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David Sax

Tastemakers

DAVID SAX

Tastemakers

Fondue, Cupcake und Smoothie:
Wie unser Geschmack erfunden wird

Aus dem kanadischen Englisch
von Pauline Kurbasik

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Für Lauren,
meinen beständigen Trend,

und Noa,
den süßen Cupcake
aus deinem Herd.

Inhalt

Einleitung

TEIL I – VIER VERSCHIEDENE TRENDARTEN

Der kulturelle Trend

Sex-Appeal

Landwirtschaft

Der steinige Weg zu China Black

Küchenchefs

Ein Ceviche in jedem Topf

Gesundheit

Nimm zwei Chia-Samen und ruf mich morgen Früh an

TEIL II – WIE TRENDS AUSBRECHEN

Verkäufe

Awards Night

Daten

Die Trendbeobachter

Marketing

Eines Tages wird mein Red Prince kommen

TEIL III – WARUM ESSENSTRENDS BEDEUTSAM SIND

Ethno-Food

So amerikanisch wie Chicken Tikka Masala

Nahrungspolitik

Der Taco-Truck-Marsch auf Washington

Geld

Grundkurs Baconomie

Nachwehen

Fondue geht in Florida in Rente

Epilog

Ein Cronut am Ende des Regenbogens

Danksagung

Auswahlbibliografie

Register

Einleitung

Der Bus von »On Location Tours« parkte im Schatten des New Yorker Plaza Hotels, im Leerlauf stand er in der feuchten Januarkälte, und die Passagiere kehrten nach und nach von den Sehenswürdigkeiten in der Nähe zurück. Sie waren Anfang 20 bis Ende 50 und kamen ebenso aus Long Island wie dem fernen Schweden. Mit Ausnahme zweier Ehemänner und mir waren nur Frauen an Bord. Sie reisten alleine oder in Gruppen. Alle einte eine große Leidenschaft: Carrie, Charlotte, Miranda und Samantha, die vier Protagonistinnen der HBO-Serie Sex and the City, die zwischen 1998 und 2004 ausgestrahlt wurde und auf die noch zwei Filme folgten. Für meine Reisegefährtinnen waren Carrie und Konsorten aber nicht bloß Figuren in einer Fernsehserie, sie waren vielmehr hochverehrte Prophetinnen und Ikonen weiblicher Identität, sexuelle Befreierinnen sowie Symbole für alles, was der Big Apple zu bieten hatte.

»Okay, Ladys«, sang Staci Jacobs fast schon ins Mikrofon, als sich die Türen schlossen und der Bus die Fifth Avenue hinunterfuhr. »Willkommen bei der Sex and the City-Tour!« Jacobs wollte ihr Alter nicht verraten, war aber »alt genug für die Serie« (wahrscheinlich war sie wie ich Anfang 30). Seit 2005 leitete sie die Tour zwei Mal täglich. Die trendbewusste Rothaarige in engen Jeans und kniehohen Stiefeln (denken Sie an Charlotte mit Mirandas Haarfarbe) war schon Tausende Male an denselben Sehenswürdigkeiten vorbeigefahren und gab überall einstudierte Anekdoten zum Besten.

»Erinnert sich noch jemand an Ed«, fragte Jacobs vor dem Plaza Hotel, wo Samantha in Staffel zwei einmal einen betagten Liebhaber auf einen Drink traf, »den Typen mit dem Hängearsch?« Im Bus ertönte wissendes Gekicher.

»Wenn ihr denkt, dass es hier jugendfrei zur Sache geht, sitzt ihr im falschen Bus«, sagte Jacobs. »Und jetzt alle: ›Fuck yeah!‹«

»Fuck yeah!«, tönte es zurück, und Jacobs warf – genau wie Samantha – diabolisch lächelnd ihre rote Mähne zurück. Weiter ging es nach Downtown, vorbei an der Bücherei, in die sich Carrie – Spoiler-Alarm! – vor ihrer rauschenden Hochzeit verdrückte, und der Kirche von Friar Fuck, dem gutaussehenden Mönch. Nach zwei Stopps und einem Dutzend Videoclips hielt der Bus an der Ecke von Bleecker und der West Eleventh Street im Herzen des West Village, dem Mittelpunkt des Sex and the City-Universums, wo sich eine Boutique an die andere reihte. Die Serie hatte das grüne Künstlerviertel in ein Paradies aus reizenden Cafés, edlen Bekleidungsgeschäften und riesigen Handtaschen verwandelt. Hunderttausende Fans kamen jedes Jahr und durchschritten die engen Straßen in ehrfürchtigem Staunen wie mittelalterliche Pilger in Jerusalem.

Beim Aussteigen sagte Jacobs, wir hätten eine gute Stunde Zeit für die Erkundung des Viertels. »Und wenn ihr zurückkommt, habe ich Cupcakes für euch«, flötete Jacobs, wobei sie das letzte Wort sirenenähnlich gurrte; ihre Stimme erhob sich bei »cakes« zu einem Crescendo. Die Ankündigung wurde mit Oohs, Ahhs und freudigem Gekicher quittiert, die eingefleischten Fans hatten bereits damit gerechnet.

»Sind die Cupcakes von Magnolia?«, fragte eine Frau aus Alabama hoffnungsvoll und blickte durch ihr Fenster auf die Magnolia Bakery schräg gegenüber dem Bus.

»Nein«, antwortete Jacobs mit einem gezwungenen Lächeln, »aber sie sind genauso gut.«

Alix Galey und Emily Pavlin, Freundinnen Anfang 20 aus Melbourne, stiegen aus und machten sich – wie die meisten anderen – schnurstracks auf den Weg zu Magnolia, wo sie zwei der legendären samtroten »Red Velvet Cupcakes« erstanden. »Ich bin völlig besessen von dieser Serie«, sagte Pavlin zwischen zwei Bissen. »Ich habe jede Folge fünf Mal gesehen.« Der Tag war grau und kalt. Im Inneren der Bäckerei hatten Hitze und Feuchtigkeit die Fenster beschlagen lassen, weswegen man von außen nur verschwommene runde Formen, gedämpfte Pastellfarben und die Umrisse verschiedener Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften sehen konnte, die auf die Scheibe geklebt waren.

Direkt neben der Tür hing ein kaum erkennbares, kleines gerahmtes Bild von zwei Frauen, die vor Magnolia auf einer Bank saßen. Links neben Cynthia Nixon, die Miranda spielte, saß Sarah Jessica Parker, die in der Serie die Figur Carrie Bradshaw verkörperte. Sie hatten die Beine übereinandergeschlagen, zu ihren Füßen standen Einkaufstüten. Beide hielten einen Cupcake in der Hand und schauten direkt in die Kamera. Unten am Rahmen befand sich ein schmaler Papierstreifen, auf dem stand: »Magnolia Bakery kommt in der dritten Staffel von Sex and the City vor.«

Was passiert wohl, wenn Archäologen in einigen tausend Jahren die Artefakte aus unserer Zeit durchforsten und dieses Bild samt Umgebung ausgraben? Wird ihnen Sex and the City ein Begriff sein? Werden sie wissen, dass die Serie die Hoffnungen und Träume von Millionen Frauen weltweit zum Ausdruck brachte? Und dass die beiden Frauen auf dem Bild nicht nur verehrte Schauspielerinnen, sondern auch Symbole für die sexuelle und soziale Selbstbestimmung der modernen Frau waren?

Werden die Archäologen Cupcakes erkennen?

Werden sie wissen, dass im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Kuchen existierten, die in Tassen gebacken wurden? Und dass man besagte Küchlein in allen erdenklichen Geschmacksrichtungen und Kombinationen herstellte und mit süßen Glasuren, sogenannten Frostings, überzog? Wird ihnen bekannt sein, dass es bei diesen Frostings eine enorme Vielfalt gab, von der einfachen Vanillecreme bis hin zu kunstvollen Gebilden in 3-D? Wird den Archäologen klar sein, dass diese kleinen Küchlein über zehn Jahre lang weltweit ein Statussymbol und ein wichtiges Gesprächsthema waren und die Menschen in ihren Bann zogen? Werden sie wissen, dass das Ganze, von ergebenen Bäckern weltweit über Chronisten dieses Phänomens bis hin zur Multimilliarden Dollar schweren Cupcake-Industrie, genau hier seinen Lauf nahm? An dieser heiligen Ecke in Manhattan, in dieser kleinen Bäckerei, mit diesen beiden Frauen und der 20-sekündigen Szene einer Fernsehserie, die damals unsere Naschgewohnheiten veränderte?

Wenn ich erzähle, dass ich gerade ein Buch über Ernährungstrends schreibe, kratzen sich meine Gegenüber für gewöhnlich am Kopf. Sage ich aber das Wort Cupcakes, sehe ich weit aufgerissene Augen, nickende Köpfe, und ein Schwall passionierter Ansichten ergießt sich aus den Tiefen ihrer Seelen. Sie lieben Cupcakes. Sie hassen Cupcakes. Sie essen jeden Tag Cupcakes. Sie meiden Cupcakes wie den Teufel. Cupcakes machen ihr Leben erst lebenswert. Cupcakes stehen für sämtliche Probleme der modernen Welt.

Cupcakes, Cupcakes, Cupcakes. Herrlich, verflucht, wundervoll, jämmerlich, möge Gott sich unser erbarmen, gütiger Gott … Cupcakes!

Als Kanadier bin ich schon seit meiner Kindheit bestens mit dem Zauber von Cupcakes vertraut. In einer sehr frühen Erinnerung stehe ich kurz vor meinem dritten Geburtstag mit meiner Mutter in der Küche; ich werfe zunächst Eier auf den Boden und breche dann in hysterisches Weinen aus, während meine Mom verzweifelt versucht, Schokolade-Cupcakes für meine Geburtstagsparty an jenem Nachmittag zu backen. In den Jahren darauf kaufte meine Mutter Cupcakes bei Health Bread, einer längst geschlossenen Bäckerei in der Nähe unseres Hauses in Toronto, und brachte sie mir in die Schule. Die ganze Klasse verstummte, als meine Mutter die Küchlein zum Lehrerpult trug, 25 Augenpaare starrten wie gebannt auf die hellblaue Kiste.

Unser Lehrer löste die Schnur und öffnete den Karton. Im Inneren befand sich das pure Glück: In mehreren Reihen übereinander schmiegten sich Schokolade-Cupcakes mit mokkafarbenem Überzug und regenbogenfarbenen Streuseln aneinander. Geduldig warteten wir in einer Schlange vor dem Pult, nahmen unseren Anteil entgegen und eilten zurück zu unserem Tisch, wo wir den Cupcake wie einen kleinen Vogel in der Hand wiegten. Die Mädchen zogen vorsichtig das Papier ab und suchten nach dem besten Winkel für den ersten Biss, wir Jungs waren das genaue Gegenteil: Wir schlugen unsere Zähne in die Cupcakes, als wären wir Gegner beim Äpfeltauchen. Innerhalb von Sekunden waren unsere Gesichter und Münder voller Schokolade, die weißen Shirts und Trainingshosen waren braun verschmiert; was wir nicht in den Mund steckten – so dachten wir –, würden wir einfach durch Osmose über die Haut aufnehmen. Nach 30 Sekunden hatte sich das Klassenzimmer in ein Krümel- und Verpackungsinferno mit hyperaktiven Kindern verwandelt. Cupcakes waren die Höhepunkte der Kindheit.

Aber irgendetwas geschah in den letzten 15 Jahren mit dieser Leckerei. Cupcakes wurden trendy. Genauer gesagt wurden sie zu dem Nahrungsmitteltrend unseres Zeitalters. Wenn man heutzutage über Cupcakes spricht, redet man nicht über ihre Süße, die Farben und Geschmacksrichtungen, in denen sie zu haben sind. Der Geschmack ist zweitrangig. (Sie kennen den Geschmack eines Cupcakes, er schmeckt wie ein kleiner Kuchen.) Cupcakes sind vielmehr Blitzableiter und ziehen die Energie und die Emotionen der komplizierten und rasant wachsenden Welt der Lebensmitteltrends auf sich; diese Welt bestimmt nahezu alle Nahrungsmittel.

In Wahrheit sind Lebensmitteltrends nicht neu. Sie sind ein natürliches Nebenprodukt der zivilisatorischen Entwicklung von Jägern und Sammlern, die alles aßen, was ihnen in die Hände kam, bis hin zu Bauern, Händlern und Kaufleuten, die eine größere Auswahl bei Lebensmitteln hatten. Niemand jagte ein Wollhaarmammut mit einem Speer, weil das Oberhaupt des Stammes das Mammut als angesagte Proteinquelle der Altsteinzeit festlegte (damals gab es keine Alternative zur Steinzeitdiät). Doch sobald wir die wirtschaftlichen Mittel entwickelt hatten, um aus verschiedenen Lebensmitteln auszuwählen, erfreuten sich gewisse Nahrungsmittel zwangsläufig größerer Beliebtheit als andere. Essen wurde zum Modeartikel, zum Statussymbol und einem Machtinstrument. Die zunehmende Vorliebe für exotische Gewürze trieb Forschungsreisende aus Europa über den unbekannten Atlantik; Koriander, Kurkuma und andere essbare indische Schätze waren genauso kostbar wie Gold und Seide aus der Ferne. Kaffee, einst eine unbekannte Feldfrucht aus Äthiopien, wurde zu einem weltweiten Lebensmitteltrend, der nun bei fast der Hälfte der Erdbevölkerung fest zum Morgenritual gehört und überall, wo er gedeiht, auch angebaut wird.

In meinen gut drei Jahrzehnten auf dieser Welt konnte ich miterleben, dass Lebensmitteltrends immer wieder kommen, wie beispielsweise der Boom von Hähnchensticks in meiner Jugend, die düsteren Jahre der Atkins-Diät und ein Run auf Fajitas während meiner Zeit an der Highschool. Als ich auf die Welt kam, hatte Sushi gerade zusammen mit der aufstrebenden japanischen Unternehmenskultur seinen Weg als kostbare Delikatesse nach Amerika gefunden. Ich konnte also mitverfolgen, wie sich die Spezialität in billige Gerichte zum Mitnehmen für jedermann verwandelte, die man in Supermärkten und an Tankstellen kaufen konnte. Ich habe von Trends gelesen, die allein in Geschichtsbüchern existieren. (Römische Könige beispielsweise stopften angeblich so viele Tiere wie nur möglich ineinander, um sie dann einer entbeinten Matrjoschka oder einem Turducken gleich zu braten. »Turducken« ist ein englisches Kofferwort aus turkey, duck und chicken und beschreibt einen Festtagsbraten, bei dem Truthahn, Ente und Hähnchen ineinandergesteckt werden.) Und ich wurde Zeuge, wie der Glanz von Strömungen verblasste, sobald sie von Mitbewerbern aufgenommen wurden (Fajitas und Sushiplatten machten zunächst Burritos und Ramen-Suppen und anschließend Fisch-Tacos und Izakayas Platz), wohingegen ein Trend wie Espresso dauerhaft in meine Ernährungsgewohnheiten eingegangen ist.

Ich habe außerdem stark aufgebauschte Modeerscheinungen genauso schnell wieder verschwinden sehen, wie sie gekommen waren, gleich einem bisschen Schnee, der auf den Boden fällt. Als ich 1993 den Superbowl XXVII anschaute, war ich – wie Millionen anderer Menschen – verzaubert von der Werbung für Crystal Pepsi, die in der Halbzeitpause lief. Der Werbeslogan hatte die zum New Age passende Botschaft »Right now, the future is ahead of you« (»Die Zukunft liegt direkt vor dir«), die zur Melodie von Van Halens Song »Right Now« präsentiert wurde. Auf einmal brachten sämtliche Brausehersteller klare Getränke auf den Markt, weil sie unbedingt Teil des »transparenten Moments« sein wollten. Ich erinnere mich an eine Mittagspause in der Highschool, in der ich mit einigen Freunden zu einem Lebensmittelgeschäft in der Nähe ging, wo wir uns tatsächlich in einer riesigen Schlange anstellten, um unsere erste Flasche Crystal Pepsi zu kaufen. Wir eilten zu einem nahegelegenen Park, setzten uns im Kreis zusammen und öffneten die Flasche, reichten sie wie Landstreicher an einem Lagerfeuer immer weiter. Doch von einer neuen Zeitrechnung der durchsichtigen Erfrischungsgetränke war nichts zu spüren, stattdessen schmeckte mein erster, lang erwarteter Schluck Crystal Pepsi bloß nach ordinärem Zuckerwasser.

Wo ich heutzutage auch hinschaue, sehe ich Nahrungsmitteltrends, die schneller aufkommen und sich rascher verbreiten als je zuvor. Früher waren sie wenigen reichen Feinschmeckern vorbehalten, heutzutage bilden sie einen wichtigen Teil der Populärkultur. Neuigkeiten, Rezensionen und Top-Ten-Listen zu Nahrungsmitteltrends werden von den Medien wiedergegeben und immer und immer wieder wiederholt. Wir erleben derzeit eine Goldgräberstimmung bei Lebensmitteltrends, indem wir uns statt mit Spitzhacken und Dynamit eher mit Schöpfkellen und Kochtöpfen ausrüsten. Bei jedem neuen Trend, den ich in den letzten Jahren beobachtete, fragte ich mich nach der Funktionsweise dieses ganzen Ökosystems. Warum tauchten gewisse Produkte auf einmal auf Speisekarten auf (Brathähnchen, Schweinebauch, Bourbon), wohingegen andere, beispielsweise Panini, scheinbar verschwanden, nachdem sie Jahre zuvor Trends gesetzt hatten?

Eines Tages hatte ich Lust auf Fisch-Tacos und konnte lediglich ein einziges Restaurant in Toronto finden, das sie auf der Karte hatte. Ein Jahr darauf wimmelte es in der ganzen Stadt davon, angefangen mit ambitionierten Fisch-Taquerias, die über Nacht auftauchten, bis hin zu wirklich schlechten Fisch-Tacos in Pubs. Wie war das passiert? Ich fragte mich, warum mein Vater auf einmal zu jedem Essen Granatapfelkerne zu sich nahm und warum die beste Freundin meiner Frau 30 Dollar für eine Foodtruck-Veranstaltung ausgab, bei der aus Cateringbussen verschiedene Speisen verkauft wurden. Dafür musste sie sich eine Stunde lang für den Einlass anstellen und eine weitere Stunde auf ein Hummer-Sandwich warten, das dann aber ausverkauft war, als sie an der Reihe war. Währenddessen fragte sich der Verkäufer von sri-lankischen Samosas knapp vier Meter weiter, warum niemand seine Waren erstehen wollte. Warum war ein Lebensmittel beliebter als ein anderes? Sowohl das Hummer-Sandwich als auch die Samosas waren lecker, und beide kosteten ungefähr das Gleiche – warum also war die Nachfrage so unterschiedlich?

Wodurch wird eine Ernährungsweise erst als gesund angepriesen und ist eine Woche später schon wieder als ungesund verschrien? Aus welchem Grund verlangt alle Welt plötzlich nach Hamburgern? Nur weil ein paar Blogger eine »Burger Week« ausgerufen haben? Und denken wir tatsächlich, dass man alles mit Bacon essen muss?

Im schlimmsten Fall bemerken Sie nach dem fünften mittelmäßigen Fisch-Taco innerhalb einer Woche, dass Lebensmitteltrends erbarmungslos, schal und ermüdend sein können. Warum müssen Nahrungsmittel in Mode sein? Warum können sie nicht um ihrer selbst willen gut schmecken? Ich persönlich möchte oft einfach nur einen Grillkäse und meine Ruhe haben. Keinen »traditionell hergestellten« gereiften Käse, wohlgemerkt, auf Brot aus einer alten Getreidesorte. Nur Käse. Und Brot.

Natürlich weiß ich, dass meine Beschwerden vergeblich sind. Solange wir nicht alle in den Wäldern unsere Nahrung suchen, ist es unvermeidlich, dass Lebensmitteltrends unsere Ernährung beeinflussen (und in der Tat ist die Futtersuche in der Wildnis bei gegenwärtigen Köchen schwer in Mode). Außerdem bin ich daran genauso schuld wie jeder andere. Ich meckere zwar über die Invasion von Ramen-Bars oder die griechische Übernahme des Joghurtregals, stelle mich aber gleichzeitig direkt für eine schöne Schale spiralförmiger Ramen-Nudeln in kräftiger Brühe an und habe seit 2008 – nachdem ich einen Becher der Marke Fage probiert hatte – nur noch griechischen Joghurt gekauft. Wirklich keinen anderen mehr.

Wenn Lebensmitteltrends unsere Gedanken über das Was, Wo, Wenn, Wie und sogar Warum des Essens bestimmen, dann muss an ihnen doch etwas dran sein. Ich wollte herausfinden, woher diese Trends stammen und was ihnen so große Macht über unser tägliches Leben verleiht. Wo fangen sie überhaupt an, und wer sind die »Tastemakers«, die »Geschmacks-Scouts«, die hinter allem stecken und die eine Idee haben, sie in die Tat umsetzen und unsere Essgewohnheiten verändern? (Als »Tastemaker« oder »Geschmacks-Scout« wird in diesem Buch jeder mit wirtschaftlichem oder kulturellem Einfluss bezeichnet, der Lebensmitteltrends erschafft und beeinflusst.) Was haben unterschiedliche Trends gemeinsam? Inwiefern ist die Strömung, die ein Bauer ins Leben rief, anders als die, die sich mit einem Koch oder einem Diätguru schmücken kann, und an welcher Stelle überschneiden sie sich? Außerdem interessierte mich, wer die Menschen und treibenden Kräfte in der Lebensmittelbranche sind, die ein Nahrungsmittel auswählen und es zum weitverbreiteten Trend machen. Wer verfolgt Trends zurück und sagt sie vorher? Wer hat die Fähigkeit, ein Lebensmittel als ein populärkulturelles Ereignis zu vermarkten? Wo stoßen die Geschmacks-Scouts auf diese Nahrungsmittel und machen sie bekannter? Und schließlich wollte ich einfach nur verstehen, aus welchem Grund Lebensmitteltrends bedeutsam sind. Welche ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Auswirkungen haben sie? Sind diese Strömungen mehr als eine bloße Entschuldigung dafür, mehr von etwas zu essen und weniger von etwas anderem? Was passiert mit Trends, die aus der Mode gekommen sind? Hinterlassen sie etwas oder verschwinden sie einfach, wie das Fondue-Set, das im Keller meiner Eltern verstaubt?

Und zu guter Letzt wollte ich meine eigene komplexe Beziehung zu Lebensmitteln verstehen. Bestehen diese Tendenzen, die uns das Essen versalzen, wirklich bloß aus vergänglichen Modeerscheinungen, sind sie das Produkt aggressiven Marketings und das Ergebnis von schamloser Nachahmung? Oder haben die Trends etwa einen guten Einfluss, stehen sie für Aufgeschlossenheit und kulturelle Chancen, die unser Verständnis von Essen, Kochen und Anpflanzen verändern?

Kann ich meine Vorurteile über Bord werfen, meine Gefühle außen vor lassen und mir noch einmal Cupcakes in den Mund stopfen?

TEIL I

Vier verschiedene Trendarten

Der kulturelle Trend

SEX-APPEAL

Die ersten Kochbücher, die sich mit Cupcakes (oder eher »cup cakes«, also Kuchen, die in Tassen gebacken werden) beschäftigen, gab es Berichten zufolge bereits Ende des 18. Jahrhunderts, aber wahrscheinlich tauchten die kleinen Küchlein in irgendeiner Form etwa zur gleichen Zeit auf wie, nun ja – große Kuchen. Auf der Internetseite foodtimeline.org, einer Online-Quelle für Lebensmittelgeschichte, werden die Süßigkeiten »Cupcakes«, »Vienna cakes«, »Queen cakes«, »fairy cakes« und »Charlotte Russe« genannt, wobei es sich um einfaches, mit Sahne überzogenes Biskuitgebäck handelte, das in einem Karton verpackt wurde. Im 20. Jahrhundert fanden Cupcakes zu ihrer aktuellen Form; Grund dafür waren Innovationen im Bereich der Lebensmittelverarbeitung, die abgepackte Backmischungen und Glasuren in vielen verschiedenen Farben ermöglichten. Einige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkrieges brachte das Unternehmen Hostess in Kunststoff verpackte Schokolade-Cupcakes mit der charakteristischen gekringelten Linie aus Zuckerguss auf den Markt, und das Zeitalter der Cupcakes hatte offiziell begonnen. Hostess verkaufte die Küchlein in Lebensmittelgeschäften überall in den Vereinigten Staaten. Betty-Crocker- und Duncan-Hines-Backmischungen folgten, gemeinsam mit dem Easy-Bake-Oven, einem funktionsfähigen Spielzeugherd, und Backen wurde so einfach, dass Cupcakes häufig die ersten selbstgemachten Speisen von Kindern waren.

Für den Großteil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Cupcakes ein fester Bestandteil im Angebot nordamerikanischer Bäckereien, zusammen mit Cookies, Brownies und anderen Naschereien. Man konnte sie in den Geschmacksrichtungen Vanille und Schokolade kaufen, und sie waren auch mit Glasuren in diesen beiden Aromen überzogen. Allerdings machte der Überzug, der aus Buttercreme, Ganache oder einer verfeinerten Variante bestehen konnte, kaum mehr als 20 Prozent des ganzen Kuchens aus. Häufig wurden die Küchlein mit Zuckerstreuseln versehen, entweder schokolade- oder regenbogenfarben, manchmal wurden sie mit silbrig glänzenden Zuckerbällchen verziert, sogenannten Dragees, die Diamantbohrern gleich die Backenzähne durchdringen und rechtlich von der Food and Drug Administration, der behördlichen Lebensmittelüberwachungs- und -zulassungsbehörde der USA, als nicht essbar eingestuft sind.

Während der 1970er und 1980er waren Muffins und nicht Cupcakes die Stars in den Bäckereien. Das lag an dem Trend der ballaststoffreichen Ernährung, in dessen Rahmen man an die heilsame Wirkung dieser Nahrungsmittel bei Herzkrankheiten und anderen Leiden glaubte. Kleie-Muffins gehörten zusammen mit ihren treuen Begleitern Blaubeer-, Bananen-, Möhren- und Chocolate-Chips-Muffins zum Repertoire jedes einfachen Restaurants und Coffeeshops. Es gab zuckerfreie Muffins und tiefgefrorene Muffins, Miniatur-Muffins und riesige Muffins, Muffin-Backmischungen und Muffin-Franchises, darunter auch meinen persönlichen Liebling »mmmuffins«, eine Bäckereikette aus Toronto, wo der knusprige obere Teil des Muffins so groß war wie ein Zuchtchampignon. Einfach jede vernünftige Bäckerei war mit dem Muffin-Fieber infiziert, auch Ann Warren in New York City bildete da keine Ausnahme.

»Eigentlich fingen wir mit hausgemachten Donuts an«, erinnerte sich Warren, »aber erst mit der Muffin-Welle hatten wir 1987 Erfolg. Muffins waren wirklich groß, das meine ich ganz wörtlich. Die Kunden waren ganz vernarrt in sehr große Muffins.« Sie buk diese Muffins, um sie an andere Cafés und Restaurants zu verkaufen. Als aber ein Jahr später ein Ladenlokal in ihrer Wohngegend Chelsea frei wurde, dachten Warren und ihr Mann, dass der Direktverkauf für sie praktischer wäre. Sie boten Kaffee, Donuts, Muffins, Pies und Kuchen an, und weil nachmittags so viel Kuchenteig und zahllose leere Muffin-Förmchen übrig waren, buken sie auch Cupcakes. Sie nannten ihre Bäckerei »Cupcake Café«.

»Wir wollten eigentlich gar kein Cupcake Café sein«, sagte Warren am Telefon zwischen zwei Backschichten im Café. »Den Namen haben wir nur ausgewählt, weil uns die Verbindung von Cake, also Kuchen, und einer Tasse Kaffee gefiel« – und nicht, darauf bestand sie, weil sie auf Cupcakes festgefahren waren. Als den Kunden klar wurde, dass die meisten Muffins, selbst wenn ihnen Kleie und Rosinen beigemischt waren, dennoch enorm viel Butter enthielten, verblasste der Muffin-Trend recht schnell wieder. Deswegen füllte Warren ihre leeren Muffin-Förmchen nun eher mit Teig für Cupcakes, der nach ihren Berechnungen kalorienärmer war als ein einfacher Bagel mit Frischkäse.

Warrens Cupcakes waren herzerwärmende, feine Backwaren – saftiger Kuchenboden mit einer dünnen Glasur aus Ganache, verziert mit Blümchen aus Buttercreme –, die aber den Kuchenverkauf nicht nennenswert steigerten. Sie konnte sich über mangelnde Kundschaft zwar nicht beklagen, und einige kauften auch Cupcakes, die meisten wollten allerdings im »Cupcake Café« Kaffee trinken und andere Backwaren verzehren. Cupcakes waren zwar bei Kindern und für Geburtstagspartys beliebt, aber wie die meisten anderen Bäckereien verkaufte das Cupcake Café sie fast ausschließlich für diese Gelegenheiten. Die Schauspielerin Sarah Jessica Parker besuchte Anfang der 1990er-Jahre häufig das Café, weil sie in einem Broadway-Stück in der Nähe die Hauptrolle spielte. »Sie kam herein, saß mit meiner Tochter an einem Tisch im hinteren Bereich des Cafés und trank einen Kaffee«, erinnert sich Warren. Ob Parker damals auch einmal einen Cupcake bestellte, weiß sie nicht mehr so genau. Man kann sich Parker gut vorstellen, wie sie ihren Kaffee trinkt, eine Zeitung liest, Warren mit einem Blech voller frisch mit Zuckerguss verzierter Cupcakes an ihr vorbeigeht, und weder der einen noch der anderen klar ist, dass dieser Augenblick bedeutsam für einen zukünftigen Trend ist, dessen Geschmacks-Urheber unbekannt bleiben sollten.

Wie das Cupcake Café war auch die Magnolia Bakery anfangs nicht als besonders Cupcake-affin bekannt. Im Juli 1996 eröffneten Jennifer Appel, eine klinische Psychologin, und ihre Freundin von der Highschool, Alyssa Torey, die im familieneigenen Restaurantbetrieb arbeitete, ihre 65 Quadratmeter große Bäckerei im Retro-Look im West Village, weniger als drei Kilometer vom Cupcake Café entfernt. Als Gebäck hatten die beiden Frauen nur osteuropäisch angehauchte Gugelhupfe im Angebot. »Wir haben eher Riegel, Kuchenschnitten, Schnecken, Muffins und Ähnliches hergestellt«, erinnert sich Appel. Anfangs verlangten Kunden aus der Nachbarschaft nach Geburtstagskuchen und anderen Backwaren für besondere Gelegenheiten, auch wenn diese nicht auf der Karte standen. »Wir wurden gefragt, ob wir Geburtstagskuchen führen, und uns wurde klar, dass wir das irgendwie vergessen hatten«, sagte Appel. Torey hatte eine Schwäche für die Küche und die Backwaren aus dem Süden der USA, und sie wollte jenen lockeren, appetitlich glasierten Schichtkuchen in bunten Farben zu neuem Leben erwecken, der normalerweise im tiefsten Süden bei Mittagessen in der Kirche, Treffen zum Tee und in gutbürgerlichen Restaurants verspeist wurde. Allerdings hatten die ersten beiden bestellten Kuchen andere Größen – einer passte in eine Backform mit 22 Zentimetern, der andere in eine Form mit bloß 18 Zentimetern Durchmesser, und Torey hatte – ebenso wie Warren – große Mengen Teig übrig.

Sie ging zu einem Geschäft nebenan, kaufte eine Etagere für Cupcakes und schrieb damit Geschichte. »Wir gossen den Teig in die übriggebliebenen Muffin-Förmchen vom Frühstück«, erinnerte sich Torey. »Wir stellten aus dem Teig Dutzende zusätzliche Cupcakes her.« Jeder Kuchen, den sie buken, führte zu etlichen Cupcakes. Diese Cupcakes waren in herkömmlichen Geschmacksrichtungen wie Schokolade, Vanille und Red Velvet (besteht im Grunde aus rot eingefärbter Schokolade) erhältlich und hatten ein hübsches, aus der Tülle gespritztes Buttercremehäubchen in Pink, Lavendel oder babyblauen Pastelltönen als Verzierung. Die Kunstfertigkeit der Cremegebilde lag irgendwo zwischen bewusster Präzision und schlichter Unvollkommenheit. Die beiden verkauften die Cupcakes für einen Dollar und einen Quarter. »Die Gäste fanden sie wirklich toll. Deswegen haben wir sie dann gezielt hergestellt«, sagte Torey. Zum Jahresende war die Bäckerei weit über das Viertel hinaus bekannt. Weil die Cupcakes nach wie vor ein Nebenprodukt der großen Kuchen waren und die winzige Bäckerei nur über begrenztes Personal und damit begrenzte Arbeitskraft verfügte, war das Angebot klein, und die Küchlein bei Magnolia waren häufig schon vor Ladenschluss ausverkauft. »Die Kunden fragten nach den Cupcakes, und uns wurde klar, dass sie unser wichtigstes Produkt waren.«

Die Cupcakes von Magnolia wurden immer berühmter, erst in der direkten Nachbarschaft und dann auch im Rest von New York. »Die Kunden kamen ganz gezielt zu uns«, erzählte Apple. »Man kam von der Upper East Side zum West Village, um einen Cupcake zu essen, genauso, wie man einen längeren Weg zu seiner Lieblingspizza in Kauf nimmt.« Im Jahr 1997 reichte die Schlange zum ersten Mal auf den Gehsteig hinaus und bald sogar schon um den Block. Das Geschäft führte eine strikte Begrenzung von einem Dutzend Cupcakes pro Kunden ein, was manch einen in Rage versetzte, aber bei der Bewältigung der unablässigen Nachfrage half. Die Kunden bestanden nicht ausschließlich aus Kindern und deren Eltern; es handelte sich eher um Erwachsene – sowohl Singles als auch Verheiratete, älter und beruflich erfolgreich –, die keine ganze Kiste Cupcakes kauften, sondern eher eine einzige Köstlichkeit zum Mitnehmen, für die sie den Weg auf sich genommen hatten. Jedes Mal, wenn die Cupcakes ausverkauft waren (was die Schlange aufstöhnen ließ, weil man von außen die Küchlein nach und nach aus dem Schaufenster verschwinden sah), stiegen sie im Wert. Je rarer Cupcakes waren, desto mehr Menschen wollten sie haben.

Die Bäckerei Magnolia war Gegenstand einiger kleinerer Zeitungsberichte, aber die ersten Artikel erwähnten die Cupcakes nicht einmal. Einige Magazine, die in Flugzeugen ausgelegt werden, gaben Magnolia als Empfehlung für New-York-Besucher an, die Cupcakes wurden aber erst Anfang 1999 in der New York Times aufgeführt. Und auch hier widmete man ihnen nur einige Zeilen in einer Kurzgeschichte über das mögliche Wiederaufleben von Cupcakes; auch das Cupcake Café und einige andere Bäckereien fanden in dem Artikel Erwähnung. Dennoch war Magnolia bei den richtigen Leuten (aus der Medien-, Mode- und Kunstbranche) recht beliebt, sodass Torey und Appel 1998 vom Verlag Simon & Schuster ein Angebot für einen Buchvertrag erhielten. Als The Magnolia Bakery Cookbook schließlich im Herbst 1999 mit einer Fotografie von zwei sonnenüberfluteten normalgroßen Kuchen (ein Schokoladen- und ein Kokosnusskuchen) veröffentlicht wurde, hatte sich in der Bäckerei viel geändert.

Die Beziehung von Appel und Torey hatte unter dem stetigen Druck des Geschäfts und dem schnellen Erfolg gelitten, den die aufkommende Cupcake-Manie mit sich brachte. Sie setzten sich in der heißen, engen Küche zusammen und stritten über Erweiterungspläne mit einer Inbrunst, wie sie alten Freundinnen eigen ist, welche zusammen ein Geschäft eröffnen. Schließlich erreichten sie einen Punkt, an dem Appel nicht mehr konnte; 1999 verkaufte sie ihren Anteil der Magnolia Bakery an Torey. Kurz darauf eröffnete Appel den Buttercup Bake Shop im Norden von Manhattan. Dieses Geschäft war auf bunte Backwaren spezialisiert, die gute Laune machten und die Apple auch bei Magnolia verkauft hatte, und es verfügte über einen großen Cupcake-Bestand. Die Rivalität zwischen den beiden Bäckereien fachte die wachsende Cupcake-Besessenheit nur noch mehr an, die gerade zu einem ausgewachsenen nationalen kulturellen Lebensmitteltrend wurde und auf der ganzen Welt für Aufregung sorgen sollte.

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Sex and the City, Staffel III, Folge V: »Hindernislauf«.

Ausstrahlungsdatum: 9. Juli 2000.

Miranda und Carrie sitzen auf einer Bank vor der Magnolia Bakery. Miranda trägt flache Schuhe, blaue Hosen und einen roten Trenchcoat in Übergröße, der zu ihrer Haarfarbe und ihrem Lippenstift passt. Carrie trägt einen dunklen Blazer, ein graues Leinenkleid, einen Seidenschal und kniehohe Wollsocken mit Schuhen mit Blockabsätzen. Miranda führt eine Kaffeetasse an ihre Lippen, während Carrie einen Vanille-Cupcake mit leuchtend pinker Glasur auspackt.

Carrie: Ich bin verknallt!

Miranda: Ja?

Carrie: Ja!

Miranda: Gut. Richtig verknallt warst du lange nicht mehr. Nicht seit Big.

Carrie: Da war ich nicht verknallt. Ich hatte einen Knall.

Kamera geht nah auf Carrie, während sie beherzt in den Cupcake beißt. Schnitt zu einer Totale, in der sie sich Krümel und Glasur aus den Mundwinkeln leckt.

Carrie: Sein Name ist Aiden, und ich persönlich finde ihn wahnsinnig süß. Ende der Szene.

Als ich endlich die berühmt-berüchtigte »Cupcake-Szene« aus Sex and the City anschaute, war ich doch ziemlich erstaunt. Zunächst einmal ist sie mit 20 Sekunden unglaublich kurz, sie macht nur etwa ein Neunzigstel der ganzen Folge aus. In dieser Zeit bekomme ich den Cupcake kaum aus seinem Papierförmchen und schon gar nicht in den Mund, ohne daran zu ersticken. Zweitens wird Carries Cupcake überhaupt nicht erwähnt. Kein »Toller Cupcake«, kein »mmmmm«; Männer sind das alleinige Gesprächsthema. Drittens, außer der ersten Sekunde der Szene, in der das Magnolia-Schild im Bild ist, wird die Bäckerei weder erwähnt noch der Name erneut gezeigt. Und zu guter Letzt ist es die einzige Folge in der Geschichte der Serie, in der irgendwer – von der Hauptdarstellerin abwärts – einen Cupcake verspeist. Das ist erstaunlich, denn die anderen Trends, die Sex and the City ins Leben rief, wie Cosmopolitan Martinis, hochhackige Schuhe von Manolo Blahnik oder ein sogenannter Rabbit-Vibrator, waren entweder feste Bestandteile der Sendung oder wichtig für den Plot einer Episode.

Wie wurde dann dieser kurze Fernsehmoment zum sprichwörtlichen Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Cupcake-Sturm auf der Welt entfachte? Wie löste dieser eine Biss den Nahrungsmitteltrend unserer Zeit aus?

Georgette Blau glaubt, die Antwort zu kennen. 1999 rief sie »On Location Tours« ins Leben, ab 2001 bot das Unternehmen Touren an, die an bekannte Orte aus Sex and the City führten; das war ein Jahr nach der Ausstrahlung der Cupcake-Szene. »Wir setzten Sex and the City mit Cupcakes gleich«, sagte Blau in ihrem Büro in Manhattan, in dem alle Wände komplett mit Zeitungsartikeln aus der ganzen Welt über die Tour beklebt waren. Vor der Tour war die Cupcake-Szene nur ein leuchtender Punkt auf dem Radar, der ausschließlich Fans etwas sagte, die diese Episode gesehen hatten, die in New York lebten und die Magnolia in diesen ersten Sekunden der Folge erkannten. »Niemand bemerkte die Szene. Aber dann habe ich mit der Tour angefangen, und Cupcakes und die Show wurden zu Synonymen. Die Tour reduzierte die Show auf ihre Schlüsselelemente«, sagte sie. »Es geht um Mode, Essen, Trinken und Sex.« In anderen Worten: Manolos, Cupcakes, Cosmopolitan Martinis und Rabbit-Vibratoren, welche alle auf die eine oder andere Weise Teil der Tour sind.

Appel, die noch nie Sex and the City gesehen hatte, bemerkte recht bald einen Verkaufsanstieg in ihrem Buttercup Bake Shop, der nach der Ausstrahlung der Folge bis zur Rezession von 2008 jährlich zweistellige Wachstumswerte vorweisen konnte. Außerdem änderte sich die Demografie der Cupcake-Käufer drastisch: »Cupcakes wurden nun nicht mehr von familienorientierten Kunden, sondern von Touristen aus Kansas gekauft, die sagten: ›Ich muss unbedingt zu Magnolia‹«, erklärte sie und bemerkte, dass ihre Durchschnittskundin nun eine 27-jährige Frau mit Kleidergröße 34 war (obwohl sie es immer noch gut fand, wenn große, kräftige Männer in die Bäckerei kamen und »Ich hätte gerne einen pinken Cupcake« sagten).

Anfangs kaufte die Sex and the City-Hotspots-Tour die Cupcakes noch bei Magnolia, direkt gegenüber des Zwischenstopps am West Village. Dies hörte aber nach einigen Wochen auf, als die Mengenbeschränkungen bei Magnolia Querelen bei der Tour verursachten und die Passagiere aus dem Bus die in der Schlange wartende Kundschaft irritierten. Blau wechselte kurz darauf zum Buttercup Bake Shop, und die Cupcakes fuhren bis zum West Village im Bus mit, der dann zwar bei Magnolia hielt, wo den Gästen aber die Cupcakes der Konkurrenz kredenzt wurden. Neuerdings werden die Cupcakes bei der Tour – darunter auch die von mir verspeisten – bei Billy’s eingekauft, einer Bäckerei, die von einem früheren Angestellten von Magnolia betrieben wird.

Auf diese Weise verbreitete sich das Cupcake-Phänomen Schritt für Schritt, von einer New Yorker Bäckerei zur nächsten, weil Bäcker und Kassierer sowie einfallsreiche Ladeninhaber von Magnolia und den Ablegern den Erfolg um sich herum sahen, sich die Schlangen anschauten, den Rückstand bei den Bestellungen registrierten, die Kassen mit den abertausenden Dollars wahrnahmen. Ambitionierten Gangstern gleich fanden sie ihr Stück vom Kuchen zu gering und wollten selbst ihr Glück versuchen. Jeder neue Shop wollte noch größer, besser, niedlicher, pinker, kunstvoller und genauer auf das starke Image von Singlefrauen ausgerichtet sein, welchem der Cupcake Glanz verliehen hatte. Jede neue »Cupcakery« (dieser Begriff kam schnell auf), die in New York eröffnete, wollte sich unverwechselbar machen, sei es mit Mini-Cupcakes, übergroßen Cupcakes, gefüllten Cupcakes, gefrorenen Cupcakes, salzigen Cupcakes, Cupcakes mit Alkoholfüllung oder individuellen Motiv-Cupcakes mit dem eigenen Gesicht auf der Glasur. Jede neue Metamorphose des Trends löste eine Welle an Begeisterung und Aufmerksamkeit durch die Medien aus, ein kulturelles Lagerfeuer, das von Cupcakes angeheizt wurde.

Jeder war dabei – mit Ausnahme des Cupcake Café von Ann Warren, an dem der Siegeszug des Cupcakes völlig vorbeiging. »Magnolia und andere machten sich unsere Idee zu eigen und flippten völlig aus«, erzählte Warren. »Sie verwendeten unsere Deko-Ideen und drehten damit durch. Was soll ich dazu noch sagen? Wir können noch nicht einmal unsere Hypothek zurückzahlen! Ich finde die ganze Berichterstattung in den Medien total verblüffend und völlig lächerlich. Ein Cupcake ist ein Cupcake. Auch ein wirklich guter Cupcake ist nur ein Cupcake. Ich finde das irgendwie unwirklich. Wenn ich das am Anfang schon gewusst hätte, wäre ich vielleicht in eine andere Richtung gegangen. Ich verstehe das nicht und ich weiß, dass es von den Medien gesteuert ist, aber um ehrlich zu sein, finde ich es ein wenig krank und tragisch, dass etwas, das nicht wirklich gut für einen ist, mit Jugendlichkeit, einem sexy Aussehen und High-Heels in Verbindung gebracht wird.«

Warum ausgerechnet Cupcakes?

Diese Frage hält Warren ebenso wie Muffin-Bäcker, Lebensmittel-Journalisten und Mehllieferanten nachts wach. Sogar über ein Jahrzehnt später verblüfft der Cupcake-Trend sie alle noch. Wie wurde aus diesem Kinderkuchen, diesem ganz einfachen Gebäck, das schon seit über einem Jahrhundert existiert, auf einmal in so kurzer Zeit ein mit pinkem Zuckerguss überzogener Kassenschlager, und warum passierte es gerade zu jener Zeit?

Man sollte sich ins Gedächtnis rufen, dass der Cupcake seine erfolgreichste Periode in New York nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verzeichnen konnte, welche – aus geographischer Sicht – nicht weit von Magnolia und dem Epizentrum der Cupcake-Besessenheit entfernt stattfanden. »Der 11. September löste ein Bedürfnis nach Sicherheit und Freude sowie das Herbeisehnen einer einfacheren, leichteren, besseren Zeit aus«, erklärt Christopher Noxon, ein Freund und Journalist, der in seinem 2006 erschienenen Buch Rejuvenile: Kickball, Cartoons, Cupcakes, and the Reinvention of the American Grown-up der Frage nachgeht, warum Amerikaner selbst noch im Erwachsenenalter diese Begeisterung für Produkte aus ihrer Kindheit hegen, also für Turnschuhe von Converse, Cartoons und eben Cupcakes. »Cupcakes wurden ein wesentlicher Bestandteil des verkitschten, hippen Nostalgiebooms der späten Neunziger- und Nullerjahre. Partys in Nachtclubs mit Piñatas, dem Spiel ›Steck dem Esel den Schwanz an‹ und Cupcakes. Wie vieles andere auch wurden diese Dinge ganz schnell zur Norm. Sie wurden vom auffälligen Extra mit der Aussage ›Schau mal, ich bin ein junger Freigeist‹ zum gängigen Accessoire. Ein Cupcake führt ganz einfach und ohne Umwege zu kindlichem Vergnügen. Er ist eine Art Einstiegsdroge. Ein völlig zugeknöpfter, unattraktiver, steifer Stoffel, der einen Cupcake mit Grüner-Tee-Aroma kauft, wirkt direkt viel kauziger«, sagte Noxon. Praktisch betrachtet kann man Cupcakes auch einfach nur essen. »Sie schmecken einfach gut. Ein Cupcake ist ein netter Kuchen! Was soll denn daran falsch sein? Man kann die ganze Sache ironisch betrachten, für einen Zehnjährigen ist der Cupcake aber nur ein Kuchen«, schloss Noxon.

Für Dr. Jean Retzinger, eine ehemalige Bäckerin, die nun an der University of California in Berkeley Medienwissenschaften unterrichtet, hat die ganze Angelegenheit noch mehr Substanz. Sie denkt, dass Cupcakes aus verschiedenen praktischen Gründen zum kulturellen Nahrungsmitteltrend wurden. Die kleinen Kuchen waren allen Amerikanern bekannt, anders als beispielsweise französische Macarons (die eine Erläuterung und Übersetzung erforderten). Sie waren leicht zugänglich – selbst wenn die eigene Stadt nicht über eine Cupcake-Bäckerei verfügte, konnte man die Zutaten in jedem Supermarkt kaufen –, und die Küchlein waren persönliche Luxusartikel, die eine Art reuelosen (oder zumindest wenig schuldbeladenen) Genuss ermöglichten. Mehr als alles andere waren sie ein wandlungsfähiges Symbol, in das man sämtliche Wünsche hineininterpretieren konnte. »Lebensmittel sind so viel mehr als die aufgenommenen Kalorien«, sagte Retzinger. »Ich glaube, der Cupcake ist eine Art Wahrzeichen der Figuren von Sex and the City. Wenn Sie sich mit den Figuren und ihrer Lebensweise identifizieren, dient der Cupcake als Türöffner in diese Welt.« Eine Hauptaussage der Serie ist laut Retzinger die Möglichkeit, dass sich eine Frau Unabhängigkeit und Einfluss kaufen kann. Cupcakes waren eine »gegenderte« Delikatesse. Ein essbares, leicht zugängliches Symbol für die moderne Frau, das zudem – anders als das Paar Schuhe für 700 Dollar – erschwinglich war.

Peter Naccarato, Englischprofessor am Marymount Manhattan College in New York und Autor des Buchs Culinary Capital, stimmt dieser These zu: »Sex and the City hob Cupcakes auf eine völlig neue Ebene.« Sex and the City machte aus dem vormals nur örtlich begrenzten kulinarischen Phänomen, das hauptsächlich lebensmittelbesessenen New Yorkern bekannt war, einen nationalen, von Medien ausgelösten Trend, der sich stark in der Popkultur, der Mode und dem Ansehen, mit dem die Serie in Verbindung gebracht wurde, niederschlug. Die Show stellte die Weichen für neue Geschmackstrends und beglückte das Lebensmittel mit ihrem eigenen sozialen Kapital. Cupcakes wurden cool, im Gegensatz zu Chocolate-Chip-Cookies oder Brownies; die schokoladigen Backwaren waren einfach nicht mehr sexy. Wenn man bei einer Firmenfeier oder Hochzeit Cupcakes anstelle von in Scheiben geschnittenem Kuchen anbot, zeigte man damit eine gewisse Klasse und Eleganz, ähnlich wie bei einer Entscheidung für die ›richtige‹ Marke. »Beim Cupcake wurde die Möglichkeit ganz hervorragend ausgeschöpft, aus einem kleinen, örtlich begrenzten Phänomen eine nationale Sensation zu machen. Solche Macht haben die Medien«, sagte Naccarato.

Cupcakes waren von Beginn an ein stark mediengeprägter Trend, vor allem, weil ihr Ursprung in New York City lag. Was sich in der Stadt abspielt, findet weltweit Niederschlag in den Medien, und im Big Apple tummeln sich Tausende Journalisten und Personen aus dem Medienbetrieb aus der ganzen Welt, die alle dieselben Kulturgeschichten darüber erzählen, warum Trends dort entstehen und nicht beispielsweise in Wichita. Die Berichterstattung über Cupcakes fing mit kleinen Artikeln in der örtlichen Presse an, in denen Magnolias Berühmtheit erwähnt wurde. Andere lokale Schreiber und Veröffentlichungen griffen dieses Thema auf und schrieben ihre eigene Fassung der Geschichte, woraufhin wiederum größere Magazine auf nationaler Ebene darüber berichteten. So entwickelte sich eine Eigendynamik, die in Sachen Werbung einen mächtigen Schneeballeffekt auslöste.

Geschichten über Cupcakes waren nichts Neues, diesmal war das Ausmaß aber anders. Weil zahlreiche Redakteure von Modezeitschriften in der Nähe von Magnolia und Buttercup lebten und Sex and the City schauten, waren Modezeitschriften besonders starke Fürsprecher von Cupcakes; zumeist erwähnten sie das Gebäck in Form von kurzen Artikeln über »angesagte Neuigkeiten«. »Ich erinnere mich an die Doppelseiten voller Cupcakes in dem McCall’s-Kochbuch meiner Mom, damals in den 1970er-Jahren«, erzählte James Oseland, Chefredakteur der Zeitschrift Saveurs und Lebensmitteljournalist seit den frühen 1990ern. »In meiner Kindheit in den 60er- und 70er-Jahren handelte jeder zweite Bericht in Frauenzeitschriften oder in Zeitungen, die sich mit Kochen und Backen beschäftigten, von Cupcakes.« Doch mit dem wachsenden Trend in New York bemerkte Oseland, dass alle anderen Veröffentlichungen im Lebensmittelbereich ihre eigenen Berichte über Cupcakes herausbrachten, was er auf eine »gemeinschaftliche Schlafkrankheit« zurückführte. »Diese Artikel verkaufen sich gut und sind schnell gemacht. Cupcakes sind ein Evergreen und lassen sich einfach überall unterbringen. Cupcakes sind nicht saisongebunden und gefallen vor allem Leuten, die bestimmte Lebensmittelmedien konsumieren. Es ist möglich, die Geschichte des Cupcakes immer wieder anders zu erzählen. Man kann die Version von Barbies Märchenschloss nehmen, oder auch eine Art ›Maschinensturm‹-Version, und man kann die Story visuell erzählen und so die Leser ansprechen. Man kann diese schönen, großartigen, attraktiven und leicht selbst herzustellenden kleinen Kuchen produzieren und die Seiten damit füllen, immer wieder und wieder.«

Für die Medien wurden Cupcakes zu den perfekten Chamäleons: ein wandelbarer Teig aus Eiern, Mehl, Zucker und Butter, der jede Story veredelte. Welches andere Lebensmittel war so vielseitig, dass es sowohl als preiswert und verspielt, aber auch als dekadent und luxuriös wahrgenommen wurde, je nach der Glasur und Art der Streuseln? Gab es andere Backwaren, die in einer Modezeitschrift für Frauen als Symbol für den Genuss einer sexy Singledame stehen konnten und gleichzeitig im Elternmagazin nebenan im Zeitungsständer als niedliches Accessoire für eine Geburtstagsfeier auftauchen, ohne dass die beiden Darstellungen in irgendeiner Weise miteinander im Widerspruch standen?

Karen Tack, Foodstylistin aus Connecticut und erfahren im Dekorieren von Cupcakes, unter anderem für Zeitschriften wie Good Housekeeping, Women’s Circle und Family Fun