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Renée Schroeder
mit Ursel Nendzig

Die Erfindung des Menschen
Wie wir die Evolution überlisten

Renée Schroeder

mit Ursel Nendzig

DIE ERFINDUNG

DES MENSCHEN

Wie wir die Evolution überlisten

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2016 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Hanna Zeckau, Berlin
Umschlagmotiv: Hanna Zeckau, Berlin
Abbildungen: Lucia Aronica (2–4, 6–12), Renée Schroeder (5)
Grafische Gestaltung/Satz: BoutiqueBrutal.com
Schrift: Minion
Lektorat: Stephan Gruber, feintext.eu

ISBN 978 3 7017 4537 1

Naturwissenschaften und Philosophie gehören zusammen –
sonst wissen wir nicht, wie wir mit dem Wissen umgehen sollen.

 

Für meine Mutter

Ich stellte meiner Mutter die Frage: »Was ist ein Mensch?«
Sie lachte und sagte: »Ein Ensemble von Molekülen.«

INHALT

Vorwort
Willkommen zur Autobiografie des Menschen!

Kapitel 1
Ordnung ohne Plan

Kapitel 2
Wann der Mensch gelebt haben wird

Kapitel 3
Was ist ein Mensch?

Kapitel 4
Kulturevolution

Kapitel 5
Ich, die beste Erfindung des Menschen

Kapitel 6
Das humane Genom

Kapitel 7
Das Epigenom, ein Manifest des Ichs

Kapitel 8
Das Ende der genetischen Krankheiten

Kapitel 9
Was machen wir mit unseren archaischen Fähigkeiten?

Kapitel 10
Feminismus – eine Strategie zur Verbesserung der Menschenrechte

Kapitel 11
Willkommen im Anthropozän

Kapitel 12
Die zweite Aufklärung

HeldInnengalerie

Danksagung

VORWORT

WILLKOMMEN ZUR AUTOBIOGRAFIE DES MENSCHEN!

Ich kann Ihnen versprechen: Sie werden es nicht bereuen, dieses Buch in die Hände genommen zu haben. Sie werden im Laufe der Lektüre eine neue Perspektive auf die Menschheit und auf sich selbst gewinnen, die Ihnen helfen wird, sich in dieser sich immer schneller entwickelnden Welt zurechtzufinden. Sie werden von Kapitel zu Kapitel ein immer schärferes Bild dieser Welt erhalten – so als würden Sie das Objektiv Ihrer Kamera justieren.

Ich wünsche mir, dass Sie meine Begeisterung für die oft recht anstrengenden Übungen bei der Bewältigung neuer Erkenntnisse über das Universum und das Leben teilen. Und dass Sie, wenn Sie das Buch zu Ende gelesen haben, eine wohltuende und allgemeine Leichtigkeit verspüren, weil Sie Ihren Platz und den Stellenwert des Menschen im Universum begriffen haben.

Dieses Buch ist auch ein Plädoyer für die Philosophie. Philosophie und Naturwissenschaften gehören zusammen. Es war ein schwerer Fehler, dass viele Universitäten diese Disziplinen im letzten Jahrhundert getrennt haben. Wir sollten sie wieder zusammenführen. Oder brauchten die Naturwissenschaften die Loslösung von der Philosophie, um sich frei entfalten zu können und neue, eigene Regeln der Wissensschaffung aufzustellen? Diese Regeln kamen ja dann doch aus der Philosophie, nämlich von Karl Popper. Die Hauptfragen der Philosophie lauten wohl: »Wer sind wir?« und »Woher kommen wir?«. Es wird zwar nicht die Philosophie sein, die diese Fragen beantworten wird können, sondern die Naturwissenschaften. Aber ohne die Philosophie werden auch sie nicht in der Lage sein, die Bedeutung vieler naturwissenschaftlicher Erkenntnisse richtig einzuordnen.

Am Beginn der Philosophie, zur Zeit Platons und Aristoteles’, hatte diese den Zweck, Anleitungen für das »richtige« Leben zu finden. Heute hat die Philosophie viel an Bedeutung verloren – zu Unrecht, meine ich! Denn die Hauptfragen der Philosophie sind ja immer noch offen.

Was wäre dann die Rolle der Philosophie heute, im Zeitalter der Spezialwissenschaften? Die Antwort auf diese Frage ist mir beim Schreiben dieses Buchs ganz klar geworden: Die Philosophie muss alle anderen Spezialwissenschaften vereinen und als Knotenpunkt für das Verständnis aller Zusammenhänge dienen. Das ist aber nicht möglich, solange die Philosophie eine von den Naturwissenschaften getrennte Disziplin bleibt. Das ist eine schwere Aufgabe, die wir nicht allein den Philosophen aufbürden dürfen. Die Spezialwissenschaften müssen wieder zur Philosophie konvergieren.

Geschichten zu erzählen ist etwas Bereicherndes; etwas, das unserem Leben Qualität gibt und daher auch sinnvoll ist. Aus Geschichten lernen wir auf individuelle Weise. Wir können Geschichten erfinden, die wahr sein oder wahr werden könnten. Das alles weckt in uns Sehnsüchte. Und hat dann auch Einfluss auf unser Befinden. Aber wenn wir wahre Geschichten erzählen können, die zeigen, wer wir sind und woher wir kommen, ist das sehr bereichernd. Diese Sehnsucht wurde auch in mir geweckt, und ich kann es inzwischen nicht mehr bleiben lassen. Seit ich den Menschen Geschichten aus den Naturwissenschaften erzähle und merke, wie sehr sie das anregt und erfreut, ist das mein liebstes Hobby.

Dieses Buch ist ein Versuch, Geschichten aus den Naturwissenschaften so zu erzählen, dass sie Teile einer großen Übung werden: der Erklärung des Universums. Diese Geschichten müssen dafür immer in Bezug zueinander gestellt werden, damit sie zur Entstehung eines scharfen Weltbildes beitragen. Es wären unendlich viele Geschichten möglich. Ich habe jene ausgesucht, welche ich persönlich am wichtigsten und einleuchtendsten empfinde. Es sind historisch plausible und visionär plausible Geschichten. Ob sie wirklich wahr sind, können wir nie sicher wissen – aber sie kommen der Wahrheit so nahe, wie wir es jetzt gerade können.

Dieses Buch ist der zweiten Aufklärung gewidmet.

Es gab bisher zwei entscheidende Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit. Erstens: den Moment, an dem unser Gehirn so weit entwickelt war, dass es Dinge erfinden konnte, die unser Überleben erleichtern. Das war vor zirka 70 000 Jahren.

Der zweite Wendepunkt war der Moment, an dem wir unser Unwissen entdeckt haben. Obwohl Sokrates sich bereits vor über 2000 Jahren sehr bemühte, allen klarzumachen, dass wir nichts wissen, herrschte während vieler Jahrhunderte und Jahrtausende nach ihm die allgemeine Gewissheit, dass es einen allwissenden Schöpfergott gebe, der einigen auserwählten weisen Männern alles Wissenswerte diktiert habe. Es wäre daher, so die dominierende Ansicht, ausreichend, diese Bücher zu studieren, um alles Wissenswerte zu wissen. Was in diesen Büchern nicht stand, war nicht wichtig oder existierte gar nicht. Die Entdeckung unserer Unwissenheit vor zirka 500 Jahren war dann der Ursprung des wissenschaftlichen Zeitalters, das mit Isaac Newton seinen ersten Höhepunkt erreichte. Von da an ging es rasant voran mit den Entdeckungen und Erfindungen. Und mit unserer selbst gesteuerten Evolution.

Die Behauptung, die diesem Buch zugrunde liegt, lautet, dass der Mensch seit zirka 70 000 Jahren durch seine Erfindungen seine eigene Evolution mitgestaltet oder womöglich den Pfad der natürlichen Evolution verlassen hat. Ich stelle sogar die Hypothese auf, dass der Mensch sich seit 70 000 Jahren selbst erfindet. Jetzt, im 21. Jahrhundert, haben wir die Werkzeuge in der Hand, um uns tatsächlich nachhaltig neu zu erfinden – und zu gestalten. Die offene Frage ist nur: Sind wir uns dessen bewusst? Wissen wir, was wir tun?

Um diese allerwichtigste Frage zu beantworten, brauchen wir die Philosophie.

Unsere Erfindung ist ja ein langer Prozess, der nach wie vor andauert. Dieses Buch ist die Geschichte einer Erfindung, an der Millionen von Menschen Tausende Jahre lang mitgetüftelt haben. Die Menschwerdung hat viele Helden und Heldinnen gebraucht. Die Kurzbiografien dieser Helden, deren Namen fett gedruckt sind, finden Sie ganz hinten im Buch, in der »HeldInnengalerie«.

Jetzt sind wir, was wir gerade sind – auf dem Weg in eine neue Zukunft. Diese steht noch nicht fest. Wir können sie jetzt erfinden. Aber dazu müssen wir wissen, was wir tun. Je mehr Menschen an ihrer Gestaltung teilhaben, desto besser wird sie werden. Wenn wir es nicht denen überlassen, die nur an sich denken und nicht verstanden haben, worin das Schöne liegt, dann können wir vieles in Gang setzen.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Erfindungskraft jedes einzelnen Menschen, ob allein oder – noch besser – in der Gruppe. Es ist ein Plädoyer für Bildung, für das Entstehen-Lassen von Ideen und Vielfalt. Ein Plädoyer für das rationale Erkunden der Möglichkeiten. Verbunden mit der Verantwortung für das, was wir tun. Ja: Wir sind jetzt verantwortlich!

Manche Philosophen waren (und sind) anscheinend der Meinung, es genüge, sich irgendwo hinzusetzen und nachzudenken, um die Welt zu verstehen. Welch ein Irrtum! Erst die modernen experimentellen Wissenschaften haben es möglich gemacht, wichtige-Grundsätze zu entdecken, die nach und nach das größte Puzzle der Geschichte lösen werden.

In diesem Sinne ist dieses Buch auch der Versuch, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen dahingehend zu analysieren, wie sie die Evolution des Menschen beeinflussen. Dabei werden wir unweigerlich zur Erkenntnis gelangen, dass der Mensch sich selbst erfindet. Er tut dies schon seit Langem – und immer intensiver.

Viel Spaß beim Lesen!

KAPITEL 1

ORDNUNG OHNE PLAN

Komplexe Systeme, das Problem mit der Entropie, eine einzigartige Formel, zwei Hauptsätze, überflüssige Dämonen, eine kurze Geschichte des Lebens und die Wandlung von Evolution zu Design.

In einem Vogelschwarm fliegen Tausende Vögel in einer dichten Gruppe und erzeugen dabei wunderschöne Muster. Weder stoßen sie aneinander, noch brauchen sie einen Choreografen. Auch ein Fischschwarm bewegt sich sehr dynamisch, ohne dass die Fische aneinanderstoßen und ohne von einem Dirigenten gelenkt zu werden. Wie kann das sein?

Mit dieser Frage befinden wir uns direkt beim Kern dieses Kapitels: Wie entstehen komplexe Muster aus einfachen Bewegungen? Wie entstehen komplexe Systeme aus einfachen Elementen? Wie entsteht Ordnung aus Chaos? Können komplexe Systeme wie das Leben und das Universum aus einfachen Ereignissen entstehen – ohne einen Plan und ohne einen Kontrolleur, der es steuert? Was treibt die Entstehung von Ordnung und Komplexität an?

Um die Welt verstehen zu können, müssen wir die kleinen, einfachen Dinge entdecken, die so beschaffen sind, dass sie Bausteine für komplexere Strukturen sein können. Das gilt für die Entstehung des Universums, den Ursprung des Lebens und für die Menschheit als soziale Struktur. Diese kleinen Dinge, nach denen wir suchen, sollen einfach, reaktionsfreudig und logisch sein: einfach genug, dass sie zufällig entstehen können; reaktionsfreudig genug, dass sie mit ihrer Umwelt gut wechselwirken; und logisch in der Hinsicht, dass sie komplexe Strukturen aufbauen können.

Um die Eigenschaften dieser kleinen Dinge entdecken zu können, benötigt es einen Exkurs in ein Teilgebiet der Physik: die Thermodynamik. Diese beschreibt jene grundlegenden Eigenschaften von Dingen, die notwendig sind, damit komplexere Systeme entstehen können, und sie beschäftigt sich mit der Wahrscheinlichkeit von seltenen Ereignissen und deren Folgen. Es geht um die Dynamik der Energie: Wohin fließt Energie? Wie verteilt sie sich? Was kann man alles als Energie bezeichnen?

Die Thermodynamik befasst sich mit Wärme, Energie, Arbeit und deren Umwandlungsformen. Bekannt sind die zwei Hauptsätze der Thermodynamik: Der erste Hauptsatz besagt, dass die Energie eines abgeschlossenen Systems konstant ist. Das bedeutet, dass die innere Energie (auch Enthalpie genannt) in andere Energieformen umgewandelt werden kann, ohne sie zu zerstören oder zu vermehren. Sie bleibt erhalten und ändert nur ihre Form, solange das System dicht ist und keine Energie hinein- oder hinausfließen kann.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist etwas komplexer. Er hat viele Physiker intensiv beschäftigt und außerdem etliche Philosophen zum Nachdenken angeregt. Er schränkt den ersten Hauptsatz etwas ein und besagt, dass spontan ablaufende Prozesse irreversibel sind und dass Wärme nicht von selbst von einem kälteren zu einem wärmeren Körper fließen kann: »Ein Perpetuum mobile zweiter Art ist nicht möglich.« Diese Aussagen können so interpretiert werden, dass in einem abgeschlossenen System die Ordnung nicht zunehmen kann oder die Entropie nicht abnehmen kann. Für den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wurde dieser neue Begriff eingeführt: die Entropie – eine negative Ordnungsenergie.

Das bedeutet also, dass die Physik sich schon seit Längerem mit dem Problem der Zunahme der Komplexität von Systemen auf unserem Planeten beschäftigt, und das ist ein Kernproblem für die Entstehung des Lebens.

Die Entropie ist ein Begriff, mit dem ich immer meine Probleme hatte. Ich habe gelernt, dass die Entropie einem Maximum zustrebe, wenn man ein System sich selbst überlasse. Das bedeutet, dass ohne Zutun von außen Chaos entsteht. Um Ordnung herzustellen, brauche man Energie und Information, nur dann könne die Entropie geringer werden. Ich fand diese Aussagen immer sehr unbefriedigend. Wieso kann ein System nicht so beschaffen sein, dass es sehr wohl Ordnung herstellt und die Information dazu im System selbst vorhanden ist? Genau solche Eigenschaften brauchen unsere kleinen Dinge, damit sie mit der Zeit komplexer werden und Information schaffen.

Die Thermodynamik hat mich während meines Studiums irritiert, und ich hatte immer das Gefühl, dass hier die Meinungen stark auseinandergingen, als läge hier eine Tabuzone oder ein nicht zu lösendes Problem. Sie wurde zu meinem Wahlfach, vor allem, weil ich als Studentin fand, dass sie in der Biochemie besser gehandhabt wurde als in der Physik. Die Suche nach den Bausteinen des Universums und ihren Eigenschaften ist schon eine lebenserfüllende Aufgabe. Irgendwie hatte ich die starke Vermutung, dass diese Suche die allerwichtigste Aufgabe der Wissenschaften sei. Aller Wissenschaften: Physik, Biologie, Soziologie und Philosophie. Davon bin ich heute noch immer überzeugt.

Der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann war ein echter Pionier auf diesem Gebiet. Er hat wahrscheinlich die entscheidenden Ideen gehabt, um mit dieser Problematik umgehen zu können. Er hat die Thermodynamik weiterentwickelt und einen neuen Aspekt eingeführt: Mit der Erfindung der statistischen Mechanik hat er die Entropie als Eigenschaft eines Systems definiert und diese mit jener Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang gebracht, dass Mikro– zustände sich in Makrozuständen äußern. Genau das braucht die Biologie, um das Leben als genetisch gesteuertes System definieren zu können.

Auf seinem Grabstein am Wiener Zentralfriedhof ist seine berühmte Formel eingraviert:

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Abbildung 1:

Ludwig Boltzmanns berühmte Formel

Diese Formel hat mich begeistert! Denn sie ermöglicht es, eine Strategie zu erdenken, die beschreiben kann, wie der Ursprung des Lebens ohne Plan möglich ist. Sie ist in meinen Augen die Formel für das Universum und das Leben. Wenn ich diese Formel einem Philosophen erklären würde, der keine Formeln mag, dann so: Ereignisse, die ganz selten sind, können sehr wohl große Folgen haben, wenn dabei Ordnung entsteht und Energie umgewandelt wird. Aber gleichzeitig zeigt uns diese Formel, dass der Großteil der Ereignisse vollkommen folgenfrei ist.

Die Formel besagt, dass die Entropie S eines Systems proportional zum Logarithmus der Anzahl der möglichen Mikrozustände ist. Diese Zahl ist demnach ein Maß für die Unordnung in einem System, aber auch für die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Zustandes. Die Proportionalitätskonstante kB wurde Boltzmann zu Ehren Boltzmann-Konstante genannt. Sie hat als Dimension Energie/Temperatur und die Größe 1,38065 × 10−23 Joule pro Grad Kelvin, also die gleiche Dimension wie unsere Entropie.

Mit diesen Begriffen ist es möglich, eine viel klarere Vorstellung davon zu bekommen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich manche komplexen Dinge entwickeln können. Also auch eine Idee von der Wahrscheinlichkeit, dass Leben auf unserem Planeten entstehen konnte. Einfach so. Ohne Plan. Und ohne einen Choreografen oder einen intelligenten Zeichner postulieren zu müssen. Es ist dann nicht mehr notwendig, Dinge anzunehmen, die keinen Sinn ergeben. Wir können genau überlegen, was alles möglich ist. Mit dieser Formel wird es möglich, die Eigenschaften unserer kleinen Dinge, die wir als Bausteine für das Universum und das Leben brauchen, zu untersuchen.

Die Physik erklärt, dass in einem System, das sich selbst überlassen ist, die Ordnung ab- und die Unordnung zunimmt. Im Universum nimmt die Ordnung aber offensichtlich zu! Dieser Widerspruch hat im 19. Jahrhundert bereits den Schotten James Clerk Maxwell beschäftigt. Er erfand ein Gedankenexperiment, um das Dilemma dieser Entropiezunahme zu lösen. Darin spielt ein Dämon die Hauptrolle, der die Entropie im Griff hat. Maxwell hat also so etwas wie einen »Gott« erfunden, ihn aber als Dämon bezeichnet – wahrscheinlich, um nicht in Konflikt mit der religiösen Autorität zu kommen. Er hat sich genau überlegt, was dieser Dämon so alles wissen, können und tun müsste, damit Ordnung in einem System entstehen kann. Und damit die Entropie abnimmt.

Maxwells Gedankenexperiment besteht neben dem Dämon aus einem Gefäß, das durch eine Trennwand geteilt ist. Beide Hälften sind mit einem anderen idealen Gas gefüllt. Ein ideales Gas besteht aus Teilchen, die keine Energie austauschen, wenn sie zusammenstoßen. Es gibt natürlich in Wirklichkeit keine idealen Gase, aber die Physiker haben sie erfunden, um manche Dinge vereinfacht erklären zu können. Wir nennen die gasförmigen Teilchen in der einen Hälfte des Gefäßes Kugeln und die in der anderen Hälfte Würfel (siehe Abbildung 2). Sobald die Gefäßhälften miteinander kommunizieren können, beginnen sich die Gase zu durchmischen. Es entsteht »Unordnung«: Die Entropie nimmt zu. Oder anders erklärt: Wenn eine Tasse mit heißem Kaffee in einem Raum steht, kühlt sie relativ schnell ab und nimmt die Raumtemperatur an.

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Abbildung 2:

Der Maxwell-Dämon hat die Information, in welche Hälfte des Gefäßes die Objekte gehören, und er kontrolliert deren Bewegung, damit Ordnung entsteht.

Um den Kaffee heißer als den ihn umgebenden Raum zu erhitzen, müssen wir Arbeit verrichten.

Um die Entropie zu verringern und Ordnung herzustellen, also um alle Kugeln in die linke Hälfte und alle Würfel in die rechte Hälfte des Gefäßes zu bringen, braucht man zwei Dinge: Information (um zu wissen, in welche Hälfte die einzelnen Moleküle gehören) und Energie (um sie dorthin zu befördern oder um zu verhindern, dass sie auf die falsche Seite fliegen). Dafür gibt es den Dämon: Er bewacht das System und lässt nur die Teilchen in die jeweilige Hälfte, wenn sie die richtige Form haben, sonst macht er die Klappe zu.

Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass rein zufällig und ohne Zutun von außen alle Kugeln auf der linken und alle Würfel auf der rechten Seite landen? Sie ist umso geringer, je mehr Teilchen im System sind. Das heißt: Um Ordnung in dieses System zu bringen und die Kugeln und Würfel schön getrennt zu ordnen, bräuchte es einen Dirigenten oder einen Choreografen – den Maxwell-Dämon. Dieses Gedankenexperiment ist so schön, dass es in das Gebiet der philosophischen Ästhetik passen könnte.

Wie lösen wir nun das Dilemma, dass das Universum eben keinen Dämon braucht, der Ordnung entstehen lässt, damit ein so komplexes System wie das Leben entstehen kann? Die Antwort ist denkbar einfach: Wir suchen nach etwas, das in der Wirklichkeit die Rolle des Dämons übernimmt.

Maxwells Gedankenexperiment bezieht sich auf ideale Gase. Um das Leben als System behandeln zu können, das Ordnung generiert, ohne dass ein Plan vorhanden ist und ohne einen Dämon zu benötigen, müssen wir das Gedankenexperiment etwas modifizieren:

Erstens würde aus idealen Gasen kein Leben entstehen, weil sie nicht miteinander reagieren, um komplexere Strukturen zu bilden. Biologische und präbiotische Moleküle reagieren hingegen sehr wohl miteinander und machen etwas ganz Besonderes: Sie gehen chemische Reaktionen ein und bilden neue, größere Moleküle, die stabil und vor allem geordneter sind. Biologische Moleküle, Elementarteilchen, Atome und Menschen sind keine idealen Gase und können auf unendlich viele Weisen miteinander wechselwirken und dabei unendlich viele neue, komplexere Dinge bauen, wobei die Entropie abnimmt und die Ordnung zunimmt. Wenn diese komplexeren Gebilde dabei neue Eigenschaften entwickeln, kann sich ganz viel entwickeln. Eben auch ein Universum, ein Planet, das Leben und eine soziale Gesellschaft wie die Menschheit.

Zweitens ist das System Erde nicht geschlossen wie Maxwells Gefäß, sondern offen: Die Sonne liefert Energie. Die Energie der Sonne könnte auf der Erde einfach in Wärme umgewandelt werden – ohne sonstigen Effekt. Das ist aber nicht der Fall: Durch die Energie der Sonne kommen Moleküle in Bewegung, begegnen dabei anderen Molekülen und verwenden die Energie, um energiereichere Moleküle zu bilden. Dabei entsteht Ordnung und die Erde wird komplexer. Die Sonne liefert Unmengen an Energie, unter anderem in Form von Licht. Allein schon durch die Fotosynthese der Pflanzen werden Kohlendioxid und Wasser mithilfe der Lichtenergie der Sonne in Zucker umgewandelt. Zuckermoleküle haben eine wesentlich höhere Ordnung als Kohlendioxid und Wasser. Und auch wesentlich mehr Energie, die wir als Kalorien kennen. Wenn wir uns bewegen, wandeln wir die Energie des Zuckers wieder in CO2 und Wasser um und verrichten damit Arbeit. Durch die Fotosynthese wird Ordnung geschaffen und Energie gespeichert, die Lebewesen über einige Umwege benützen, um zu wachsen und sich fortzubewegen. Und eben auch, um Häuser zu bauen, Maschinen zu betreiben und Daten mit unendlich viel Information über sie selbst zu speichern.

Der Physiker Erwin Schrödinger wies ebenfalls auf dieses von Maxwell erkannte Dilemma hin. Er schrieb 1944 in seinem Buch »Was ist Leben?«, dass das Leben dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspreche, weil wir ja beobachten, dass auf unserem Planeten die Ordnung zu-, nicht abnimmt. Schrödinger deutete die Entropie als fehlende Ordnung eines Systems. Ihm fiel auf, dass bei Lebewesen die Ordnung nicht nur erhalten bleibt, sondern sogar zunimmt. Er wies darauf hin, dass das System Leben so etwas wie Information enthalte, um Ordnung zu speichern. Das war eine große Leistung: Heute wissen wir, dass diese Information in unseren Genen steckt – und wir wissen auch, wie diese aufgebaut sind.

Seit das Leben vor 3,5 Milliarden Jahren entstanden ist, nehmen Ordnung und Information ständig zu. Die entscheidende Frage ist: Wo steckt der Dämon mit der Information – und woher kommt die Energie, damit die Entstehung des Universums und des Lebens nicht als Wunder oder Hexerei erscheint? Ist dieser Dämon im System selbst oder steuert er – wie in Maxwells Gedankenexperiment – das System von außerhalb?

Unsere auf Religionen basierenden Kulturen haben diesen Dämon als Gott definiert, der alles weiß und alles steuert. Aber irgendwann genügte den WissenschaftlerInnen diese Erklärung nicht mehr, und sie machten sich auf die Suche nach dem Dämon im System.

Das Gedankenexperiment von Maxwell ist sehr anschaulich, weil es einem klarmacht, worauf es ankommt und welche Eigenschaften die Bestandteile unseres Systems Leben haben müssen, damit Ordnung und Leben entstehen können: Sie dürfen sich nicht wie ideale Gase verhalten, sondern sie müssen neue Verbindungen untereinander eingehen oder neue Formen annehmen, wobei Energie in Form von Ordnung und Information frei wird: Dabei nimmt die Entropie ab. Wie würde das Gedankenexperiment ablaufen, wenn wir es statt mit idealen Gasen mit biologischen Molekülen zu tun hätten? Können wir uns dann vorstellen, was alles passieren muss, damit ein so komplexes System wie das Leben entsteht? Welche ist die wichtigste Eigenschaft der Dinge, damit Leben entstehen kann?

Dazu gibt es ganz neue Erkenntnisse. Ein junger Physiker und Biochemiker namens Jeremy England vom MIT in Cambridge, Massachusetts, möchte verstehen, welche Unterschiede zwischen lebender und lebloser Materie essenziell sind. Er will die grundlegenden Naturgesetze finden, sodass uns die Entstehung des Lebens nicht als Wunder vorkommt, sondern so logisch wie Steine, die den Berg hinunterrollen. Eine eindeutige Beobachtung hat er bereits gemacht: Lebende Materie ist viel besser beim Einfangen von Energie und beim Ableiten dieser Energie in Form von Wärme. Wenn eine Gruppe von Atomen von einer externen Energiequelle bestrahlt wird, zum Beispiel von der Sonne, und von einem Wärmebad wie dem Meer umgeben ist, dann werden sich diese Atome nach und nach umordnen, um mehr und mehr Energie abzugeben. Somit nähert sich Jeremy über die Physik dem Phänomen Leben.

Mit Charles Darwins Evolutionstheorie wurde klar, welche die allerspannendste und allerwichtigste Frage der Naturwissenschaften ist: Wie ist Leben entstanden? Für den Ursprung des Lebens braucht es einen Dämon, der weiß, wo sich wann welches Molekül befinden und mit welchen anderen Molekülen es reagieren muss, damit jene Ordnung entsteht, die Leben möglich macht. Ich nehme es gleich vorweg: Der Dämon für den Ursprung des Lebens steckt in den Molekülen selbst. Die wichtigste Eigenschaft von biologischen Molekülen ist nämlich, dass sie wählerisch sind, mit wem sie reagieren.

Jetzt mache ich einen Entwurf für ein neues Gedankenexperiment: ein Maxwell-Experiment für den Ursprung des Lebens. Lebewesen vermehren und entwickeln sich nach sehr präzisen Mustern, indem jedes Molekül in der Zelle ziemlich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tut. Wo steckt die Information für diese Ordnung? Wieso kann diese Information im Laufe der Evolution zunehmen? Wie ist diese Ordnung entstanden? Wo steckt die Aufgabe und das Wissen unseres Maxwell-Dämons? Hier gilt Jeremy Englands System, dass das Leben in einem wässrigen Wärmebad, das intensiv von der Sonne bestrahlt wurde, entstanden ist.

Das Universum und das Leben auf der Erde sind aus einfachen Elementarteilchen und Molekülen entstanden, die in der Lage waren, sich zu immer komplexeren Strukturen zu entwickeln. Beim »Urknall« vor 13,8 Milliarden Jahren sollen nach den derzeitigen Theorien der Astrophysik Raum, Zeit und Materie entstanden sein. Für die allerersten Momente nach diesem Ereignis, eine Zeitspanne von 10−43 Sekunden – nach dem Physiker Max Planck als Planck-Ära bezeichnet –, gibt es noch keine allgemeingültige Theorie. Klar ist aber inzwischen, dass nach dieser Ära die Elementarteilchen so weit entwickelt waren, um sich nach den heutigen Gesetzen der Physik zu verhalten. Die Geburtsstunde der Physik.

300 000 bis 400 000 Jahre später hatten sich diese Elementarteilchen zu den ersten stabilen Atomen und Molekülen verbunden. Das war die Geburtsstunde der Chemie, bereits auf einer wesentlich höheren Komplexitätsebene. Ab dann dauerte es noch 9 Milliarden Jahre, bis sich unser Sonnensystem entwickelte, und noch eine weitere Milliarde Jahre, bis auf unserer Erde solche Bedingungen herrschten, dass die chemischen Reaktionen, die für das Leben notwendig sind, stattfinden konnten. Das war vor 3,5 Milliarden Jahren – zugleich die Geburtsstunde der Biologie. Der Zeitpunkt, an dem die präbiotischen Bausteine entstanden.

Uns Chemikerinnen und Physikerinnen interessiert natürlich, welche Eigenschaften diese ersten präbiotischen Moleküle hatten, die nach und nach Ordnung und Information schufen, sodass Leben entstehen konnte.

Es war der Russe Alexander Oparin, der die geniale Idee gebar, dass einfache Organismen aus einfachen biologischen Molekülen und diese wiederum aus einfachen anorganischen Molekülen entstanden sind. Diese Idee war deswegen genial, weil man sie testen konnte: das Konzept der Ursuppe. Dieses wurde entwickelt, um nachzuweisen, dass es chemisch möglich ist, dass die Bausteine des Lebens aus einfachen anorganischen Molekülen, die in einer frühen präbiotischen Atmosphäre vorhanden waren, entstehen können. 1953 publizierte dann Stanley Miller seine ersten Ursuppenexperimente, die eindeutig zeigten, dass Aminosäuren (die Bausteine für Eiweiß), Basen und viele andere kleine Moleküle sich relativ schnell in wässrigen Gemischen aus einfachen anorganischen Verbindungen wie Ammoniak, Methan, Wasserstoff und Wasser bilden können.

In den letzten Jahren sind noch wesentlich mehr Ursuppenexperimente durchgeführt worden, die auch unterschiedliche atmosphärische Zusammensetzungen annahmen. Die Vielfalt an präbiotischen Molekülen, die dabei spontan entstehen, ist ein klarer Beweis dafür, dass Oparins Theorie richtig ist. Sie wird auch von der Tatsache unterstützt, dass man in Meteoriten Hunderte solcher kleinen Moleküle finden kann. Das ist ein wichtiger Befund, denn er zeigt, dass solch spontane Prozesse nicht auf Laborexperimente reduziert sind, sondern auch tatsächlich in der Natur vorkommen. Es sind Reaktionen, die immer wieder stattfinden, keine singulären Ereignisse.

Es können also aus einfachen Elementen komplexere Verbindungen entstehen: Aus Elementarteilchen entstehen Atome, aus einfachsten Molekülen komplexere Moleküle, die heute noch als Metaboliten in unserem Stoffwechsel zu finden sind. Das Leben ist nur deswegen entstanden, weil diese kleinen Moleküle ständig der Sonnenenergie ausgesetzt waren und sie diese irgendwie umwandeln mussten, um nicht selbst zerstört zu werden. Das ist heute immer noch so, denn unsere Gene machen nichts anderes, als die Umwandlungen dieser kleinen Moleküle effizient zu beschleunigen und zu steuern.

Nun kommt der nächste schwierige Schritt: Wie können aus den einfachen Bausteinen komplexere Strukturen entstehen, die wir als Leben bezeichnen? Um uns der Beantwortung dieser Frage nähern zu können, müssen wir zuerst herausfinden, welche die wichtigsten Eigenschaften von Lebewesen sind und welche Moleküle diese Eigenschaften tragen. (Siehe auch mein Buch »Die Henne und das Ei«.) Und sie bringt uns wieder dem Dämon nahe: Es braucht Wissen und Aufgaben. Information und Funktion.

In welchen Molekülen diese beiden Dinge stecken, wissen wir inzwischen ganz genau: In unseren heutigen Zellen trägt die DNA (Desoxyribonukleinsäure) die Information, und die Funktion übernehmen die Proteine. Sie verrichten die Arbeit. Es wird aber angenommen, dass, bevor es diese Aufgabenteilung gab, beide in einem einzigen Molekül enthalten waren: in der RNA (Ribonukleinsäure).

Die sehr wahrscheinliche Theorie zur Entstehung des Lebens ist die RNA-Welt-Theorie. Sie besagt, dass es während des Ursprungs des Lebens eine Zeitspanne gab, in der RNA-Moleküle beide Funktionen innehatten: die Speicherung von Information und die Verrichtung von Arbeit, also Funktion. Die RNA besitzt beide Eigenschaften, die auch Maxwells Dämon braucht. Statt einen Dämon außerhalb des Systems zu postulieren, vereinen RNA-Moleküle beide seiner Fähigkeiten innerhalb des Systems. So einfach ist das.

Was ist RNA und wie ist sie entstanden? RNA-Moleküle bestehen aus unterschiedlich langen Ketten von chemisch miteinander verbundenen Bausteinen, den Ribonukleotiden. RNA-Bausteine können in Ursuppenexperimenten gefunden werden. Aber hier bestand für die Ursuppenforscher lange ein schwieriges Problem: Um aus einfachen RNA-Bausteinen längere RNA-Ketten zu bilden, braucht es Energie; es braucht aktivierte Bausteine, nicht nur einfache Bausteine. In den Ursuppenexperimenten gelang es lange Zeit nicht, aktivierte Ribonukleotide zu erhalten. Die heutigen aktivierten Nukleotide, die in der Zelle verwendet werden, sind Triphosphate, also drei aneinanderhängende Phosphate.

Auch schien es zu schwierig und chemisch nicht effizient, Basen an Zucker anzuhängen, um solche Ribonukleotide in Ursuppenexperimenten zu erzeugen. Bis die Idee aufkam, dass zyklische Monophosphate energiereich genug sind, um die Bildung von Ketten zu ermöglichen. 2009 kam der Durchbruch: Im Labor von John Sutherland konnte die Synthese von aktivierten zyklischen Ribonukleotiden unter Ursuppenbedingungen hergestellt werden. Das war wirklich eine Erleichterung! Denn wäre es nicht gelungen, zu zeigen, dass es chemisch möglich ist, aktivierte Ribonukleotide in Ursuppen zu erhalten, die sich ohne biologische oder aufwendige chemische Synthesen zu Ketten verbinden können, dann hätten wir uns eine neue Theorie ausdenken müssen. Und das wäre nicht so einfach, weil es sehr viele Hinweise für die Richtigkeit der RNA-Welt-Theorie gibt.

Was also bis jetzt gezeigt werden konnte, ist, dass diese aktivierten Ribonukleotide, unsere RNA-Bausteine, sich spontan unter Ursuppenbedingungen zu längeren RNA-Ketten verbinden können. Dazu haben und brauchen sie zuerst einmal keine Information. Es entstehen längere Ketten, die mit der Zeit Information generieren können. Wichtig für das Verständnis ist, dass die Information erst im Laufe des Prozesses entsteht, gemeinsam mit der Funktion. Nun braucht es nicht mehr viel, um zu rekonstruieren, wie Leben entstehen konnte. Die vier Bausteine der RNA – die Ribonukleotide Adenosin (A), Guanosin (G), Uridin (U) und Cytidin (C) – haben eine weitere äußerst wichtige Eigenschaft: nämlich die, dass sie »wissen«, mit wem sie wechselwirken sollen, damit Ordnung entsteht. A kann mit U wechselwirken (wir sagen dazu »paaren«), und G mit C. Das hat zur Folge, dass, sobald eine kurze RNA-Kette entsteht, ohne größere Probleme die dazu komplementäre Kette entstehen kann. Das funktioniert, indem die erste Kette als Matrize wirkt und die jeweiligen Basen daran binden und ebenfalls Ketten bilden können (Abbildung 3).

Damit wissen wir, wie es chemisch möglich ist, dass RNA-Ketten spontan entstehen und sich vermehren. Wir nennen diese auch Sequenzen. Aber wo ist die Information in diesen Sequenzen? Die Information steckt in der Reihenfolge der Bausteine auf der Kette (genau wie die Reihenfolge von Buchstaben die Information eines Wortes beinhaltet). Und damit eine RNA-Kette auch Information und tatsächlich Bedeutung bekommt, muss sie in der Lage sein, eine Aufgabe auszuführen. Kurze RNA-Ketten mit Zufallssequenzen haben noch keine erkennbare Funktion und ihre Information hat noch keine Bedeutung. Wenn man Buchstaben wahllos aneinanderreiht, entstehen ebenso zuerst einmal keine Wörter mit Bedeutung. Wenn man aber nur oft genug würfelt, dann werden sich mit der Zeit wahrscheinlich alle Wörter unserer Sprache würfeln lassen.

Wir müssen also oft genug würfeln – mit dem Ergebnis, dass wir eine enorm hohe Anzahl an unterschiedlichen Ketten erhalten, von denen nur ganz wenige tatsächliche Funktionen entwickeln können. Wichtig zu erwähnen ist, dass diese Ketten nicht sehr stabil sind und schnell wieder in einzelne Bausteine zerfallen. Es wird dann bald klar, dass stabilere Ketten sich mit der Zeit anreichern und unstabile schnell wieder verschwinden. Aber das genügt nicht, um die Ketten mit Bedeutung zu behalten und jene ohne Bedeutung zu verwerfen. Dafür ist es notwendig, dass inaktive Ketten abgebaut werden, damit die Bausteine wiederverwendet werden können.

Wie könnte diese Auswahl der nützlichen Sequenzen stattgefunden haben? Das ist nach der Generierung einer hohen Anzahl an Zufallssequenzen (Amplifikation) der zweite wichtige Aspekt der Evolution – die Selektion: die Trennung der aktiven von den nicht aktiven Elementen. Irgendetwas muss passieren, damit Ketten, die Funktion haben, selektiert werden, während jene ohne Funktion wieder abgebaut werden und frische Bausteine für neue Würfeldurchgänge liefern können. Recycling! Auch heute findet in unseren Zellen eine Wiederverwertung der RNA-Bausteine statt.

Das ist das grundlegende Prinzip der Evolution: Information entsteht aus Zufall und Notwendigkeit.

Information entsteht in dem Moment, in dem unter den zufällig gewürfelten Sequenzen welche dabei sind, die neue Eigenschaften entwickeln. Beispielsweise die Eigenschaft, die Entstehung neuer oder längerer Ketten zu fördern. Im System selbst entstehen Sequenzen, welche die eigene Vermehrung antreiben. Sobald in unserer RNA-Ursuppe Ketten entstehen, die das System positiv beeinflussen, braucht es nur noch einen weiteren wichtigen Schritt: Es braucht Kompartimentierung, damit die RNA-Ketten in der Ursuppe nicht davonschwimmen und damit die Trennung der aktiven von den nicht aktiven Ketten möglich ist. Diese Aufgabe wird heute in unseren Zellen von nicht wasserlöslichen Fettverbindungen (Lipiden) durchgeführt, den Zellmembranen. Es ist anzunehmen – und auch dafür gibt es eine lange Reihe an ursuppenartigen Experimenten –, dass diese mizellenartigen Gebilde die Trennung von RNA-Ketten möglich gemacht haben. Eine Ansammlung von RNA-Ketten, die von solchen Mizellen umgeben sind, ist bereits eine Art Urzelle oder Protozelle. Mit ziemlicher Sicherheit ist dies der Moment, in dem das Gebilde als lebend bezeichnet werden kann.

Diese Art von (sehr erfolgreichen) Experimenten zur synthetischen Biologie wird im Labor von Jack SzostakAbbildung 3