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Undinė Radzevičiūtė

Fische und Drachen

Undinė Radzevičiūtė

Fische und Drachen

Roman

Aus dem Litauischen von Cornelius Hell

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Die Übersetzung des vorliegenden Werks wurde vom Lithuanian Culture Institute unterstützt. image

© Undinė Radzevičiūtė

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin unter Verwendung eines Motivs

ISBN ePub:

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1676 0

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1.

Die Kommission zweifelt schon wieder lange an seinen Pferden.

Einige Mitglieder der Kommission kneifen erst das eine, dann das andere Auge zu.

Einige strecken ihre Zunge spitz vor, als versuchten sie, diese Pferde abzulecken. Von Weitem.

Einige stülpen ihre Unterlippe auf, einige schielen mit zusammengekniffenen Augen, einige blasen ihre Backen auf.

Wie irgendwelche Eunuchen auf der Bühne des Kaiserlichen Theaters.

Den Mitgliedern der Kommission scheint: Die Köpfe der Pferde sind zu klein und ihre Fesseln zu schlank.

Die Erklärung, das seien iberische Pferde und diese müssten genau so sein, fruchtet nichts.

Die Kommission scheint nicht nur an den iberischen Pferden zu zweifeln, sondern auch an Iberien selbst.

Sie ist überzeugt: Auf der Welt existiert nur das mongolische Pferd.

Das mongolische Wildpferd.

Schlicht, stur und etwas heimtückisch.

So heimtückisch wie ein Wildpferd nur sein kann.

Kurzbeinig und braun-weiß gefleckt.

Wie eine Kuh.

Und der Schwanz der Pferde muss weiß sein. Unbedingt. Und er muss unbedingt bis zur Erde reichen, sagt die Kommission, und die Mähne muss unbedingt die Augen bedecken.

Wozu brauchen sie Pferde, die gar nichts sehen?

Die Kommission sagt noch: Seine Pferde seien keine richtigen Pferde, denn sie seien ruhig, und Pferde sind nicht ruhig.

Die wiederholte Bestätigung, dass die iberischen Pferde so, genau so, sind, vergrößert nur das Misstrauen der Kommission.

Sie glauben weder an Iberien noch an die iberischen Pferde.

Jetzt schon ganz offen.

Für die Mitglieder der Kommission ist das ein unverschämter und schrecklich infamer Betrug, der den Kaiser nachgerade beleidigen kann.

Natürlich wird der Fünfte Kaiser nicht selbst hingehen, um die Pferde zu besichtigen.

Die Kommission sagt: Der Kaiser hat auch keinen Grund, hinzugehen und sie zu besichtigen, denn diese Pferde haben keine Knochen.

Er versucht, die Kenner zu überzeugen, dass die Pferde nicht unbedingt Knochen brauchen, und hört den Frosch in seinem eigenen Hals.

Es wäre schon besser, wenn der Fünfte Kaiser selbst käme, um einen Blick auf sie zu werfen, denn Pater Castiglione ist dabei, selbst den Glauben an seine Pferde, an Iberien und an seine Mission in diesem Land zu verlieren.

Die Kommission bringt ihre Zweifel an den Knochen der Pferde laut zum Ausdruck, dann leise, und geht danach zu den Knochen der Landschaft über.

Was die Knochen der Landschaft betrifft, hegt die Kommission keinerlei Zweifel.

Sie sind nicht vorhanden.

Die Mitglieder der Kommission fordern, dass diese »Knochen« in der Landschaft so deutlich wie möglich zu sehen seien sollen.

Und sie halten mit Nachdruck fest: Am besten sollte die Landschaft um die Pferde herum ein Chinese malen.

Vielleicht Leng Mei oder irgendein anderer Chinese.

Es gibt diese Chinesen hier.

In solchen Augenblicken beginnt Pater Castiglione plötzlich, kein Chinesisch mehr zu verstehen, und es ist ihm nicht ganz klar, was jetzt geschehen wird.

Die Kommission hat noch keine Entscheidung getroffen, sie hat gewissermaßen nur gesagt: Sie wolle Pater Castiglione nicht nur die Bäume hinter den Pferden, sondern auch die im Vordergrund nicht anvertrauen.

Sie ersucht ihn nur, eine Skizze der Perspektive zu zeichnen, und Leng Mei oder irgendein anderer wird danach eine Landschaft mit allen Bäumen und ihren »Knochen« malen.

Als »Knochen« bezeichnen die Chinesen Konturen von Dingen, Tieren und Menschen.

Im Unterschied zu den Europäern sind den Chinesen die Konturen wichtiger als der Raum.

Noch wichtiger als die Konturen ist ihnen nur die Leere.

Die kaiserliche Kommission der Kunstkenner braucht keinerlei italienische Perspektive.

Ihnen genügen die chinesischen Nebel, die herabsinken. Von den Bergen.

Oder diejenigen, die vom See aufsteigen und alle Fehler des Landschaftsraumes verdecken.

Die Perspektive ist nur für den Kaiser wichtig.

Es ist nur nicht klar, wie lange.

Dass er die Perspektive möchte, hat der Kaiser allerdings nur über die Kommission kundgetan.

Außerdem sagt die Kommission zu Pater Castiglione: In einem Landschaftsbild sollen Bäume und Berge den wirklichen, irgendwo gesehenen Bäumen und Bergen, nicht ähnlich sein;

der Kaiser braucht kein Abbild eines konkreten Baumes oder Berges;

ein gemalter Baum oder Berg muss alle irgendwann einmal gesehenen Bäume und Berge verallgemeinern;

das Malen eines konkreten Baumes ist eine handwerkliche Tätigkeit;

wenn ein Landschaftsbild unbedingt irgendetwas ähnlich sein soll, dann zuallererst den Werken der alten chinesischen Landschaftsmeister.

Diese ganze Liste von Anforderungen betet die Kommission in einem langweiligen Unisono herunter.

Castiglione begreift: Die Chinesen wollen, dass ein Baum keinem Baum ähnlich sein soll.

Er denkt: Nichtiger als das Malen von Pferden kann nur das Malen von Stillleben sein.

Darauf eine mit dem Messer zerteilte Melone und ein Hummer.

Und Zitronen.

Mit einer Spirale.

Mit abgelöster Schale.

Solche Stillleben soll man besser nicht malen, sondern essen. Sollen doch die Niederländer sie malen.

Castiglione hört der Kommission mit leicht vorgeneigtem Kopf zu.

Castiglione ist bemüht, dass sich sein Kopf nicht zur Seite neigt.

Weder nach rechts noch nach links.

Er ist bemüht, mit gesenktem Blick dazustehen und die Kommission nicht direkt anzusehen.

Nur aus den Augenwinkeln.

Die Mitglieder der Kommission unterhalten sich. Castiglione ist bemüht, nicht die Stirne zu runzeln.

Und nicht die Nase zu rümpfen.

Und den inneren Gleichmut zu bewahren.

Und nicht niedergeschlagen zu wirken.

Obwohl ihm freundlich zu wirken wohl auch nicht gelingt.

Castiglione möchte gähnen, doch er bemüht sich.

Nicht zu gähnen.

Und sich nicht auf die Lippen zu beißen.

Er geht zweimal durch seine Werkstatt.

Beherrscht.

Würdevoll und gesetzt.

Castiglione macht alles genau so, wie es Ignatius von Loyola geboten hat.

Es heißt, Ignatius von Loyola habe vor dem Formulieren dieser Verhaltensregeln sehr viel nachgedacht.

Und sogar geweint.

Und siebenmal habe er sein Gebet gerichtet an …

Als die Pferdeskizzen aufeinandergelegt sind, wird offensichtlich: Unter ihnen gibt es keinen Gastgeber, sagt die Kommission.

Hundert Pferde und sechs Hirten auf dem Bild – nur Gäste. Castiglione schlägt der Kommission vor, sich ein Pferd auszusuchen.

Und er wird dieses Pferd größer malen als die übrigen.

Die Chinesen lachen.

Castiglione fragt, ob die Kommission will, dass er den Kaiser male.

Die Chinesen lachen nicht.

Castiglione hat noch nie erlebt, dass Lachen so schnell in Schweigen umschlägt.

Das Schweigen wird vom Vorsitzenden der Kommission Sima Zhao unterbrochen.

Er richtet den kleinen, an seinem Gürtel hängenden Sack aus blauer, mit scharfkantigen Dreiecken, goldenen Bergen und welligen Flüssen bestickter Seide zurecht.

Der Vorsitzende der Kommission Sima Zhao ist größer als die meisten Chinesen und prunkvoller gekleidet als die übrigen Mitglieder der Kommission.

Man kann ihn von Weitem an seiner Leopardenfellmütze erkennen.

Wenn man seine Geschichte nicht kennt und ihn nicht sprechen hört, könnte man denken: Er ist zu überheblich, zu stolz und er wird überschätzt.

Und vermutlich ohne Grund.

Sima Zhao ist ein Eunuch.

Er ist der einzige Eunuch in der Kommission.

Die übrigen Mitglieder der Kommission der Kunstkenner sind Mandarine höheren Ranges.

Von anderen Eunuchen unterscheidet sich der Vorsitzende der Kommission Sima Zhao nicht nur dadurch, dass er nicht nach Urin riecht, sondern auch durch einen außergewöhnlichen Intellekt.

Die meisten Eunuchen, die Castiglione in der Verbotenen Stadt getroffen hat, taugen nur dazu, Tore zu öffnen, den Gattinnen des Kaisers Seidenkleider anzulegen und in Theaterstücken die Backen aufzublasen.

Oder Frauen zu spielen.

Castigliones Schüler Leng Mei – vielleicht wird es ihm auf Wunsch der Kommission übertragen werden, die Landschaft hinter den Pferden zu malen – hat Pater Castiglione erzählt, und es ist erstaunlich, wie sehr die zufällig gehörte Geschichte eines Menschen die Meinung über diesen verändern und sogar Achtung und Liebe für ihn aufkommen lassen kann – das also hat der Schüler Leng Mei Castiglione erzählt: Der Vorsitzende der Kommission Sima Zhao sei weder auf eigenen Wunsch noch auf den seiner Familie zum Eunuchen geworden, sondern aufgrund der Entscheidung des alten Vierten Kaisers.

Und er stamme nicht, wie die übrigen Eunuchen, aus der untersten, sondern aus der obersten Gesellschaftsschicht.

Sein Vater war, der Meinung des alten Vierten Kaisers nach, ein ungehorsamer und gefährlicher General.

Der Kaiser ließ den einflussreichen General festnehmen und seinem zehnjährigen Sohn die Genitalien abschneiden.

Es ist keine große Tragödie passiert.

Danach stellte sich heraus: Der alte Kaiser hatte sich vielleicht getäuscht.

Bezüglich der Untreue des Generals.

Er war Intrigen aufgesessen.

Als sich die Wahrheit herausgestellt hatte, ließ der alte Kaiser den Jungen in die Verbotene Stadt bringen.

Hier wuchs er auf und machte Karriere.

Ihm als einzigen aus der großen Anzahl der Eunuchen ist es gestattet, sich in dunkelblaue Gewänder zu kleiden: bestickt mit Flüssen und dreieckigen Bergen.

Außerdem kann er sich direkt an den Kaiser wenden.

Die übrigen Mitglieder der Kommission der Kunstkenner, die Mandarine, können sich eine derartige Vertraulichkeit nicht erlauben.

Sima Zhao nimmt im Palast in der Tat eine herausgehobene Position ein.

Abgesehen davon, dass die Qing-Dynastie Eunuchen völlig anders betrachtet als jene, die vorher an der Macht war.

Als die Ming-Dynastie, sagt Leng Mei sehr leise.

Was bedeutet »ganz anders«?, fragt Castiglione.

Die Kaiser der Qing-Dynastie sehen die Eunuchen nicht mehr als wichtige Menschen an, sagt Leng Mei.

Der Vorsitzende der Kommission Sima Zhao unterbricht das Lachen der Mitglieder der Kommission und erklärt Castiglione: Als »Gastgeber« im Landschaftsbild bezeichnen die Chinesen nicht den Kaiser, sondern einen großen Berg.

Meist wird er in der linken Bildhälfte gemalt.

Alles Übrige im Landschaftsbild wird »Gäste« genannt.

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In China ist es wie in Europa auch, denkt Castiglione.

Jeder Mensch hat seinen Platz.

Seinen Rang.

Doch in China wird jeder Mensch nicht einzeln bewertet, sondern nur in Beziehung zu einem anderen.

In jeder Situation ist ein Mensch entweder Lehrer oder Schüler oder Vater oder Sohn oder Gastgeber oder Gast.

In China haben sogar die Elemente eines Landschaftsbil desihren Rang, denkt Castiglione.

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»Vielleicht wollen Sie, dass ich die Frage beantworte, warum ich Ende 2001 auf Messenger über erotische Themen gechattet habe? Mit einem Schriftsteller aus Malta«, fragte Mama Nora auf dem Bildschirm.

»Ja. Warum?«, fragte die Journalistin auf dem Bildschirm.

Miki stellte den Fernseher lauter, denn das hatte Oma Amigorena in Zeichensprache gefordert, und sagte erregt:

»Warum, warum? Warum, warum? Warum haben Journalisten keine anderen Fragen? Nur dieses ›Warum‹. Was du vorhattest, das hast du auch getan in diesem Jahr 2001. Was denn, musst du dich jetzt vor dem ganzen Volk auf Knien und mit Tränen in den Augen dafür entschuldigen? Und danach vielleicht noch hingehen und die Fahne küssen? Du bist doch keine Präsidentin«, ärgerte und empörte sich Miki.

Miki hatte noch die Kraft sich zu empören, doch niemand hatte mehr die Kraft zuzuhören, alle waren an dem Gespräch auf dem Bildschirm interessiert.

»Hast du dich wirklich im Jahr 2001 auf Messenger mit einem Schriftsteller aus Malta über erotische Themen unterhalten?«, fragte Miki.

»Er hatte weder Sinn für Humor noch analytisches Denken«, antwortete Mama Nora. Daher gab es sonst nichts, worüber man sich hätte unterhalten können.

»Na und, zeichnet sich das Jahr 2001 durch irgendetwas Besonderes aus?«, fragte Oma Amigorena. »Nur dadurch, dass es schon lange vorbei ist«, sagte Mama Nora.

»Im Fernseher siehst du besser aus«, sagte Oma Amigorena und erklärte: »dicker«.

Oma Amigorena saß vor dem Fernseher, gekleidet mit einem violetten Pullover, den sie in ihrer Jugend mit Stiefmütterchen bestickt hatte.

Sie war herausgeputzt, als säße sie nicht diesseits, sondern jenseits des Bildschirms.

Aber das durfte man ihr nicht sagen.

Oma Amigorena war schon achtzig Jahre alt und konnte das Wort »jenseits« überhaupt nicht ausstehen.

Dafür mochte sie das Wort »hinauswerfen« sehr.

Jetzt saß sie vor dem Fernseher mit ihrer repräsentativen Kleidung. In weniger feierlichen Augenblicken mochte Oma Amigorena auch den Zigeunerstil.

»Chanel?«, fragte Oma Amigorena und zeigte auf Mama Noras schwarze Strickjacke auf dem Bildschirm.

»Beinahe«, antwortete Mama Nora.

»Beinahe Chanel?«, fragte Oma Amigorena.

Sehr gut, wenn es wenigstens einen so besonderen Namen im Haus gibt.

Da genügt es völlig, dass alle Übrigen in diesem Haus etwas einfachere Namen tragen.

Lange dachten hier alle, »Amigorena« bedeute die Freundin aller, doch später, nachdem man sich für ein Spanisch-Wörterbuch interessiert hatte, stellte sich heraus, dass amigoreno auf Spanisch Freund – ein Rentier männlichen Geschlechts bedeutet.

Das ist ein Geheimnis, das niemals so öffentlich bekannt werden wird, dass Oma Amigorena davon erfahren könnte.

»Also hat sie ihn hinausgeworfen?«, sagte Oma Amigorena, indem sie sich vom Fernseher weg und zur soeben bei der Tür hereinkommenden Schascha hindrehte.

»…«

»Hat sie ihn hinausgeworfen?«, fragte Oma Amigorena und zwinkerte verschwörerisch.

Doch sie wurde sofort zum Schweigen gebracht und mit dem Gesicht zum Fernseher gedreht.

Einmal sagte Schascha laut, dass »Amigorena« vermutlich ein iberischer Name sei.

»Gibt es so eine Sprache?«, fragte Miki.

»Es gab ein Territorium, in dem solche Namen vorkamen«, sagte Schascha.

»Warum willst du mich ständig verleumden? Gatos«, sagte Oma Amigorena und begann zu weinen.

Oma Amigorena ist in Argentinien geboren. Ihre Eltern emigrierten im Ersten Weltkrieg dorthin, und kehrten danach wieder zurück.

Mit ihr in den Armen.

Das war ein großer Blödsinn.

Aus ihrer Zeit in Argentinien hat Oma Amigorena lediglich einige spanische Wörter in Erinnerung, sie benutzt sie aber nur als Schimpfwörter.

Über Argentinien spricht Oma Amigorena nur ungern.

Davon wird sie nur bedrückt.

Die Schuld der Eltern.

»Hör mal, warum ist denn zwischen euch alles abgebrochen?«, fragte Miki Mama Nora und beobachtete sie neugierig während einer Werbeeinschaltung.

»Zwischen wem? – Zwischen uns?«, fragte Mama Nora.

Man darf bezweifeln, dass Oma Amigorena je Ibsen gelesen hat.

Diese Nora hat sie von irgendwo abgekupfert oder abgelauscht.

»Zwischen dir und dem Schriftsteller aus Malta?«, sagte Miki.

»Schriftsteller ausmalen?«, fragte Oma Amigorena.

»Aus Malta«, sagte Mama Nora.

»Man muss es mir nicht wiederholen, ich höre sehr gut und verstehe alles«, sagte Oma Amigorena. »Ich bin sehr klug.«

»Wir haben einander verfehlt«, sagte Mama Nora.

»Wo?«, fragte Miki.

»In Gedanken«, sagte Mama Nora.

»In welchen Gedanken?«, fragte Miki.

»Na, ich wollte auf die Insel fliehen.«

»Und er?«

»Und er wollte von der Insel fliehen«, antwortete Nora.

»Flie-hen?«, fragte Oma Amigorena sehr interessiert. Doch niemand reagierte auf ihre Frage.

»Als ihr dann alles geklärt habt – habt ihr euch getrennt?«, fragte Miki.

»Nicht sofort«, antwortete Mama Nora. »Ich habe ihm noch zwei Weihnachtskarten geschickt.«

»Eine sehr gute Tat«, sagte Oma Amigorena.

»Und warum haben Sie begonnen, auch über erotische Themen zu schreiben?«, fragte die Journalistin auf dem Bildschirm.

»Genau gegenüber von meinen Fenstern wurde ein Geschäft mit derartigen Waren eröffnet«, antwortete Mama Nora am Bildschirm.

»Und wie?«

»Was heißt wie?«

Die Journalistin wurde verlegen:

»Wie viel Einfluss hat Marquis de Sade auf Ihr Schaffen?«, fragte die Journalistin nach einer Pause, während das Rascheln von Papieren zu hören war.

Und gleich nach der Frage passierte ihr etwas unter der Strickjacke und sie begann, verdächtig daran herumzunesteln.

Der Kameramann versuchte, die Totalperspektive auf das Studio durch eine Annäherung an Mama Noras Gesicht zu verändern.

»Halten Sie sich die Ohren zu«, sagte Miki zu Oma Amigorena. Obwohl es in diesem Fall am besten wäre, sich die Augen zuzuhalten.

»Wirklich, halte dir die Ohren zu«, sagte Mama Nora.

»Womit zuhalten?«, fragte Oma Amigorena. Sie ist die Einzige in der Familie, die gerne »womit« sagt.

»Gibt es denn schon überhaupt nichts mehr, mit dem man …?«, fragte Mama Nora.

»Und hatte Sacher-Masoch einen Einfluss?«, fragte die Journalistin Mama Nora am Bildschirm.

»Sacher-Masoch nicht so sehr«, antwortete Mama Nora.

»Er hat nur geschadet«, sagte Schascha.

Schascha wurde zu Hause Schascha gerufen, seit Miki geboren wurde.

Genauer gesagt: seit Miki sprechen lernte.

Miki schaffte es lange Zeit nicht, die Wörter mit dem Buchstaben s auszusprechen: solche wie »Sonne«, »Strukturalismus« oder »Subordination«.

Da übernahm die ganze Familie, um Miki zu unterstützen, diesen Fehler und begann Sascha Schascha zu nennen.

Und sogar später, als Miki gelernt hatte, die Worte »suspendierte Standardisierung« richtig auszusprechen, änderte sich daran nichts.

Mit dem repräsentativen Namen Alexandra wurde Schascha nirgends und von niemandem angesprochen.

Der Altersunterschied zwischen ihr und Miki betrug sechs Jahre.

Manchmal war er spürbar, manchmal nicht.

Alles hing davon ab, welche Position Miki in einem bestimmten Augenblick einnehmen wollte.

Die Hierarchie zwischen den beiden und Schaschas anachronistisches Erstgeburtsrecht werden in der Familie nur durch einen Unterschied markiert: Schascha sagt zu Oma Amigorena »du«, während Miki aus unbekannten Gründen »Sie« zu ihr sagen muss.

Doch Miki kommt nicht einmal auf den Gedanken, dass es auch anders sein könnte.

»Und warum wolltest du nach Malta fliehen?«, fragte Oma Amigorena während einer Werbeeinschaltung und nahm Mama Nora bei der Hand.

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Mama Nora.

»Vor mir?«

»Nein, nicht vor dir.«

»Vor wem dann?«

»Vor dem Leben im allgemeinen Sinn dieses Wortes«, sagte Mama Nora.

»Aber ich bin doch dein Leben«, sagte Oma Amigorena.

»Zum Teil.«

»Nur zum Teil?«, geriet Oma Amigorena in Rage, ließ Mama Noras Hand los und fing an, missmutig mit dem Nagel den Lack vom Kaffee- und Zigarettentischchen abzukratzen.

»Zum Großteil«, sagte Mama Nora.

»Du wolltest dorthin fliehen und sterben?«, fragte Oma Amigorena und erschrak selbst vor ihren eigenen Worten.

»Nein«, sagte Mama Nora. »Sterben wollte ich in Malta am allerwenigsten.«

»Und was wolltest du am allermeisten?«, fragte Oma Amigorena.

»Die Traditionen der mediterranen Liebe kennenlernen«, sagte Schascha. »Und dass du in diesem Augenblick nicht neben mir rauchst.«

Von Mama Nora will die Familie nur eines: Das, was von allen Mamas erwartet und erhofft wird.

Verantwortung.

Mama Nora weiß das, aber trotzdem schaut sie die ganze Zeit »Travel«.

Und spricht.

Dass sie auswandern möchte, wenn es sein muss auch nach … Mauretanien.

»Nicht doch lieber nach Mauritius?«, fragt Schascha, die Mama Noras Fehler spürt.

Vernünftige Kinder wollen doch nicht, dass ihre Mütter für den Rest ihres Lebens im Sand von Afrika versinken.

»Auch nach Mauritius«, pflichtet Mama Nora bei.

Oma Amigorena bleibt meist nichts anderes übrig, als unverzüglich von ihren Nöten und Plänen zu erzählen.

Und die Pläne von Oma Amigorena sind noch schlimmer als ihre Nöte.

Doch nur so ist es möglich, Mama Noras Träumereien wenigstens für kurze Zeit zu übertönen.

Miki sagt: Für Mama Nora ist es schon längst zu spät, irgendwohin auszuwandern. Sie ist nicht mehr in dem Alter.

Familienleben – das ist ein ständiges Zusammensein mit denselben Menschen. Ein Dasein, das man meist nicht ertragen kann, doch wenn man irgendetwas zu ändern versucht, kommt es zu einem Durcheinander, das in einen rücksichtslosen Kampf umschlägt.

»Glauben Sie an Gott?«, fragte die Journalistin am Bildschirm.

»Nein«, antwortete Mama Nora.

»Rauchen Sie?«, fragte die Journalistin.

»Nein«, antwortete Mama Nora.

Bei einer der beiden Antworten hat Mama Nora gelogen.

Auf die Frage Rauchen Sie? hätte sie antworten müssen: Nicht mehr.

Oma Amigorena missfielen beide Antworten von Mama Nora.

Denn Oma Amigorena rauchte selbst, und in ihrer Kindheit war sie Protestantin gewesen.

Es wäre interessant zu wissen, was sie darunter verstand.

»Und warum wolltest du nach Malta fliehen?«, fragte Miki.

»Damals hatte ich die Journalisten wegen einer unangenehmen Geschichte am Hals«, antwortete Mama Nora. »Und ich hatte den großen Wunsch, irgendwohin auszuwandern.«

»Liebesgeschichten?«, fragte Miki.

»Geh, von welcher Liebe sprichst du denn da?«, sagte Oma Amigorena.

»Keine Liebe?«, fragte Miki.

»Nein.«

»Was dann?«

»Eine Klärung«, sagte Oma Amigorena.

»Eine Klärung?«, fragte Miki.

»Ja«, antwortete Oma Amigorena. »Das ist eine sehr treffende Beschreibung.«

»Und wer wollte eine Klärung?«, fragte Miki.

»Zwei Schriftstellerinnen und zwei Schriftsteller«, antwortete Oma Amigorena.

»Und?«, fragte Miki.

»Sie haben so heftig geklärt«, sagte Oma Amigorena, »dass sogar die Zeitungen darüber geschrieben haben.«

»Wegen des Schreibens?«, fragte Miki.

»Was wegen des Schreibens?«, fragte Oma Amigorena.

»Haben sie geklärt.«

»Wegen welchen Schreibens denn???«, brauste Oma Amigorena auf. »Ich habe doch klar gesagt: Zwei Schriftstellerinnen und zwei Schriftsteller klärten ihre Beziehungen.«

»Und wer waren diese Schriftsteller?«, fragte Miki.

»Einer davon war Schaschas Vater«, sagte Mama Nora mit gesenktem Blick. »Der andere – deiner.«

»Und diese andere Schriftstellerin?«, fragte Miki.

»Ach … irgendeine Irre«, sagte Oma Amigorena.

»Sie war gar keine Schriftstellerin«, sagte Mama Nora.

»Was dann?«, fragte Oma Amigorena.

»Eine Dichterin«, sagte Mama Nora.

»Umso mehr«, sagte Oma Amigorena.

»Und waren Sie auch …«, versuchte Miki zu fragen.

»Was auch?«, fragte Oma Amigorena.

»Waren Sie in diese ganze Geschichte verwickelt?«, fragte Miki.

»Nein«, sagte Oma Amigorena. »Mir war diese Geschichte völlig egal.«

»Dir war es völlig egal, aber du …«, begann Mama Nora.

»Verleumde mich nicht!!!!!!!!!«, platzte Oma Amigorena los.

»… trotzdem hast du eine ganze Schuhschachtel voller Zeitungsausschnitte gesammelt«, sagte Mama Nora.

»…«

»Und bis jetzt, obwohl fünfzehn Jahre vergangen sind, erlaubst du nicht, dass sie weggeworfen werden«, sagte Mama Nora.

»Ich dachte, sie werden vielleicht noch benötigt«, sagte Oma Amigorena ruhig.

»…«

»In Zukunft«, sagte Oma Amigorena.

»Wozu?«, fragte Schascha. »Zur Erpressung?«

»Für die Geschichte«, sagte Oma Amigorena.

»Jede Familie hat schlimme Erinnerungen«, sagte Mama Nora.

Aber nicht allen gelingt es, sie mit einem so tröstlichen Zitat aus dem »Paten« zu verdecken.

Zu Hause ist Europa, und unten ist China.

Die Altstadt hat vor fünfzehn Jahren Chinatown akzeptiert.

So, als hätte sie ihr ganzes Leben lang darauf gewartet.

Obwohl die Altstadt seitdem nicht mehr dieselbe ist.

In ihrem Inneren ist sie nicht mehr alt.

Alle brauchen doch Sanitäranlagen.

Badezimmer.

Schaut man zum Wohnzimmerfenster hinaus, kann man sehen, wie ein Mitarbeiter der Chinesischen Botschaft und seine Frau spazieren gehen.

Und wie sie dabei die Ballerinas behutsam aufsetzt und leicht schaukelt.

Ihre schwarze, glitzernde, regenfeste Kunststoffjacke mit den plumpen Rosen ist jeden Tag dieselbe, aber sie macht darum nicht weniger Freude.

Sie ähnelt den schwarzen, geblümten, russischen Metalltabletts.

Doch nicht einmal ein Spezialist könnte sagen, wer diese ganze Ästhetik von wem geklaut hat.

Zu Hause ist Europa, doch unten formiert sich Chinatown.

Aber nicht zu schnell, und das macht auch Freude.

»Sonst ist Malta ja nicht gerade der beste Ort für eine Flucht«, sagte Schascha und blickte aus dem Fenster. »Zu viele Menschen pro Quadratkilometer, und die Zivilisation ist zu nahe.«

Ihre Straße ist jetzt eine chinesische Bühne.

Der Mitarbeiter der Chinesischen Botschaft und seine Frau verschwanden, und an ihrer statt trat eine chinesische Schönheit in Erscheinung.

Aus einer solchen Entfernung sieht man nicht, ob sie sehr schön ist, man sieht nur, dass sie aus China kommt.

Doch Schönheit kann man auch erahnen.

Aus dem Verhalten einer Frau.

Wenn eine Frau auf der Straße so geht, als würden sie alle ansehen, etwas manieriert und kokett, so ist sie völlig überzeugt davon, dass es an ihr etwas zu sehen gibt.

»Und warum bist du nicht auf irgendeine andere Insel geflohen?«, fragte Miki.

»Zu dieser Zeit gab es überhaupt keine anderen Inseln«, antwortete Mama Nora.

»Wo? Auf der Landkarte?«, fragte Miki. »Auf der Landkarte gab es keine anderen Inseln?«

»Nicht auf der Landkarte«, sagte Schascha. »Am Horizont.«

Wenn man an einem solchen Ort lebt, könnte man zu Hause das Spiel spielen: »Wer geht auf der Straße? Ein Chinese oder kein Chinese?«

Um Geld!

Unten betrachten drei Chinesen einen Kastanienbaum.

Einen Baum.

Haben ihre Freude daran.

Kein einziger Europäer kann sich an einem einzelnen Kastanienbaum derart erfreuen, doch die Chinesen machen das gruppenweise.

»Und hast du nie daran gedacht, irgendwohin zu fliehen?«, fragte Oma Amigorena.

»Vielleicht habe ich doch daran gedacht«, sagte Schascha.

»Warum bist du dann nicht geflohen?«

»Eigentlich … bin ich geflohen«, sagte Schascha. »Viele Male.«

»Warum sehe ich dich dann jeden Tag?«, fragte Oma Amigorena.

»Ich bin in Gedanken geflohen«, sagte Schascha.

»Und hast du nicht daran gedacht, irgendwohin zu fliehen?«, fragte Oma Amigorena.

»Ich habe daran gedacht«, sagte Miki.

»Warum bist du dann nicht geflohen?«

»Ich hatte keine Mittel dafür.«

»Hast du nicht daran gedacht, etwas zu stehlen?«, fragte Oma Amigorena und spürte selbst Unruhe in sich aufkommen ob ihrer Frage.

Danach schaute sie grimmig drein und klapperte mit den Zähnen, damit die Frage nicht wie ein Angebot klingen würde.

Vor dem Fenster sind die Chinesen stehen geblieben und erwecken kaum noch Interesse.

»Und wenn du die Mittel zur Flucht hast, wirst du dann fliehen?«, fragte Oma Amigorena.

Miki gab keine Antwort.

Das Bild auf der chinesischen Bühne ist wieder interessanter geworden.

Ein chinesischer Bandit ist in Erscheinung getreten.

Ein komischer Bandit.

Wie aus einem chinesischen Film. Die Hände in den Hosentaschen.

Hat einen schaukelnden Gang.

Sieht aus wie ein Straßenräuber.

Sieht sehr gut aus.

In Europa … In Europa bemühen sich die Straßenräuber, nicht wie Räuber auszusehen, und das hilft ihnen beim Rauben.

Und diejenigen, die aussehen wie Räuber, gehen nur nachts auf die Straße.

Doch dieser Bandit leuchtet geradezu vor Schlechtigkeit inmitten des allgemeinen Guten des Tages.

Schascha erklärt: Die Chinesen stehen vermutlich unter starkem Einfluss der Pekingoper.

Und ihrer Kopien.

Provinzieller Kopien.

Ist dort ein Protagonist böse, so sieht er auch böse aus, und ist er sehr böse, dann sieht er auch aus wie ein sehr Böser.

Was denkt er sich dabei? Auch so schauen ihn schon alle an.

»Und war er schön?«, fragte Miki.

»Wer?«, fragten Mama Nora, Schascha und Oma Amigorena wie aus einem Mund.

»Dieser Schriftsteller aus Malta.«

»Vermutlich«, sagte Mama Nora. »Als Kind stand er sogar Modell für eine religiöse Skulptur. Und diese Skulptur steht noch immer in der Kathedrale seiner Geburtsstadt.«

»Du hast ihn in seiner Kindheit gekannt?«, fragte Oma Amigorena.

»Nein, in seiner Kindheit habe ich ihn nicht gekannt«, sagte Mama Nora.

»Und wen stellte diese Skulptur dar?«, fragte Miki.

»Eine Frau, die das Tuch hält, in das Christus sein Gesicht abwischte, als er auf Golgatha hinaufstieg, und noch eine Frau und den Jungen, dessen Modell dieser Schriftsteller aus Malta als Kind war«, sagte Mama Nora.

»Und wen stellten diese andere Frau und dieser Junge dar?«, fragte Miki.

»Ich weiß es nicht, ich bin doch keine Spezialistin für religiöse Sujets«, antwortete Mama Nora.

»Bist du eine Spezialistin für nichtreligiöse Sujets?«, fragte Oma Amigorena.

»Genau«, sagte Schascha.

Die Werbeeinschaltung endete und Miki stellte den Fernseher lauter:

»Meinen Sie, dass es, wenn man fast sechzig Jahre alt ist, zu spät ist, leicht erotische Romane zu schreiben?«, fragte Mama Nora, indem sie die Rolle der professionellen Interviewerin übernahm.

»Früher haben Sie doch nur für junge Leser geschrieben«, sagte die Journalistin mit leichtem Zweifel.

»Die jungen Leser werden eines Tages erwachsen«, erklärte Mama Nora.

»Zu Hause sprichst du ganz anders«, sagte Miki.

Ihr richtiger Name ist Nika. Doch dieser Name steht nur in den Dokumenten.

Niemand bei ihr zu Hause hat ihn je benutzt.

»Ihr nennt mich absichtlich so«, sagt Miki oft.

»Warum absichtlich?«, wird sie von ihrer Familie gefragt.

»Ihr alle wollt betonen, dass ich hier überhaupt keinen Status habe«, sagt Miki. »Wie irgendeine Maus.«

»Und warum hast du begonnen, über erotische Themen zu schreiben?«, fragte Oma Amigorena, als das Interview mit Mama Nora zu Ende war.

»Darum«, sagte Schascha.

»Ich habe nicht verstanden«, sagte Oma Amigorena.

»Deswegen, weil sie die Erotik mehr interessiert als die Kinder«, sagte Schascha. »Und von den Kindern wollte sie so schnell als möglich …«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete Oma Amigorena bei. »Sie liebt diese Kinder nicht.«

Der wahre Grund lag woanders.

Mama Nora lebte mit ihrer ganzen Familie lange Zeit in einem Staat, wo das ungeschriebene Verbot galt, Erotik auch nur anzudeuten.

Dieses ungeschriebene Verbot galt fünfzig Jahre lang.

Doch danach änderte sich plötzlich die politische Situation, und das Schreiben über erotische Themen war quasi gestattet.

Allen.

Und nur wenige konnten dem widerstehen.

Als der Durchbruch der erotischen Literatur begann, begriff ein Großteil der Schriftsteller: Die Kinder können warten, aber der Durchbruch nicht.

Sei’s drum.

Mama Nora war nicht die Einzige und keine Ausnahme.

Das Herausragende an ihr konnte nur das sein: Sie gehörte zu der kleinen Gruppe von Schriftstellern, die sich erst mit Mitte fünfzig mit dieser Sache beschäftigten.

»Zeigt ihr mir diesen Masoch?«, sagte Oma Amigorena, als sich die Begeisterung für Erotik gelegt hatte.

»Welchen Masoch???«, fragte Mama Nora.

»Den, der schädlich ist«, erklärte Oma Amigorena.

Eines Tages beginnt schließlich im Leben jedes Menschen eine Phase, in der ihn alle und alles zu interessieren beginnt, was schädlich ist oder sein kann. Oma Amigorena zündete sich eine Zigarette an und gab diesen Gedanken in ihren eigenen Worten wieder.

»So kann es nicht mehr weitergehen«, sagte Mama Nora.

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Die Kommission der Kunstkenner ist überzeugt: Auf der Welt gibt es nur ein einziges Pferd.

Das mongolische.

Doch die alten Chinesen hatten auch andere Pferde gesehen.

Schon vor sechshundert Jahren hatte ein Meister der Pferdemalerei – die Chinesen hatten davon mehrere – der Song-Dynastie namens Li Gonglin fünf Pferdebilder gezeichnet.

»Gezeichnet« wäre das passendere Wort als »gemalt«, denn das lässt eher an kalligraphische Skizzen denken als an Malerei.

Die Chinesen können nicht malen.

Auch wenn sie es lieben, kleine Bilder grell zu färben. Auf den Bildern waren die Pferde nicht sich selbst überlassen.

Sie wurden von Pferdezüchtern gehalten.

So standen also auf jeder der fünf Zeichnungen von Li Gonglin je ein Pferd und ein Pferdezüchter.

Und obwohl ein aufmerksamer Betrachter bemerken konnte, dass die Pferde verschiedenen Rassen angehörten, wirkten sie wie ein einziges.

Ein und dasselbe Pferd: ruhig und gefühllos.

Dafür waren die Pferdezüchter verschieden.

Sie unterschieden sich nicht nur nach ihrer Volkszugehörigkeit, sondern auch nach ihrer Herkunft.

Sie unterschieden sich auch nach ihrem Äußeren, ihrer Kleidung und ihrer Haltung.

Doch ein aufmerksamer Betrachter konnte noch eine sehr wichtige – sie verbindende – Sache bemerken.

Den professionellen Zug.

Sie alle sahen wie Schurken aus.

Wie Schurken, Betrüger, Kuppler, Geldfälscher und Verführer – dachte Castiglione, als er die fünf alten Bildrollen vorsichtig auspackte, eine nach der anderen betrachtete und vorsichtig wieder zusammenrollte – eine nach der anderen.

Die Kommission der Kunstkenner gestattete das.

Mit Erlaubnis des Kaisers der Qing-Dynastie.

Können Menschen, die so aussehen, ein Pferd verkaufen?, dachte Castiglione.

Denen wird doch niemand vertrauen.

Aber vielleicht hat Li Gonglin gesehen, was die Käufer der Pferde nicht sahen?

Vielleicht hat das nur der Maler allein gesehen.

Die Verschlagenheit der Pferdezüchter?

Doch vielleicht ist es ohne List und Betrug gar nicht möglich, dachte Castiglione, ein Pferd zu verkaufen.

Im Titel der Bilder fand sich kein Wort über die Pferdezüchter.

Sie hießen »Fünf wunderbare Pferde«.

Falsch, dachte Castiglione.

Die Bilder sind falsch benannt.

Li Gonglin hat das Wesen eines Pferdezüchters gut verstanden, doch das Wesen eines Pferdes zu verstehen, ist weder ihm noch anderen vor sechshundert Jahren gelungen, dachte Castiglione.

Auch wenn die Proportionen der Pferde richtig sind.

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Pater Castiglione ist mit der Mission der Jesuiten nach China gekommen: um Fresken in den katholischen Kirchen zu malen.

Und diese, wenn es keine passenden Kirchen gäbe, zusammen mit anderen Jesuiten zu erbauen.

Und erst dann.

Sie mit Malerei zu schmücken.

Er ist gekommen, um die Evangelisten und Erzengel zu malen.

Doch am meisten wollte Castiglione die Kämpfer für den Glauben malen.

Judith, die mit schlanken Fingerspitzen genüsslich mit dem Haar vom Kopf des Holofernes spielt. Mit dem langen.

Natürlich.

Vom abgeschlagenen Kopf.

Er würde dieses Haar malen.

Dieses Haar, das ihre Hände umschlingt, oder vielleicht ihre Beine.

Die nackten.

Nackt und mit Blut bespritzt.

Mit welchem Vergnügen er das malen würde.

Den Rand ihres roten Kleides.

Blutgetränkt.

Und die mit Blut besudelten Schuhe.

Oder.

David, der mit einem kleinen Stein dem Riesen den Kopf spaltet.

Dem Goliath.

Und danach.

Wie er auf seine Brust springt, um zu sehen, wie der Körper blau wird.

Und niemand wird ihn hier verurteilen.

Dass ein Italiener Bilder mit spanischer Leidenschaft und Qual malen will.

Hier ist doch China.

Castiglione war aus Europa und von der Malerei nur wegen des Ruhms geflohen.

Und wegen des Gelds.

Allerdings hing diese Flucht auch ein wenig damit zusammen, dass er vor den Österreichern fliehen musste.

Doch Castiglione hatte sich selbst schon lange überzeugt: Nur wegen der Österreicher wäre er nirgendwohin geflohen.

Er war nach Kanton gefahren, um den Chinesen mit dem Pinsel den Himmel zu öffnen.

An den Decken der Kirchen.

Dass die Chinesen wenigstens die reinen Füße des in den Himmel aufgefahrenen Christus sähen.

Er war gekommen, um den Chinesen zu erklären, warum.

Warum sie durchstochen waren.

Und wer daran schuld war.

Er ist in ein Land geflohen, in dem man alles von Neuem beginnen kann.

Um mit dem Pinsel in China eine neue Welt zu erschaffen.

Um die Rachsucht, die ihn in Italien gequält hatte …

zu vergessen.

In Italien werden alle von Rachsucht gequält.

Das ist so ein Land.

Er ist nach China geflohen, um nach der Lehre des Ignatius von Loyola in seinem Inneren das Gute vom Bösen zu unterscheiden.

Ohne Hast.

Gut.

Er floh, weil ihm in Europa eine Strafe drohte.

Er hätte verurteilt werden können.

Doch auch Ignatius war beinahe verurteilt worden. Seinetwegen sind sie sogar in Streit geraten.

Kirche und Staat.

Beide wollten es.

Vielleicht konnte sich Ignatius deswegen retten.

Doch Pater Ripa, Pater Ripa sagt, dass er, Pater Ripa selbst, nur deswegen aus Europa abgereist sei … nur, weil dort alle die Disziplin verloren hätten.

Na, und den Enthusiasmus.

Alle haben ihn verloren.

Alle Jesuiten.

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In China sind die Decken der katholischen Kirchen flach.

Pater Giuseppe Castiglione ist gekommen, um ihre Decken zu bemalen.

Zur Ehre Gottes.

So, dass niemand sie von den echten unterscheiden kann. Von solchen wie in Rom.

Aber wegen dieser Dominikaner … wegen dieser Dominikaner … wegen dieser Dominikaner … Zusammen mit Pater Ripa musste er sieben Jahre in den Porzellanwerkstätten zubringen.

Auf einer Bank.

Teller und Vasen mit Email bemalen.

Statt der Evangelisten rötliche Päonien.

Statt der Märtyrer des Glaubens gelbe Rosen.

Statt der Glaubenskriege Lotosblumen.

Mondfarbene.

Und statt allem Übrigen goldene Chrysanthemen.

So haben Träume und Hoffnungen sich in einen blumigen Albtraum verwandelt.

Allerdings.

Pater Ripa sagt, wenn sie Franzosen wären … wären sie glücklich.

Dass es sie hierher verschlagen hat.

Warum?, fragt Castiglione.

Die Franzosen, sagt Pater Ripa.

Schon seit einigen Jahrzehnten versuchen sie, den Chinesen das Geheimnis der Porzellanherstellung abzuluchsen.

Wozu?, fragt Castiglione.

Für ihren König.

Schon gelungen?, fragt Castiglione.

Anscheinend, sagt Pater Ripa, noch nicht.

Was für unchristliche Gespräche …

Französische Jesuiten unterscheiden sich von anderen Jesuiten.

Die Spanier, Portugiesen und Italiener dienen dem Papst.

Die Franzosen ihrem König.

So waren eben die Voraussetzungen.

Nur so, sagt Pater Ripa.

Allerdings geriet Pater Ripa nicht wegen der Dominikaner auf die Bank der Porzellanwerkstatt.

Er geriet wegen eines Missverständnisses hierher.

Obgleich man eine Entscheidung des Kaisers vielleicht nicht als Missverständnis bezeichnen kann.

Pater Ripa geriet auf die Bank der Porzellanwerkstatt, nachdem der alte Vierte Kaiser der Qing-Dynastie ihn tausendmal gefragt hatte, ob Pater Ripa die Perspektive einer Landschaft zeichnen könne.

Ob er das könne?

Pater Ripa hatte auf diese Frage des Kaisers tausendmal geantwortet, er sei Porträtmaler.

Und könne Porträts malen.

Sogar Pater Ripa fällt es schwer zu erklären, warum es so gekommen ist.

Sein Talent ist es, Menschen zu nötigen, genau das zu tun, was er will, und auch, ein kompliziertes Gespräch zu führen – das liegt auf der Hand.

Man sagt: Er ist beinahe so wie Ignatius.

Nein, nicht besser.

Nur beinahe so.

Er hat beinahe dasselbe Talent wie Ignatius, doch er sitzt auf der Bank der Porzellanmaler.

Pater Ripa erklärt, sie seien »Jesu Truppe«.

Aber Truppen kämpfen doch nicht die ganze Zeit.

Manchmal sitzen sie auch.

Und Don Pedrini, sagt Pater Ripa.

Wer?, fragt Castiglione.

Pater Ripa erklärt.

Dieser Lakai, Don Pedrini.

Don Pedrini ist mit demselben Schiff gekommen wie Pater Ripa.

Er diente nicht nur, er sang auch noch, sagt Pater Ripa.

Einmal bat der alte Vierte Kaiser der Qing-Dynastie Don Pedrini, die ihm von den Europäern geschenkten Zimbeln und Spinette zu stimmen.

Und Don Pedrini antwortete dem alten Vierten Kaiser der Qing-Dynastie, dass Zimbeln nicht mit der Zunge, sondern mit den Händen gestimmt werden.

Und wo ist er jetzt?, fragt Castiglione.

Der Kaiser befahl ihm, nach Hause zurückzukehren, sagt Pater Ripa leise.

Wie?, fragt Castiglione.

Zu Fuß, sagt Pater Ripa.

Pater Ripa sagt, er habe einen Schwerz gemacht.

Der Kaiser hat Don Pedrini nicht befohlen abzureisen.

Doch Loyola machte niemals Scherze und lachte nie, sagt Pater Ripa.

Er verlor niemals seine feierliche Ruhe.

Er pflegte zu sagen: Leere Worte sind überflüssig.

Solche, die weder dem, der sie ausspricht, noch irgendjemandem anderen etwas nutzen und keinen Sinn haben.

Etwas nutzen.

Und außerdem sagte Loyola: In Gesprächen muss man jede Art von Klatsch vermeiden.

Klatsch, Flüche und Verleumdungen.

Die Beziehungen zwischen dem alten Kaiser und Don Pedrini waren so gut …

Sie spielten sogar zu zweit auf einem Cembalo, sagt Pater Ripa.

Vierhändig?, fragt Castiglione.

Zweihändig, sagt Pater Ripa.

Wie?, fragt Castiglione.

Der Kaiser mit der Rechten, Don Pedrini mit der Linken.

Und wie konnte der Kaiser ihn wegschicken?

Don Pedrini hat doch drei seiner Söhne in Musik unterrichtet und konnte Musikinstrumente konstruieren, sagt Pater Ripa.

Eigenhändig.

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»So kann es nicht mehr weitergehen«, sagte Mama Nora.

Vor einigen Wochen hatte sie sich mit ihrer besten Freundin zerkracht.

Sie waren über zwanzig Jahre befreundet gewesen.

Sie hatten sich so sehr zerkracht, dass Mama Nora sogar ihren Namen aus dem Gedächtnis gelöscht hat.

Sie hatte sich zerkracht und beschloss: »Das war’s.«

Sie beschloss »Das war’s« erst, nachdem sie sich durch einige Wochen nicht versöhnt hatten.

Sie beschloss »Das war’s«, ich muss mein Leben wieder von vorne anfangen.

Und bereits am zweiten Tag begriff sie: Das Leben wieder von vorne anzufangen wird nicht gelingen, es ist schon zu weit fortgeschritten.

Und da beschloss sie: Ich muss es neu ordnen.

Dieses Leben.

Und sie beschloss, mit dem Neu-Ordnen bei Oma Amigorena zu beginnen.

»So kann es nicht mehr weitergehen«, sagte Mama Nora.

»So kann es nicht mehr weitergehen«, sagte Mama Nora. »Das muss ein Ende haben. In diesem Rauch kann man nicht leben.«

»Gatos«, sagte Oma Amigorena, während sie die rauchende Zigarette an den Rand des gläsernen Aschenbechers legte. »Perros«, sagte Oma Amigorena und blickte drohend in Mama Noras Augen. »Totale Trabeza2«, sagte Oma Amigorena und schlurfte in ihr Zimmer.

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Don Pedrini hätte nicht nach China fahren sollen, sagt Pater Ripa.

Sondern nach Paraguay.

Einen solchen Gedanken hat Castiglione noch nicht gehört.

Dort hätte es mehr Nutzen gebracht, sagt Pater Ripa.

Vielleicht ist dieser Gedanke auch richtig, nur wollte Don Pedrini selbst nicht nach Paraguay fahren, und niemand konnte ihn dorthin entsenden.

Er ist kein Jesuit.

Und er ist freiwillig hierhergekommen.

Castiglione will etwas sagen.

Über Don Pedrini.

Pater Ripa sagt, man müsse jede Art von Klatsch, Flüche und Verleumdungen vermeiden.

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Wie ein Kadaver, den man auf alle Seiten drehen kann, denkt Castiglione.

Pater Ripa ist nur sechs Jahre älter als er.

Und sie sitzen beide auf derselben Bank.

Dennoch sind sie durch mehr als nur eine Stufe getrennt.

Zwischen Jesuiten gibt es keine Gleichheit.

Nur eine militärische Hierarchie.

Und der Untergebene muss den Älteren ansehen wie Gott.

Und ihm gehorsam sein »wie ein Kadaver, den man auf alle Seiten drehen kann«.

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Pater Ripa ist wegen der Wahrheit oder wegen seiner Starrköpfigkeit auf der Bank der Porzellandekorateure gelandet.

Das kann jeder sehen, wie er will.

Giuseppe Castiglione hingegen sitzt auf der Werkstattbank der Porzellanmaler nur wegen der Dominikaner.

Der Vierte Kaiser der Qing-Dynastie hat ihn weder über Zimbeln noch über die Perspektive befragt.

Castiglione ist nur deswegen auf der Bank der Porzellandekorateure gelandet, weil er nicht zur richtigen Zeit angekommen war.

Man kann natürlich sagen, dass man aus Portugal nach Kanton, nach Macao, gar nicht zur rechten Zeit kommen kann.

Manchmal braucht das Schiff fast ein Jahr.

Die Hälfte der besten Seefahrer Christi stirbt, ohne Kanton zu erreichen.

Entweder bricht das Schiff entzwei, oder es wird von Piraten überfallen.

Die chinesischen Piraten glauben aus irgendeinem Grund, die Jesuiten seien sehr reich.

Die Piraten überfallen sie und fordern zuerst Lösegeld.

Meist bekommen sie es nicht.

Das wird als Opfer bezeichnet.

Der eine oder andere Jesuit stirbt, nachdem er das chinesische Ufer erreicht hat.

An Skorbut oder an verschleppten Krankheiten.

Das wird ebenfalls als Opfer bezeichnet.

Für die Mission in China kommen nur die Besten, Bestausgebildeten und Sprachbegabtesten infrage.

Die Auserwählten.

Keine andere Korporation ist so vorsichtig bei der Aufnahme neuer Mitglieder wie die Jesuiten.

Die Regeln hat noch Ignatius skizziert.

Es kommen nur Gesunde, Starke, solche mit einnehmendem Äußeren und scharfem Verstand in Betracht.

Solche mit ruhigem Charakter, die aber zugleich auch energisch sind.

Besitz und Herkunft sind keine unerlässlichen Bedingungen.

Doch immer soll es eine vorzügliche Empfehlung geben.

In die Missionen fahren nur die Besten.

Und es kommen nur diejenigen an, denen es am besten vonstatten geht.

Castiglione war glücklich und lebendig in Macao angekommen.

Aber nicht zur rechten Zeit.

Er war angekommen, gleich nachdem der alte Vierte Kaiser der Qing-Dynastie mit der päpstlichen Bulle bekannt gemacht worden war.

Wären nicht die Beschwerden der Dominikaner gewesen, hätte es auch die päpstliche Bulle nicht gegeben, und der alte Vierte Kaiser hätte keinen Grund gehabt, verstimmt zu sein.

Und Pater Castiglione hätte nicht da sitzen und Pfirsiche auf Teller und Schüsselchen malen müssen.

Doch bei Castigliones Ankunft war die Bulle bereits offiziell laut verlesen worden.

Der alte Vierte Kaiser der Qing-Dynastie widersetzte sich ihr und gab bekannt: »Der Katholizismus muss in China verboten werden und alle westlichen Missionare, ausgenommen diejenigen, die Wissenschaft oder Technik beherrschen oder zu alt für die Rückkehr nach Hause sind, müssen nach Westen aufbrechen.«

Eine Missionsarbeit, die zweihundert Jahre gedauert hatte, war vergeblich geworden. Die zehn Jahre dauernde Arbeit von Pater Ripa ebenfalls.

In dieser Zeit war der Bart von Pater Ripa ganz lang und grau geworden.

Pater Ripa beteuert, er sei glattrasiert nach China gekommen.

Ungeachtet der Veränderungen sind Pater Ripa und Pater Castiglione noch immer in China.

Das heißt, in diesem China ist nicht alles verloren.

Pater Ripa wiederholt, während er Pfirsiche zeichnet, ständig, dass sie Krieger seien.

Angekommen mit einem speziellen Auftrag und jetzt auf den passenden Augenblick wartend.

Auf den Beginn der Schlacht, sagt Pater Ripa und malt Blätter.

Jeden Augenblick müssten sie bereit sein, den Kampf aufzunehmen.

Für die Kirche.

Es ist wirklich nicht alles verloren.

Die Chinesen haben sie doch nicht in Stücke geschnitten.

Sie haben sie ja doch noch nicht mit einem einzigen Messer in 1600 Stücke geschnitten, sagt Pater Ripa.

Wie etliche andere. Jesuiten.

Langsam.

Zwei Jesuiten sind noch in der Lage.

Sie sind noch in der Lage zu überlegen: Wie viele Kräfte sie haben.

Und von welcher Art diese Kräfte sind.

So viele, wie ihnen in der Verbotenen Stadt zugestanden werden.

Wenn es ihnen beiden auch an Begeisterung fehlt …

Und an eben diesen Kräften.

Dass sie in all diesen Veränderungen und Unglücksfällen … die wahre Gnade sähen.

Pater Ripa wiederholt: Auf der Welt fehlt es nicht an Orten.

Aus denen die Jesuiten vertrieben wurden.

Sowohl aus Venedig als auch aus Frankreich wurden sie vertrieben.

Aber danach ließ man sie doch zurückkehren?

Auch denen, die »das Wissen« haben, kommen ständig Zweifel.

Wenn Castiglione seine letzten Kräfte verliert und ihn wieder Zweifel und Wankelmut überkommen, wiederholt Pater Ripa aufs Neue.

All diese Worte.

Dreimal pro Jahr.

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Warum sie nach China gekommen sind, ist beiden klar: Der General hat sie gesandt.

Nur der Jesuitengeneral kann entsenden.

Und sie gehorchten einfach und überließen ihm die Entscheidung.

An welchem Ort der Welt sie für die Kirche kämpfen sollten.

Doch Pater Ripa sagt: Er habe sich auch selbst dafür entschieden, nach China zu gehen.

Warum?, fragt Castiglione.

Pater Ripa antwortet: Er hat eine Stimme gehört.

Von oben.

Und was hat diese Stimme gesagt?, fragt Castiglione.

Dass das mein Schicksal ist, antwortet Pater Ripa.

Von diesem Augenblick an scheint Castiglione, dass der Körper von Pater Ripa Licht ausstrahlt.

Castiglione hingegen hat sich noch vor seiner Abreise aus Portugal mit Zweifeln gequält, im Kampf mit ihnen meditiert, gebetet, gebetet und gefastet, er hat keinerlei Visionen gehabt.

Vielleicht ist sein Glaube nicht hinreichend gefestigt?

Pater Ripa sagt: Ein Jesuit muss sich vor den Gedanken hüten.

Vor den Gedanken, er könne ein Heiliger werden.

Wie Ignatius.

Kaum tauchen solche Gedanken im Kopf eines Jesuiten auf, muss er sogleich mit der Selbstschulung beginnen.

Mit Gebeten.

Pater Ripa sagt noch: Ihr Ziel ist es nicht, wegen der Heiligkeit zu geistlichen Heldentaten bereit zu sein.

Wie Ignatius dazu bereit war. Und wenn sich keine Visionen einstellen, soll man nicht niedergeschlagen sein.

Pater Ripa weiß mehr.

Und er erzählt Castiglione von den Visionen des Ignatius.

Während der Eucharistie sah Ignatius Christus, der vom Himmel herabgestiegen war.

Er sah aus wie wer?, fragte Castiglione.

Wie Lichtstrahlen, sagt Pater Ripa.

Er hat auch noch den Satan gesehen.

Ignatius.

Wem sieht er ähnlich?, fragt Castiglione.

Irgendjemandem, sagt Pater Ripa.