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Evelyn Grill

Vanitas
oder
Hofstätters Begierden

Roman

Residenz

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© 2005 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:
978-3-7017-4381-0

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1405-3

Ja alle Welt hasset die Warheit
wenn sie einen trifft.
Martin Luther,
Fabeln aus dem Esopo,
Vorrede (1530)

Lines from Endymion
some shape of beauty
moves away the pall
from our dark spirits.
John Keats

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Wieder stand er mit dem Gesicht gegen das Glas wie mit dem Rücken zur Wand. Er hörte Gepolter, lallendes Sprechen, Stöhnen, einen dumpfen Aufschlag. Hofstätter drehte sich nicht um, er sagte es sich wieder, er hätte keinen Sohn in die Welt setzen sollen. Die Natur hätte es nicht zulassen dürfen. Aber was vermochte die Natur? Gegenüber der Kunst war sie machtlos. Davon war er überzeugt, seit er in Wien zuerst den Alten Meistern und dann Olga Diotima in die Hände gefallen war. Ihre Erscheinung hatte ihn an Tizians Zigeunermadonna erinnert, die ihn mit ihren sanften und doch glühenden Augen bezaubert hatte, und er hatte sich an die Stelle des nackten Knaben gewünscht, den sie in Händen hielt, eigentlich vor sich aufstellte, dem Beschauer geradezu darbot. Obwohl der Blick der Madonna auf dem Bild träumerisch in die Ferne ging, fühlte er sich doch von ihm getroffen, und es drängte ihn, sich täglich im Kunsthistorischen Museum diesem Blick zu stellen. Damals war er noch häufig im Café Imperial anzutreffen, in dem man ihn beim Namen nannte, über seine Vorlieben Bescheid wußte und ihn aufmerksam bediente. Er schätzte die Diskretion des Personals, er genoß den Duft des Kaffees, die Geräusche beim Auseinanderfalten der Zeitung, das leise Klacken der Kaffeetassen, er vertiefte sich in die in- und ausländische Presse und war für kurze Zeit mit sich und Österreich im Einklang. Hier im Kaffeehaus wurde es ihm wieder mit einer sentimental gefärbten Freude bewußt, daß er noch immer österreichischer Staatsbürger war, der freilich längst in Deutschland lebte. Nur in diesem entspannten, geistig halb präsenten Zustand konnte es dem eleganten 30jährigen Juristen, der sich im Grunde dem nihil admirari des Dandys verschrieben hatte, geschehen, daß er dem folgenschwersten Irrtum seines Lebens erlag.

Es klirrte, Scherben. Er hörte Olga rufen: Mario, Liebling, nicht doch!

Mario war ein schöner Junge. Schon als Baby war er einzigartig. Als er geboren wurde, sahen alle in ihm seinen Sohn. Aber Hofstätter entschied für sich, kein Vater, nur der unfreiwillige Samenspender zu sein. Streng juristisch gesehen hätte er die Kindesmutter sogar des Samenraubs bezichtigen können.

Nun rief sie ihn. Alois! Er hieß nicht mehr Alois. Niemand sonst nannte ihn heute noch Alois. Schweine-, Kuh- und Schafhirten, Dorftrottel hießen Alois in Bayern und in Österreich, oder Söhne von Volksschullehrern. Er kannte sich da aus. Alois ist ein ordentlicher Name, du kannst ihn dir mit Ypsilon geschrieben vorstellen, dann denkt man sich einen geistlichen Würdenträger, einen Erzbischof vielleicht, so höhnte sie früher. Alois war sein Fensterstehname, damit zeigte ihm Olga ihre Geringschätzung. Sie verachtete ihn, seit er ihr zum Opfer gefallen war, und er haßte sie, weil Verachtung nur mit Haß beantwortet werden konnte.

Alois! Olgas geschulte Stimme, die einschmeichelnd und samten klingen konnte, schrillte, wenn sie ihn rief.

Er rührte sich nicht, denn er nannte sich Louis. Dr. Louis A. Hofstätter, das stand in seinem Paß.

Was war das, ein Sohn? Ein Wunder behauptete man. Olga Diotima war immerhin schon fünfundvierzig, als sie Mutter wurde. Man gratulierte, man feuerte Böllerschüsse ab. Louis A. Hofstätter hatte einen Nachfolger bekommen, der hatte die Tür zur Unsterblichkeit für ihn aufgestoßen; am Tage seines Ablebens würde der Sohn im Namen seines Vaters, des Spermendonators, weiterleben; das, Hofstätter mußte es zugeben, war ihm nicht gleichgültig. Jetzt – in seinem Rücken krümmte sich ein Wrack und stellte alles in Frage. Er hörte Olga telefonieren. Er drehte sich um.

Im hohen Spiegel mit dem vergoldeten, klassizistischen Rahmen sah er ihren breiten Rücken, ihre ganze raupenartige Gestalt. Sie hatte den Telefonhörer am Ohr, mit dem anderen Arm gestikulierte sie. Mario lag rücklings, alleingelassen und leblos auf dem Pankok-Sofa, das Hofstätter vor Jahren aus dem Nachlaß eines Münchner Chefarztes ersteigert hatte und eines der wenigen Stücke war, die vor Olgas Augen Gnade und Aufnahme in ihre Wohnung gefunden hatten. Marios Gesicht war wächsern, er war schön wie ein gefallener Engel. Botticelli fiel Hofstätter ein, aber auch der süß-sinnliche Rossetti, für den er noch immer eine Schwäche hatte. Das Hemd aus Satin, das um die Brust seines Nachkömmlings sanfte Wellen schlug, erinnerte ihn an Watteaus Gilles. Auf der engen Hüfthose aus glänzendem Stretchsamt entdeckte der Betrachter Flecken mit ausgefransten Rändern, die an den Grenzen der Farbfläche faserig ineinandergriffen und eine diffus strahlende Atmosphäre erzeugten. Obwohl er wußte, daß es sich bei den Flecken wahrscheinlich um verschütteten Whisky oder Wein handelte, war es ihm, als hätte er eine Arbeit von Marc Rothko vor sich. Schon als er noch Kunstgeschichte studierte, hatte er sich angewöhnt, den Alltag durch die Kunst zu ästhetisieren. Wenn ihm eine Entsprechung des Alltäglichen in der Kunst gelang, hatte er das angenehme, wenn auch flüchtige Gefühl der Genugtuung eines Puzzle-Legers, der ein entsprechendes Teilchen für ein rätselhaftes Bild gefunden hatte, eine Empfindung, die sein Dasein augenblickshaft zu rechtfertigen schien.

Das eine Bein des Bewußtlosen ruhte ausgestreckt auf den Polstern, das andere baumelte abgewinkelt herunter. Sein schmaler Fuß im beigen Slipper berührte den weichen Teppichflor. Die Gucci-Hose saß straff. Im Licht der Morgenröte. Hofstätter fühlte sich an den Schlaf des Endymion erinnert.

Marios Hose war zu eng, sie machte seinen Unterleib nackt.

Endymion. Niemals würde Hofstätter Girodet-Triosons großformatiges Ölbild vergessen. Es zeigte den auf einem Leopardenfell wie hingegossen daliegenden Schläfer. Links daneben zog Eros ein paar Zweige beiseite, und die Mondgöttin bestrahlte den nackten Körper ihres Geliebten. Er verstand sehr gut, daß Selene, das liebestolle Nachtlicht, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß ihr angebeteter Erdling einmal alt werden und sterben müsse. Das Kunstwerk war Hofstätters Lieblingsbild gewesen, es hing jahrelang über dem Pankok-Sofa, auf dem nun Mario eine ähnliche Pose wie der dort dargestellte Endymion einnahm. Nun allerdings befand sich über dem Hingestreckten nicht mehr sein schöner, androgyner Jüngling, sondern die schauerliche Große Vanitas von Stoßkopff. Sie war kleiner als Der Schlaf des Endymion, den Olga bei Sotheby’s gegen seinen Willen, aber seinetwegen hatte versteigern lassen. Nun hing es im Louvre. Mit dem Preis, den es erzielt hatte, konnte Olga einen großen Teil der Anderkonten auffüllen, die er zur Begleichung seiner Spielschulden geplündert hatte. Die schmutzigen Ränder auf der weißen Tapete ließen Hofstätter den Verlust nicht vergessen.

Marios Gucci-Hose war ein Meisterstück.

Statt des unsterblich schönen Endymion mußte sich Hofstätter nun von dem berühmten Stilleben tagtäglich die Eitelkeit allen Tuns vor Augen führen lassen:

Kunst, Reichtum, Macht und Kühnheit stirbet

Die Welt und all ihr Tun verdirbet:

Ein Ewiges kommt nach dieser Zeit

Ihr Thoren, flieht die Eitelkeit.

Gucci ist doch der Michelangelo unter den Designern, dachte Hofstätter. Olga war noch am Telefon. In ihrer Stimme lag etwas Dringliches, und das nicht ohne Grund, denn hier wartete der durch eine Alkohol- oder Medikamentenvergiftung ohne Besinnung daliegende junge Mann auf ärztlichen Beistand. Hofstätter kniete sich vor das Sofa. Er beugte sich über die Samthose seines Sohnes.

Das Telefonat endete abrupt. Schon hatte er Olgas Gesicht ganz nah vor sich, ihre dunkel glänzenden Augen und darunter die schrumpeligen Tränensäcke, ihre, wie er fand, ganze greisenhafte Häßlichkeit. Er stellte sich das Gesicht seiner Frau in seinem grausamen Verfall von Lucian Freud gemalt vor. Er richtete sich auf und federte mit langen Schritten über den weichen Teppich wieder ans Fenster. Olga zog hinter ihm den schweren Vorhang zu. Das machte ein leises zischendes Geräusch. Schon kam das Rettungsauto. Schritte, Gesprochenes vernahm er gedämpft.

Jetzt sah er hinter den Hahnentürmen des Münsters den Tag heraufkommen, das Licht strich über das hohe Dach des Kirchenschiffs; er konnte nicht umhin, an Monets Kathedrale von Rouen im Sonnenlicht und bei Sonnenuntergang zu denken, die er im Musée d’Orsay hängen wußte, und, da er sich schon mit seinen Vorstellungen in Paris befand, auch an die Kristallüster im Ritz. Die allerdings erinnerten ihn daran, daß er für Olga und sich die Koffer packen mußte und seinen Smoking nicht vergessen durfte.

Auf dem Platz vor dem Haus wurde es lebendig, Türen wurden zugeschlagen, der Ambulanzwagen fuhr ab; er hörte das Folgetonhorn noch lange, als er das Blaulicht längst nicht mehr zucken sah, er schob den Vorhang zur Seite und trat ins Zimmer, es war leer. Er machte einige ausholende Schritte, weil der Raum ihn dazu einlud und der weiche Teppich; aus dem hohen Spiegel kam er sich entgegen. Er machte sich ein Kompliment. Er hatte die Figur eines Dreißigjährigen. Er hatte die Figur seines Sohnes. Alois und Mario waren Zwillinge. Wie eine Amöbe fühlte er sich: durch Teilung verdoppelt.

 

2

Olga legte ihm die Hand auf die Schulter. Alois! Er fuhr herum.

Wir haben keine Zeit zu verlieren, sagte sie, als er sich ihr mit einem Ruck zuwandte und ein Gesicht machte, als müsse er zum Begräbnis eines Freundes. Er folgte ihr ins Schlafzimmer. Aus dem Schrank holte er den Koffer und legte die Kleidungsstücke, die sie ihm wies, hinein. Im Bad suchte er nach ihren kosmetischen Utensilien. Er wußte, was sie brauchte, er war perfekt. Einstweilen saß sie zwischen schlanken, flackernden Kerzen vor dem großen Spiegel ihres Schminktisches, zeigte ihm den Rücken und betrachtete ihn durch das Glas.

Alois! rief Olga. Er drückte beide Hände gegen die Schläfen.

Alois, komm her!

Er half ihr aus der Jacke, öffnete den Reißverschluß ihres Rockes. Er knöpfte die Bluse auf, viele Kugelknöpfchen zwängte er aus engen Knopflöchern. Nun war das Mieder, das ihren Leib panzerte und in Form preßte, abzunehmen. Er löste die Haken im Rücken. Er keuchte. Bist du krank? Er antwortete nicht und arbeitete weiter. Es waren dreiundvierzig Haken aus den Ösen zu zwängen, er hatte sie schon oft gezählt. Dann löste er das Korsett, das an manchen Stellen an der Haut zu kleben schien, von ihrem Körper. Zuerst massierte er die roten Striemen, die das enge Mieder auf ihrem Rücken ins Fleisch gedrückt hatte. Zwischen den Fettwülsten verschwanden seine Finger. Sie warf den Kopf in den Nacken, daß ihre schwarzgefärbten Haare auf die Schultern und über den Rücken fielen, inzwischen war er schon hinter ihr in die Knie gegangen und knetete das Fett ihrer Schenkel. Schließlich wandte sie sich um und erschreckte ihn wieder mit ihren mächtigen Brüsten und den kinderhandtellergroßen dunkelbraun pigmentierten Warzenhöfen. Er suchte ihren Nabel. Dann die Scham, die sich unter der herabhängenden Wamme wie unter einem Schurz versteckte. Dieser Frauenleib hatte in seinem Verfall eine irritierende Geräumigkeit ausgebildet. Die Topographie des gemeinen weiblichen Aktes war in ihm nicht wiederzufinden. Selbst die Venus von Willendorf, mit ihren Wülsten und Rundungen, konnte diesem Körper nicht als Vergleich dienen. Wenn Olga sich neigte oder streckte, suchten die Fettmassen unter der Haut nach einem neuen Schwerpunkt. Hofstätter hatte manchmal Angst, die Brüste, die mit seinen beiden Händen nicht zu bändigen waren, könnten sich durch eine Metamorphose in schlangenartige Würste verwandeln, sich um seinen Hals legen und ihn ersticken. Manchmal träumte er davon, diese schweren Fleischbeutel mit einem scharfen Messer abzutrennen und an Katzen oder Hunde zu verfüttern.

Er hatte das Wasser eingelassen, der Badezusatz schäumte auf. Olga ließ sich in die Wanne gleiten. Als sie sich zurechtgebettet hatte, kniete er sich an die Wanne, schob seine Ärmel hoch, fuhr mit seinen Händen in den Schaum, der schwer nach Rosen duftete, und befolgte ihre Waschanweisungen. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Gesicht drückte Wohlbehagen aus. Er streichelte sie, bis sie um sich schlug in ihrem Trog, sich wälzte und kreischte mit seinen Händen zwischen ihren Schenkeln, den Spiegel vollplanschte und sein Gesicht.

Er half ihr aus dem Schaum, Venus Anadyomene! Wischte sie mit dem Badetuch ab. Furchte mit dem Frottee in jede Falte, legte die Schluchten trocken und lachte, weil es ein böser Vergleich war: Venus Anadyomene. Sie mochte sein Lachen nicht, deshalb konnte er nicht aufhören damit, es machte ihn nicht froh, aber lebendig, und er tupfte und wischte und strich die zerklüftete Landschaft dieses Greisinnenleibes trocken, den er besser kannte als seinen eigenen. Wäre er Mediziner, könnte er unter diese Haut, dieses Faltengeschiebe blicken und sich die farbenprächtigsten Vorstellungen machen. Wahrscheinlich schillerte es unter dem bleichen Geschrumpel in Rot, Lila und Gelb, blaumarmoriertes Geäder würde sich finden. Als Pathologe wüßte er mehr.

Hofstätter trank einen Whisky, dann noch einen. Er konnte nun wieder gut durchatmen. Weitertrinken, dachte er, im Koma landen und bei Mario. Aber statt dessen würde er sie nach Baden-Baden chauffieren. Er bückte sich nach seinem Koffer, zog ihn hervor und packte ein. Zuletzt den Smoking. Olga würde ihr lachsrosa Seidenmousselinekleid von YSL tragen und ihre Perlen. Sie würde an seinem Arm hängen. Die Angst, von ihrem plumpen Körper und seinem Schwanken mitgerissen zu werden, sodaß sie beide, einem Ozeandampfer bei schwerem Seegang nicht unähnlich, schaukelnd das Parkett beträten, befiel ihn vor jedem ihrer Auftritte. Eines Tages könnte ihn die Elastizität, mit der er ihr seitliches Ausschwingen aufnahm, verlassen, und sie wären, eine Karikatur der Gesellschaft, der Vernichtung preisgegeben.

Von einer solchen Situation war er kürzlich in einem Traum heimgesucht worden. In seinem Alp war er deswegen entschlossen gewesen, sich zu erhängen; knapp bevor ihm der Strick den Hals zuschnürte, war er erwacht, um dann klopfenden Herzens und nach Atem ringend mit aufgerissenen Augen in die Finsternis zu starren. Die Schwärze, in die er stierte, aus der grellen Farbigkeit des Traumes kommend, legte sich wie Filz auf sein Gesicht. In der Stille hörte er sein Atmen, das sich langsam beruhigte. O diese Nachtgespenster! Erst gestern war er im Traum wieder vor seiner Mutter gekniet. Er hatte sich die scharfkantigen Holzstücke selbst aussuchen dürfen. Er hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, sie hatte über sein Haar gestrichen, und die schneidigen Scheite hatten sich in seine Knie gekerbt. Sein Gesicht hatte sich in ihren weiten schimmernden Kittel aus grünem Taft gegraben, er hatte seine Zähne in die starre Seide geschlagen und tiefer hinein. Aus Leibeskräften hatte er ein Brüllen in ihren Schoß gepreßt, das zu einem Stöhnen versickert, doch laut genug gewesen war, oder hatte die Mutter aufgeschrieen? Er meinte im Traum etwas gehört zu haben, etwas wie ein Jauchzen, wie den Gesang eines Paradiesvogels. Dann die Stimme des Vaters, die den Gesang der Mutter und sein eigenes Geschrei übertönte. Der Mann packte das Kind und schleuderte es in die Stubenecke, warf die Frau zu Boden, schlug ihr die Röcke über den Kopf. Dann hatte er das Kind durch ein Haus laufen sehen, durch hallende Gänge, über Treppen, an Türen vorbei, es hatte Klinken gedrückt, die Türen waren verschlossen gewesen, es wollte schreien, schrie ohne Ton, war auf nackten Füßen gerannt, endlich hatte sich eine Tür öffnen lassen. Da hatte es die Mutter neben dem Fenster über dem Kopfhaupt ihres Bettes schweben sehen, durch das bereits das Tageslicht fiel. Es schien dem Kind, daß die Mutter ein Engel geworden war. Zwar entdeckte es keine Flügel, und sie hob auch nicht die Arme, um wenigstens ein Fliegenwollen anzudeuten. Nein, sie hatte keinen Finger gerührt, und aus ihrem Gesicht und dem langgezogenen Hals hatten es ihre Augen unverwandt angestarrt, aus ihnen glaubte das Kind ihre Mißbilligung zu lesen. Es sah, wie auf dem Holzfußboden sich das Kreuz des Fensters dunkel abzeichnete, doch es kam kein Wort, das Kind hatte endlich wieder den Kopf gehoben, da streckte die Mutter ihre Zunge, dick und blaurot, heraus, und ihre Augen stierten. Der Traumregisseur ließ den kleinen Jungen schreiend vor dieser Grimasse davon-, dem Vater in die Arme laufen. Plötzlich kam ihm Salvator zu Hilfe, schön und schlank, er lag mit ihm in einem Bett, und Salvator streichelte ihn, sodaß seine Angst sich verflüchtigte, da wurde es in seinem Kopf hell, jemand hatte Licht im Schlafsaal gemacht; Pater Anselm, der zwei Köpfe in dem Bett erspähte, in dem nur je einer zu liegen hatte, stand schwarz und riesig vor ihnen. Die Bilder seiner Traumverzweiflung drehten sich noch immer wie ein Karussell vor seinen Augen, während er den Smoking sorgfältig in den Koffer schichtete. Dann schleppte er die Gepäckstücke in den Flur. Olga saß auf dem Pankok-Sofa und schwieg, nun wäre er dankbar für jedes Wort, das ihm seine Gedanken auf eine andere Bahn brächte. Sie reichte ihm einen Briefumschlag. Es war sein Bankauszug. Du hast gut gearbeitet, sagte sie. Er sah die Abzugsposten und die Summe, die er ihr noch schuldete. Er erkannte, daß er sich zeitlebens nicht mehr aus ihrer Hand würde befreien können. Das war die Sicherheit, die er hatte. Er lächelte sie an.

Als er Olga Diotima kennenlernte, war er bereits ein gesuchter Rechtsanwalt in Karlsruhe, seine Kanzlei florierte, er verteidigte in Strafsachen, seine Klientel bestand aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prominenz der Stadt, auch Fürst Alexander Schachowskoj, ein russischer Emigrant mit bewegter Vergangenheit, der in Freiburg eine Gemäldegalerie betrieb, konsultierte ihn; und als er im Alter von 96 Jahren starb, hatte Hofstätter seinen Nachlaß abzuwickeln. Als Testamentsvollstrecker traf er die Witwe des Kunsthändlers zum ersten Mal, ausgerechnet in Wien, wo sich beide damals zufällig aufhielten. Der Fürst hatte ihm erzählt, daß er seine dritte Frau im Mannheimer Nationaltheater in Racines Phädra gesehen und sich sofort in sie verliebt hatte. Trotz seiner neunzig Jahre machte er der damals 36jährigen einen Heiratsantrag, den diese sofort annahm; und aus der Schauspielerin Cosima Fischer wurde die Fürstin Olga Diotima Schachowskoj. Cosima Fischer war ihr Künstlername gewesen, sie fand, es war Zeit, ihn abzulegen. Olga Diotima hatte die Mutter des Fürsten geheißen, und der greise Ehemann hatte die Namensänderung als eine zarte Geste seiner jungen Frau dankbar entgegengenommen. Olga hatte die Verbindung nicht zu bereuen, denn als nach sechs Jahren der Hochbetagte starb, erbte die Witwe sein Vermögen, seine unschätzbare Kunstsammlung und auch seinen Anwalt. Im Café Imperial trafen die beiden sich zu einem ersten Gespräch. Hofstätter, der sich bisher nicht für Frauen interessiert hatte, ließ sich durch Olgas Ähnlichkeit mit seiner angebeteten Tizianmadonna verwirren. Da der Fürst auf Grund der juristischen Empfehlungen seines Anwalts alles bestens geregelt hatte, gab Olga, daran erinnerte er sich noch genau, der Unterhaltung eine Wendung ins Persönliche. Das hätte er nicht zulassen dürfen, irgend etwas hätte ihn warnen sollen, wenn nicht eine innere Stimme, so doch sein Gefühl oder sein Verstand. Es war aber so, daß er von den schwarzglänzenden Augen der älteren Frau geradezu hypnotisiert wurde und alle ihre Fragen nach seinem Herkommen, nach seinem bisherigen Lebenslauf vertrauensvoll beantwortete, ja, ihre Fragen hatten in ihm einen geradezu rauschhaften Bekenntniszwang ausgelöst. Nachdem er ihr seinen Vater als einen despotischen Volksschuldirektor aus einem armseligen österreichischen Dorf geschildert hatte, zeigte ihr Hofstätter eine Fotografie seiner Mutter, die er immer bei sich führte. Wie kam er dazu? Sie hatten von der Schönheit gesprochen. Seine Mutter sei, so behauptete Hofstätter, durch Olgas Zuwendung kühn geworden, die schönste Frau gewesen, die er jemals gesehen hatte. Zum Beweis seiner Behauptung legte er Olga das Foto vor. Das sei doch die genuine Proserpina auf dem Gemälde von Rossetti, das er in der Galerie des Fürsten kennengelernt hatte, behauptete er. Auch Olga hatte das Kunstwerk noch im Gedächtnis, lebhaft stimmte sie ihm zu. Leider hatte es der Fürst kurz vor seinem Tod an einen Sammler in Liverpool verkauft. Olga begann das Aussehen der jungen Frau auf dem Brustbild zu preisen:Welch schöner länglicher Hals, welch feines Gesicht, so blaß, daß man meint, daß unter der Haut kein Blut fließe, welch verblüffender Kontrast zu den vollen, für die Liebe geschaffenen Lippen, die zu glühen scheinen. Damit hatte sie Hofstätter aus der Seele gesprochen. Cäcilie hieß seine Mutter, sie war eine Kleinhäuslerstochter, aber Olga sagte, daß sie ihr wie ein Wesen aus einer anderen Zeit erscheine, das nur selten eine langsame, geheimnisvolle Bewegung mache, um die Männer, die zu ihren Füßen lagen und auf Erhörung hofften, zu verwirren. Olga hatte ihn mit den Worten, die sie für seine Mutter gefunden hatte, bezaubert. Wenn er heute an seinen damaligen Zustand dachte, so konnte er ihn nur als einen Zustand der Verhexung bezeichnen. Sie hat mich verhext, ich war nicht mehr bei mir selbst, erzählte er später Salvator. Es waren ihre Augen, in ihnen liegt etwas Dämonisches, ihr Blick verschlingt einen, wenn man sich ihm aussetzt, er hat einen Sog in den Abgrund, versuchte er Salvator später seinen Sündenfall zu erklären und zu entschuldigen. Damals nannte sie ihn noch Louis; und als sie ihn erstmals in ihrer schönen, über zweihundert Quadratmeter großen Gründerzeitwohnung empfing, errichtete Olga in der Bibliothek, in deren Regalen er vor allem russischsprachige Literatur entdeckte, zur gemeinsamen Anbetung eine Art Altar mit dem Foto seiner Mutter. Zuvor sang sie weiterhin Lobeshymnen auf ihre Augen, die Haare, den Mund. Die Betrachtung empfand Hofstätter als ein köstlicherregendes Ritual. Eines Tages ergriff Olga während der innigen Versenkung in die Abbildung seine Hand, strich ihm über den Rücken, den Nacken und kitzelte ihn mit ihren Locken. Es war ihm, als griffe seine Mutter aus dem Jenseits nach ihm, und diese Empfindung wühlte ihn derart auf, daß er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.

Hofstätter besaß einige Schwarzweißaufnahmen seiner Mutter, sie waren auf Wunsch ihres zukünftigen Mannes vom einzigen Foto-Atelier der nächsten Kleinstadt ohne künstlerischen Anspruch gemacht worden. Dennoch besaß das Gesicht der Mutter für den Sohn noch heute eine unwiderstehliche Ausstrahlung. Eines Tages bat er Olga, das Bild direkt mit Mutter anzusprechen. Mutter, sollte sie sagen. Dabei errötete er und blickte zum ersten Mal vom Foto seiner Mutter weg und in Olgas Gesicht. Durch ihr Kleid von Mariano Fortuny, dieses antikisierende Schleiergehäuse, diese durchschimmernde, bodenlange, mit Muranoglasperlen beschwerte Hülle, unter der sie nichts trug, ihre kostbare Delphos-Robe, die sie vom Fürsten zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, die sie nun für Hofstätter zu tragen pflegte und deren raffinierte Eleganz ihm schier den Atem nahm, duftete ihr Schoß. Olga fuhr fort, der »Mutter« lüsterne Geständnisse zu machen. Hofstätter ergriff ihre Hand, küßte sie, er preßte sein heißes Gesicht gegen ihren Handrücken, sie hörte nicht auf, das Mutterbild zu besprechen, da fiel er vor ihr auf die Knie, sie tat, als wolle sie ihn fortschicken, doch dann behielt sie ihn, für immer.

Jahre später las sie ihm ihre Aufzeichnungen vor, aus ihnen konnte er entnehmen, daß sie seine Verführung strategisch geplant hatte, daß sie manchmal beinahe entmutigt war und sich gefragt hatte, ob er das angestrebte Ziel überhaupt wert war, was sie mit einem Mann wollte, der mit dreißig Jahren noch Jungfrau war, ob er überhaupt ein Geschlecht hatte, ob es nicht im Uterus seiner Mutter zurück geblieben war. Aus ihren Niederschriften habe sie damals die Kraft geschöpft weiterzumachen, mit ihnen demütigte sie ihn heute.

 

3