Erwin Steinhauer, Fritz Schindlecker

Sissi, Stones und
Sonnenkönig

GESCHICHTEN UNSERER JUGEND

Residenz Verlag

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Salzburg – Wien

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin / buero8
Umschlagfoto: Aleksandra Pawloff
Grafische Gestaltung/Satz: Silvia Druml
Lektorat: Isabella Suppanz

ISBN 978 3 7017 4523 4

Inhalt

Vorwort

Unsere 1950er

Bazooka-Joe hat kein Niveau

Lempatscheks & Leberzirrhose

Abenteuerurlaube am Meer und im Hochgebirge, Teil 1

Superheinzi und die Sprachpolizei

Alles zusammenessen, damit die Sonne scheint

Abenteuerurlaube am Meer und im Hochgebirge, Teil 2

Unsere 1960er

Der Fernsehapparat und die Gondel

Die Kukuruzwette und der Gipfel

Für das Leben lernen wir! Teil 1

Als die Messen noch lateinisch waren …

Für das Leben lernen wir! Teil 2

Große und kleine Schritte für die Menschheit

Unsere 1970er

Raus aus dem Elfenbeinturm, an die Werkbank!

Die ganze Aufregung ist für den Hugo

Dreckig, mond- & fernsehsüchtig

Das Private ist politisch, das Politische privat

Sieg der Fackeln gegen das Atomzeitalter

Vorwort

Es gibt ebensowenig hundertprozentige Wahrheit
wie hundertprozentigen Alkohol.

SIGMUND FREUD
Begründer der Psychoanalyse
(1856–1939)

»Und was ihr zwei da in diesem Geschichtenbuch geschrieben habt, das ist alles wahr? Wirklich erlebt?« Der Gesichtsausdruck unserer Lektorin spiegelt unverhohlen Skepsis wider.

Doch wir können beruhigen:

Aber natürlich, alles war so, wie es hier geschrieben steht. Alles wurde überprüft, noch einmal nachrecherchiert, mit dem Ergebnis – alles, was hier steht, ist mehr als nur einfach wahr.

Es ist zweifach oder gar dreifach wahr. Kurz gesagt: es ist wahrer als wahr.

Denn erlebte Ereignisse beflügeln die Erinnerung. Dazu ein Beispiel: In einer Rundfunksendung anlässlich eines Jubiläums der österreichischen Staatsvertragsunterzeichnung erklärte eine enthusiasmierte ältere Dame Folgendes: Sie habe seinerzeit via Fernsehen live miterleben dürfen, wie Außenminister Leopold Figl auf dem Ballhausplatz gemeinsam mit den Außenministern der Signatarmächte einer begeisterten Menschenmenge den unterschriebenen Staatsvertrag präsentiert habe.

Dazu habe er verkündet:

»Österreich ist frei!«

Bis heute, fügte die Dame nicht ohne Ergriffenheit hinzu, sehe sie diese Schwarz-Weiß-Fernsehszene nahezu farbig vor sich. Ein wunderbares Beispiel für Oral History (also mündliche Geschichtsüberlieferung) und für die Authentizität von Zeitzeugen. Nur kleinliche Pedanten werden auf ein paar unwesentliche Ungereimtheiten in dieser höchst präzisen und doch so persönlich gefärbten Aussage hinweisen: Die berühmte Ballhausplatz-Balkonszene mit der Präsentation des unterschriebenen und gesiegelten Vertragswerkes fand nicht am Ballhausplatz, sondern im Belvedere statt. Und dieses ist laut Routenplaner je nach Route zwischen sieben und neun Straßenkilometer vom Ballhausplatz entfernt.

Seinen legendär gewordenen Satz »Österreich ist frei!« äußerte Figl aber ohnehin gar nicht auf dem Belvedere-Balkon, der im streng architektonischen Definitionssinn eigentlich ja auch gar kein Balkon, sondern eine säulengestützte Terrasse ist. Die historischen Worte fielen vorher, also ehe man auf den Balkon trat, während der Unterzeichnung der Vertragsakte im Marmorsaal dieses vom erfolgreichsten österreichischen Feldherrn erbauten Schlosses. Jenes Prinz Eugen, der bekanntlich einen Migrationshintergrund hatte und deshalb ohnehin in den Augen vieler heutiger Zeitgenossen gar kein echter Österreicher gewesen sein kann. Verklemmte Fakten-Junkies mögen unter triumphalem Gekicher auch noch einwenden, die Dame könne diese Szene – egal, wo diese nun stattgefunden habe – gar nicht im Fernsehen gesehen haben. Denn hierzulande gab es einen regulären Fernsehbetrieb erst ab dem 1. Jänner 1958. Zwar ging tatsächlich schon 1955 Die Diskussion der Chefredakteure als erstes Testprogramm auf Sendung, doch das passierte Monate nach der Staatsvertragsunterzeichnung. Ergo wurde die historische Balkonszene niemals von Fernsehkameras festgehalten und schon gar nicht live gesendet.

Sei’s drum – egal!

Die Dame hat sich in ihrer Erinnerung als Live-Fernsehzuschauerin in ein historisches Ereignis hineinreklamiert, dessen Bilder ihr nur aus zweiter Hand in der Kinowochenschau übermittelt worden sein können. Oder Jahrzehnte später im Fernsehen, dank Hugo Portisch und Sepp Riff. In der Sache aber hat die Zeitzeugin recht: Der österreichische Staatsvertrag wurde unterzeichnet, und zwar wirklich im 1955er Jahr, und der Figl Poldl war auch wirklich dabei.

Und – Hand aufs Herz: Ist es nicht völlig egal, wo der Staatsakt stattgefunden hat? Wichtig ist doch nur, dass die Dame die Schwarzweißbilder davon noch immer in so farbenprächtiger Erinnerung hat. Und dass sie deren eindrucksvolle Aussagekraft mit uns teilt.

Man müsste ein Herz aus Stein haben, um davon nicht gerührt zu sein.

Und darum, liebe geistreiche Leserin, lieber bezaubernder Leser, folgen Sie uns auf unserer Zeitreise durch die Welt der 1950er, 1960er und 1970er Jahre, in denen Erschi und Fritzi ihre Kindheit und Erwin und Fritz ihre Jugend und ihr frühes Erwachsenenalter, sprich: ihre Adoleszenz, durchleben durften.

Den Gleichaltrigen und Älteren wird sich bei dieser dynamischen Grottenbahnfahrt durch die jüngere Geschichte immer wieder ein Seufzer der Zustimmung entringen: »Ja, genau so wars!«

Die Jüngeren freilich werden gelegentlich zweifeln: Soll es tatsächlich jemals ein Leben ohne Smartphone, Tablet, ja sogar ohne Computer gegeben haben? Wo um alles in der Welt befand sich dann der Like-Button für Facebook?

»Oder wollen Sie vielleicht auch noch behaupten, es hätte damals nicht einmal Facebook gegeben?!«

Nein. Das wollen wir natürlich nicht. Denn – wie gesagt:

Wir werden hier immer strikt bei der Wahrheit bleiben.

Unsere 1950er

Die Erinnerung ist oft das Schönste im Leben, glaube ich.

ROMY SCHNEIDER
am 26. November 1954,
im Alter von 16 Jahren;
Schauspielerin
(1938–1982)

»Was wollts denn ihr über die Fünfzigerjahre sagen? Die habts ihr doch gar nicht richtig erlebt!«

Die Kollegin meint das ernst. Wir wüssten gar nicht, sagt sie, was damals wirklich los gewesen sei. Sie aber schon. Dabei ist sie sonst gar nicht so rasend darauf erpicht, speziell zu betonen, dass sie ein paar Jahre älter ist als unsereiner. So verkündet sie jetzt lautstark, sie habe noch die Russen gesehen mit der »Puschka«, sie habe als Volksschulviertklässlerin den ersten »Tag der Fahne« im 56er Jahr mitgefeiert, und sie sei schon mit dreizehn ein Elvis-Fan gewesen. Ja, so sind sie, die Zeitzeugen: sie haben nicht nur alles gesehen, sie waren auch bei allem und jedem mitgestaltend tätig. Jedenfalls dann, wenn es sich dabei um etwas Positives, Emanzipatorisches und/oder Demokratisches gehandelt hat. Wie jetzt auch hier, in diesem konkreten Fall.

Sie habe, sagt unsere nur um einen kleinen Hauch ältere, aber sich doch um Dezennien reifer gebende Kollegin, sie habe in mühevoller Kleinarbeit, auch unter strategisch gezieltem Einsatz von Krokodilstränen, einen emanzipatorischen Etappensieg gegen ihre verzopften Eltern errungen: Denn unter dem Weihnachtsbaum im 58er Jahr lagen für sie kein Dirndl und auch kein Sprungseil, sondern eine Jimmy-Hose und ein Hula-Hoop-Reifen.

»Gut«, sagen wir darauf, »ja klar, beachtliche Leistung, liebe Kollegin! Aber unsereiner«, fügen wir hinzu, »unsereiner kennt sich auch aus!«

Denn auch wir wissen aus der Besatzungszeit, dass die »Puschka« ein russisches Synonym für »Schusswaffe« ist, also so gebraucht wird wie »gun« im Englischen oder »Kanone« in unerträglichen bundesdeutschen Filmsynchronisationen. Auch wir haben zahllose »Tage der Fahne« miterleben dürfen und Gedichte aufsagen müssen, wie:

ÖSTERREICH, MEIN VATERLAND, HöR, WAS ICH DIR SAGE:
ICH WILL
ÖSTERREICHER SEIN, HEUT UND ALLE TAGE!

Auch wir haben zu unseren ersten Jeans »Jimmy-Hosen« gesagt. Und auch wir haben uns prägende frühkindliche Frustrationen mit dem depperten Hula-Hoop-Reifen zugefügt, weil der Dreck sich nie um unsere Leibesmitte drehen wollte, sondern immer gleich runtergeplumpst ist.

Aber eines ist schon richtig, liebe Kollegin: Im Gegensatz zu dir waren wir damals verdammt jung. Der 1. Jänner 1960 sah Erschi als Volksschuldrittklässler und Fritzi als Erstklässler.

Dazu ein kurzer Einschub: Vornamen quasi zu verkleinern, also statt Erwin »Erschi« und statt Fritz »Fritzi« zu sagen, war damals allgemein üblich. Neben Franzis, Pepis, Poldis und Karlis gab es auch zahllose Dorlis, Liesis, Annis und Mariechens. Spätestens seit den 1980er Jahren nahm diese allgemeine Verkleinerungssucht etwas ab – wer wollte auch schon gern statt Kevin »Kevini« genannt werden, oder statt Pamela »Pämelchen«? In jenen Kapiteln dieses Buches, in denen wir unsere Kinderjahre beschreiben, bezeichnen wir uns selbst mit diesen Verkleinerungsformen, also »Erschi« und »Fritzi«. Sobald wir das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, verwandeln wir uns in »Erwin«und »Fritz«, die verwegen und entschlossen dem Erwachsenenalter entgegenschreiten.

Da Erschi und Fritzi damals aber eben noch sehr klein waren, haben die 1950er Jahre wahrscheinlich unser Unterbewusstsein mehr geprägt als unser Bewusstsein. Ob wir uns deshalb jetzt in tiefe Melancholie stürzen oder in einen Glückstaumel verfallen sollen, darüber haben wir noch nicht entschieden. Zumal wir als engagierte Teilzeit-Freudianer natürlich wissen, dass unbewusste Prägungen deutlich länger und intensiver wirken als bewusste.

Und was wir dem Konglomerat aus Erinnerungsbildern und Nachgelesenem entnehmen, führt uns zu dem Schluss, dass die 1950er hierzulande keine einfache Zeit waren. Und zwar ganz und gar nicht.

Denn da gab es Russen und Amis, Wirtschaftswachstum und Bauernsterben, Vollmotorisierung und Bittgang-Prozessionen, Jazzclubs und Operettenfilme, Marilyn Monroe und Paula Wessely, Heinz Conrads und Helmut Qualtinger.

Selbstverständlich gab es auch eine junge, neue Literatur mit DichterInnen und SchriftstellerInnen wie Ingeborg Bachmann, Elfriede Mayröcker, Ernst Jandl, H. C. Artmann und noch vielen anderen. Aber es gab auch die alten Literaturpreisträger im neuen ideologischen Kleid – »reloaded«, würde man heute sagen. Diese Gertrud Fusseneggers, Franz Karl Ginzkeys oder Karl Heinrich Waggerls schrieben nicht mehr Hymnen auf Führer, Machtergreifung und deutsche Gaue, sondern auf Jesuskind, Weihnachten und Niederösterreich. Jede Zeit hat bekanntlich ihre treuen Chronisten und manche davon überleben sogar unbeschadet tausendjährige Reiche.

In dieser widersprüchlichen Zeit, in die sie ihre Mütter hineingeboren hatten, besahen Erschi und Fritzi mit heiterem Lächeln jene Umgebungswelt, in die sie direkt aus Abrahams Wurstkessel durch unergründlichen Ratschluss gelangt waren. Rundum zufrieden salutierten sie stramm aus ihren weißwandbereiften Kinderwägen heraus vor den unterschiedlich uniformierten Repräsentanten der Besatzungsmächte und genossen ihre Freiheit und Mobilität. Jeder von beiden wusste vielleicht nicht, ahnte aber, dass ihnen selbst ein Frontalcrash mit einem US-amerikanischen Jeep oder einem sowjetrussischen Panzerspähwagen kaum etwas anhaben konnte. Denn die beiden jungen Herren hatten den Prototyp des späteren Airbags um den Leib geschnallt: einen weißen Wickelpolster mit Schmuckbändern, natürlich in Blau, der Farbe der Knaben mit göttlich vorherbestimmter heterosexueller Orientierung.

Zwei, drei Jahre später durchstreiften die beiden in ihren Matrosenanzügen ganz unterschiedliche Regionen jenes kleinen Binnenlandes, das in der Jugendzeit ihrer Großeltern noch eine stolze Seemacht in der Adria gewesen war.

Deshalb vielleicht auch die Matrosenanzüge.

Doch halt – so weit sind wir ja noch gar nicht. Wo genau standen eigentlich die allegorischen Wiegen von Erschi und Fritzi? Da Hausgeburten damals als ewiggestrig und höchst unmodern galten, erblickten beide Knaben in wunderbar steril ausgeleuchteten Kreißsälen das Licht der Welt. Erschi im Frauenhospiz in der Peter-Jordan-Straße im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk, Fritzi im Krankenhaus Tulln.

Wiewohl also beide in zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, der eine im Roten Wien, der andere im Schwarzen Niederösterreich, zur Welt gekommen waren, hatten sie doch einige Gemeinsamkeiten.

Einer von Erschis Urgroßvätern war Hufschmied in Ernstbrunn im schönen Weinviertel gewesen. Und einer von Fritzis Urgroßvätern hatte in demselben Viertel in Ziersdorf als Sattlermeister gewirkt. Darüber hinaus hatte Erschi einen jüdischen Urgroßvater, Fritzi eine jüdische Urgroßmutter.

Mit den Nazis waren beider Väter als Halbwüchsige in Konflikt geraten: Erschis Vater, der seinem Urgroßvater vergeblich hatte helfen wollen, sich vor den Häschern des Terrorregimes zu verstecken, war aufgegriffen und als Siebzehnjähriger an die Front geschickt worden. Fritzis Vater war wegen »antinationalsozialistischer Umtriebe in der Schule« von der Gestapo verhört und schließlich vom Tullner Gymnasium relegiert worden. Er hatte daraufhin neben seiner Tätigkeit als Luftwaffenhelfer in Wien zwar die Matura machen können, war aber in den letzten Kriegsmonaten dann doch noch an die Front geschickt, verwundet und schließlich in einem Berliner Lazarett von Soldaten der Roten Armee gefangen genommen worden. Nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft in der Ukraine war er 1947 nach Hause, nach Langenlebarn, zurückgekehrt.

Langenlebarn war damals bereits zweifach besetzt und sollte das auch bis 1955 bleiben. Insofern zweifach, als der Ort selbst zur sowjetischen Besatzungszone gehörte, der direkt angrenzende Flughafen aber amerikanisch war.

Wie war das möglich? Wir sehen vor unserem geistigen Auge den gespannt-kritischen Gesichtsausdruck, mit dem Du, liebe reflektierende Leserin, diese stumme Frage an uns richtest. Und wir spüren die naive Treuherzigkeit in Deinem Blick, lieber charmanter Leser, der uns besagt, dass Du tatsächlich bereit bist, jeden, aber auch wirklich jeden Schmarren zu glauben, den wir Dir hier auftischen.

Nun – einer Legende zufolge soll die Entscheidung für diese US-sowjetische Doppelbesetzung der Marktgemeinde Langenlebarn bei der Konferenz von Jalta gefallen sein. Einen Tag vor der Ratifizierung der Schlussakte, am Vormittag des 10. Februar 1945. An ebendiesem Samstag soll Sir Winston Churchill, der ein begeisterter und talentierter Hobbymaler war, um eine Unterbrechung der Konferenz für zwei Stunden gebeten haben. Er wolle, sagte er, eine Aquarellskizze der Alexander-Newski-Kirche anfertigen. Und die Kuppel derselben erstrahle ganz außergewöhnlich intensiv nur im mildweißen Vormittagslicht. Josef Stalin grinste freundlich und deutete mit einer weitausholenden Geste an, dass er gegen eine Sitzungsunterbrechung gar nichts einzuwenden habe. Erklärend zeigte er dabei auf einen Riesenkübel voller Beluga-Kaviar, den er sich als Gabelfrühstück hatte bringen lassen und dessen genussvolles Auslöffeln seine volle Konzentration erfordern würde. Kaum hatte sich Sir Winston mit seiner Palette und seiner Staffelei davongemacht, träufelte der Rote Diktator mit einem vor lauter Vorfreude geradezu idiotischen Gesichtsausdruck realsozialistischen Zitronensaft über die stahlgrauen Fischeier. Eben, als sich Stalin stilgerecht mit seinem Perlmuttlöffel über den opulenten Imbiss hermachen wollte, nutzte der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt die Gunst der Stunde. Sich weit aus seinem Rollstuhl vorlehnend, sagte er mit fester Stimme:

»Uncle Joe: We want Langenlebarn!«

Stalin verzog keine Miene. Er reagierte überhaupt nicht. Es war ihm sichtlich vollkommen egal, dass Roosevelt ihn durch die Anrede »Uncle Joe« sozusagen »Pepi-Onkel« nannte. Er fand das ganz amüsant. »Onkelchen« war ein allgemein gebräuchlicher Ausdruck für nette Herren in Russland seit alters her. Stalin fand deshalb diese diplomatisch unübliche Anrede, die der amerikanische Präsident gelegentlich für ihn, den Generalissimus, Präsidenten und Parteivorsitzenden, wählte, durchaus amüsant. Die der Anrede folgende Forderung aber: We want Langenlebarn! – diese Forderung war inakzeptabel. Absolut inakzeptabel.

»Langenlebarn? Njet!«

Stalin spürte förmlich, wie die erste Portion des Beluga durch seine Speiseröhre in den Magen glitt, während sich auf seiner Zunge und seinem Gaumen quasi posthum ein fulminantes Geschmacksamalgam aus kalter Zitronenfrische, Kristallwasser und leicht salzigem Edelfisch ausbreitete. Er hob den Blick zu Roosevelt, der ihn durch seine Brille aus blutunterlaufenen Augen ansah. Roosevelt wollte es wissen. Er unterbreitete Stalin nun sein weitreichendes, gesamteuropäisches Angebot:

»I’ll give you everything you want. What you’ll get is: the eastern part of Germany, Bulgaria, Romania. You’ll get: Poland, Hungaria, Czechoslovakia. And you’ll get: the Baltic States and you’ll get Finland!«

»Choroscho, moj Gospodin!«, erwiderte Stalin mit seltsam gütiger Stimme und lächelte. Dann führte er sich den zweiten Kaviarlöffel zu. Der Beluga schien bei ihm eine ähnliche Wirkung zu haben wie eine wohldosierte Menge Kokain auf westliche Entscheidungsträger: Der Kremlfürst wirkte nach außen irgendwie herzlich, ja fast menschlich, während er innerlich eiskalt kalkulierte.

Sosehr er das Angebot des Herrn Roosevelt zu schätzen wisse, könne er diesem Tausch nicht zustimmen, ließ Stalin von seiner platinblonden Dolmetscherin übersetzen. Durch seinen Bildungsreichtum wisse er um die hoch entwickelte Gastfreundschaft der Langenlebarner, egal ob es sich dabei um Unteraigner oder Oberaigner handle. Und seine auf dem dialektischen Materialismus aufbauende Prognosefähigkeit lasse ihn in ferner Zukunft dortselbst mehrere Haubenlokale vermuten. Und diese wolle er als Freund der gehobenen Gastronomie für die ihm nachfolgenden Generationen von Sowjetmenschen bewahren.

»I only want the airport of Langenlebarn!«, erwiderte Roosevelt und fügte hinzu: Wenn er den Flugplatz bekäme, sei er bereit, das Dorf gegen Finnland zu tauschen. Nach einigem Zögern kratzte sich der Rote Diktator die letzten Kaviarreste aus den Zwischenräumen seiner Vorderzähne und stimmte schließlich diesem

»New Deal« zu.

So wurde Finnland also nicht Teil des Ostblocks, der Flughafen der Nazi-Luftwaffe in Langenlebarn wurde zur US-Airbase Tulln und der Ort Langenlebarn war Teil der sowjetischen Besatzungszone.

Das Lichtental aber, wo Erwin die ersten dreißig Jahre seines Lebens verbringen sollte, war US-amerikanisch besetzt – wie auch der ganze übrige neunte Wiener Gemeindebezirk. Diese Einbindung in den Freien Westen soll der Legende nach vielen jüngeren Damen schon zu einem frühen Zeitpunkt Nylonstrümpfe mit Naht und Zigaretten der Marken Chesterfield und Lucky Strike eingebracht haben. Eine Wandlung der Trinkgewohnheiten der Lichtentaler in Richtung etwa auf Cola-Bourbon scheint empirisch aber über einen langen Zeitraum nicht nachweisbar. Einem alten Wienerlied zufolge tranken die Lichtentaler ja gern ein Glaserl Wein, sofern die dafür gekelterten Trauben vorher »g’rebelt« wurden. Was so viel heißt wie sorgsam von ihren Stielen abgebeert. Und das Trinken von »Gerebeltem«, ob pur oder gespritzt, war auch noch Ende der 1950er Jahre durchaus allgemein verbreitet.

Als Jungministrant durfte der kleine Erwin, damals natürlich noch Erschi genannt, anlässlich der Fronleichnamsprozession 1958 eine Sakralfahne schleppen. Da lehnte in den durchaus schon ein wenig wärmenden Strahlen der Spätfrühlingssonne am Eingang des allseits beliebten Gasthauses »Zum Küss den Pfennig« der Onkel »Moni« und beobachtete die vorbeidefilierenden Prozessionsteilnehmer. Elegant gekleidet in einen feiertäglichen Nadelstreif, hielt er in seiner Rechten ein halb gefülltes Glas mit »Gerebeltem« und in der Linken betont lässig mit spitzen Fingern die stets glimmende filterlose Austria 3. Onkel Moni bezeichnete sie gerne als »echten Beuschlreißer«. Für die Smart Export, die damals als schicke Antwort des österreichischen Tabakmonopols auf die Glimmstängel made in USA galt, fand er hingegen nur verächtliche Worte:

»A parfümierter Dunstspender! A Smart rauch i nur, waunn i Hoisweh hob. Stattm Salbeitee! A Smart is ka Tschick, a Smart is a reine Damenzigarettn!«

Onkel Moni war eigentlich Erschis Großonkel, aber immer noch höchst aktiv. Auf viele Chesterfield-Raucherinnen wirkte er geradezu jugendlich-charmant. Allgemein galt er im Viertel als Kavalier der alten Schule, der dabei auch noch einen höchst modernen Beruf ausübte: Onkel Moni war Kraftfahrer und dabei in Personalunion auch noch Brot- und Feingebäcklieferant der legendären Ankerbrot-Fabrik. Dieses Wiener Traditionsunternehmen warb damals mit dem Slogan:

»Worauf freut sich der Wiener, wenn er aus dem Urlaub kommt? Auf Hochquellwasser und Ankerbrot

Als Onkel Moni nun seines Großneffen ansichtig ward, der sich keuchend in der Fronleichnamsprozession mit dem Schleppen einer Katholen-Fahne quälte, rief er ihm zu:

»Burli! Lass die Fahne aunglahnt. Komm eina und trink mit mir a Achterl!«

Der kleine Erschi reagierte selbstverständlich nicht auf dieses Angebot. Er war nicht bereit, die eine Fahne durch eine andere zu ersetzen. Und auch Onkel Monis Alternativ-Offerte: »Na, dann trinkst halt a Himbeerwasser!«, schlug er empört aus.

Der Grund war klar: Als so junger, kleiner Ministrant schon so eine uralte, riesige Fahne tragen zu dürfen, das war eine große Ehre. Da musste man es in Kauf nehmen, dass man schwitzte wie ein Sonntagsschweinsbraten und stöhnte wie eine der alten Dampfloks, die zu dieser Zeit immer noch die lokalen ÖBB-Personenzüge zogen.

Doch bald schon wurden all die alten Dampfloks durch Dieselloks ersetzt. Denn der Fortschritt bahnte sich in Erschis und Fritzis Kindertagen seinen Weg. Mehr oder weniger fast geradezu unaufhaltsam.

Bazooka-Joe hat kein Niveau

Der böse Hatschi Bratschi heißt er,
und kleine Kinder fängt und beißt er.

FRANZ KARL GINZKEY
Träger des Österreichischen Staatspreises
für Literatur 1957
NSDAP-Mitgliedsnr. 8.751.771
(1871–1963)

Die US-Amerikaner waren hierzulande als Besatzungsmacht deutlich beliebter als die Russen. Das lag am Marshallplan. Nicht aber an den Kulturgütern, die sie vermittelten: Chewinggum, Coca Cola, Comics, Hawaiihemden und Jazzmusik trafen im Österreich der Fünfzigerjahre auf eine breite Front der Ablehnung. Wenn man in der Lage war, eine vernünftige Blase mit seinem Bazooka-Kaugummi zu produzieren, galt man, sofern man unter vierzehn war, als unerzogen, bis einundzwanzig dann als »Schlurf« oder »Schlurfbraut«. Falls man aber gar im Erwachsenenalter immer noch Kaugummiblasen machte, war man eine vulgäre Person, die den unvermeidlichen Untergang des Abendlandes zügig vorantrieb. Denn schon durch den Namen dieses Kaugummis mussten sich ausgediente, aber immer noch überzeugte Frontsoldaten, die selbstverständlich auch in der jungen demokratischen Republik Schlüsselstellen bekleideten, provoziert fühlen: »Bazooka« war schließlich die Bezeichnung für eine amerikanische Waffe, die von Infanteristen zur Abwehr feindlicher Panzer eingesetzt wurde.

Dazu kam, dass jede Bazooka-Kaugummi-Packung eine weitere amerikanische Kulturgutofferte enthielt, die auf wenig Gegenliebe stieß – einen kleinen Comicstrip, dessen Held der »Bazooka-Joe« war. Selbst wenn er »Panzerfaust-Pepperl« geheißen hätte, wäre der Bazooka-Joe von den Kulturgüter-Hütern der jungen Zweiten Republik abgelehnt worden.

Denn Comics galten durch die Bank als »Schmutz und Schund«. Es ist aus heutiger Sicht von geradezu grotesker Lächerlichkeit, dass rassistische, islamophobe, ja sogar Hexenverbrennungen verherrlichende Kinderbücher wie Hatschi Bratschis Luftballon als wertvolle Kinder- und Jugendliteratur galten, während Micky Maus und Donald Duck vor allem wegen ihrer »Lallsprache« als verderblich für die heranwachsende Generation angesehen wurden. Bis in die Sechzigerjahre wetterte der Österreichische Buchklub der Jugend gegen »Schmutz und Schund«. Im Zuge dieser Kampagnen gab es sogar Comic-Verbrennungen in einigen österreichischen Städten. Dass es diese auch in der BRD und der DDR gab, macht die Sache nicht besser, sondern eher schlimmer: Schließlich hätte doch in allen drei Staaten die Parallele zu den Bücherverbrennungen des Dritten Reiches auffallen müssen.

Heimischer Exponent des abendländischen Kampfes gegen die Bildergeschichten war der Buchklub-Maxi, eine Bauchrednerpuppe, die Erschi und Fritzi schon als Volksschüler in Angst und Schrecken versetzt hatte. Als beide, längst zu gestandenen Männern gereift, Jahrzehnte später den amerikanischen Horrorfilm Chucky, die Mörderpuppe sahen, fühlten sie sich, unabhängig voneinander, an den Buchklub-Maxi erinnert. Und Chucky erschien ihnen, gemessen an diesem Literaturtugendwächter ihrer Kindheit, relativ harmlos.

Nun ist es ja keine sensationelle Neuigkeit, dass Verbote Anreize wecken. Dies gilt nicht nur für Marihuana und pornografisches Bildwerk und Schrifttum, sondern eben auch für Schundheftln. Und so umfassten die Kinderzimmerbibliotheken von Erschi und Fritzi nicht nur weltliterarische Werke wie Karl Mays Der Schatz im Silbersee oder James Fenimore Coopers Lederstrumpf. Nein. Hier lagen, anfänglich versteckt, später durchaus sichtbar, neben Micky- und Donald-Heftln auch Elaborate italienischen und bundesdeutschen Comicschaffens, wie zum Beispiel Akim, Sohn des Dschungels, Tibor, Held des Dschungels, Sigurd, der ritterliche Held, und selbstverständlich auch Nick, der Weltraumfahrer. Geschadet hat uns diese Lektüre nicht. Wir sind durchaus eloquent. Dazu eine kurze Kostprobe:

Peng! Bumm! Zoom! Roar! Vroooom! Har-Har!

In diesem Zusammenhang scheint es geboten, eine tragische Geschichte aus dem 57er Jahr zu erzählen. Sie trug sich im Tullnerfeld unweit des allgemein bekannten Marktfleckens Zwentendorf an der Donau in einem kleinen Dorf zu. Held dieser kurzen, aber atemraubenden Geschichte ist ein gemeinsamer Freund, den wir hier aus Datenschutzgründen Ferdl nennen wollen, obwohl er eigentlich Ferdinand heißt.

Ferdl ist Hauptschullehrer in Pension und so ganz nebenbei war und ist er auch erfolgreicher Autor. Unter anderem von Comicstrip-Serien wie dem legendären Columbus, der in den 70er und 80er Jahren in der Kronen Zeitung erschien.

Schon als Bub war Ferdl Comic-Enthusiast und -Sammler. Den Großteil seines spärlichen Taschengeldes investierte er in diese Leidenschaft. Er kaufte sich weder Clio-Brause-Säckchen noch Bazooka-Kaugummis und verzichtete mannhaft darauf, sich im Zwentendorfer Lichtspieltheater Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin anzusehen. Stattdessen erwarb er in der Trafik seines Vertrauens Schundheft um Schundheft. Ein Großteil dieser verwerflichen Trivialliteratur erschien in einem länglichen Streifenformat und war somit sehr leicht in die Hosentasche zu stecken und immer und überall mitzuführen. Dies tat Ferdl auch gerne und gerade dieses Tun sollte ihm zum Verhängnis werden.

Doch ehe wir uns der akribischen Schilderung der Abfolge dieser tragischen Ereignisse widmen, muss kurz auf Ferdls biografische Entwicklung in diesem Jahr 1957 eingegangen werden: Er hatte die Aufnahmsprüfung bestanden und besuchte nun die erste Klasse des Bundesrealgymnasiums in Tulln. Gymnasiasten gab es damals insgesamt noch wenige, vor allem auf dem platten Lande waren sie selten. Und wenn einer wie Ferdl noch dazu ein Arbeiterkind war und trotzdem eine Höhere Bildungsinstitution besuchte, wurde er als Rarität bestaunt.

Das Unheil nahm seinen Anfang, als er zu Pfingsten beim Hochamt als Vorministrant eingeteilt wurde. (Wir werden an anderer Stelle dieses Buches auf die Finessen des Ministrierens in der vorkonziliaren Liturgie noch näher eingehen. Für die Essenz dieser Geschichte sind diese Besonderheiten aber nicht von Relevanz.) Als Ferdl in Ausübung seiner Tätigkeit das Messbuch von der rechten auf die linke Altarseite zu tragen hatte, glitten im Zuge einer unvermeidlichen Drehbewegung mehrere Sigurd- und Akim-Streifenhefte aus seiner Hosentasche und fielen zu Boden. Der Herr Pfarrer unterbrach sogleich die liturgische Handlung. Die anderen Buben starrten wie gebannt auf Ferdl, der noch rasch das Messbuchpult auf seinen Platz stellte.

»Diese Schundheftln sind konfisziert!«, sagte der Herr Pfarrer halblaut zu dem armen Buben und fügte zischelnd hinzu: »Und jetzt raus mit dir!«

Mit gesenktem Kopf und begleitet vom blödsinnigen Grinsen der anderen Ministranten schlich Ferdl in die Sakristei, während der Pfarrer einen anderen zum Vorministranten erhob und die Messfeier fortsetzte.

Doch dies sollte noch nicht das Ende der Demütigungen sein, die Ferdl an diesem Tag zu erdulden hatte. Denn es stand ja noch die Predigt bevor. Als der Herr Pfarrer die Kanzel erklommen und sich in Positur gestellt hatte, hob er anklagend ein Sigurd-Heft gen Himmel und begann mit einer fast alttestamentarisch anmutenden Anklagerede:

»Das sind unsere Gymnasiasten! Die sollen unsere Zukunft sein? Bildergeschichten schauen sie sich an, in denen halb nackte Weiber vorkommen!«

In der Sakristei hörte Ferdl, der sich der Ministranten-Kleidung bereits entledigt hatte, diese Worte und war für den Augenblick mehr erstaunt als erschüttert: Halb nackte Weiber? Die waren ihm selbst bei akribischer Sigurd-Lektüre dort bisher noch nicht untergekommen.

»Die biblische Geschichte sollen sie lesen!«, fuhr der Gottesmann fort. »Da sind auch Abenteuergeschichten drinnen. Aber christliche Abenteuergeschichten, in denen das Heil der Welt liegt! Alle Eltern und Erziehungsberechtigten aber«, fuhr er nun fort und seine Stimme klang dem fantasiebegabten Knaben in der Sakristei bedrohlich wie ein Donnergrollen, »alle Eltern und Erziehungsberechtigten aber sind angehalten, zu Hause nach solchen Schundheften zu suchen, diese in den Ofen zu stecken und den Kindern die Lektüre der Bibel oder wenigstens des Jesusknaben ans Herz zu legen.«

Als Exkurs sei hier angemerkt, dass sich dieser Pfarrer einige Jahre später wohl sehr wundern mochte, als ausgerechnet in der Zeitschrift Der Jesusknabe ebenfalls ein Comicstrip erschien. Dessen Schöpfer war kein Geringerer als Manfred Deix, der hier in einer sehr frühen Schaffensperiode religiöse Themen in Bildgeschichten abhandelte, ohne auch nur ein einziges »Zumpferl« zu zeichnen.

Ferdl aber, nach der Rede des Pfarrers von Panik erfüllt, packte noch am selben Tag alle seine Comichefte in eine Metallschachtel, die er zu Hause im Geräteschuppen entdeckt hatte. Dann machte er sich still und heimlich mit Schaufel und Krampen auf, um diesen Schatz zu vergraben. Irgendwann, so hoffte der Knabe, mochten auch in die Gegend um Zwentendorf aufgeklärte Zeiten einziehen, in denen man dann die Bildgeschichten sogar hierorts vom katholischen Index nehmen würde.

Nun ja – diese Zeiten kamen.

Doch als Ferdl Jahre später den alten Schatz wieder heben wollte, fand er die Stelle nicht mehr, an der er ihn vergraben hatte. Der schöne Lindenbaum, den er seinerzeit als Markierung ausgewählt hatte, war offensichtlich einem Baummörder zum Opfer gefallen. So zählt Ferdls frühe Comicsammlung wohl weiterhin zu jenen verschollenen Schätzen, wie etwa das legendäre Bernsteinzimmer von St. Petersburg oder das Nazigold im Toplitzsee, die auch in Zukunft Abenteurer aus aller Welt zu kostspieligen Expeditionen, im konkreten Fall nach Trasdorf bei Zwentendorf, verleiten werden.

Als kleiner Nachtrag sei angemerkt, dass Ferdl nach diesem Eklat sich selbst aus dem aktiven Ministrantendienst entlassen hatte. Doch da er nach der Vergrabungsaktion kurzfristig ohne jeden Lesestoff dagestanden war, hatte er sich tatsächlich – dem priesterlichen Rat folgend – in die Bibellektüre vertieft. Und hier fand er schließlich das, was der Herr Pfarrer gemeint hatte, in den Sigurd-Hefteln entdeckt zu haben: Halb nackte Weiber! Und zwar in den Illustrationen zur paradiesischen Eva und der schleiertanzenden Salome.

Vielleicht hatte der Herr Pfarrer da irgendetwas durcheinandergebracht.

Lempatscheks & Leberzirrhose

Aus Durst wird Coca Cola.

IVAN ILLICH
Philosoph &katholischer Priester
(1926–2002)

Grundsätzlich muss aber festgestellt werden, dass natürlich nicht alle Österreicher alles ablehnten, was aus den USA kam.

Erschis Vater etwa war ein großer Fan von Ella Fitzgerald, Benny Goodman und Glenn Miller, den Titanen des Bigband-Swing. Fritzis Vater als Richard-Tauber-Verehrer konnte mit Jazz gar nichts anfangen und mit Rock ’n’ Roll noch weniger, wenn es eine Steigerungsform für »gar nichts« gäbe. Fritzis Mutter hingegen fand Elvis Presley durchaus ansprechend. Und noch ansprechender fand sie die »amerikanische Küche«, die ihr vom örtlichen Tischler Anfang der Sechzigerjahre eingebaut wurde. Unter »amerikanischer Küche« verstand man damals eine Einbauküche mit halbrunden Drehkästen, die sich vor allem durch das Fehlen jeder Form von Kredenz auszeichnete.

»Eine Kuchl ohne Kredenz? I weiß net …«, pflegte Fritzis Großmutter mütterlicherseits zu sagen. Und Fritzis Großmutter väterlicherseits stimmte dieser Kritik in seltener Einmütigkeit nicht nur zu, sondern verschärfte sie, indem sie apodiktisch festhielt: »Eine Kuchl ohne Kredenz is keine Kuchl!«

Fritzis Vater hingegen war mit seiner Gemahlin völlig einer Meinung. Er mochte insgesamt vieles an der US-amerikanischen Lebensart. Das hatte sicher damit zu tun, dass er als junger österreichischer Zollbeamter im zivilen Sektor der in Langenlebarn liegenden US-Airbase Tulln arbeitete und dabei auch Kontakt nicht nur zu GIs, sondern auch zu amerikanischen Zivilpersonen hatte – etwa dem lokalen Manager der Panamerican Airways, kurz PanAm genannt.

Als 1955 die amerikanische Besatzungsmacht abzog, wurden verschiedene Waren feilgeboten, die man nicht auf dem Transatlantikflug zurück in die texanische oder kalifornische Heimat mitschleppen wollte oder konnte. Fritzis Vater erwarb dabei unter anderem mehrere Sets PanAm-Essbesteck, das sich wegen seiner Kleinheit hervorragend für die stark in Mode kommenden Kinderjausen eignete. Dazu ein wunderschönes Modell einer PanAm-Super-Constellation, dem legendären viermotorigen Transatlantikflugzeug der Firma Lockheed. Die Originalvorbilder waren zwischen New York und Langenlebarn geflogen, das Modell wurde ein paar Jahre später, sehr zu Fritzis Leidwesen, dem Vater vom katholischen Ortsseelsorger erfolgreich abgeschnorrt. Der verstand sich sehr gut darauf, das edle christliche Prinzip, dass Geben seliger sei als Nehmen, gegenüber seinen Schäfchen mit Charme und Pathos auszuloben. Und wiewohl Fritzis Vater alles andere als ein eifriger Kirchgänger war, ging er in diesem Fall dem örtlichen Don Camillo doch auf den Leim.

Absoluter Smash-Hit der amerikanischen Einkäufe des Vaters waren aber ohne jeden Zweifel zwei wintertaugliche, sportswearartige Kleidungsstücke für die Kinder, in die sie noch hineinwachsen mussten. Dies war wenige Jahre später passiert, und dann – und dies ist durch einen 8-mm-Schwarzweißfilm historisch einwandfrei dokumentiert – tollten die vierjährige Evi und ihr fünfeinhalbjähriger Bruder Fritzi mehr oder weniger lebhaft im Vorgartenschnee herum: Evi in einem gefütterten Kinderoverall, Fritzi in einer olivgrünen, ebenfalls kunstpelzgefütterten Jacke, die als Top-Accessoire einen Pelzkragen aus Waschbärenfellimitat hatte. Dies hätte ohne Zweifel dem Buben sicher schon damals ein sehr selbstbewusstes Davy-Crockett-Feeling gegeben, wenn er gewusst hätte, wer Davy Crockett und vor allem, was ein »Feeling« war.

Beide Kleidungsstücke wurden interessanterweise trotz ihres unterschiedlichen Aussehens von der Großmutter väterlicherseits immer synonymisch als »Lempatscheks« bezeichnet.

»Ziehts euch ja die Lempatscheks an!«, pflegte sie winters wiederholt lautstark zu sagen. »Es hat in der Nacht gschneibt!« Erst Jahre später wurde Fritz klar, welche etymologische Wurzel im Lempatschek steckt:

Die Holzfäller wurden in den USA schon seit dem 19. Jahrhundert »Lumberjacks« genannt, aus »lumber«, was »abholzen« oder eben »holzfällen« bedeutet, und aus dem weitverbreiteten Vornamen »Jack«.

Verschiedene, meist winterliche Kleidungsstücke, deren Ursprung man in der Arbeitskleidung dieser Holzarbeiter sah, wurden und werden deshalb in den USA gerne als Lumberjack-Shirts, Lumberjack-Coats oder Lumberjack-Boots bezeichnet.

Evi und Fritzi trugen also offensichtlich in jener Zeit die Winterarbeitskleidung sehr kleiner Holzfäller.