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Maryse Wolinski

Schatz,
ich geh zu
Charlie

Roman

Aus dem Französischen übersetzt von
Dieter Hornig und Katrin Thomaneck

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

In meinem Kummer ist nichts in Bewegung
Ich warte niemand wird kommen
Weder bei Tag noch bei Nacht
Noch jemals was ich selber war

Paul Éluard, »Ma morte vivante«
in Le temps déborde

1

Mittwoch, 7. Januar. Als ich die Augen öffne, beginnt das Tageslicht die Dunkelheit zu vertreiben. Ich selbst schwebe noch eine Weile zwischen Bewusstsein und Traum. Ich höre die dumpfen Geräusche der Wohnung. Der Wind bläst im offenen Kamin. Ein Lichtstrahl wandert über die Decke, draußen fährt ein Auto vorbei. Vom Flur her vernehme ich das Geräusch vertrauter Schritte: Georges ist schon auf den Beinen. Werde ich aus dem Bett springen, um ihn zu umarmen, oder warten, bis er die Tür zu meinem Zimmer aufstößt und zu mir kommt?

Seit siebenundvierzig Jahren ruht der liebende Blick dieses Mannes auf mir; dieses Mannes, der ganz verrückt ist nach den Frauen, nach ihrer Silhouette, nach ihrer Kühnheit, nach ihrer Stimme, nach ihrer Eleganz, nach ihrem Mut, nach ihrer Seelenstärke und nach ihrem Glauben an das, was sie beschlossen haben. Ein durchdringender und aufwühlender Blick. Ein Blick, der Schwung gibt, Selbstvertrauen, die Lust zu leben und die Lust zu lieben. Ein Blick, nach dem man süchtig wird. Ein Blick, der ihm manchmal auch vorgeworfen wurde. »Warum schaust du mich an?« Die einzige Antwort: »Rate mal!« Eine fast alltägliche Szene. Zum Beispiel beim Abendessen: Ich bin in der Küche zugange, ich laufe hin und her, während er ruhig vor einem Glas Bordeaux sitzt, ich bringe die Teller, ich gehe wieder zu den Kochplatten und bereite den nächsten Gang vor, und seine Augen lassen nicht von mir ab. Irritiert sage ich zu ihm: »Ich kann keinen Schritt tun, ohne deinen Blick auf mir zu spüren, warum bloß?« »Rate mal!« Oder diese andere Szene in seinem Büro. Ich rede auf ihn ein, er blickt mich an, und ich weiß, dass er mir nicht zuhört. Schlüpfrige Bilder wandern durch seinen Kopf, während ich ihn ganz ernsthaft nach seiner Meinung über ein aktuelles Problem befrage: »Du schaust mich an und du hörst nicht zu.« Er lacht und zieht mich zu sich. Wütend mache ich mich los, kehre ihm den Rücken zu und verlasse das Zimmer. Im Spiegel über dem Kamin folge ich seinem Blick, der nicht von meinen Hüften ablässt. Nun ist der Blick geistesabwesend. Und ich höre seine Stimme: »Rate mal.«

Sitzt er heute Morgen bereits an seinem Zeichentisch und macht seine Seite für Charlie Hebdo fertig, um sie dann in die Redaktionskonferenz zu bringen? Mittwochs treffen sich die »Charlies«, um die nächste Ausgabe zusammenzustellen. Zumindest theoretisch … Auf Georges ist da nie ganz Verlass. Er nimmt nicht regelmäßig an der Mittwochskonferenz teil. Wenn er mit seiner Zeichnung nicht rechtzeitig fertig geworden ist, arbeitet er ruhig an ihr weiter, über seinen Tisch gebeugt, mit zerzaustem Haar, im Morgenmantel, die Augen auf das Blatt geheftet. Er ist nicht der Einzige. Wenn man ihm Glauben schenkt, lässt auch Cabu das kleine Team von Charlie von Zeit zu Zeit im Stich. Und Bernard auch. Bernard Maris, Onkel Bernard genannt, mit den vielseitigen Begabungen. Die anderen kenne ich nicht wirklich. Ich lese nur die Artikel von Laurent Léger und die köstlichen Kommentare von Philippe Lançon. Ich hatte auch eine große Zuneigung zu Cavanna, nicht nur, weil er das Talent von Georges entdeckt hatte, sondern wegen der Werte, für die er sich hartnäckig einsetzte. Vor einem Jahr ist Cavanna von der Parkinson’schen Krankheit hinweggerafft worden, der letzten Gefährtin, die er so gut in Szene zu setzen wusste.

Es ist die erste Redaktionskonferenz in diesem Jahr. Georges hat mich informiert, dass Charb, der Chefredakteur, alle Mitarbeiter gebeten hat, zu kommen. Sie werden, dem französischen Brauch folgend, einen Dreikönigskuchen teilen und wahrscheinlich über den katastrophalen Zustand der Finanzen und über die mehr als ungewisse Zukunft der Zeitung sprechen. Ich erinnere mich, dass ich Georges einmal gefragt habe: »Würde dir das was ausmachen, wenn mit Charlie Schluss wäre?« Er hat zögernd mit dem Kopf genickt. Ich habe mir gedacht, dass meine Frage etwas ungeschickt war; er war ja so traurig gewesen nach seinem Weggang vom Journal du dimanche im letzten Juni. Eine Absetzung, für die es nie Begründungen gegeben hat. Da ich trotzdem nachhakte, gab er mir schließlich zur Antwort: »Seit fünfzig Jahren haben wir es immer geschafft, und schlechte Zeiten haben wir viele erlebt in der Zeitung. Es wird sich schon ein Sponsor oder eine Subvention finden, die uns da herausholen werden.« Er hat mich nicht wirklich überzeugt. An seiner besorgten Miene, an seinem müden Ton sah ich, dass da etwas nicht stimmte. Die Gehälter wurden am Ende des Monats nicht immer ausbezahlt, oder man musste, wenn der Scheck kam, ein wenig warten, bevor man ihn auf der Bank einlöste. Wo waren die glorreichen Achtzigerjahre, als Choron ganz nach Belieben die Gehälter erhöhte? Ich sah sehr wohl, dass Georges sich Sorgen über die Lage der Zeitung machte. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Und er vermisste die brüderliche und lustige Stimmung bei Charlie Hebdo in der Zeit von Reiser, Gébé, Cavanna und Choron.

Er hatte vor, mich um 16 Uhr zu treffen, um eine Wohnung zu besichtigen, denn wir mussten uns damit abfinden, aus derjenigen, in der wir uns so wohl fühlten, auszuziehen. Wir waren darin auf unsere Art und Weise glücklich. Wir waren vor sechs Jahren in der Absicht eingezogen, dort so lange wie nur möglich zu bleiben. Weder er noch ich lieben es, aus unserem Nest vertrieben zu werden. In den ganzen siebenundvierzig Jahren haben wir nur drei Mal die Wohnung gewechselt. Jetzt wollten wir nicht mehr umziehen. Aber vor einigen Monaten hat unser Vermieter anders entschieden. Er wollte die Wohnung für seinen Sohn zurückhaben. In der Wohnung davor, in der wir fünfunddreißig Jahre gewohnt hatten, hatte uns der Besitzer eines Tages ebenfalls angekündigt: »Ich brauche sie für meinen Sohn.« Ein wirklicher Trennungsschmerz. Wir haben dort unsere Jugend zurückgelassen.

Heute zeichnet sich ein ähnlicher Fall ab. Wohin sollen wir aufbrechen? Wir beschäftigen uns nur sehr beiläufig damit: Wir haben keine Lust, die Platanen des Boulevards zu verlassen. Vor allem ich nicht. Wenn ich die Fenster öffne und auf die Bäume davor sehe, dann ist mir, als lebte ich auf dem Land. Georges hängt besonders an der Aufteilung der Räume. Aber er könnte überall leben, wenn er nur sein Zeichenbrett dabeihat. Dasjenige, das er in den USA erstanden hat, denn »nur in den USA versteht man sich darauf, Zeichentische zu machen«, zumindest diejenigen, die ihm zusagen. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er aus Washington zurückgekommen ist, unter einem Arm den zusammengeklappten Tisch, in der anderen Hand einen Koffer. Er war ganz närrisch vor Freude.

Nach dem üblichen Aufenthalt im Badezimmer gehe ich in die Küche und mache mir mein Frühstück. Ich habe wie immer nur ein paar Stunden geschlafen. Das hindert mich jedoch nie daran, den Tag frohgemut in Angriff zu nehmen. Vielleicht werden wir die Wohnung unserer Träume besichtigen, am Seine-Ufer? Vorläufig habe ich nur Fotos gesehen. Eigentlich haben wir unsere Wahl bereits getroffen: eine Wohnung, die auf einen Boulevard hinaus geht und die wir am Montag am späten Nachmittag besichtigt haben. Die Dame von der Agentur hatte den Stromzähler nicht gefunden, und wir hatten im Halbdunkel nach ihm getastet. Dennoch hat uns alles gefallen: die Aufteilung der Räume, die der Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, entspricht, die großen Fenster … Zwei Wohnungen in einer, ein Balkon für meine Blumen, darunter Platanen und tagsüber vermutlich flutendes Licht. Wir wollen den Mietvertrag möglichst schnell unterschreiben. Wir haben zu gut gelebt, und da wir unsere Wochenendhäuser verkauft haben und uns das Geld durch die Finger geronnen ist, sind und bleiben wir auf Lebenszeit Mieter. Na und! Wir lieben uns.

Die Schritte auf dem Flur kommen näher. Diesmal ist er es. Georges, mein Georges. Er kommt, in seinen schwarzen Frotteebademantel gehüllt, der auf dem Rücken eine Aufschrift trägt: »Mon Zénith à moi – Mein Zenit«. Das ist der Titel der Fernsehsendung im Privatsender Canal Plus, an der er gemeinsam mit dem berühmten Moderator Michel Denisot teilgenommen hat. Er zieht die Füße ein wenig nach und geht gebeugt, als trüge er das Gewicht einer schweren Schuld. Oft ertappe ich ihn, wenn er so dahinschlurft wie ein Greis, und ich frage mich, was so sehr an ihm nagt. Leidet er, weil er nicht ganz so ist wie die andern, weil er ein Künstler ist, ein wahrer, der oft als Außenseiter angesehen wird? Trägt er Geheimnisse mit sich herum? Diese Frage quält mich. Seine Augen liegen heute Früh noch tiefer als sonst, und seine Gedanken ebenfalls. »Alles in Ordnung, Chéri?« Er brummelt ein »Ja«, das so viel bedeutet wie »Ja und Nein« zugleich. Er fragt, mit der Hand auf der Kaffeekanne, zurück: »Und du? Hast du geschlafen?«

»Ja. Also nein, wie immer eben.«

»Bist du spät ins Bett?«

»Ja, viel zu spät, die Sitzung dauerte endlos. Und warum war da gestern Abend kein Liebes-Post-it für mich, als ich heimgekommen bin?«

Diese Post-its erzählen unsere Geschichte. Sie kleben an der Außenwand der Küche. Sie drücken seine Liebe aus, seine Zärtlichkeit, seine Freude, wenn alles gut geht, und seine Traurigkeit, wenn sich die Sorgen häufen. In letzter Zeit betrübte ihn, dass seine Töchter weit weg sind. Meine Freundinnen beneiden mich um diese so oft erneuerten kleinen Botschaften. Es stimmt, gestern Abend war ich enttäuscht, keinen Klebezettel auf dem Tischchen im Flur vorzufinden. Das Dienstagabend-Post-it. War er zu müde, um daran zu denken? In den letzten Wochen fand ich ihn trübsinnig, er ist mit Gedanken beschäftigt, die den Glanz aus seinen Augen nehmen. »Ist es wegen der Wohnung?«

»Nein, nein, ist schon in Ordnung, dass wir umziehen. Wir werden versuchen zu sparen, und jetzt beginnt ein neues Leben … Ich denke oft an deine Zukunft. Wenn ich nicht mehr da sein werde …« Ich wiederhole meinen Lieblingsrefrain. »Statt zu grübeln, solltest du lieber aktiv werden. Machst du dir Sorgen über das, was bei Charlie Hebdo vor sich geht?«

Er stellt die Kaffeekanne ab, streckt mir seinen Arm entgegen und statt mir zu antworten, streichelt er mir die Wange. Während ich mir mein Frühstück zusammenstelle, setzt er sich vor seinen fürchterlichen Milchkaffee, in den er seine dick mit Butter und Marmelade beschichteten Brotschnitten tunkt. Dann schlagen wir unsere Terminkalender auf und vergleichen unsere Tagesplanung. Ich rufe ihm unsere gemeinsamen Treffen in Erinnerung. Heute, an diesem 7. Januar, die Besichtigung der Wohnung an den Kais. »Kannst du dir vorstellen, dort zu wohnen?«, fragt er. »Nein, mir ist der Boulevard lieber.« »Warum gehen wir dann hin?«

»Georges, ich habe den Termin vereinbart, und man muss sich mehrere anschauen, bevor man sich entscheidet.« Er steht auf und kommt mit Le Monde in der Hand wieder zurück. Er liest laut einen Artikel und kommentiert ihn. Diese Morgenkonferenz ist für mich oft der beste Moment des Tages. Aber heute hat er es eilig. Der Kommentar fällt kurz aus. Bevor er den Raum verlässt, wirft er mir noch eine zärtliche Geste zu und geht sich fertigmachen.

»Schatz, ich geh zu Charlie«, ruft er einige Minuten später mit lauter Stimme vom anderen Ende der Wohnung. Dann macht er kehrt, schiebt den Vorhang beiseite, der mein Zimmer vom Badezimmer trennt, und steckt den Kopf durch: »Schatz, ich geh zu Charlie.« Es muss neun Uhr sein, ich bin spät dran, in mein Badetuch eingewickelt, schenke ich ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Mir fällt auf, dass er früher weggeht als gewöhnlich, wenn er eine Redaktionskonferenz hat. Ich lausche auf seine Schritte im Flur, dann fällt die Tür ins Schloss. In diesem Augenblick fühle ich immer einen Anflug von Traurigkeit. Aber heute weiß ich ja, dass wir uns um 16 Uhr treffen werden.

2

Um 10 Uhr gehe ich wie jeden Mittwoch zu meinem Gymnastikkurs. Ich habe Georges nicht gesagt, dass ich mir über eine eventuelle Schließung von Charlie Hebdo Sorgen mache. Ich weiß, dass diese Entscheidung für ihn das Ende eines großen und langen Abenteuers bedeuten würde, das mit seiner Rückkehr aus dem Algerienkrieg begann. Auch wenn er mit gewissen Ideen und Polemiken, ja, sogar mit gewissen Karikaturen, die in der Zeitschrift erscheinen, nicht immer einverstanden ist, so zeigt er sich doch solidarisch und wird es immer bleiben. Er arbeitet nicht mehr für die Tageszeitung L’Humanité und das Magazin Le Nouvel Observateur, aber nie würde er Charlie Hebdo verlassen. Zuerst ist Reiser gestorben, dann Gébé und 2014 schließlich auch Cavanna. Mit jedem Schicksalsschlag verlor er einen Bruder. Jetzt ist es das Ende von Charlie Hebdo selbst, das ihn wirklich treffen würde. Warum findet Charlie keine Leser mehr? Ist es die gegenwärtige Entwicklung unserer Gesellschaft, die Georges so ratlos zurücklässt? Ein fünfzig Jahre währender Kampf für die Meinungsfreiheit, um sich nun mit Obskurantismus, Barbarei und Scharia konfrontiert zu sehen. Und erneut die Frage: Darf man sich über alles lustig machen? Georges hat sich entschieden – Humor als Widerstand.

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich meine Lockerungsübungen mache. Um 11 Uhr ist der Kurs zu Ende. Ich mache mich schnell auf den Weg zu einem Treffen und schalte mein Handy aus.

Um 11 Uhr 15 räumt der Schauspieler und Regisseur Thomas in der Rue Nicolas-Appert die Bühnendekoration des Stückes »Visite à Mister Green«, das er inszeniert hat und in dem er mehrere Monate lang aufgetreten ist, in einen Kleintransporter, der in dem Durchgang des Theaters Comédie Bastille direkt gegenüber der Hausnummer 10 geparkt ist. Er beeilt sich alles einzuladen, er hat einen Termin in einem Theater in Avignon. Es sieht nach Schnee aus, die Fahrt kann beschwerlich werden. Nathalie, die Garderobiere des Theaters, sowie Julien, der Inspizient, helfen ihm. Am Abend vorher haben sie ohne großen Enthusiasmus der letzten Aufführung des Stückes beigewohnt, das sein Publikum nicht wirklich gefunden hat. Thomas ist im Inneren des Kleinlasters, während Nathalie und Julien die einzelnen Teile der Dekoration aus dem Theater holen. Ein schwarzer Citroën C3 kommt sehr schnell vom Boulevard Richard-Lenoir in die Straße hineingefahren, die Reifen quietschen auf dem Asphalt. Thomas schaut erschrocken aus dem Kleintransporter, der Fahrer des Wagens starrt ihn an. Thomas wird diesen Raubtierblick nicht mehr vergessen.