. Überall liegen Bücher, Zeitungen, Papiere und was nicht noch alles Katzen als Versteck dienen kann.

Er schaltet das Radio ein.

Die Musik und die Worte des Moderators verheddern sich in dem Kasten, hinaus zu ihm, hinaus ins Zimmer gelangen sie nicht.

An diesem Morgen hat Josef auch nichts zu sagen.

5

Mit 16, 17 Jahren hatte ich die Existenz des amerikanischen Kontinents vehement in Frage gestellt. Das war mir etwa zwei Wochen vor dem Abflugtermin wieder eingefallen. Wie ich vor mehr als 20 Jahren argumentiert hatte, dass wir nicht wissen könnten, ob Amerika existiere. »Warst du denn schon einmal dort?« Und wenn jemand schon in Nord- oder Südamerika gewesen war, so hielt ich dem entgegen, dass so ein Flug leicht zu simulieren sei, man Bilder vor den Fenstern vorüberziehen lassen könne, so wie man das auch früher in Filmen gemacht habe. Der Unterschied sei einem erst aufgefallen, als man sich an die Aufnahmen von realen Straßen gewöhnt habe.

Als ich in den letzten Wochen wieder und wieder erzählt hatte, warum ich die Reise nach Mexiko eventuell nicht antreten würde, hatten viele Leute den Kopf geschüttelt, und ich hatte mich bemüht, allen das Schütteln wieder auszureden. Mein erster Flug über den Atlantik, sagte ich. Zwölf Stunden Angst, sagte ich. Eine Woche ist den weiten Weg nicht wert, aber eine weitere Woche einfach so, ohne Arbeit und Kollegin dortbleiben? Nein, Emil würde nicht mitkommen, Emil interessiere sich nicht sonderlich für Mexiko und arbeiten müsse er außerdem. Vielleicht würde ich die Reise antreten, aber jedenfalls würde ich umbuchen und schon nach einer Woche zurückfliegen.

Na ja, wenn das so ist, sagten dann die Leute, aber ich wusste, dass sie mit dem Kopfschütteln wieder anfangen würden, kaum saß ich nicht mehr neben ihnen.

Und dann hatte plötzlich Milan gesagt, er würde für die zweite Woche nachkommen. Ausgerechnet Milan, der Österreich nur in Ausnahmefällen verließ. Der noch kein einziges Mal aus Europa herausgekommen war. Aber vielleicht eben deswegen, hatte ich mir gedacht. Wollte er mal weg, weit weg. Und Milan mochte dunkelhaarige Frauen. Mochte besonders kleine, dunkelhaarige Frauen. Ich kannte Milan schon lange, aber erst als wir uns nach Jahren zufällig wiedergetroffen hatten, war eine Freundschaft entstanden, die uns beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, immer wieder überraschte.

Milan liebte das Fliegen. Nach seiner Zusage schickte er mir täglich Bilder von über den Wolken schwebenden oder auf der Startbahn glitzernden Flugzeugen (»Wir fliegen doch nicht direkt?«), von selig aus dem Bullauge blickenden Frauen in meinem Alter, von Tabletts mit Frühstück, Jause und Mittag- bzw. Abendessen, vom Anflug auf Großstädte in der Nacht (»Was kann es Schöneres geben?«), bis er sich ausführlichst entschuldigte, er könne wegen eines wichtigen Auftrags leider doch nicht mitfliegen. Immerhin musste ich mir so die Frage nicht mehr beantworten, ob Milan tatsächlich ein guter Reisepartner gewesen wäre.

So direkt, wie auf Karten die Route eines Schiffes von Hamburg nach New York führt, würden wir über das Meer fliegen. Auf dem Globus ist die Ausdehnung des Atlantiks zwischen diesen beiden Punkten von erschreckend weitem Blau. Noch dazu liegt Mexiko in einer Art Riesenbucht, dem Golf von Mexiko. Wo Houston ist, unsere Umsteigestation auf dem Weg nach Guadalajara, hatte ich gar nicht erst nachgesehen.

Um der Angst keinen Anlass zu geben, erneut zuzuschlagen, vermied ich den Blick auf den Monitor, auf dem zu sehen war, wo in der Welt wir uns gerade befanden.

Denn die Angst hatte sich zurückgezogen.

Die Motoren dröhnten in meinem Kopf, aber der Lärm bedrohte mich nicht mehr.

Einer meiner kopfschüttelnden Bekannten hatte gesagt, das sei doch wunderbar. Dass ich noch Angst empfinden könne. Er habe schon lange nicht mehr so ein intensives Gefühl erlebt. In Gedanken zeigte ich ihm noch einmal den Mittelfinger.

Ich war wieder frei. Aber ich traute dem Frieden nicht.

Auf dem Weg zur Toilette wunderte ich mich, dass ich mühelos nach links, nach rechts, nach hinten, nach oben und unten schauen konnte, dass ich Schritt für Schritt meine Füße aufsetzte, obwohl mich nur wenige Zentimeter Boden vom Abgrund trennten. Wenige Zentimeter sind doch auch ein Blödsinn, dachte ich, als ich wieder auf meinem Platz saß. Das sind doch sicher Meter! Ist nicht der Gepäckraum unter uns?

Als hätte sich die Angst verausgabt. Als sei sie müde geworden. Auch der hechelnde Mann im Anzug war eingeschlafen.

Ein Flugzeug ist ein Flugzeug ist ein Flugzeug! Und die Businessclass? Wenn ich anders fliegen könnte, mit mehr Platz, mit weniger Menschen, wenn es möglich wäre, zumindest zu glauben, dass man eine Flugpause machen könnte, würde vielleicht auch ich mich auf den Flug freuen, statt schon Wochen davor von Angstanfällen heimgesucht zu werden, die besonders unter der Dusche, warum eigentlich unter der Dusche?, äußerst stark werden konnten.

Aber jetzt fühle ich mich tatsächlich ganz wohl. Kitzelt mich Übermut. Will ich mir ansehen, wann wir den Atlantik erreichen.

Das große Symbolflugzeug ist schon über Großbritannien.

Schlafen wäre Zeitverschwendung. Ich höre dem Steward, der aussieht wie Rock Hudson mit weißen Haaren, dabei zu, wie er in breitestem amerikanischen Englisch mit der Stewardess schäkert, die eine frappante Ähnlichkeit mit der älteren Elizabeth Taylor hat, und frage mich, was für eine Mahlzeit als erste serviert werden wird.

Als ich wieder auf den Bildschirm blicke, befinden wir uns über dem Atlantik. Von weitem, endlosem Meer, in dem der Flieger alleine sämtlichen Gefahren trotzen muss, keine Spur. Unter uns tüpfeln kleine Inseln das Blau, und Island, auf das wir zusteuern, liegt endloser, einsamer Weite auch im Weg. Grönland ist in der Nähe, nach Kanada kann es von dort nicht mehr weit sein.

Amerika ist näher, als ich dachte. Die Landmassen der Erde sind einmal ein Kontinent gewesen (und werden es wieder sein). Fliegt man nach Amerika, ist sicheres Land immer in der Nähe. Nicht die Sehnsucht danach, menschlichem Leben auch in der Luft möglichst nah zu sein, ist der Grund für die Flugroute, die nach einem Riesenumweg aussieht, sondern dass die Erde rund ist und die Luft selten stillsteht.

6

Es ist schon fast Mittag, als Josef in der U1-Station Nestroyplatz aussteigt.

Johann Nestroy! Der ist noch ein Schriftsteller gewesen!

Aber das schreibt ja der Leim! – Ach so, der Leim.

Josef lacht, während er sich am Geländer festhält und nach Luft ringt. Die Rolltreppe wird gerade repariert.

Der Leim ist natürlich der Tischler.

– Wie gern wär ich heut bei euch, aber …!

– Frozzeln dürfens uns nicht, Sie stehen ja da vor uns.

– Aber das schreibt ja der Leim.

– Ach so, das schreibt der Leim.

Der Hörbiger als Schuster Knieriem tanzt um das Glas Schnaps, ringt mit sich, er kann nicht anders, er muss es trinken.

Josef lacht. Josef hustet.

Vor mehr als 100 Jahren, ja fast schon vor 200, ist diese Szene geschrieben worden, und heute noch lachen die Leute. Ein Tischler, ein Schuster, ein Schneider. Drei Gesellen, der Meister kostet nicht nur einen Haufen Geld, sondern manchmal auch das Leben, das alte. Den Alliiertenhof haben sie schön hergerichtet. Der Russe, der Preuße, der Österreicher, Napoleon besiegt.

Irgendwo in der Nähe muss ein Denkmal stehen für den alten Nestroy.

Josef rückt sich seine Kappe zurecht.

Mit Kippa auf dem Kopf hat er zum Tempel gehen wollen, aber Luise hat ihm keine gebracht. Gegenüber dem Alliiertenhof ist ein riesiges Gebäude aus Glas, das er noch nie gesehen hat. Dabei wohnt Luise nicht weit von hier.

Jetzt wohnt man wieder hier.

Das Glasgebäude ist höher als alle anderen Häuser.

Die Tempelgasse ist links.

Allen seinen vier Kindern hat Josef Jüdisches weitergegeben. Vier Kinder mit drei Frauen.

Und vier weiße Säulen ragen in der Tempelgasse in die Höhe.

Nach jüdischem Recht stimmt das so nicht. Weil sein Großvater Jude gewesen ist, seine Großmutter aber nicht, und das Jüdische ja über die Frauen vererbt wird, wenn man es ganz streng sieht. Seine Urgroßeltern waren Juden, seine Großmutter aber war eine Katholische, der Großvater hat sich auch taufen lassen. Und dessen Sohn, der Josef Stern, hat sich dann im zweiten Weltkrieg freiwillig gemeldet. Sein eigener Vater! Meldet sich freiwillig! Er, Josef Grasl, ist 1938 als deutscher Staatsbürger geboren. Hätte ihm fast Probleme eingebracht dann nach dem Krieg. Papiere! Deutscher. Österreicher! Josef Grasl war immer Österreicher, was auch immer die Papiere behauptet haben. Der Hitler hat Österreich auch die Hymne gestohlen. Gott erhalte, das war eine Hymne für ein Kaiserreich. Und alle haben sie mitgesungen, vereint durch Haydn, auf der Praterstraße, Prachtstraße im Blumenkorso, glatt, weit und hell, ein Boulevard mitten in der Judenstadt. Alles hier war früher voller Juden. Und der Kaiser hat gewunken. Wohin die Praterstraße führt? Direkt ins Vergnügen!

Josef grinst.

Von überallher sind sie gekommen, die Juden. Sein Großvater, ein Bäcker, war einer von ihnen. Die Monarchie war groß, aber wo sind sie hin?

In den zweiten Bezirk Wiens, die Leopoldstadt.

In den Theatern Juden. In den Cafés Juden. In einem echten jüdischen Kaffeehaus kann man den Kopf unter den Arm nehmen und niemanden kümmerts, hat der Joseph Roth einmal geschrieben. Weltbürger und Patriot. Die EU preisen sie an, als hätte der Roth davon geredet. Dabei hat er die Monarchie gemeint. Gott erhalte … Wer hat einen Pass gebraucht? Die Zigeuner haben herumziehen dürfen, wies ihnen gefallen hat. Dürfens das in der EU auch? Nichts dürfens. In Baracken verrecken dürfens. So schauts aus in der EU! Ihn schimpft man Monarchist. Aber wären alle Monarchisten gewesen, hätts nie einen Anschluss gegeben. Weil sich Juden nicht die Hände schmutzig machen wollen, sagte der Radioreporter in der grauen Nacht 38, ist der Portier der brennenden Synagoge in der Tempelgasse natürlich kein Jude. Und ein Bäcker macht sich die Hände nicht schmutzig? Keiner von den Juden ist da, um zu retten, was noch zu retten ist, sprach der Herr Reporter. Er, Josef, hats selbst gehört. Als sie letzthin im Radio Ausschnitte aus der Reportage aus dem 38er-Jahr gebracht haben. Aber was ist denn noch zu retten gewesen?

Nichts ist gefahren nach dem Krieg, als ihn der Huber im Waldviertel abgeholt hat.

Warum hat die Frau Josef überhaupt hergegeben? Hätt jeder kommen können. So wie bei den Frauen, die man nicht sieht. Woher soll man denn wissen, ob das ihr Kind ist, das sie im Kindergarten abholt, mit dem Schleier vor dem Gesicht? Einen Zettel wird er mitgehabt haben, der Huber, und die Frau hat Josef hergegeben. Kalt wars und dunkel, und lang sinds marschiert, und in Wien ist auch nichts gefahren. Am Prater sind sie vorbei, da war alles hin. Hat eh nichts gesagt. Was hätte er denn sagen sollen, wenn ihn der Huber abholen kommt, er, Josef, ein kleiner Bub?

7

Hola Felix y Julia,

Guadalajara mag nicht Mexiko sein – »viel zu clean und steril«, sagen diejenigen, die das Land kennen –, das echte Mexiko also mag in Mexiko City zu finden sein oder wo auch immer. Im Hotel jedenfalls begrüßt mich zum Frühstück ein echter Pianist auf einem echten Flügel.

Und die Leute klatschen, wenn sie mich sehen. Nun gut, sie klatschen nicht auf der Straße, das wäre wirklich zu viel. Nun gut, auch nicht bei der Konferenz, außer nach meinem Vortrag, aber das war ein schon etwas müder Spätnachmittagsnachvortragsapplaus, wenn ich mich auch auf der Konferenz wie in einem Vorraum des SprachtrainerInnenhimmels gefühlt habe – Lehrende aus der ganzen Welt, die Meisten motiviert bis in die Fingerspitzen, Massen an Unterrichtsanregungen. Ich möchte so schnell wie möglich wieder in einen Kursraum, um einiges von dem, was ich hier gehört habe, selbst auszuprobieren, bevor ich es wieder vergesse!

Bis es aber so weit ist, besuchen Marta, meine Kollegin, und ich Schulen in der Umgebung. In jeder sind wir Stars. Wenn wir den Veranstaltungsraum betreten, brechen die Jugendlichen erst mal in Jubel aus. Ihre Begeisterung kann also nicht daher kommen, dass ich mit Übersetzungshilfe der zuständigen Deutschlehrerin darüber spreche, dass Fehler überschätzt werden, wobei ich mir nicht sicher bin, ob die Deutschlehrerin Wort für Wort übersetzt. Wahrscheinlich merkt sie dazwischen an, dass der Standpunkt der Fehlerüberschätzung nur in speziellen Fällen gelte, die hier an ihrer Schule eindeutig nicht gegeben seien. :-)

Die Jugendlichen raunen, wenn ihnen etwas gefällt. Sie raunen auch, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Als ich einen Ausschnitt aus dem Text Ahmeds vorlese (vielleicht erinnerst du dich, Julia, an die Geschichte des Tschetschenen), nicken sie rhythmisch mit den Köpfen und klatschen in die Hände, als würden sie einen Rap hören, der ihnen in alle Glieder fährt. Ich glaube nicht, dass sie vom Inhalt viel verstanden haben und dass die Lehrenden mit ihnen den Text im Unterricht noch mal durchgehen, wage ich zu bezweifeln. Aber alle, alle Schülerinnen und Schüler, die den Text gehört haben, waren begeistert. Einerfragte tatsächlich, ob es das Lied auch auf YouTube gebe :-).

Von der Armut, die in Mexiko auf dem Land herrschen soll, habe ich nicht wirklich etwas mitbekommen, außer dass sie in der Schule, in der ich heute war, in drei »Schichten« lernen – die einen kommen am Vormittag, die anderen am Nachmittag, die dritten am Abend (wenn ich es richtig verstanden habe), aber das sonnen- und luftdurchflutete Schulgebäude schien in einem guten Zustand und auch den Jugendlichen hat man keine Armut angesehen.

Ja, hier scheint die Sonne. Aber es kann auch kalt sein, wenn es in die Höhe geht.

Adiós amigos! Hasta la vista!

Luise

8

Am Abend war ich aus Guanajuato, sechs Stunden Busfahrt von Guadalajara entfernt und angeblich die schönste Stadt Mexikos, in die Wohnung von Ulrike und ihrem Mann zurückgekehrt, in der ich wohnte, seit ich vor fünf Tagen aus dem Hotel ausziehen hatte müssen. Um nun doch nach einer Woche zurückzufliegen, hätte ich einen neuen Flug buchen und selbst bezahlen müssen. Als Ulrike, die Organisatorin der Konferenz, mir das beim Abendessen mitgeteilt hatte, war in mir alles ruhig geblieben.

Die Wohnung, in der ich mich sehr wohl fühlte, lag in einem dreistöckigen Neubau, nicht weit entfernt vom Universitätsgelände, in einer Gegend, in der die »untere Mittelschicht«, wie Ulrike es beschrieb, lebte, und in die Leute wie beispielsweise Ulrikes älterer Kollege, dessen Frau ihr Gesicht mit einem Krempenhut vor der Sonne schützte, um die weiße Farbe zu bewahren, sich nur hinverirrten, wenn sie Ulrike mit dem Auto nach Hause brachten. Nachts war die Straße nur wenig beleuchtet. Vor manchen Häusern saßen alte Frauen.

Die Wohnung war voll bunter Fotos: Ulrike und ihr Mann mit Freunden auf einem atemberaubend schönen Strand; Ulrike und ihr Mann im Taucheranzug, über und unter Wasser; Ulrike und ihr Mann in der Wüste in Baja California; grüne und blaue Landschaften. Neben der Couch lagen alte Ausgaben der österreichischen Wochenzeitungen »Falter« und »profil«.

Bis mich Emil per SMS fragte, ob ich nicht skypen wolle, hatte ich nicht an den konkreten Zeitunterschied zwischen Wien und Mexiko gedacht. Als ich das Handy in Houston wieder eingeschaltet hatte, hatte es sich automatisch auf die neue Uhrzeit, die auch in Guadalajara gelten würde, eingestellt.

Emil saß nackt vor dem Computer und sah verschlafen aus. Und da erst dachte ich daran, dass es in Wien sieben Uhr morgens war. Und dass es jetzt, vor der herbstlichen Zeitumstellung, so früh am Tag noch dämmerte.

Er freue sich auf mich. Wann ich denn genau zurückkäme? Er habe sich sogar schon überlegt, nach Frankfurt zu fahren. Wollte mich überraschen. Aber das sei vielleicht doch übertrieben.

Beide würden wir nackt vor dem Bildschirm sitzen. Ich würde die Hände über meine Brüste gleiten lassen, bis hinunter zum Nabel, und dann in einer raschen Bewegung die Hände unter die Brüste schieben, sie hochhalten und mich mit Daumen und Zeigefinger in die harten Brustwarzen zwicken. Emil würde seinen schon festen Schwanz in die Hand nehmen. Erst würde ich nur die Erregung in seinem Gesicht sehen, den sich verändernden Blick, bis er den Bildschirm leicht nach unten drücken würde, und ich würde dem Schwanz und der Hand zusehen, bevor ich den Laptop zwischen meine gespreizten Beine stellen und mit dem Mittelfinger langsam zwischen meine Schamlippen fahren würde und ein paar Mal auf und ab, und dann den Laptop wieder auf den Tisch, auf dem wieder Emils Gesicht, schon leicht feucht vom Schweiß, zu sehen sein würde.

Emil fragte, ob ich vielleicht essen gehen wolle, wenn ich zurückkomme? In die Estancia auf die Prater Hauptallee, damit der Kulturschock nicht zu groß sei? Das mexikanische Essen sei überschätzt?

Ich legte die Beine neben den Computer auf den Schreibtisch.

Emil zündete sich die nächste Zigarette an.

Vielleicht hatte ich auch deswegen von Cybersex geträumt, um nicht daran zu denken, dass ich, wenn ich Emil hören und sehen würde, den langen Weg jedes Informationsbits unter dem Atlantik durch in jedem Wort, jeder Geste spüren würde und mich die Entfernung zwischen Guadalajara und Wien, zwischen dem nordamerikanischen und dem europäischen Kontinent still und klein machen würde, wenn es doch beim Skypen genau um das Gegenteil ging. Emil aber sah aus wie immer, wenn auch ein wenig verpixelt, und hörte sich genauso an, wie er sich anhörte, wenn wir – was nicht oft vorkam – am Morgen zusammen frühstückten. Allerdings hatte ich über Skype wenig zu sagen. Das war auch bei über große Distanzen hinweg geführten Telefonaten oft der Fall. Dass ich, auch wenn ich voll mit Geschichten war, keine davon erzählen wollte.

Er habe, sagte Emil, überhaupt keine Lust darauf, in die Arbeit zu gehen. Weil ihn diese Diskussionen so nerven würden. Er kämpfe für die Liebe als Schlagwort. Ja, die Liebe müsse seiner Meinung nach dringend als Schlagwort in den Katalog des Archivs aufgenommen werden.

Würde ich mich jetzt ausziehen, würde mich Emil fragen, ob es in Mexiko so spät abends tatsächlich noch so heiß sei. Ob ich Emil nicht doch jetzt schon von der Walze erzählen sollte, die ich zufällig am Markt in Guanajuato entdeckt hatte? Was für ein Souvenir aus Mexiko! Ich hatte natürlich erst nicht erkannt, dass es sich um einen alten Zylinder handelte, auf den man, bevor sich die Schallplatte durchsetzte, Ton aufgenommen hatte. Auf die etwas mehr als zehn Zentimeter große, beigebraune Dose aus Karton war ich nur wegen der Kurrentschrift auf dem Deckel aufmerksam geworden.

Es spricht

das Luberl.

Praterstraße 64

Wien, 3. April 1903

Inmitten des lauten Markttreibens von Guanajuato, zwischen bunten Häusern in verwinkelten Gässchen, sah ich vor mir plötzlich ernst blickende Menschen in unnatürlich grellen, aber matten Farben in einer Wohnung auf der Praterstraße um die Jahrhundertwende. Wenn ich auch noch nie einen Tonzylinder gesehen hatte, so hatte Emil schon davon erzählt. Weil ich davon ausging, dass so ein Zylinder sehr empfindlich war, traute ich mich nicht, ihn herauszunehmen. Die Aufschrift in schwarzer Tinte Es spricht das Luberl mit der Jahreszahl 1903 schien mir eindeutig. Zu diesem Ding, das ich sah, als ich den Deckel von der Dose hob, fiel mir »Motorwelle« ein, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie eine Motorwelle aussah, aber jedenfalls hätte ich sonst angenommen, es sei ein Ersatzteil für ein Auto oder ein Motorrad, wobei besonders die spiralförmigen dickeren Linien auf der Innenseite des Zylinders diesen Eindruck verstärkten. Die Farbe – ältere Schokolade mit hohem Kakaoanteil – ließ mich auch nicht an Wachs denken, aus dem diese alten Tonspeicher bestanden.

Und wenn es eine Bombe war?

Auch wenn hier alles bunt, fröhlich und friedlich zu sein schien, in Nordmexiko war schließlich so etwas wie Krieg. An Straßenständen, war mir erzählt worden, fanden Videos von Rachemorden reißenden Absatz. Eine Fahrt mit dem Taxi konnte in ganz Mexiko tödlich enden, auch wenn man das geforderte Lösegeld bezahlte. Und selbst im Bus war man vor Überfällen nicht sicher. Wusste ich denn, wie Bomben aussahen? Ich hob noch immer nur sehr selten etwas vom Gehsteig auf, weil mein Vater, 1938 geboren, uns als Kindern eingeschärft hatte, nur ja nichts von der Straße aufzuklauben, weil es eine Attrappe sein könnte, möglichst unauffällig präpariert, sodass – besonders neugierige – Kinder sofort danach griffen, und dann würde es explodierten. Aber wenn ich das Ding kaufen wollte, musste ich wissen, was es war.

Ich steckte zwei Finger in den Hohlraum des Zylinders und zog die Walze heraus. Auch die Außenseite hatte die Farbe von älterer Schokolade mit hohem Kakaoanteil. Um den etwa zehn Zentimeter großen Zylinder, der mir nach obenhin ein klein wenig schmaler vorkam, zogen sich zarte Rillen. Wenn mich auch noch immer das Schokoladenbraun irritierte, so fühlte sich die Oberfläche, wie bei Wachs, leicht schmierig an. Ich hob die Walze hoch und ließ Petra, mit der ich über Vermittlung Ulrikes in Guanajuato die meiste Zeit verbrachte, fragen, was denn das sei. Der Verkäufer zuckte mit den Schultern und nannte einen Preis von umgerechnet etwa zehn Euro. Für eine Tonwalze schien mir das sehr wenig Geld zu sein. Für eine Bombe allerdings auch. Und die Dose allein war ein sehr schönes Stück, beigebrauner Karton mit schwarzer Bordüre.

»Wenn Liebe ein Schlagwort wird, dann muss Tod auch eines sein, sagt Sabine.« Sabine war Emils Kollegin bei der Überarbeitung der Beschlagwortung des Katalogs. »Ja, eben, Tod ist doch auch ein Schlagwort. Aber für den Tod habe ich auch kämpfen müssen. Tod gab es nur als Staats- oder Festakt. Der Tod wurde mir zugestanden, aber bei der Liebe gibt es Probleme.«

Und wenn es tatsächlich ein Tonzylinder war: Ob er hielt, was die Aufschrift versprach? Jemand sprach im Jahr 1903?

»Sex gibt es auch nur unter Pornografie. Und die Pornografie war früher ein Teil der Hygiene. Wenn also, wie es in alten Gstanzln der Fall ist, jemand singt ›Die Vroni und ich gehn aufn Taunz, und die Rosi holt mein … Stock‹ oder ›Der Pfarrer predigt in einer Tour, er war die ganze Nacht bei einer … Feier‹, so fand man das früher unter dem Oberbegriff Hygiene und findet es jetzt unter Pornografie. Das wird ein weiterer Kampf. Die Sexualität zum Schlagwort zu machen.«

Emil sprach weiter, aber ich hörte ihn nicht mehr, sah nur, wie er seine Hand zum Mund führte, an der Zigarette zog und den Rauch ausatmete. Statt Emil hörte ich das Brummen eines vorüberfliegenden Flugzeugs, als habe Skype dieses Geräusch als Zensur eingebaut. Ich schüttelte den Kopf, zeigte mit den Fingern auf meine Ohren und wedelte dann mit den Händen, um Emil zu verstehen zu geben, dass ich ihn nicht mehr hörte.

»Normierte Schlagwörter, normierter Wortschatz«, sagte Emil, als das Flugzeug vorübergeflogen war. »Gebe ich Sozialdemokratische Partei ein, finde ich eine Datei nicht, wenn in dieser SPÖ als Stichwort verwendet wurde. Und umgekehrt. Jeder soll schreiben, was er will, sagt man. Offenes System und so, aber das funktioniert nur, wenn man es so wie Google macht. Google erkennt Ähnlichkeiten. Sucht man Auto, findet man auch Kraftfahrzeug.«

Der Sprung von der Liebe zur SPÖ, zu Google und Autos war mir zu schnell gegangen. So wie Emil dasaß, mit nacktem Oberkörper, an der Zigarette ziehend, hätte ich ihn gerne umarmt. Vielleicht hätte ich an seinen Achseln geschnuppert, und Emil hätte gefragt, ob er denn stinke, und ich hätte gesagt, nein, du riechst gut, du riechst nach deinen Träumen, und Emil hätte gelächelt, mich kurz fest an sich gezogen, bevor ich wieder ins Bett gegangen wäre, noch mit dem Geruch von Emil im Kopf, und zugehört hätte, wie Emil sich für den Tag bereit machte. Ich nahm meine Beine wieder vom Tisch, um nicht mehr den Geruch meiner feuchten Muschi einatmen zu müssen, der sich wegen des Sommerrocks bis nach oben zog und mich ganz kirre machte.

»Glaubst du«, fragte ich, »dass du Sabine in Sachen Liebe überzeugen kannst?«

Emil schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, ob das hieß, dass das Flugzeug jetzt gerade hinter meinem Kopf vorüberflog, ob er sich über Sabine ärgerte oder ob er daran zweifelte, dass es die Liebe in den Katalog schaffen würde.

Emil war vom Bildschirm verschwunden. »Skype versucht, die Verbindung wiederherzustellen.« Skype scheiterte, wobei ich nicht wusste, ob das an meiner oder Emils Verbindung lag.

9

Die vier weißen Säulen auf der Tempelstraße fallen ins Auge. Sie sind so rein. Nicht weil sie in den Himmel zeigen. Was soll uns der Himmel? Aber weil die Gasse so eng ist, hätte Josef sie auch übersehen können, jetzt, wo er neben ihnen steht.

Es ist so still, als sei der Nebel von heute Morgen mitgekommen. Eben noch auf der Praterstraße hat es vor Menschen gewimmelt, hier ist niemand. Auch in dem Hof hinter dem Gitter lässt sich keiner blicken. Als würden sich alle vor Josef verstecken. Dabei brauchen sie sich vor ihm doch nicht zu verstecken!

Das Gebäude links haben sie schön renoviert. Dem hat niemand etwas anhaben können, das ist stehen geblieben, und prächtig ist es heute noch. Aber dort, wo die Synagoge war, ist ein Neubau, anscheinend Wohnungen. Und rechts davon haben sie eines dieser neuen Glasgebäude hingestellt. Warum die Leute heutzutage immer alles herzeigen wollen? Um zu zeigen, dass es nichts Verdächtiges gibt? Und dann haben sie die Schweinerei im Keller! Oder wollen sie heutzutage überall so viele Fenster, weil sie früher oft nicht mal eins gehabt haben, nicht eines?

Im Fernsehen zeigen sie immer nur die reichen Juden. Und die, die nicht mehr gewusst haben, wo die nächste Synagoge ist. Aber wie dreckig es auch damals den meisten Juden gegangen ist … Das Haus auf der anderen Straßenseite. Da ist alles noch da. Das Klo am Gang für mehrere Parteien, die Bassena zum Wasserholen, die winzigen Zimmerkuchlwohnungen, mit einem Fenster zum Lichthof, einem Schacht, den die Sonne niemals gesehen hat, von der Straße stinkt der Kanal, im Haus der Schimmel, die Zwiebeln und das dreckige Wasser, und niemals hat man eine Ruh.

Als hätt er, Josef, noch keine Juden in Wien gesehen! Als wüsst er nicht, wie gläubige Juden aussehen! Leo, der hat sich um den Stammbaum der Grasls bemüht. Im Internet, hat er gesagt. Aber was Neues hat Leo ihm auch nicht erzählen können. Der Leo weiß von der Fabrik. Weiß Bescheid über die Arbeit bei der Post. Luise fragt jetzt auch manchmal. Sie wird eben auch nicht jünger. Mit gläubigen Moslems hat sie viel zu tun, sagt sie. Dabei hängt ihr der Busen aus dem Kleid. Eine Lehrerin. Aber nicht in einer Schule. Das wäre eine sichere Stelle, und Ferien, was für ein langer Urlaub! Aber nein, Lehrerin in einer Schule, das will sie nicht, die Frau Magister. Lieber unterrichtet sie Arbeitslose. Josef hat immer gearbeitet. Josef ist nie arbeitslos gewesen. Sein Sohn jetzt, andere Zeiten, andere Zeiten, schön reden. Und gibt es keinen neuen Kurs für die Luise, bekommt auch sie kein Geld. Weil es für sie kein Arbeitslosengeld gibt, sagt sie.

Was ihm seine Kinder erzählen, merkt sich Josef. Je älter er wird, umso weniger vergisst er.