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Katja Buschmann
Alles, was Sie über Philine Blank
wissen müssen

Katja Buschmann

Alles, was Sie über Philine Blank wissen müssen

Roman

Residenz Verlag

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Salzburg – Wien

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Umschlaggestaltung: Bueronardin
Typografische Gestaltung, Satz: L anz, Wien
Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:
978 3 7017 4534 0

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1673 9

Denk dir eine Krankheit aus.

Lass sie groß und gefährlich werden, lebensbedrohlich groß, und warte ab. Warte ab, was passiert. Ob etwas passiert. Ob jemand reagiert.

In der Zwischenzeit tu so, als ob alles wie immer wäre. Verhalte dich unauffällig. Tu, was man von dir verlangt. Weise gelegentlich auf deinen Zustand hin. Sag: Es tut weh. Wenn sie fragen, wo genau, leg die Hand auf den Bauch.

»Hier. Und hier. Und ganz besonders hier.«

»Das vergeht. Das vergeht bestimmt. Du bist noch jung. Ein Kind.«

»Und wenn nicht?«

Du vergisst. Triffst deine Freunde, kletterst auf Dächer, springst von Mauern und erhältst, als Lohn für deinen Mut, im Hinterhof des Universums einen etwas zu feuchten Kuss. Kommst nach Hause in der Dunkelheit, nur drei Stunden nach der vereinbarten Zeit. Kriegst Reste zu essen und Ermahnungen zu hören, iss noch was und geh dann schlafen. Kannst nichts essen und kannst nicht schlafen. Liegst im Bett, wach. Denkst an die Schmerzen, die größer werden in der Nacht. An die Krankheit, die lauter spricht, wenn es leise ist. Fragst dich, was passiert, wenn du abwartest, wenn niemand sieht, was geschieht.

Morgens bleibst du einfach liegen.

»Ich bin krank.«

»Das sagst du jeden Tag.«

Heute ist der eine, an dem es stimmt.

»Beeil dich.«

Zwei Wege führen in die Schule: der eine kurz, der andere schön. Du nimmst immer denselben. Er führt am Kanal entlang. Durch die Pappelallee. Kleine Seitenstraßen, schmale Gassen. Abstecher zum Bäcker. Ein Brötchen, geteilt durch zwölf: ein Stück für dich, der Rest: den Vögeln. Eine Runde durch den Park. Eine Runde um den großen Teich. Eine um den kleinen. Noch eine vielleicht? An der Fontäne vorbei. Unter der Brücke hindurch. Der Platz mit der großen Uhr. Der Zeiger rennt. Du schleichst. Durch die Einkaufsstraße. Pizzamann. Dönermann. Ein alter Zausel, der nicht singen kann, die Töne schief, der Rücken krumm, das Leben schwer, und das Publikum?

Läuft davon.

Um die Ecke. Über die Straße. Die Treppe hinauf. Erster Stock, letzte Tür, dritte Reihe, Fensterplatz. Du setzt dich und wartest ab.

»Hast du die Hausaufgaben gemacht?«

Das steht auf einem anderen Blatt.

»Das du zu Hause liegengelassen hast?«

Du hattest es doch eingepackt.

»Das ist jetzt das dritte Mal.«

Das vierte, um genau zu sein.

»Soll das so weitergehen?«

Auf dich kann man zählen.

Zu Mittag isst du nichts. Am Nachmittag erbrichst du, was du nicht gegessen hast. Fährst zum Schwimmen, mit der Straßenbahn, Linie 8, in die größte Schwimmhalle der Stadt. Ziehst deine Bahnen lustlos, ohne Kraft. Tauchst plötzlich ab. Hältst den Atem an. So lang du kannst.

Du kannst es lang.

Ziemlich lang.

Sehr lang.

Außerordentlich!

Es reicht nicht.

Und das jetzt, kurz vor dem Tag, der so wichtig ist. Du setzt dich an den Rand. Siehst den anderen zu. Die Mühe, den Schmerz, die Anstrengung und den Lohn. Siehst den blauen Grund. Die Wand aus Glas und dahinter den Sprungturm: ein Meter. Drei Meter. Fünf Meter. Siebeneinhalb. Zehn. Es wäre dumm, kurz vor dem Tag, der so wichtig ist. Siehst nach oben, nach unten, den Turm, den Grund. Steigst die Stufen hinauf zum Hallendach, langsam, mit Bedacht. Über dir: nicht viel. Unter dir: nicht wenig. Kannst nicht glauben, was du siehst. Nichts. Kein Wasser im Becken. Siehst genauer hin. Blau. Leuchtendes Blau. Ozean. Ein Fisch. Und noch einer. Es sind viele. Ein Schritt nach vorn. Noch einer. Und noch einer. Siehst ein letztes Mal hinunter.

»Komm sofort da runter!«

Noch ein Schritt. Und noch einer. Du steigst die Stufen langsam, eine nach der anderen, wieder hinab. Die Fische sind verschwunden. Der große Tag ist nah.

Und dann ist er da. Morgens bleibst du einfach liegen.

»Ich bin krank.«

»Das sagst du jeden Tag.«

Heute: zum letzten Mal.

»Steh auf.«

Fällt dir schwer.

»Und geh –«

Geht nicht mehr.

»In die Schule.«

Wer nicht gehen kann –

»Beeil dich.«

Kann immer noch kriechen.

Zwei Wege führen in die Schule, der eine lang, der andere: zu lang. Du hast keine Wahl. Setzt dich auf deinen Platz und wartest ab. Schaust aus dem Fenster. Ein schöner Tag. Ein fallendes Blatt. Noch eines. Noch eines. Unter dem Baum ein Haufen Laub. Die Zeit ist um. Du gibst ab: ein dicht beschriebenes Blatt.

»Weißt du, was die Aufgabe war?«

»Denk.«

»Weiter?«

»Dir.«

»Lauter und im ganzen Satz.«

»Eine.«

»Was?«

»Krankheit.«

Die Sätze zerbrechen im Mund, deine Stimme versagt.

»Aus.«

Lass einfach los.

»Du hebst wohl langsam ab?«

Du hebst langsam ab.

»Glaubst, dass du über den Dingen stehst?«

Du schwebst.

»Und sich die Welt nur um dich dreht.«

Rasant.

»Philine?«

Es löst sich ein Blatt vom Baum und fällt zu Boden. Es löst sich ein Blatt aus deiner Hand und fällt zu Boden. Und dann fällst du. Du erwartest den Boden, das abgenutzte Parkett, einen Schlag. Nichts davon. Es gibt keinen Boden. Du fällst hindurch. Lässt zurück: Mappe, Heft, Stift. Und: ein dicht beschriebenes Blatt.

Eine Geschichte.

Deine Lehrerin wird sie aufheben, lesen, und, vermutlich, aus alter Gewohnheit, eine Note darunter schreiben. Sie wird die Geschichte noch einmal lesen. Die Note wieder durchstreichen. An die Vorkommnisse vom Morgen denken. Sie wird die Brille abnehmen und die müden Augen reiben. Ihr Blick wird lautlos aus dem Fenster gleiten. Ein schöner Tag. Leicht bewölkt, elf Grad.

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Dämmerung, Zwischenreich

 

Später, viel später. Der Wind streichelt das Gras. Leicht bewölkt. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Nicht mehr Tag. Noch nicht Nacht.

»Das kannst du doch nicht machen.«

»Zeit für Tatsachen. Das hast du selbst gesagt.«

»Das werde ich nicht zulassen.«

»Man muss der Wahrheit ins Auge sehen.«

»Es ist nur die halbe Wahrheit. Höchstens.«

Die wiederum reicht für eine ganze Geschichte. Es hat mich einige Zeit gekostet, die Wahrheit herauszufinden. Warum sollte ich gleich alles verraten?

»Dir scheint viel daran zu liegen.«

»Wir müssen uns an die Fakten halten.«

Und die Fakten sind –

»So ein Ende hat sie nicht verdient.«

Wer sagt, dass es das Ende ist?

»Verschweigst du mir etwas, Philine?«

Sommer, Planta, weißt du noch? Wie wir im Garten hinterm Flaschenhaus saßen und du mir geholfen hast, meine Geschichte zu schreiben? So wie ich dir half mit deiner? Über uns der Himmel, Wolken. Unter uns die Erde, Gras. Vor uns die Überreste von dem, das hinter uns lag, das uns alles gewesen ist. Ein Traum, den wir träumten, bis es keiner mehr war. Sondern schon ein Leben. Das sich so richtig angefühlt hatte, so wirklich, ganz und gar. Weil es unser Leben war. Wie du es gesagt hast, Planta: weil wir uns nicht darum gekümmert haben. Weil wir sorglos waren. Weil wir unser Schicksal in die Hände von anderen gelegt haben. Weil wir nicht sicher waren, wo die Wirklichkeit aufhörte, wo etwas anderes begann, weil wir alles durcheinandergebracht hatten, was konnten wir dafür? Wir haben nichts getan. Nur das, was wir für richtig hielten. Weil wir den Moment liebten, und es nichts gab als das: Momente. Immer, wenn ich mich auf den langen Weg zum Flaschenhaus machte, merkte ich, wie die Zeit sich veränderte. Wie sie unwichtiger wurde. Aufhörte. Sich auflöste. Endete. So wie die Pfade. Wie die Wege. Und irgendwann nur noch plattgetretenes Gras. Und irgendwann nur noch hohes Gras. Und irgendwann nur noch ein Schritt. Und ein nächster. Und ein nächster. Irgendwann setzte der Regen ein. Als ich das Flaschenhaus erreichte, völlig durchnässt, hatte ich die Zeit längst vergessen. Dort gab es nur noch Jetzt. Und Jetzt. Und Jetzt. Und Vitali, der vielleicht der beste Lügner von uns allen war. Der nicht zu kämpfen bereit war, als es darauf ankam. Für Träume kämpft man nicht, hat Vitali gesagt. Man lässt sie geschehen. Kommen und gehen. So wie Vitali, der sich eines Tages in unser Dorf verlaufen hatte, was wohl die einzig mögliche Art ist, diesen Ort überhaupt zu finden. Sich niederließ, in der Wildnis, zwischen den Tagebaurestlöchern, wo die Bagger ruhen und die Kräne schlafen, sich erholen von den Strapazen vergangener Tage, abgelegt von einer Horde spielender Kinder, die, bei näherer Betrachtung, erstaunlich erwachsen aussehen – und die vergessen haben, aufzuräumen. Vitali, der einfach fortgegangen ist, wie viele hier. Die nichts zurückließen als Leere, Lücken, Scherben. Aber auch Erinnerungen. Und uns, die wissen, dass man eine Leere füllen kann. Eine Lücke schließen. Scherben sammeln. Blätter sortieren. In den Trümmern der Geschichte wühlen.

»Die Leute werden das nicht mögen.«

»Sie müssen es auch nicht mögen. Es reicht, wenn sie es lesen.«

»Warum sollten sie? Wo ist da die Hoffnung?«

Natürlich hatte ich, wie so oft, nicht an die Leute gedacht. Planta hingegen … Er dachte an nichts anderes.

»Da trennt sich gleich die Spreu vom Weizen. Die, die sich abschrecken lassen. Und die, die es wissen wollen, die mutig sind, weitergehen.«

Und allen, die sich an dieser Stelle bereits von uns verabschieden: gute Reise und viel Glück! Und allen anderen, die sich ein Herz fassen und weiterlesen: gute Entscheidung. Viel Glück. Planta, sage ich, denk doch mal nach. Die Leute sind wankelmütig, mal wollen sie dies, dann jenes, heute gefällt ihnen das, morgen etwas anderes. Den einen ist es zu kurz, den anderen zu lang, den einen zu ernst, den anderen zu albern, dem nächsten zu traurig, dem übernächsten zu fröhlich, zu fad, zu seltsam, zu gewöhnlich, und irgendwer wird auf jeden Fall irgendetwas daran auszusetzen haben. Man kann es ihnen nie recht machen. Die Kritiker werden kritisch sein, die Skeptiker skeptisch bleiben. Die Besserwisser werden’s besser wissen und die Zweifler weiter zweifeln. Jeder wird genau das finden, wonach er gesucht hat. Ich kenne die Leute. Ich kenne sie gut. Zu gut! Ich habe unter ihnen gelebt, mit ihnen. Sie waren meine Eltern, Freunde, Verwandten, flüchtigen Bekannten, Lehrer, Klassenkameraden. Ich war eine von ihnen, ich war wie sie. Und heute bin ich all das: ernst und fad und albern und seltsam und gewöhnlich und an manchen Tagen außergewöhnlich fröhlich … Heute gefällt mir dies und morgen etwas anderes. Man kann es mir nie recht machen. Das, sagt Planta, hat er schon bemerkt. Ich hüpfe durch die Geschichte, von Höhepunkt zu Höhepunkt, gehe durch Tiefen und Untiefen, springe munter in der Zeit, verwechsle Traum und Wirklichkeit, vertausche Gegenwart und Vergangenheit, und Planta hält meine Hand, damit ich nicht fallen kann. Planta Adlerauge, er behält den Überblick, und dass es solche wie ihn gibt, das ist ein großes Glück für solche wie mich. Und dass es solche gibt wie mich, ist ein großes Glück für solche wie ihn. Und wenn er das einmal vergisst, erinnere ich ihn daran. Er hat die bedeutenden Worte, die scharfen Begriffe, die klugen Gedanken. Lass es uns, würde er sagen, einmal so betrachten! Oder so! Oder so. Und so ginge es immer weiter und am Ende wüsste keiner mehr, worum es geht. Dabei geht es um etwas. Es geht um ihn und mich und um das, was seine Geschichte mit meiner verbindet, um die unsichtbaren Fäden, das Gewebe, die Textur, das Buch, in dem unser und jedes noch so kleine, missratene Leben aufgeschrieben steht, das wahrlich kein Buch im bekannten Sinne ist. Nein, ich meine: eine Welt zwischen den Welten, schwer zugänglich, nur selten von Menschen betreten. Viele wissen nicht einmal, dass es sie gibt. Ein Bereich, in dem alles, was geschehen wird, schon geschehen ist, und alles, was geschehen ist, noch einmal geschehen wird. Und weil wir nicht sicher sind, ob da jemand ist, der den Überblick behält, ob dieses Buch wirklich existiert, schreiben wir es lieber selbst. Und wenn wir uns mal nicht einig sind, nicht wissen, wie es weitergeht, ist es an der Zeit für eine –

»Pause?«

»Jetzt? Wenn es kritisch wird? Am Scheidepunkt? So kenne ich dich nicht.«

»Bin bald zurück.«

»Wo, wann?«

»Zur rechten Zeit am rechten Ort.«

»Gut. Ich warte.«

»Auf einen Einfall?«

»Auf den Kaffee.«

»Warte nicht zu lang. Wir haben nicht ewig Zeit.«

Natürlich habe ich, wie so oft, nicht an die Zeit gedacht. Planta hingegen – er denkt ständig daran. Ich bin mir sicher, dass es einen wirklich guten Grund gibt, weshalb wir uns getroffen haben, an meinem Geburtstag vor zwei Jahren, auf dem Aussichtsturm, als ich in die Sterne schauen wollte und auch Planta keine Ruhe fand. Manchmal, wenn mein Aussichtspunkt hoch genug war und die Sterne besonders hell, fiel mir etwas ein. Dann erinnerte ich mich, an ein Stück der Geschichte, daran, wie es weiterging, nachdem das Blatt vom Baum auf den Schulhof, das Blatt mit der Geschichte auf den Boden gefallen war, dieser sich als inexistent erwiesen hatte, und ich fiel

und fiel

und fiel

und mich gerade daran gewöhnt hatte, als sie mich an den Füßen packten, auf eine Trage verfrachteten und aus dem Zimmer schafften. Als ob ich hier nichts mehr verloren hätte. Als ob ich längst gestorben wäre.

Wenn aber das Sterben war, dann – war es anders, als ich geglaubt hatte. Und auch nicht das, wovor alle Angst haben. Ein Abenteuer. Eine echte Überraschung.

Bist du bereit, Philine?

Eine eigenartige Versammlung fremder Menschen hat sich um dich geschart. Sie sind grün. Sie haben keine Münder, nur Augen. Ernste Augen, sehr ernst. Sie sprechen wenig miteinander, mit dir sprechen sie nicht. Dennoch scheint ihnen viel an dir gelegen. Du wüsstest gerne, was vor sich geht. Was geschieht. Was mit dir geschieht. Was dich zum Mittelpunkt ihres Kreises, zum Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, zum Objekt ihres Interesses gemacht hat. Warum sie so ernst schauen. Was sie dir auf die Zunge träufeln. Was sie dir auf den Bauch schmieren. Was sie dir unter die Haut schieben. Die Schmerzen hast du längst vergessen. Es geht dir bestens. Ausgerechnet jetzt wirst du sehr müde. Jetzt, als so vieles passiert und du wach bleiben möchtest und alles ganz genau sehen. Aber du bist müde. Müde von dem langen Tag, müde von zu wenig Schlaf. Todmüde. Du sagst dir: nicht einschlafen! Und schläfst ein.

»Noch wach, um diese Zeit?«

Ein Fremder. Auf dem Turm. Der mich beobachtet haben musste. Der plötzlich aus der Dunkelheit trat. Näher kam. Sich neben mich stellte. Sich nicht vorstellte. Der bloß sagte: »Es ist verboten, den Turm zu betreten.«

Was ihn, offenbar, nicht daran gehindert hatte. Ich ging davon. Der Fremde, mit etwas Abstand, hinterher.

»Warte. Warte mal.«

Ich lief schneller, floh.

Das war unsere erste Begegnung. Planta kam mir ziemlich ungelegen. Er ging mir auf die Nerven. Er hatte mich gestört. Man kann also sagen, dass die Umstände, unter denen wir uns trafen, nicht die besten waren. Und doch. Manchmal stellt sich das, was man nicht die besten Umstände nennt, im Nachhinein als genau richtig heraus. Wir würden uns bald wiedersehen. Der Ort ist nicht gerade groß. Man trifft sich oft. Es ist beinahe unvermeidlich.

Am Anfang trafen wir uns nur nachts, und zufällig. Später verabredeten wir uns auch tagsüber. Wir waren nachtaktive, hochsensible Tiere, weich und beweglich; schnell, wenn es darauf ankam, wenn es darum ging, ungesehen zu verschwinden. Aber wann kam es schon darauf an? Wir waren bereit, und wussten nicht, wofür. Für einander, Planta? Wie leicht sich das sagt mit dem Abstand der Jahre. Seismografen der Nacht, auf der Suche nach verschütteten Gedanken, nach verlorenen Geschichten, nach etwas, das es nicht mehr gibt, oder: noch nicht. Niemand sah uns, und wenn doch, verschwanden wir so schnell, wie wir gekommen waren, lautlos, flüchteten in die Dunkelheit, die uns aufnahm wie gute Freunde, wie alte Bekannte, die uns vor dem schützte, woran sie uns preisgab, das den Blicken entging – aber nicht dem Sinn.

»Was war das?«

Planta blieb stehen. Wir waren zu dritt: Planta, die Nacht und ich; mit ihren stillen, ruhigen Augen, die überall aus der Dunkelheit sprossen, aus der Hecke, dem Maisfeld und den Baumkronen, sah sie uns verwundert zu, bei dem, was wir taten, fragte manches Mal: was macht ihr denn da? Und wir liefen davon und lachten, die Nacht, was hatte sie schon zu sagen?

»Nichts«, sagte ich. Und Planta nickte. »Es war«, sagte er, »wohl nur in meinem Kopf.«

Nein, Planta. Auch ich hatte es gehört. Und gesehen. Da war was.

Wir waren Schlafwandler, Tagträumer. Oneironauten, hat Planta gesagt, und ich habe ihn gefragt: Was hast du letzte Nacht geträumt? Ich kannte seine Antwort. Es war immer dieselbe. Nichts, sagte er, ich war wach. »Du musst auch mal schlafen«, belehrte ich ihn, liebevoll, wie eine Mutter ihr ungehorsames Kind, »sieh dich an, wie blass du bist.« Da hat er nur gelacht. »Ich kann nicht schlafen, Philine. Du weißt das.«

Wir waren niemals müde, und wenn doch, weil jeder einmal müde ist und ausruhen muss, gingen wir in die Schule und schliefen dort. Wenn Planta mich in der Mittagspause stumm von der Seite ansah, wusste ich, dass ich zu lang geschlafen hatte.

»Du hast da was.«

»Wo?«

»An der Wange.«

»Was?«

Planta sah genauer hin.

»Mathe?«

»Ja.«

»Dann könnte es die Kreisformel sein.«

»Oder die Koordinaten meines Gesichts. Die Strukturformel meines Lächelns! Der Eindruck des Vormittags. Der Ausdruck meiner Müdigkeit. Der Abdruck des Mathebuchs auf meiner Wange.«

Wir waren so vieles und alles zugleich, frühreif, Spätentwickler, Überflieger, Underachiever, Forscher der besonderen Art, Liebende, in sehr eigener Weise und höchst empfänglich für die sanften Schwingungen, die in der Luft lagen, die zwischen uns waren und uns wie ein feines Netz umgaben. Aber auch Lügner, Diebe, missratene Söhne und Töchter missratener Söhne und Töchter, schlecht genährt und übermüdet, und dennoch aufmerksam für das, was um uns herum geschah, halb im Schlaf und immer wachsam. In Keller sind wir gekrochen, in Garagen und Schuppen, alle Türen standen uns offen und wenn einmal nicht, dann waren wir sehr geschickt. Wie seltsam wir aussahen in den gefundenen Sachen, die uns so schlecht passten wie die vielen Namen, die sie für uns hatten, wie schön. »Wie schön«, rief ich, als ich Planta ansah, der an sich herabblickte und nicht meiner Meinung war. »Über Geschmack lässt sich streiten«, bemerkte ich, und weil wir uns solch eine günstige Gelegenheit zum Streit nur selten entgehen ließen, sagte Planta: »Dann behaupte ich, dass du keinen hast.«

»Selbstverständlich habe ich das! Es ist ein sehr ausgefallener Geschmack. Ein völlig neuer Stil. Kennt man hier im Dorf natürlich nicht. Steht auch nicht jedem. Nicht wahr, Planta?«

Und ich warf ihm einen Blick zu, so einen ganz bestimmten, mehrdeutigen, vielsagenden. Während wir stritten, liefen wir die Fernwehstraße entlang, in der Morgendämmerung, jenes Zwischenreich von Nacht und Tag, das ich so geliebt habe und immer noch liebe und nie zu lieben aufhören werde. Den Halbzustand, noch nicht wissen, aber schon ahnen, noch unentschlossen, ein großes Vielleicht – ich kenne es gut, das Zwischenreich.

Es kommt der Tag, an dem du dich entscheiden musst. Man kann im Zwischenreich nicht bleiben. Es ist ein Aufenthalt auf Zeit.

Philine.

Du fragst dich, wer das ist.

Philine, hörst du mich?

Du bist es nicht. Du bist ein Wind und ein Gedanke, der mit dem Licht reist, der nirgends mehr zu Hause ist.

Wohin möchtest du? Hier oder da. Da oder dort. Nach Hause. Zu deinem Vater. Zu deiner Mutter.

Oder?

An einen anderen Ort.

Wie ist es dort?

Schwer zu sagen.

Ich muss ihn sehen.

Wirklich?

Woher sollst du das wissen. Du weißt so etwas nicht. Du bist zu jung. Du kannst diese Entscheidung nicht treffen.

»Salz?«

»Ja, bitte.«

»Pfeffer?«

»Ein bisschen.«

»Noch etwas?«

»So ist es perfekt.«

In der Dämmerung sind wir zu Planta nach Hause gegangen, dort hat er uns Rührei gemacht, Tomatensalat, mit Tomaten aus dem Garten. Ich sah ihm dabei zu und konnte es kaum fassen – dass es jemanden gab, der mich in den frühen Morgenstunden mit zu sich nach Hause nahm, Rührei machte, Tomatensalat, Gartentomaten, das war unfassbar für mich, und gar nicht übel. Der Tomatensalat schmeckte. Das Rührei brutzelte in der Pfanne und es roch sehr gut, als Plantas Vater verschlafen in der Küche erschien und sich erkundigte, wer das da sei. Eine einfache Frage. Über die ich lange nachdachte. Eine Freundin, hat Planta gesagt, vom Morgenlicht beschienen, so schön und reglos, wie er da stand, mit der Pfanne in der Hand. Und sein Vater, der sagte nichts. Ein Blick genügte. »Guten Morgen, Herr Planta«, rief ich ihm nach, und Planta legte den Finger an die Lippen, wegen der kleinen Schwester, deren Schlaf, anders als unserer, wertvoll war, ungestört. Planta hat viele Geschwister, drei Brüder, eine Schwester, sie schlafen alle um diese Zeit, und einer von ihnen, der schläft etwas tiefer, etwas fester.

»Der hat es gut.«

Ja, sagte Planta, als er den Teller mit dem Rührei auf den Tisch stellte. Vielleicht. Er setzte sich mir gegenüber und sagte: »Erzähl mir was.«

»Was möchtest du denn wissen?«

»Erzähl mir von der Nacht.«

»Von welcher?«

Von der letzten. Und der davor. Und der davor.

»Erzähl mir«, sagte Planta, »was diesen Nächten gemeinsam ist.«

»Das ist einfach«, sagte ich. In diesen Nächten geschah etwas. In diesen Nächten, Planta, traf ich dich.

Aber jede Entscheidung, die du nicht treffen kannst, trifft sich für dich. Wird für dich getroffen. Wann immer sie über deinen Zustand sprechen, hörst du ihnen aufmerksam zu. Einmal spricht einer vom Sterben. Du lauschst gespannt. Wer soll sterben, wer ist gemeint, über wen reden sie?

Nun, Philine, es geht um dich.

Um mich? Wie kann das sein, mir geht es doch gut, das verstehe ich nicht.

Die Schule? Die Schmerzen? Erinnerst du dich?

Nein. Nichts. Oder doch. Da war ein Loch.

Und dann?

Es zog mich an.

Und dann?

War ich hier.

Ein Teil von dir.

Und der Rest?

Dort. Im Bett.

Und die anderen?

Sie warten.

Worauf?

Ein Zeichen.

Welcher Art?

Einen Augenblick, einen Wimpernschlag.

Bis auf den, der gerade zur Tür hinausging.

Wenn du dich beeilst – vielleicht holst du ihn ein.

Was für ein billiger Trick. Darauf falle ich nicht rein.

Deine Zeit ist um.

Ich dachte, hier gibt es keine Zeit?

So täuscht man sich.

Wer bist du, dass du das entscheiden kannst für mi…

– deine Worte fallen in einen langen, dicken Schlauch und dort bleiben sie stecken.

»Das war’s«, hat Planta schließlich gefragt, als das Schweigen zu lange dauern, zu bedrohlich werden wollte, »das ist alles?« Wir kannten uns kaum und Planta war höflich genug, mir seine ehrliche Meinung vorzuenthalten. Genau das wollte ich. Seine ehrliche Meinung. Ich hatte die Menschen um mich herum stets im Verdacht, nicht ganz ehrlich zu sein. Vielleicht, weil ich selber nicht ganz ehrlich war. Aus alter Gewohnheit. Ich trickste alle aus. Ich erzählte Lügen über Lügen. Das Schlimme war: die Tricks funktionierten. Ich schummelte, in der Schule, zu Hause, wann immer es ging. Keiner hat etwas bemerkt. Ich war wohl gut darin. Machte erst einen Sport daraus, später eine Kunst. Man denkt, irgendwann kommt der Tag, an dem alles auffliegt. Aber nein. Nichts dergleichen. Der Tag kommt nicht. Ich gab mir keine Mühe mehr. Beim Klauen, beim Schummeln. Ich log so offensichtlich, dass sich nicht nur die Balken bogen, sondern das ganze Gebäude einzustürzen drohte. Und mit jedem Trick, der gelang, wuchs meine Verachtung, sank mein Respekt – wie alle guten Lügner wollte ich erwischt werden. Im Lauf der Zeit verstand ich, woran das lag. Mir wurde klar: ich war wirklich vollkommen unsichtbar. Ein interessanter Gedanke. Wenn das so war, hieß das nicht, dass ich tun konnte, was ich wollte, dass ich also frei war? Ich griff zum letzten Mittel. Dachte mir eine Krankheit aus. Wurde krank. Ging kaputt. Entzwei. Philine. Und ich. Wurde, zumindest offiziell, wieder gesund. Es blieben: Zweifel. Ernsthafte Zweifel an meiner Existenz. War ich überhaupt da? Oder war ich – in Wahrheit vielleicht doch – unsichtbar?

»Ich frage mich«, sagte Planta, »ob das wirklich die ganze Geschichte ist.«

»Wie meinst du das? Das Rührei ist übrigens gut. Sehr, sehr gut sogar. Es ist … perfekt. Das perfekte Rührei. Wie hast du das nur gemacht?«

»War nicht schwierig«, sagte Planta, und: »Verschweigst du mir etwas, Philine?«

Er hatte mich durchschaut. Entdeckt, enttarnt, erkannt. Enthüllt. Befürchtung meines Lebens, nun war sie Wirklichkeit geworden. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich flog auf. Alle Masken fielen. Alle Tricks versagten. Ich musste lachen und das Rührei rutschte von der Gabel auf den Teller.

Das Licht hier ist ein anderes. Es trennt. Hell von dunkel, vorne von hinten, oben von unten, Menschen von ihrer Umgebung. Es zeichnet scharfe Konturen.

Jeden Morgen um sechs wirst du geweckt. Aufstehen! Wie soll das gehen? Schläuche und Geräte hindern dich. Flucht? Denk nicht mal daran. Aufstehen. Mehr sagen sie nicht. Um nichts Falsches zu sagen. Alles muss keimfrei bleiben. Antiseptisch. Du weißt gar nicht, was das heißt. Immer fragen sie: »Tut das weh?« Nein. Das tut nicht weh. Du spürst nichts. Beim hundertsten Mal weinst du. »Tat das weh?« Nein. Das tat nicht weh. »Warum weinst du dann?« Sie halten sich an das, was sie sehen können, was sich messen lässt. Das Unermessliche hingegen … Wenn du weinen möchtest, kommt nichts: Tränen, Rotz, Wasser – versickert in dir. Deine Augen versanden. Jeden Morgen werden sie, mit einem weichen Tuch, von Händen in Gummihandschuhen freigelegt. Nachts folgen sie gebannt den leuchtenden Streifen. Dir kommt eine Idee. Du bist wichtig für die Geräte. Nur durch dich funktionieren sie. Du bist zentral in diesem System. Du musst die Maschinen am Laufen halten. Du erfüllst deine Pflicht, Tag für Tag, Stunde um Stunde, gewissenhaft, vorbildlich. Und als Dank für deinen Dienst – entlässt man dich.

Die Maschinen brauchen dich nicht mehr. Unbenutzt verstauben sie in der Ecke. Du darfst aufstehen. Herumgehen. Erst mit vorsichtigen, zaghaften, dann mit zunehmend sicheren Schritten. Hüpfst vom Bett auf den Boden, schlurfst auf Schlappen durch die Flure, zählst Treppenstufen, Leuchtstoffröhren, Heizungsrohre, Abnutzungsspuren auf dem Boden. Nachts gehst du auf die Suche.

»Was machst du denn hier?«

»Ich suche einen Raum.«

»Welchen?«

»Wo es so schön war.«

»Das Café.«

»So ruhig.«

»Die Bibliothek!«

»So hell.«

»Die Terrasse?«

»Den blauen Raum.«

»Du musst dich verlaufen haben.«

»Ich habe ihn gesehen. Ich bin dort gewesen.«

Beweise? Leider keine. Du stehst da mit leeren Händen, den Kopf voller Fragen und die Nerven zum Zerreißen gespannt. Scharrst unruhig mit den Füßen, vergräbst die Fäuste in den Taschen, bohrst die Fingernägel durch den Stoff. Bleibst zurück mit einem kleinen Loch in der Hosentasche und einem gigantischen im Kopf.

»Geh wieder ins Bett. Du willst doch gesund werden. Oder?«

Ich verschwieg vieles. Warum? Ganz einfach: weil ich vergessen hatte. Weil ich keine Worte dafür hatte. Nur Bilder, Schatten, Dämmerung. Ahnungen, Träume und nachts konnte ich manchmal nicht schlafen. Ich hatte zu viel gesehen. Und nichts davon durfte ich mitbringen, nichts als die Erinnerung an –, daran, dass da etwas war. Und nicht nichts. Und ich die Einzige, die es gesehen hatte. Die Einzige, die davon wusste. In einem Moment war ich der glücklichste und in einem anderen der traurigste Mensch der Welt. Glücklich, weil ich wusste, was ich wusste. Traurig, weil ich es mit niemandem teilen konnte. Einsam. Und so hat mich das Wissen um das Schönste zu einem traurigen Menschen gemacht. Ich hatte so viel zu erzählen. Hätte so viel zu erzählen gehabt. Aber keine Worte. Keinen, der zugehört hätte, ohne einen Einwand zu haben, eine Entgegnung, ein Kopfschütteln, ein Runzeln der Stirn, ein Zucken der Brauen, und sei es noch so winzig – es entging mir nicht. Kein Gegenüber. Kein Du. So blieben die Bilder eingesperrt in mir. Eine Erinnerung an etwas. Eine Idee. Eine Ahnung, ein Hauch. Bedeutung. Ein Gefühl. Ein Pendeln, ein Schaukeln, ein Schweben. Aber auch: Freiheit. Fliegen. Und ich wollte all das wiederhaben, wiedererleben.

»Erzähl du mir deine Geschichte, Planta. Und danach sage ich dir, was ich davon halte. Das wäre fair.«

Das Rührei vernichtet, die Tomaten ersoffen im eigenen Saft. Ich tunkte Brot in Saucenreste. Planta spülte die Pfanne aus. Sein Vater verließ das Haus. Die Welt wachte auf. »Was ist? Traust du dich nicht?« Er würde ja, meinte Planta. Das Problem war nur: er hat keine. »Keine Geschichte? Das glaube ich nicht. Das gibt es nicht. Jeder hat eine. Mindestens.« Aber Planta bestand darauf, eine Ausnahme zu sein. Und weil er von dieser Meinung überhaupt nicht abzubringen war, weil er eine absolute Ausnahmeerscheinung ist, sagte ich: »Dann ist das eben deine Geschichte: dass du keine hast.«

»Braucht man denn unbedingt eine?«

»Ja«, sagte ich, »ganz klar. Ohne Frage. Auf jeden Fall.«

»Warum?«

»Weil’s kein Leben ist, wenn es keine Geschichte ergibt.«

Geboren, weil wir müssen. Sterben, weil wir müssen. Leben – das dazwischen. Nein. Das kann nicht sein. Ich wollte mehr. Bescheidenheit ist eine Zier. Mir stand sie nie.

»Ich hätte«, fing Planta leise an, »einmal fast einen Menschen überfahren. Ein Mädchen. Es war plötzlich da. Auf der Straße. In der Dunkelheit.«

»Was zum Teufel ist in sie gefahren?«

»Der Teufel vielleicht? Als hätte sie es mit Absicht gemacht.«

»Vielleicht hat sie das.«

»Es war knapp.«

»Oder gut kalkuliert.«

»Sie hatte Glück. Mehr als Verstand.«

»Immerhin eines von beidem. Das reicht im Leben. Was gibt es zum Nachtisch?«

Pflaumen, Kirschen, Steinobst. Alles, was Kerne hat.

»Äpfel?«

»Keine Äpfel.«

Der Tag, als du nach Hause darfst. Du bekommst eine Liste mit Verboten.

»Schule?«

»Keine Schule.«

Keine Äpfel, keine Schule. Soll niemand sagen, es hätte sich nicht gelohnt.

Zu Hause isst du fünf Äpfel und die Kerne gleich mit. Aufstehen. Anziehen. Und so weiter. Das alte Lied. Die alte Leier. Aber keiner singt. Die Stimme schweigt. Dein Freund verstummt. Niemand spricht. Du bist geheilt. In der Schule, wenn sie dich fragen, wo du so lange warst, sagst du: weit weg. Amerika? Nein. Weiter. Wenn sie dir nicht glauben, weil es Kinder sind, für die es weiter weg als Amerika nicht gibt, wenn sie dich vielleicht sogar eine Lügnerin nennen, weißt du, dass das nicht stimmt. Wenn sie dich Philine nennen, fragst du dich, wer gemeint ist. Ein Name wie ein Gewicht, das dich am Boden hält, das dich schwer macht, schwerer als du bist. Die Lehrerin gibt dir das Blatt mit der Geschichte zurück. Du liest noch einmal, was du geschrieben hast. Die Lehrerin hat recht. Idee: gut, Ausführung: mangelhaft.

Es geschieht vieles in der Nacht, das sonst nicht geschieht, nicht geschehen kann.

»Weißt du, was erstaunlich ist?«

»Dass nach der Nacht wieder alles an Ort und Stelle ist?«

»Du isst und isst und isst. Aber satt wirst du nicht.«

»Ich habe ein Loch im Bauch, daran liegt das. Willst du die Narbe sehen?«

Loch im Bauch, Loch im Kopf. Halb kaputt, und doch zusammengeflickt – ein Wunder, dass ich lebe! Und so wunderten wir uns, gemeinsam, über das, was ich zu verspeisen imstande war, und das, was Planta zuzubereiten imstande war, und darüber, dass wir lebten und wie gut noch dazu.

»Ich muss jetzt gehen.«

»Es war sehr schön.«

»Es wird noch schöner.«

Doch bevor es noch schöner werden konnte, ließen wir etwas Zeit verstreichen. Die blaue Stunde. Die erste in der Schule. Und die zweite. Einen Herbst, einen Winter, einen Frühling, einen Sommer, ein volles Jahr, in dem wir so wenig zueinanderfanden wie die Teile der Geschichte, die mir durch den Kopf ging, die ich im Herzen trug und die mir im Nacken saß. Eine schöne Geschichte, hätte ich gesagt. Wäre ich kein Teil davon gewesen. Hätte ich sie ganz gekannt.

Später einmal, viel später, wirst du dich fragen, was damals genau geschah. Du wirst die fragen, die es wissen müssten, die um dich herum standen und auf dich herabsahen, und keine ihrer Antworten wird dir genügen. Du fängst an, genauer hinzuhören. Machst dir Notizen, erst nur im Kopf, dann auf Papier. Du wirst Hefte füllen, ohne den Grund zu kennen, wirst rekonstruieren, was vorher war, und wie eines zum anderen kam. Du schreibst, über ein Kind, das du gut zu kennen meinst und das dir fremd geworden ist. Gibst ihm den Namen: Philine. Als ob es keine anderen gäbe … Du wirst sehr weit zurückgehen, bis an den Anfang. Du wirst an eine Stelle gelangen, an der du nicht weiterweißt, weil du vergessen hast, was damals genau geschah. Es wird lange dauern, bis du dich erinnerst, bis du begreifst, warum du den blauen Raum nicht finden konntest, obwohl du überall nach ihm gesucht hast. Und das ist die ganze Geschichte. Sie zerbrach mit dir, an dem Tag, als du kaputtgegangen bist, in viele Teile, in tausend Stücke. Und dir bleibt nichts anderes übrig, als dich auf den Weg zu machen und die Scherben einzusammeln.

Sommer, Planta, weißt du noch? Wie du mir geholfen hast, die Geschichte zu schreiben? So wie ich dir half mit deiner? Ich weiß es noch. Ich merke mir alles. Ich vergesse nichts. Sie haben uns nicht viel gelassen. Was konnten sie uns tun? Weil wir, seit wir im vergifteten See gebadet haben, unverwundbar sind. Weil wir es immer waren. Nehmt uns alles, habe ich gesagt, wir werden trotzdem etwas haben. Gebt uns nichts, wir werden etwas damit anzufangen wissen. Denn wo nichts ist, ist viel Platz. Eine neue Geschichte. Oder die alte Geschichte auf eine neue Art, mit neuem Blick. Legen wir die Zweifel für einen Moment beiseite. Nehmen wir das Schicksal in die Hand. Und wenn es uns eines Tages nicht mehr gibt: wir werden nicht vergessen sein. Wir werden leben. In den Gedanken derer, die uns in ihre Gedanken lassen, die diese Zeilen lesen. Dein Blick voller Zweifel. Deine großen, großen Zweifel. Aber auch: deinen Mut, deine Stärke, deine Kraft. Dein Wunsch, dein Wille, dein Blick. Lose Blätter, ein herbstlicher Wind, der die Blätter durcheinanderbringt. Wir müssen noch einmal von vorn anfangen. Du Planta Adlerauge. Und ich die Scherbensammlerin. Darum blieb nichts von unserem Leben. Weil wir gehen konnten, ohne den Boden zu berühren, und war das vielleicht fliegen?

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Der lange Weg nach Hause

 

Glaube, Liebe, Hoffnungslosigkeit oder: die Kindheit ist ein Paradies, das Paradies ein Privatgrundstück, das Universum ein Einkaufszentrum. Die Wahrheit ist ein hartes Brot, vielleicht gibt es deshalb häufig süßen Keksbrei. »Dem Himmel so nahe« ist nur die Aufschrift auf einem Werbeplakat. Die Häuser sind so hoch, dass man niemals sicher sein kann, wer ganz oben wohnt. Weil Philine noch nicht weiß, was sie ist, ist sie alles, was sie will. Die Wirklichkeit ist das, was übrig bleibt, wenn man die Augen wieder aufmacht. Und die Liebe? Wie die Wahrheit: nicht immer einfach.

Philine Blank war ein Kind wie viele andere. Ein kleines bisschen anders vielleicht. Also doch wie alle anderen. Philines Eltern gehörten zu jener bedauernswerten Sorte Menschen, die alles richtig machen wollen. Das ist ein edles, letztlich jedoch selten von Erfolg gekröntes Unterfangen, bei dem so manches schiefgehen kann. Dass André und Vivienne von Kindern nur wenig verstanden, hatte sie nicht davon abgehalten, eines in die Welt zu setzen. Da saß es nun und sah, mit einigem Erstaunen, dem Treiben zu. Es war ein Kind, das häufig lachte, nicht laut und ausgelassen, nein, still und leise lächelte es vor sich hin, und es war schwer zu sagen, was genau ihm dieses Vergnügen bereitete, ob es ein Gedanke war, der ihm zugeflogen kam, eine Begebenheit, an die es dachte, oder einfach nur da zu sein, jetzt, auf diese Weise, auf dieser Erde und sich nichts Schöneres vorstellen zu können. Was denn so lustig sei, was es denn immerzu zu lächeln gebe? Sie suchten vergeblich, da der Grund seines Vergnügens in dem Kind selbst verborgen lag, darin, wie es die Welt anzuschauen verstand. Später kann das kaum noch einer, erinnert sich nicht einmal mehr, wie es gewesen sein musste, als das Leben noch neu und unbekannt und alles – selbst das Traurige! – eine große, große Freude war.

Als Philine ein Jahr alt war, lernte sie die Wirkung der Schwerkraft kennen. Vor ihren Augen zerbrach eine Tasse in tausend Teile. Eine schöne, rote Tasse. Das kann passieren, beim Geschirrspülen, aus Unachtsamkeit, aus Versehen oder wenn zwei Menschen, die sich sehr gern oder das zumindest behauptet haben, über ein Thema zu zwei Meinungen gelangen. Philine war entsetzt. Die schöne Tasse! Kaputt, hinüber. Um Gottes willen, entfuhr es der Mutter, die mit Gott ungefähr so viel am Hut hatte wie Philines Vater mit Kindern. Und der Vater? Ja, der Vater … Wo war er denn auf einmal? Er stand für weitere Auskünfte nicht zur Verfügung. Man muss ihn verstehen. Er war noch keine dreißig. Und so viele Abenteuer, die lockten. So viele Länder, die er nie gesehen, über die er jedoch ausschließlich Gutes gehört hatte. Brasilien zum Beispiel. Ein sehr schönes Land. Die brasilianischen Frauen – so sagte man – sollten sehr schön sein. Und weil es bekanntlich besser ist, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen als bloßen Gerüchten Glauben zu schenken, weil man den eigenen Augen eher trauen kann als Motiven auf Postkarten, gab er dem inneren Drängen nach und begab sich auf eine Bildungsreise der besonderen Art. Philine weinte ein paar Tränen. Die Mutter versuchte sie zu beruhigen, aber das Kind wollte sich nicht trösten lassen. Die schöne Tasse!

Als Philine zwei Jahre alt war, lernte sie die Wirkung der Auftriebskraft kennen. Ein Windstoß entriss ihr den gelben Luftballon, den sie auf dem Rummelplatz am Flussufer, dem Tummelplatz der Herumtreiber, beim Mummenschanz der Großmäuler, auf der Flaniermeile der Schlawiner, in die Hand gedrückt bekommen hatte. Das kann passieren, wenn man kurz nicht aufpasst. Einmal losgelassen, schwebte er höher am Himmel als je zuvor. Erst jetzt kamen seine ausgezeichneten Flugeigenschaften zur Geltung. Schon bald war er nur noch ein kleiner Punkt am Horizont. Da begriff Philine. Fort, verschwunden. Das Bild des fliegenden Ballons vor dem ozeanblauen Himmel brannte sich in ihr Gedächtnis ein. Viele Jahre schlief der Gedanke tief in ihr. Und obwohl er weit unten vergraben war, vergaß Philine ihn nie.

Die Menschen in Philines Leben hatten eine Tendenz zur Abwesenheit. Ihre Familie bestand hauptsächlich aus Niedagewesenen, Weggegangenen und Nichtwiedergekommenen, niederträchtigen Halunken, unzuverlässigen Scheißkerlen und anderem schlimmen Volk. Verstreute Blätter im Wind, die einzusammeln die Mühe nicht lohnte, weil schon der geringste Lufthauch sie wieder auseinanderzutreiben drohte. Leute, die nur mal kurz Zigaretten holen wollten – man weiß ja, wie so etwas endet. Man weiß jedoch nie, wo so etwas endet. Dass es bis zur nächsten Zigarettenverkaufsgelegenheit einige tausend Kilometer sind und der Weg mehrere Jahre in Anspruch nimmt – das allerdings ist selten. Es ist fraglich, was Vivienne ausgerechnet in André gesehen haben mochte. Umgekehrt hingegen war es leicht zu erraten. Ein Blick in Viviennes schöne dunkle Augen hatte genügt. Die Absichten der Männer in ihrem Leben waren nicht ausnahmslos die besten. Das Leben wiederum musste seine eigenen Interessen gehabt haben, als es die beiden an einem lauen Frühsommerabend, bei einem Fest in einem Garten, miteinander bekannt gemacht hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Vielleicht hätten André und Vivienne, bevor sie zu Philines Eltern wurden, einen zweiten riskieren sollen. Vielleicht wäre ihnen dann aufgefallen, dass sie zwar füreinander bestimmt, keineswegs aber füreinander gemacht waren. Genau genommen waren sie so verschieden wie Tag und Nacht. Vivienne hatte ganz genaue Vorstellungen vom Leben. Andrés Vorstellungen waren etwas weniger durchdacht, nahmen jedoch schlagartig Gestalt an, sobald er sich mit denen seiner Auserwählten konfrontiert sah. Plötzlich wusste André, was er wollte: alles, nur das nicht. Etwas anderes. Das Gegenteil. Schnittmenge – praktisch nicht vorhanden. Das war das Dilemma: das Verbindende war gleichzeitig auch das Trennende, und dies zu erkennen der Anfang vom Ende. Sie liebten sich sehr, einen Sommer lang. Dann kam der Herbst und mit ihm der Streit. Er hielt fast ein ganzes Jahr. Mitten in den Streit hinein: ein Kind! Wie konnte das nur passieren, wunderte sich das überraschte Paar. Nun, das Rätsel ist schnell gelöst, die Biologie legt einen bestimmten Ablauf nahe, und es ist anzunehmen, dass auch dieser spezielle Fall keine Ausnahme bildete. Das Kind lernte rasch, besonders das Sprechen, damit es den Eltern schon bald eine wichtige Frage beantworten konnte: Wohin möchtest du? Zu deiner Mutter? Oder zu deinem Vater?

André und Vivienne waren jung und reichlich ahnungslos, trieben mal dies, mal das, anfangs nur miteinander, später auch mit anderen. Hier ein Häppchen, dort ein Stückchen, da ein Schlückchen, das Buffet des Lebens war reich gedeckt, es gab ständig Nachschub und am Ende waren sie nicht satt, sondern litten unter Übelkeit und Bauchschmerzen. André löste das Problem mit Schnaps. Vivienne verbrachte viel Zeit auf dem Klo. So blieb sie schlank wie eine Gazelle und das wiederum war ihre Versicherung gegen sämtliche Kümmernisse, mit denen andere sich herumplagten (schlanke Frauen werden bekanntlich nie verlassen). Doch da hatte sie ihre Rechnung ohne André gemacht. Der hatte seinen Schnaps gerade bezahlt, als er feststellte, dass ihm die Zigaretten ausgegangen waren. Der Rest ist bekannt, nein, unbekannt, ebenso wie Andrés weiteres Schicksal.

Als sie drei Jahre alt war und bereits einige Tassen, eine Vase und ein ausgehungertes Sparschwein zu Bruch gegangen waren, legte Philine eine Scherbensammlung an, die schon im Jahr darauf zu beträchtlicher Größe angewachsen war und mehrere Kisten, Blechdosen sowie die untersten drei Schubladen ihres Kleiderschranks in Anspruch nahm. »Das sind ja mindestens tausend Stück«, sagte einmal einer, der was von Zahlen verstand, kurz vorm zweiten Staatsexamen stand und im Vorübergehen einen flüchtigen Blick darauf geworfen hatte. Und Philine war sehr stolz auf ihre Sammlung. Tausend, erklang es in ihr, tausend Stück. Sie wusste nicht, was es bedeutete, aber es gefiel ihr, von etwas – und seien es Scherben – sehr viel zu haben.

Als Philine fünf Jahre alt war, zogen sie in das Viertel. Nicht in irgendeines, nein: in das Viertel. Das berühmte und berüchtigte. Es begann da, wo die große Stadt aufhörte, und klebte an ihrem Rand, als ob es gar nicht richtig dazugehörte, wie ein ungeliebtes Stiefkind. Die Häuser sahen alle gleich aus. Das Haus, in dem Philine und ihre Mutter wohnten, sah aus wie viele andere. Ein kleines bisschen anders vielleicht. Wenn man genau hinsah, erkannte man die Unterschiede. Die Farben der Sonnenschirme auf den Balkonen. Die Blumen in den Kästen an den Geländern. Form und Muster der Gardinen. Anzahl und Ausrichtung der Satellitenschüsseln. Die Verbotsschilder in den Fluren (Kinderwagen, Fahrräder, Müll). Und die Hinterlassenschaften in den Fluren (Müll, Fahrräder, Kinderwagen). Das Haus hatte tausend Klingeln, die sich wahllos drücken ließen, wenn einem langweilig war, und es gab, das war das Beste, einen Aufzug, mit dem man rauf und runter fahren konnte den ganzen Nachmittag. In jedem Aufzug war ein Spiegel angebracht, damit niemand auf den Boden machte. Der Terriermischling aus dem sechsten Stock und der Exhibitionist aus dem neunten taten es trotzdem. Oh, sagte Philine, wenn sie gerade den Türöffner gedrückt hatte und sah, was sie nicht hätte sehen sollen (oder … etwa … doch?). Der Hund wedelte daraufhin freudig mit dem Schwanz und der Exhibitionist schrie: »Halt die Klappe, du dumme Jule!« Philine lief schnell davon und lachte, dass es durch das ganze Haus schallte, und der Exhibitionist schrie: –

Gut, dass Philine es nicht gehört hatte.

Als Philine sechs Jahre alt war, kam sie in die Schule. Von da an lernte sie nicht mehr so viel.

Wer auf die Frage nach seiner Herkunft den Namen des Viertels nannte, erntete mitleidige Blicke – bestenfalls. Besonders umsichtige Leute sprachen sofort ein wenig langsamer und betonten die Wörter etwas deutlicher, als es nötig gewesen wäre. Zog man in das Viertel, hieß es: um Himmels willen! Zog man fort: Gott sei Dank! Wenn man es richtig anstellte, lagen zwischen Himmels willen und Gott sei Dank ein paar Jahre, in denen man eine Erfahrung machte, eine Erfahrung fürs Leben. Die Erfahrung, dass es besser ist, sich selbst ein Bild zu machen. Und, falls nötig, dieses Bild an die eigenen Vorstellungen anzupassen, und so, ohne es zu merken, selbst ein Teil davon zu werden. Für Philine war es die beste Gegend überhaupt. Schon bald kannte sie alles: Merkurweg, Venusstraße, Neptunplatz. Sie kannte die Häuser und die flachen Dächer. Die dunklen Kellerflure und die Zahlencodes zu den Kellerschlössern. Sie wusste, welche davon offenstanden und wo es was zu holen gab, die leeren Aquarien, die vollen Koffer, die steinalten Tagebücher blutjunger Mädchen und die Linsensuppe in Konservendosen, die schmutzig schimmernden Christbaumkugeln, die man sich an die Ohren hängen, und das zerfledderte Lametta, das man sich in die Haare flechten konnte. Ja, Philine kannte ihr Revier, und sie kannte die unsichtbaren Grenzen ihres Reviers. Im Norden das freie Feld hinter der Autobahnbrücke, voller Unrat, Unkraut und teichgroßer Pfützen. Im Osten die Aufgehende Sonne, asiatische Spezialitäten zum kleinen Preis. Im Süden der See. Im Westen ein staubiges Nichts aus Schlamm und Erde, wüst und leer – das Ende eben. Und, mittendrin: das Universum. Ein Einkaufszentrum, in dem es alles gab, was das Herz begehrte. Und vieles, was das Herz nicht begehrte, wovon ein Herz nichts wissen kann. Wer hier nicht fand, wonach er suchte, der würde nirgends fündig werden. Und wer hier etwas fand, wonach er nicht gesucht hatte, edlen Schrott und tollen Plunder, dem ging es wie den vielen anderen, die sich im Universum herumtrieben, auf der Suche nach – einem singenden Fisch? Einer tanzenden Ratte? Einer selbst umrührenden Tasse? Philine sah sich alles genau an, bevor sie zu dem Schluss gelangte, dass weder Schönheit noch Nützlichkeit den Kauf, ja, die Existenz dieser Dinge rechtfertigten. Das, wonach sie suchte, gab es nicht im Universum. Dazu musste man in den Hinterhof, wo die Container überquollen und die Angestellten während der Zigarettenpause achtlos auf dem herumtrampelten, was Philine so wertvoll war: Scherben. Alle Farben, alle Formen, alle Sorten. Philine wählte nur die schönsten.

Wenn die Mutter ihre Ruhe brauchte – und die brauchte sie oft, das Leben war nun mal kein Pappenstiel –, sagte sie zu Philine: Renn eine Runde um das Haus! Dort, wo Philine und ihre Mutter wohnten, stellte dies eine anerkannte Erziehungsmethode dar, weshalb sich niemand wunderte, wenn er eine Kinderschar um die Häuser rennen sah. Es ging laut zu in dem Viertel. Die Wände der Häuser waren dünn, wie aus Pappe. Oder tatsächlich aus Pappe. Jedes Haus ein großer Eierkarton. Oder eine Legebatterie. Irgendwo schrien immer Kinder. Es gab jede Menge Kinder und eines davon packte Philine, die gerade auf dem Heimweg war, am Ärmel und rief: »Erwischt!«

Philine blieb stehen.

»Warum läufst du nicht weg«, fragte der Junge, es schien ihn zu beunruhigen.

»Warum sollte ich?«

»Weil das zum Spiel gehört«, erklärte der Junge. Das mochte sein, nur gehörte Philine nicht zum Spiel, dessen erste und vielleicht einzige Regel sie in diesem Moment erfahren sollte: »Alle machen mit.«