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Tina Pruschmann

Lostage

Roman

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Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

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Lektorat: Jessica Beer

ISBN eBook 978-3-7017-4546-3

ISBN Print 978-3-7017-1680-7

Für Lars

Beim Bau der U-Bahn

21. September 1990

Der Ingenieur ergriff mit beiden Händen den hölzernen Schaft des Vorschlaghammers. Er holte aus, schlug zu, mit einer Wucht, die aus der Tiefe kam. Der Hammerkopf prallte gegen die Brunnenwand. Wieder und wieder. Schläge, die in den alten Tunneln der Unterpflasterbahn verhallten und einer nach dem anderen den Zeitplan für den Bau der U-Bahn zertrümmerten. Schweiß rann über seinen Rücken. Seine Füße versanken im schlammigen Grubenboden. Der Rückschlag peitschte gegen seine Handgelenke. Der Ingenieur atmete schwer. Er ließ den Hammer fallen. Das Licht der Neonröhren flackerte. In seinem Kopf dröhnten die Blaskapelle und die Stimme des Bürgermeisters und das Fauchen der Hydraulik, als der erste Stahlträger in die Tiefe gelassen wurde. Für die Bürger. Zum Segen der Stadt. Der Ingenieur sah auf seine Hände. Seine Finger waren steif, wie verknöchert, als hielten sie noch immer den Schaft des Vorschlaghammers umklammert. Er sank auf die Knie und kroch durch den Schlamm zu dem verdammten Brunnen, hinter dem sich der riesige Tunnelbohrkopf drohend erhob. Sie hatten gekratzt, geschlagen, gebohrt, gesprengt. Nicht den Bruchteil eines Steines hatten die Arbeiter aus der Mauer herausstemmen können. Der Ingenieur presste seinen Leib an die Brunnenwand. Er öffnete den Mund, schlug seine Zähne in die Steine. Ein Zahn brach, sein Mund lief voll mit Blut. Es schmeckte nach Stein. Findlinge, die älter waren als die Stadt.

Das Fest

14. August 2012

Elena lehnte ihre Krücke an die Tischkante. Sie schob sich zwischen den Stuhl und den Tisch, sodass sie die Kante der Sitzfläche an den Kniekehlen spürte. Sie griff nach den Armlehnen und stellte das rechte Bein ein wenig nach vorn. Behutsam verlagerte sie ihr Gewicht auf die Hände. Das Holz des Stuhls knarrte, langsam ließ sie ihren Körper sinken. Sie hielt inne, als sie ein knirschendes Geräusch hörte, das aus ihren Kniegelenken kam. Dann setzte sie sich. Elena lehnte sich zurück, legte ihre Hände in den Schoß und atmete lang aus. Der Sprecher im Radio sagte für den Nachmittag fünfunddreißig Grad voraus.

Elena blickte in den Saal und bemerkte Martina, die ein Damasttuch auseinanderschüttelte und es über die zusammengestellten Tische warf. Sergej kam mit dem Napoleon herein. Die dicke Sahneschicht des Kuchens leuchtete auf der dunklen Keramik. Er stellte ihn auf den kleinen Wagen neben der Tür, mit dem Martina das Porzellan und das Silberbesteck aus ihrer Wohnung in den Tanzsaal gebracht hatte.

»Hol doch den Honigschnaps aus der Vorratskammer«, sagte Elena zu Martina.

»Du willst jetzt schon trinken?«

»Ich nehm auch einen.« Sergej zwinkerte Elena zu.

»Ich hab Geburtstag. Wahrscheinlich ist es der letzte.«

»Red nicht so ein Zeug, Großma. Du bist doch noch fit«, erwiderte Martina mit scharfer Stimme und zog den Geschirrwagen an die Tafel.

Das Porzellan klapperte.

Martina platzierte die Kaffeegedecke so, dass sie sich exakt gegenüberstanden. Vor jedem Gedeck hockte sie sich hin und rückte die Tassen und Teller auf eine Linie. Seitdem sie den Hofladen in der alten Werkstatt eröffnet hatte, entwickelte sie mehr und mehr dieser Eigenarten. Alles musste aussehen wie in einer dieser Zeitschriften, die sie zusammen mit dem Ziegenkäse und dem Biowein an landverklärte Städter verkaufte. Biowein, dachte Elena verächtlich. Sie strich die Falten aus dem Tischtuch und hoffte, dass Martina nicht auf die Idee kam, nachzubügeln.

»Ich hol den Schnaps«, sagte Martina unvermittelt.

Sie warf sich das Geschirrtuch, mit dem sie gerade begonnen hatte, das Besteck zu polieren, über die Schulter. Die Dielen knarzten unter ihren Schritten. Die Tür fiel ins Schloss und hinter ihr glitzerte der Staub im Sonnenlicht.

Du bist doch noch fit, Großma. Elena fiel auf, dass sie seit Kurts Tod von niemandem mehr mit ihrem Vornamen angesprochen wurde. Für die aus dem Dorf war sie die Matusch, ihre Töchter Martina und Renate nannten sie Großma, seitdem sie selbst Kinder hatten. Großma, dieses seltsame Wort. Sergej sagte Frau Matuzek. Die Schindlerin von gegenüber sprach sie seit einiger Zeit mit »meine Rike« an und fing dann immer an zu weinen. Du bist doch noch fit. Elena knetete ihre Fingerspitzen und strich mit dem Daumen über die Narbe auf ihrem Handrücken. Als Zwölfjährige konnte sie nach einem Fahrradunfall dort unter der Haut ein kleines Stück Knochen sehen. In diesem Augenblick hatte sie gewusst, dass sie sterben würde. Damals lag ein Meer an Zeit vor ihr und sie vergaß es wieder. Jetzt reichte ein Blick auf ihre Hände, um zu sehen, dass aus dem Meer ein Rinnsal geworden war. So wenig Fleisch an den Knochen. Du bist doch noch fit.

Martina kam mit dem Honigschnaps zurück.

»Die Schindlerin öffnet nicht und geht nicht ans Telefon. Weißt du, wo sie ist?«, fragte Martina Elena.

Ein Luftzug bauschte die Vorhänge, hob die Enden des Tischtuchs an und fuhr durch Elenas Haar. Sergej goss den Schnaps in die Gläser.

»Hast du die Schindlerin heute schon gesehen?«, wiederholte Martina.

»Auf die Schindlerin«, sagte Elena und hob ihr Glas.

Martina, Elena und Sergej warfen ihre Köpfe in den Nacken. Elena fiel auf, dass Sergej sein gutes Hemd mit den grünen Manschettenknöpfen trug. Er sah aus wie an dem Tag vor zwei Jahren, als er sich auf dem Hof vorgestellt hatte. »Ich heiße Sergej Bogdanow. Ich komme aus Sibirien und suche Arbeit.« Das war alles, was er auf Deutsch sagen konnte, und »Ach, du lieber Augustin. Alles ist hin. Rock ist weg. Stock ist weg. Augustin liegt im Dreck«. Seit diesem Tag wohnte Sergej auf dem Hof und arbeitete mit Martina in der Käserei.

Aus dem Radio erklang eine Polka. Sergej forderte Martina zum Tanz auf. Sie blickte verlegen zur Seite. Sergej zog sie zu sich heran und hüpfte mit ihr im Wechselschritt über die Dielen. Martina stolperte ihm hinterher.

»Der Erste ist mir der Liebste«, sagte Elena zu niemandem und schloss die Augen.

Meine Rike. Elena sah den kleinen Körper, der die Decke kaum anhob, auf der Trage liegen. Ein Unfall. Alle haben das gesagt. Sie spürte, wie die Schindlerin ihr über die Wange strich. Ihre Gedanken drehten sich, so wie Sergej und Martina, die an ihr vorbeitanzten. Elena nahm den kleinen Klappspiegel aus ihrer Tasche und tat so, als wäre ihr etwas ins Auge gekommen. Sie suchte Halt in den vertrauten Bewegungen ihrer Hände. Die Dielen bebten im Zweivierteltakt und der Schnaps kroch bis in Elenas Fingerspitzen. Am Ende der Polka hatte Elena ihren Frieden wieder, Martina glühende Wangen und Sergej ein durchgeschwitztes Hemd.

Es klopfte. Daniel kam mit Sasha herein. Kümmerliche Frau, dachte Elena, wie immer, wenn sie Sasha sah, alles zu schmal, alles zu dünn, und immer trieb sie sich in der Weltgeschichte rum. Was der Junge nur an ihr fand. Daniel lief auf Elena zu, umarmte sie.

»Hundert Jahre sollst du werden, Großma.«

Elena nickte.

»Alle Wünsche sollen sich dir erfüllen.«

Elena nickte und lächelte.

»Strotzen sollst du vor Gesundheit.«

»Ja, ja.« Elena winkte ab. »Hauptsache, dass du da bist, mein Junge.«

Elena nahm Daniels Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Sie hörte Sasha irgendetwas mit Gesundheit und Glück sagen.

»Schon gut, mein Kind«, unterbrach Elena Sasha und tätschelte ihre Hand. Sasha verstummte augenblicklich und zog die Hand zurück.

Sasha stieß Daniel mit dem Ellbogen in die Seite und Daniel holte einen Umschlag mit einer Schleife aus seiner Jackentasche. Elena öffnete den Umschlag und schaute lang auf die Karten, die sich darin befanden. Sie lächelte und drückte Daniels Hand.

»Witali gegen Mariusz«, sagte sie und es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie Witali hatte kämpfen sehen im Boxclub in der Stadt, damals, am 9. November 1989, als alle vor dem Fernseher saßen und zusahen, wie sich die Menschen mit ihren Autos vor den Schlagbäumen drängten, rübermachten, den Reportern auf der anderen Seite die Stempel in ihren Ausweisen zeigten, auf der Mauer standen.

»Nur wir beide«, sagte Daniel.

Elena goss Honigschnaps in Gläser.

»Kannst du nicht wenigstens bis nach dem Kuchen warten?«, rief Martina von der anderen Seite der Tafel.

»Ich muss doch den jungen Leuten was anbieten!«, rief Elena zurück und zwinkerte Daniel und Sasha zu.

Nach einiger Zeit wurde das Knarzen der Dielen lauter und vielstimmiger. Elena schüttelte jetzt viele Hände. Gesundheit, vor allem, Gesundheit. Alle Wünsche der Welt schienen sich für Elena zu diesem einen verdichtet zu haben. Seit wann nur? Martina rannte mit Vasen hin und her. Renate präsentierte ihren Neuen. Der Neue war laut. Seine Hände waren prall und rau und die Dielen bogen sich unter seinen Schritten. Rasierwasser und Parfümdüfte durchzogen den Raum. Elena hörte Absätze, Satzfetzen, Stühlerücken, Frauengelächter. Sie ließ sich in dem Gewirr von Geräuschen treiben und saß da und es kam ihr sehr lang vor. Irgendwann war es still. Alle saßen an der Tafel und unzählige Augenpaare schauten auf Elena. Sie ahnte, dass die Augenpaare etwas von ihr erwarteten, aber sie wusste nicht, was. Elena schaute von Platz zu Platz. Sie tastete mit ihrem Blick die vertrauten Gesichter ab, es waren viele aus dem Dorf gekommen. Elena hatte Schwierigkeiten, die richtigen Namen zu finden. Der Stuhl neben Sergej war leer.

»Auf dich, Großma, und dass du uns noch viele Jahre erhalten bleibst«, sagte Daniel und hob die Kaffeetasse.

Elena rührte Zucker in ihren Kaffee. Das Klingeln des Löffels am Rand ihrer Tasse kam ihr unpassend laut vor.

»Auf dich«, sagten die anderen und erhoben ihre Kaffeetassen in Elenas Richtung.

Elena nickte und lächelte und suchte noch immer nach Namen. Geklapper begann. Die Gäste rührten, schlurften, reichten Sergej ihre Teller. Lautlos glitt die Klinge des Messers durch die Mandelblättchen und die Sahne. Sergej schnitt mit dem großen Küchenmesser Stücke aus dem Napoleon und tat ihnen auf.

»Der Kuchen schmeckt sehr gut«, sagte Daniel zu Elena.

»Den gab es schon auf meiner Taufe«, antwortete Elena.

Elena nahm ihre Krücke, stand auf und zeigte auf eine jener Fotografien, die wie eine Chronologie vergangener Feste eingerahmt an der Wand hingen. »Hier, siehst du.« Elena stockte. Sie nahm das Bild von der Wand und hielt es sich dicht unter die Augen. »Die Schindlerin«, sagte sie jetzt mehr zu sich. »Das ist sie doch, oder?« Elena war in den sechsundachtzig Jahren, in denen das Bild an dieser Stelle an der Wand hing, unzählige Male daran vorbeigelaufen und hatte es betrachtet. Dass es die Schindlerin sein könnte, die am rechten Bildrand hinter ihrer Mutter hervorlugte, ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, mit blonden Haaren, bemerkte sie zum ersten Mal, oder sie hatte es einfach vergessen. Elena schob den Vorhang zur Seite und schaute auf die Straße. Sie sah, wie Martina vor dem Haus der Schindlerin mit einem Mann sprach. Das musste der Sohn der Schindlerin sein. Wie hieß der noch gleich?

Das Scharren eines Stuhls durchbrach die Stille. Elena wandte sich um. Die Augenpaare schauten sie wieder an. Daniel hob die Gabel auf, die neben Elenas Platz am Boden lag. Er nahm ihr das Bild aus der Hand, hängte es wieder an die Wand und legte seinen Arm um Elenas Schultern.

»Großma, wir wollen doch erst mal Kuchen essen. Du kannst uns nachher die Bilder zeigen«, sagte er.

Elena sah über den Tisch und stellte sich vor, es wäre ihre Beerdigung, der Leichenschmaus, wie man so sagt. Alle würden schwarz tragen. Sie würden vor ihren Tellern sitzen und klappern und kauen und trinken. In der Mitte der Tafel würde der Napoleon stehen und die Porzellankanne mit dem Kaffee. Nach dem Kaffee würden sie an ihrer Wohnung vorbeigehen und verstohlen auf die verschlossene Tür starren. Dahinter würde es aussehen, als hätte Elena nur kurz das Haus verlassen. An der Garderobe hinge ihre schwarze Handtasche und die himmelblaue Sommerjacke. Im Portemonnaie wäre noch Kleingeld und in der Jackentasche ein Taschentuch. Martina würde das Geschirr abwaschen und Elenas Porzellan mit in ihre eigene Wohnung nehmen. Sorgsam würde sie es in der Glasvitrine im Wohnzimmer anordnen. Sie hätte die Beerdigung organisiert und mit dem Pfarrer gesprochen. Eine Woche zuvor wäre Hans-Georg vom Bestattungshaus unten an der Straße in Elenas Wohnung gewesen. Hans-Georg, der als Junge so oft in ihrem Garten gespielt hatte. Er hätte Elena in einen Sarg gelegt und sie in einen weiß gekachelten Raum gefahren. Ob er sie nackt gesehen hätte? Dann hätte er sie auf einen Hubwagen geladen. Er hätte auf einen Knopf gedrückt. Der Sarg wäre in die Brennkammer gefahren. Zuerst hätte der Sarg gebrannt, dann sie, eine Stunde oder zwei. Aus den abgekühlten Überresten hätte Hans-Georg mit einem Magneten ihre künstliche Hüfte und die Zahnimplantate herausgezogen und mit der Knochenmühle Elenas Reste fein gemahlen. Dann hätte er die Asche in eine Urne gefüllt mit Plombe darauf und Garantiesiegel, dass sich in der Urne tatsächlich Elena befände. Zwei Kilogramm Asche oder mehr oder weniger, grau und rein. Elena verstand den Sinn der Urne nicht. Wenn Hans-Georg sie schon einäscherte, dann könnte er sie auch auf eine Wiese streuen. So würde aus den Elenateilchen Gras wachsen oder ein Baum. Das hatte sie in einem Buch gelesen, das Daniel ihr geschenkt hatte, als er nach Indien ging.

Elena legte ihre Hand auf Daniels Arm.

»Wenn ich tot bin, musst du dem Hans-Georg sagen, dass er meine Asche auf die Wiese streut. Ich will nicht in eine Urne«, flüsterte sie.

»Was redest du da?«

»So wie in dem Buch von dir. Du weißt schon.«

Daniel nickte und drückte Elenas Hand.

Elena sah sich im oberen Glas einer Sanduhr sitzen, sie hörte ein feines, trockenes Rieseln und sie spürte, wie sie Gramm für Gramm zerrann. Durch den schmalen Hals der Uhr konnte sie in das untere Glas sehen. Eine Pyramide fein gemahlener Asche hatte sich aufgeschichtet. So war es also, dachte Elena, wenn das Leben verrann.

Ein paar Gramm Asche von der Elena mit den dunklen Zöpfen, die jeden Tag nach der Schule den Ranzen in die Ecke warf, hinter die Eingangstür, wo das Schuhregal stand, genauso, wie es ihre Töchter später taten. Von der Elena, die jammerte, wenn die Mutter ihre Haare so flocht, wie sie sie selbst in ihrer Kindheit in dem georgischen Dorf getragen hatte, dessen Namen Elena längst vergessen hatte. Von der Elena, die die georgischen Lieder so gern mochte, die ihr die Mutter zum Einschlafen vorsang, auch wenn sie kein Wort verstand. Die sich jeden Abend auf das Ritual freute und zugleich traurig war, weil sie nach dem Lied im Dunkeln liegen würde. Ein paar Gramm Asche von der Elena, bei der die Jungs am Nachmittag Schlange standen, um sich dutzende Male von ihr abzuschauen, wie sie die Spitze der Zunge mit dem Daumen und dem Zeigefinger einrollen mussten, um diesen schrillen Pfiff herauszubringen. Ein paar Gramm Asche von dem Mädchen, das Kopfrechnen, aber keine Liegestütze konnte, und von der jungen Frau, die sich mit dem Augenbrauenstift einen Strich auf ihre Waden malte und so tat, als hätte sie Feinstrümpfe mit Naht, und die Kurt, der später ihr Mann wurde, damit imponierte. Von der Elena, die sich vom Vater eine Ohrfeige einfing, als sie Kurt, den die Wehrmacht nicht wollte, zu Hause vorstellte. Die sah, wie ihre beste Freundin von einem Panzer überrollt wurde. Die froh war, als sie nach dem Tod des Vaters den Hof in die Genossenschaft geben konnte. Die einmal an der Ostsee war und sich vorstellte, es wäre das Schwarze Meer. Die immer nach Georgien reisen wollte und es nie tat. Ein paar Gramm Asche von der Frau, der zwei Kinder schon zu viel waren. Die 1942 das elegante Porzellan und das Silberbesteck, mit dem jetzt alle aßen, für einen Spottpreis kaufte, obwohl sie wusste, dass die Familie, der es gehörte, deportiert wurde. Die gesehen hatte, wie diese Familie und die anderen um den Brunnen der Stadt herum standen, wie sie ihre Habe mit Stricken zusammenschnürten und auf einen Karren luden. Ein paar Gramm Asche von der Elena, die sich bei der Geburt von Renate so geschämt hatte, weil sie nicht wusste, was mit ihr da passierte, und für die die Scham schlimmer war als die Schmerzen. Von Elena, die zu ihren Töchtern sagte, ihr sollt es mal besser haben, und die es vor Stolz und Neid zerriss, als Renate später in Tbilisi studierte und Georgisch lernte, die Sprache, die Elena selbst nicht sprechen konnte, die stattdessen jeden Abend ein Glas Tschatscha trank und wusste, dass das nicht mehr war als das Zelebrieren eines Klischees. Ein paar Gramm Asche von der Frau, die ihrem Mann nicht verzeihen konnte, dass er das Bürgermeisteramt aufgegeben hatte, um stattdessen Bienen zu züchten. Noch immer hatte Elena Honig und Honigschnaps für Generationen im Keller. Die sein plötzliches Politikinteresse kurz vor der Wende noch weniger verstand als sein Desinteresse die Jahre zuvor. Die oft gehen wollte, aber immer dachte, es sei zu spät. Die sich heimlich mit dem Parteisekretär traf, bis sie merkte, dass er Protokolle schrieb. Die jeden Sommer mit Renate und Martina im Wald Heidelbeeren sammelte. Die das Knattern des Benzinrasenmähers an einem heißen, flirrenden Augustnachmittag so sehr mochte, dass sie mit der Erinnerung an dieses Geräusch den kältesten Wintertag ertrug. Die aus Angst nie zum Zahnarzt ging.

Ein paar Gramm Asche von der Elena, die Martina wegschickte, als sie an jenem Nachmittag im Juli 1960 in der Küchentür stand und sagte: »Die Rike spielt nicht mehr mit mir.« Elena hatte nicht begriffen. Sie sagte, Martina solle den Tisch decken, obwohl ihr der Blick des Mädchens entrückt vorkam. Erst als Kurt nach ihr rief und mit Martina und Renate an den Ställen vorbei zu den Obstbäumen rannte, ahnte sie, dass etwas passiert war, das nie wieder gut werden würde. Rike lag unter dem Kirschbaum und auf dem Stein unter ihrem Kopf war Blut. Der Arzt kam, dann die Polizei, dann der Bestatter. Die Schindlerin stand da und sah auf ihr Kind. Sie schrie Elena nicht an. Sie warf sich nicht über ihr Kind. Sie schickte den Bestatter weg und trug ihr Mädchen nach Hause. Nach der Beerdigung pflanzte sie eine Hecke um ihr Grundstück. Die Hecke wuchs Jahr für Jahr, bis nur noch das Dach des Hauses zu sehen war. Elena versuchte noch lang, mit der Schindlerin darüber zu sprechen. Die Schindlerin blieb still. Elena gab auf. Doch seit einiger Zeit lief die Schindlerin auf Elena zu und klagte und jammerte und klammerte sich an Elenas Arm. Ihr Sohn sagte, das käme von der Demenz.

Ein paar Gramm Asche von der Elena, die die Kirschen aus dem Sommer 1960 einkochte. »Die können doch nichts dafür«, hatte Kurt gesagt. Sie hatte die Gläser in den Keller gestellt. Elena hatte sie nie wieder angesehen und Kurt hatte nie danach gefragt.

Ein paar Gramm Asche von der Elena, die wusste, dass sie mit dem Bild der toten Rike auf dem Stein sterben würde. Die nicht mehr fürchtete, etwas zu verlieren, die gelernt hatte, sich zu verabschieden, die nicht mehr liebte, die nichts mehr wünschte, die nichts mehr plante. Von der Elena, die einer Welt zuschaute, die nicht mehr ihre war, weil die Welt, aus der sie kam, längst vergangen war.

»Das hat die Großma noch erlebt«, hörte Elena Daniel sagen. Kaffee und Kuchen waren abgeräumt, die Tischordnung war aufgehoben worden. An der Tafel hatten sich Grüppchen gebildet. Salzstangen und Erdnussflips standen auf dem Tisch. Daniel goss Honigschnaps in Gläser und stellte ihr eins hin.

»Stimmt’s, Großma? Auf dich!«

»Wenn du das sagst, mein Junge«, sagte Elena und trank das Glas in einem Zug aus. Ihr Kopf fühlte sich angenehm taub an. Der Honigschnaps brachte ihre Gedanken zum Schweigen. Von der Straße drang Motorengeräusch in den Raum. Das Geräusch mischte sich sanft in die Gespräche am Tisch. Ein Blaulicht huschte über die Fensterscheiben und die Vorhänge. Elenas Herz klopfte.

»Gib mir mal noch einen, mein Junge«, sagte Elena und starrte wieder auf das Fenster. Das Blaulicht war verschwunden.

Elena trank in einem Zug. Jetzt begann es sich in ihrem Kopf zu drehen. Sie hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest und sah Daniel an. Seine Lippen bewegten sich. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, aber Elena konnte Daniels Stimme nicht aus denen der anderen herausfiltern. Die Worte und Sätze, die über den Tisch flogen, klangen wie eine zu langsam abgespielte Schallplatte. Elena wollte Daniel nach Wasser fragen, aber sie schaffte es nicht, aus ihren Gedanken Worte zu bilden. Sie nickte. Daniel schien das verstanden zu haben. Er stellte ihr ein Glas Wasser hin. Elena versuchte, sich gerade zu halten, und hoffte, dass keiner etwas merkte.

Nach dem Abendessen gelang es Elena wieder einigermaßen, den Gesprächen am Tisch zu folgen. Sie hörte ein kehliges Lachen, sah Männerhände, die nach Bierflaschen griffen, Aschenbecher, die überquollen, einen Rotweinfleck auf dem Tischtuch, Lippenstift an Weingläsern und Schweißflecken an Männerhemden. Sergej hatte einen Ventilator aufgestellt, um dessen Luftzug sich jetzt alle drängten.

Elena fröstelte.

»Ihr seid ja schon früh rausgeflogen bei der Europameisterschaft«, hörte Elena Renates Neuen zu Sergej sagen.

»Ich habe auf euch gehalten«, antwortete Sergej.

Sergej richtete sich auf und beugte sich mit großer Geste nach vorn. Dann goss er sich ein Bier ein und hielt dabei das Glas schräg, fast waagerecht, und den Ellbogen nach oben, so, als würde er jeden Abend in einem Bierzelt ausschenken. Elena war sich sicher, die Einzige zu sein, die die Parodie auf Renates Neuen erkannte.

Renate erzählte von ihrem Urlaub in der Türkei. »Hotel, ja, alles inklusive«, sagte sie und reichte Urlaubsfotos herum. Sasha nickte und kommentierte ab und zu die Qualität der Aufnahmen. Sie gab die Bilder an Elena weiter. Auf ihnen waren Sand und Meer und wolkenloser Himmel und Renate mit Sonnenbrille. Elena zählte die regelmäßigen Schläge der Viertelstundenuhr. Sie strukturierten die unendlich lange Zeit. Später am Abend versicherten sich alle am Tisch, wie schön es doch gewesen war, und dass man sich unbedingt öfter mal treffen müsse. Elena spürte die Aufbruchstimmung, und Renates Neuer bestellte ein Taxi. Die Männer brachten ihren Frauen die Handtaschen. Elena musste wieder viele Hände schütteln. Bis bald und lass es dir gut gehen, hörte sie unzählige Male. Dann entfernten sich die Stimmen und das Gelächter und das Klappern der Absatzschuhe auf den Dielen langsam ins Treppenhaus, all die Geräusche, die den Raum erfüllt hatten. Die Tür fiel ins Schloss und gab dem Raum die Stille zurück.

Elena blieb.

Sie nahm ihre Krücke, ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Die Abendluft war fiebrig und schwer. Die Feldgrillen sangen. Ein Wagen parkte in der Auffahrt der Schindlerin. Der Taxifahrer und die, die gerade noch hier gesessen hatten, standen auf der anderen Straßenseite und schauten Martina zu, die wieder mit dem Sohn der Schindlerin sprach. Die Haustür öffnete sich. Hans-Georg und sein Lehrling trugen einen Sarg aus dem Haus. Ein Luftzug brachte den nussigen Geruch von reifem Korn in den Tanzsaal. Die Kofferraumklappe des Leichenwagens fiel dumpf ins Schloss und Elena fühlte sich unendlich leicht.

»Auf Ihr Wohl, Frau Matuzek.« Sergej war hereingekommen und hatte eine neue Flasche Honigschnaps auf den Tisch gestellt. Er goss zwei Gläser ein. Elena setzte sich zu ihm.

»Elena. Ich heiße Elena«, sagte sie und erhob das Glas.

Auf der Aschenbahn

4. Juni 2013

Das Stechen in der Magengegend traf Sasha unerwartet. Sie starrte auf die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz, und sie wusste sofort, auch nach all den Jahren, dass es Anja war, die soeben die Bar betreten hatte. Als sich ihre Blicke trafen, wandte sich Sasha ab, schaute tief in ihr Weinglas und hoffte, Anja würde sie ignorieren.

»Saskia, so ’ne Überraschung«, sagte Anja spitz.

»Anja, wir haben uns ja ewig nicht gesehen, aber immer noch Sasha, ich heiße Sasha«, erwiderte Sasha oder vielmehr hörte sie es sich sagen, mit einer Stimme, die ihr fremd vorkam.

»Stimmt, entschuldige«, sagte Anja und blickte zu Boden.

Sasha schaute auf Anjas exakt gezogenen Lidstrich und es entstand eine Stille zwischen ihnen, die dumpf in Sasha nachhallte, weil es nicht die Stille zwischen Fremden, sondern die zwischen Fremdgewordenen war, die erst verschwand, als Anja lächelte und Sasha die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen sah und Anja ihr in diesem Moment wieder so vertraut war wie in ihrer Kindheit, als sie noch jede freie Minute miteinander verbracht hatten. Sie erzählten von sich, Ausbildung, Studium, weggezogen, zurückgezogen. Sasha berichtete von ihren Reportagereisen und hörte Anjas Geschichten aus dem Krankenhaus. Dann schwiegen sie und Sasha wunderte sich, dass so viele Jahre in so wenige Minuten passten und dass die Neugier so schnell verbraucht war, die das Wiedersehen doch ausgelöst hatte, auch wenn Sasha immer gehofft hatte, Anja nie wieder zu treffen.

»Hast du noch Kontakt zu den anderen?«, fragte Sasha.

»Wusstest du das nicht? Es gab ein Klassentreffen letztes Jahr.«

»Hatte keine Lust.«

»Die Jäger war auch da. Sie ist noch genauso wie früher, nur in alt. ›Looos, ziiieh … Gegen euch könnt ich Kaffee trinken und Blümchen pflücken unterwegs und wäre trotzdem schneller!‹, weißt du noch?«, prustete Anja und schickte Sasha mit diesem Zitat zurück in den September 1990. Sasha war wieder Saskia und sie war sechzehn und hockte im Startblock auf der Aschenbahn des Sportplatzes. Sie stemmte ihre Füße in die Stützen und schob ihr Gewicht nach vorn, bis die Fingerspitzen weiß wurden, so wie bei den Sprinterinnen im Fernsehen. Das Knallen der Startklappe durchschlug das aufwogende Rascheln der Zitterpappeln. Vor Saskia lagen einhundert Meter Aschenbahn gegen Anja auf der anderen Spur. Die Jäger wartete an der Ziellinie, blond, fest, sehr gerade, kleine Augen, schmale Lippen, verlorene Olympiaträume. Ihr Daumen, ihr Zeigefinger, ihr Mittelfinger lagen auf den Knöpfen der Stoppuhr, bereit, den Mädchen die Sekunden und Zehntelsekunden anzuheften.

Saskia lag nach zwanzig Metern bereits eine Schrittlänge zurück. Setz dich zu mir, hatte Anja am ersten Tag in der Schule zu ihr gesagt. Wenn du willst, hatte Saskia geantwortet. Das waren die ersten Sätze, die sie miteinander gewechselt hatten. Seitdem verbrachten sie unendlich viele Nachmittage bei Anja. Anja wohnte in der Lehmer, so nannten sie das Neubaugebiet. An Sonnentagen trockneten Röcke, Blusen, Arbeitshosen auf den Wäscheleinen in den Höfen. An Regentagen stand der Schlamm auf den Wegen, sodass man mit den Stiefeln stecken blieb und die Schuhe an der ersten Treppenstufe abstreifen musste, bevor man das Haus betrat. Die Lehmer eben, ein Block neben dem anderen, lange Reihen, davor ein bisschen Rasen, rechts und links Beete, Asphalt, Beton. Anjas Vater war Arzt und Russe und ein hohes Tier in der Partei, flüsterten die anderen hinter vorgehaltener Hand. An einem der Nachmittage liefen Anja und Saskia hinter den Häusern entlang. Es war Sommer. Sie verschwanden bis zu den Hüften in hohem Gras. Die Halme kitzelten an den Beinen. Die Sonne brannte auf ihren Köpfen. Sie hörten ein Rascheln und sahen blasse Haut durch die Halme schimmern. Sie hielten sich die Hände vor die Augen und versuchten, zwischen den Fingern einen Blick auf die Frau und den Mann zu erhaschen, die nackt im Gras lagen, und sie hatten Mühe, nicht loszukichern. Setz dich zu mir, einfach so. Kaffee trinken, Blümchen pflücken, in Saskias Gedanken war die Stimme der Jäger gedrungen.