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Sabine Ladstätter

Knochen, Steine, Scherben

Abenteuer Archäologie

Redaktionell betreut von Jürgen Hatzenbichler

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www.residenzverlag.at

© 2013 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:
978-3-7017-4372-8

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-3316-3

Inhalt

Einleitung

1.Archäologie und Zeitgeschichte

2.Archäologie und Öffentlichkeit

3.Archäologie und Ausgrabung

4.Archäologie und Natur

5.Archäologie und Umweltproblematik

6.Archäologie und Religion

7.Archäologie und Krisen

8.Archäologie und Mobilität

9.Archäologie und der Tod

Meiner Großfamilie, allen Schretters und Kulterers, gewidmet.
Ihr habt mich geprägt und dafür danke ich euch
.

Einleitung

Archäologie fasziniert. Darüber besteht kein Zweifel. Alleine während der Fertigstellung dieses Buchs im Sommer 2013 wurde ein beeindruckendes Maya-Relief in Guatemala entdeckt; in St. Pölten legt man 4000 Gräber frei; römische Glasperlen leisten einen wichtigen Beitrag zur antiken Handelsgeschichte, wie Mainzer Forscher herausgefunden haben; ein Bleisarkophag gibt britischen Kollegen in Leicester Rätsel auf; und kürzlich war zu lesen, dass Reste eines römischen Kettenhemdes auf einem Schlachtfeld in Niedersachsen gefunden wurden. Aus Sinope an der türkischen Schwarzmeerküste wird gar gemeldet, dass dort bei Grabungen Relikte des Kreuzes Christi aufgetaucht seien. Unzählig sind die Archäologie-Dokumentationen in sämtlichen TV-Kanälen, und prominente Grabungsplätze haben ständig steigende Besucherzahlen in Millionenhöhe. Der Archäologie-Tourismus stellt in vielen Ländern einen maßgeblichen Wirtschaftsfaktor dar, und das Ausbleiben der Besucher archäologischer Ruinenstätten bedeutet nicht nur für die Lokalbevölkerung den ökonomischen Ruin, sondern kann auch die Wirtschaftsleistung von Staaten maßgeblich beeinträchtigen. Internationale öffentliche Aufmerksamkeit erregt es auch, wenn ein archäologisches Museum in Oberägypten ausgeraubt wird, die syrischen Ruinenstätten unter Dauerbeschuss stehen und eine Inka-Pyramide in Peru von Baggern niedergewalzt wird, um Platz für Immobilien zu schaffen. Aber welche Wissenschaft verbirgt sich eigentlich hinter all diesen tatsächlichen oder vermeintlichen Sensationsmeldungen? Und warum regt es Menschen auf, wenn archäologische Denkmäler gefährdet sind oder zerstört werden?

Archäologie beschäftigt sich per definitionem mit der Kulturgeschichte des Menschen auf Basis seiner materiellen Hinterlassenschaft. Eigentlich ist damit schon vieles erklärt. Die Archäologie stellt den Menschen und alles, was er geschaffen hat, in den Mittelpunkt. Aber ab wann dürfen wir eigentlich einen Menschen als Menschen bezeichnen? Ist es der aufrechte Gang oder die Ausbildung von Sprechwerkzeugen? Oder sind es vielmehr kulturelle Errungenschaften? Ab einem gewissen Zeitpunkt in der Menschheitsentwicklung werden Kranke, Schwache und Alte nicht mehr zurückgelassen, sondern in den wandernden Gruppen mitgetragen; Tote werden nicht mehr liegen gelassen, sondern bestattet, und es werden ihnen auch Blumen nachgeworfen, Schmuckgegenstände hergestellt und Bilder gezeichnet. Es ist das Bewusstsein, es sind soziales Handeln, Ethik, Pietät, Ästhetik und Kunst, die maßgeblich zur Vermenschlichung des Menschen beitrugen. Die Archäologie beschäftigt sich also mit etwas sehr Zentralem, nämlich mit der menschlichen Existenz und ihren Errungenschaften.

Menschen wollen ihre Wurzeln kennen: Sie brauchen dieses Wissen, um Identität überhaupt erst ausbilden zu können. Denken wir nur an die Diskussionen um das Recht künstlich gezeugter Kinder, die Namen ihrer Samenspender zu kennen, oder an die oft jahrzehntelangen Nachforschungen über leibliche Eltern und im Kindesalter getrennte Geschwister. Die eigene Herkunft und das Umfeld zu kennen und daraus auch Erklärungsmodelle für die Gegenwart bzw. das eigene Leben ableiten zu können, ist ein elementares, immer wieder zu beobachtendes Bedürfnis. Diese individuelle Sehnsucht lässt sich auch auf das Kollektiv übertragen. Woher kommen wir Menschen? Was hat uns geprägt und zu dem gemacht, was wir heute sind? Was definiert eine Gruppe, welche identitätsstiftenden Merkmale hat sie und wie grenzt sich eine Gemeinschaft gegenüber einer anderen ab? Das Eigene erklärt sich nur durch das Andere und das Heute nur durch das Gestern. Eine Reflexion über das Dasein ist ohne die historische Perspektive vielleicht möglich, allerdings nicht sinnvoll. Die Archäologie leistet mit ihren authentischen Quellen in dieser Diskussion einen nicht unwesentlichen Beitrag – noch dazu in Form von Bildern, was die Rezeption für viele bedeutend erleichtert, was aber auch eine große Gefahr in sich birgt.

Als ich 2011 vom Club der Wissenschaftsjournalisten Österreichs zur Wissenschaftlerin des Jahres gekürt wurde, bedeutete dies für mich gleichzeitig die Bestätigung eines eingeschlagenen Wegs und den Auftrag, diesen weiterzugehen. Betont sei vorweg, dass dieser Preis für das Bemühen um Wissenschaftskommunikation verliehen wird. Ich habe von Anfang an versucht, meine Auszeichnung als Signal für die Geisteswissenschaften und speziell natürlich für die Archäologie zu sehen. Leider wird Öffentlichkeitsarbeit oder öffentlichkeitswirksame Arbeit bisweilen noch immer argwöhnisch betrachtet. Notwendige erklärende Vereinfachungen und aktuelle Vergleiche werden rasch als simplifizierende Verallgemeinerungen abgetan, ohne zu reflektieren, was man damit eigentlich erreichen will. Ist es nicht ein Widerspruch, wenn beispielsweise einerseits das Niveau von Reiseleitern beklagt wird, andererseits Forschungsergebnisse ausschließlich in Fachzeitschriften und zudem stark zeitverzögert veröffentlicht werden? Es ist meines Erachtens ein Paradoxon, einerseits die gesellschaftliche Relevanz geisteswissenschaftlicher Forschung hervorzuheben und einzufordern, andererseits die interessierte Öffentlichkeit nur unzureichend zu informieren und ihr kaum die Möglichkeit einer Teilnahme am aktuell laufenden Diskurs zu geben. Es geht dabei nicht um einen weit hergeholten, krampfhaft übergestülpten Aktualitätsbezug, sondern schlicht und einfach um Anstöße zur Reflexion. Aber auch unabhängig von der Archäologie sollte Forschung verstärkt als Lustprinzip und Lebenskonzept kommuniziert werden, um überhaupt wahrgenommen zu werden und weiterwirken zu können. Freude am Forschen, das Streben nach Erkenntnis und die Umsetzung in Wissen sind alles Dinge, die Mühen und Anstrengungen lohnen.

Der Weg aus dem Elfenbeinturm – wenn es ihn denn überhaupt gibt – lohnt sich auch für die Wissenschaftler. Bei meinen unzähligen populärwissenschaftlichen Vorträgen konnte ich mich vom ungeheuer großen Interesse und von der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz für unsere Forschungen überzeugen. All meinen Vorurteilen zum Trotz erwiesen sich gerade die Vorträge in den Schulen als besonders bereichernd. Der Versuch, meine Faszination und meine Begeisterung für die Archäologie weiterzugeben, wurde durch das Interesse und die vielen Fragen der jungen Menschen belohnt. Ich hatte in den letzten Jahren bei Vorträgen und Führungen durch Museen und Ruinenstätten darüber hinaus die Möglichkeit, viele persönliche Gespräche zu führen, Fragen zu beantworten und auch die Reaktionen des Publikums zu beobachten. Aus all diesen Aktivitäten entstand nicht nur die Idee für dieses Buch, sondern daraus resultieren letztendlich auch die dafür ausgewählten Themen. Mein Dank gilt daher den vielen Zuhörenden und Fragenden, die meinen Blick auf die Objekte geschärft haben. Sie alle haben zum Gelingen dieses Buches einen maßgeblichen Beitrag geleistet.

Es scheint nahezu ein anachronistischer Widerspruch zu sein, wenn man sich in einer kurzlebigen, auf Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Zeit mit der Vergangenheit beschäftigt – Archäologen als Metapher für vergangene Epochen. Das Klischee ist von einem Gegensatz geprägt: einerseits die – weltfremden – Wissenschaftler, die sich zwar keinen Kaffee selbst kochen können, jedoch in kontemplativer Ruhe und mit viel Geduld Knochen freipinseln, andererseits die – immer gut aussehenden – Abenteurer, die unter größten Entbehrungen Schätze für die Menschheit vor bösen Kräften retten, dabei noch bislang unbekannte Schriftarten enträtseln und ein Handbuch zur orientalischen Altertumskunde verfassen. Die Realität liegt irgendwo dazwischen, sie ist wesentlich monotoner, aber auch anspruchsvoller. Unter diesen Prämissen bedeutet aber die Vermittlung von Archäologie eine ständige Gratwanderung zwischen seriöser Wissenschaft und Entdeckerromantik.

Es erstaunt selbst die Fachfrau, wie viele Menschen eigentlich den Berufswunsch »Archäologe« oder »Archäologin« gehegt hatten, bevor sie es vorzogen, in die Verwaltung, die Wirtschaft oder die Politik zu gehen. Maßgeblich für die Entscheidung gegen die Archäologie waren in den meisten Fällen düstere Berufsprognosen, aufgrund derer letztendlich doch ein Brotberuf der Passion vorgezogen wurde. Die Wurzeln der Faszination für die Archäologie liegen meist in der frühen Kindheit. Auch viele Archäologenkarrieren beginnen im Volksschulalter, mit dem Aufsammeln von Scherben am Schulweg, dem Besuch einer Ruinenstätte während eines Schulausflugs und den Ferienaktivitäten mit den Eltern. Meiner frühesten Kindheitserinnerung nach wollte ich im Kindergartenalter unbedingt zum Mittelpunkt der Erde vordringen, und ich habe dafür meine etwa gleichaltrigen Cousins als Grabungsarbeiter verpflichtet. Während der Volksschule wurde anlässlich eines Besuchs des Magdalensbergs in Kärnten der Grundstein für meinen weiteren Lebensweg gelegt: Auch noch jetzt, nach 40 Jahren erinnere ich mich an die Faszination, die die ausgegrabenen Gebäude und die ausgestellten Gegenstände damals auf mich ausübten. Und wenn ich heute Kinder durch Ausgrabungen führe, so kann ich deutlich beobachten, welche Faszination von der Vorstellung ausgeht, dass in der Erde Verborgenes schlummert, und mit welchem Eifer die Kleinen bei Grabungen zu Werke gehen. Natürlich weicht die kindliche Faszination einem rationalen, wissenschaftlichen Zugang, allerdings bleiben die Neugierde und – zumindest im Bereich der Grabungsarchäologie – ein Funke Unvorhersehbarkeit erhalten. Am Morgen wissen wir nicht, was wir am Abend gefunden haben werden; Überraschungen sind immer möglich.

Die Archäologie ist heute eine hoch spezialisierte Wissenschaft mit zahlreichen Teildisziplinen. Sie ist aber auch eine Wissenschaft mit Bodenhaftung, im wahrsten Sinne des Wortes. Gerade in der Grabungsarchäologie ist man täglich mit einer nichtakademischen Realität konfrontiert, seien es nun verschiedene Arbeitsrechte, Fremdenpolizei, Grundstücksverhandlungen, Arbeitssicherheit oder die Anschaffung und Wartung von Baumaschinen. Interdisziplinarität ist für uns kein Schlagwort, sondern gelebte Realität. Moderne archäologische Forschung wäre ohne die Naturwissenschaften und die Technik nicht möglich. Diese inhaltliche und methodische Vielfalt aufzuzeigen, war eine weitere Motivation, dieses Buch zu schreiben. Es richtet sich nicht an ein Fachpublikum, sondern an jene Menschen, die von der Archäologie begeistert sind und sich für unsere Fragen interessieren. Gleichzeitig soll in einer Zeit, in der die Legitimation der Geisteswissenschaften und insbesondere der Altertumswissenschaften immer vehementer und zum Teil aggressiver angezweifelt wird, Stellung bezogen und die gesellschaftliche Relevanz unserer Forschungen betont werden. Auch ist es kein Handbuch mit dem Anspruch, die Archäologie als Ganzes zu erklären, sondern vielmehr eine Sammlung unterschiedlicher Themen. Deren Auswahl erfolgte nach verschiedenen Kriterien: Zum einen schien es mir unbedingt notwendig, die Entwicklung der Archäologie als Wissenschaftszweig sowie ihren weiteren Verlauf in einen historischen Kontext zu stellen. Dadurch erklären sich einerseits Schwerpunktsetzungen der Vergangenheit ebenso wie aktuelle Fragen, andererseits charakterisiert die Wissenschaftsgeschichte die Archäologie in all ihren Facetten eindrucksvoll. Ferner sollte man sich immer die Instrumentalisierung der Archäologie durch die Politik, die Öffentlichkeit und letztendlich auch die Tourismusindustrie vor Augen halten.

Moderne archäologische Forschung bedient sich unterschiedlichster Methoden. Deren Bandbreite sowie die enge Zusammenarbeit mit fachverwandten altertumskundlichen Disziplinen, aber auch mit den Naturwissenschaften und der Technik in Hinblick auf Dokumentation und Analyse zeichnet insbesondere die Grabungsarchäologie aus. Es ist für Außenstehende oftmals nicht deutlich, dass eine Ausgrabung weit über das Ausgraben hinausgeht und einen logistisch wie intellektuell hoch anspruchsvollen Prozess darstellt. Bei der Auswahl der Themen wurde darauf geachtet, Fallstudien mit Aktualitätsgehalt heranzuziehen, ohne diesen konstruieren oder erzwingen zu müssen. Vielmehr werden die archäologischen Fragestellungen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs eingebettet: Natur, Umweltproblematik, Mobilität und mit ihr die Kommunikation sind heftig debattierte Themen, allerdings keine ausschließlich modernen Erscheinungen, wie ein historischer Rückblick deutlich macht. Die »Krise« ist derzeit in aller Munde und daher schien es angebracht, auch dieses Phänomen archäologisch zu reflektieren. Letztendlich ging von Krisen immer eine große Dynamik aus, die zu gesellschaftlichen Umbrüchen führte und sämtliche Lebensbereiche grundlegend veränderte. Elementare Aspekte des menschlichen Daseins sind auch Religion und der Tod, denen weitere Kapitel gewidmet sind. Irrationalitäten nachzuvollziehen zu versuchen, noch dazu aus einer historischen Perspektive, ist ein schwieriges, zuweilen unmögliches Unterfangen. Vielfach ist es nur möglich, sie aus einer Distanz heraus zu beschreiben, in dem Bewusstsein, dass die Beschreibung des Unbeschreiblichen nur unzulänglich sein kann.

Die von mir zitierten paradigmatischen Beispiele entstammen meinem eigenen Forschungsradius, sei es nun die Spätantike in den Ostalpen, Ägypten in hellenistisch-römischer Zeit oder aber natürlich Ephesos – und sie spiegeln meine Spezialisierung, die Feldarchäologie, wider. Sie sind also subjektiv gewählt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Natürlich bleiben Lücken, und ebenso können viele Fragen nicht beantwortet werden. Aber erfahrungsgemäß sind die Fragen ohnehin viel interessanter als die Antworten.

Ephesos, im Sommer 2013

1.

Archäologie und Zeitgeschichte

Die Ursprünge

Das Interesse für das griechische und römische Kulturerbe geht bis in die Renaissance zurück und war damals stark vom Selbstverständnis des humanistischen Bildungsideals geprägt. Die Beschäftigung mit antiken Sprachen und Philosophie implizierte eine bewusste Wahrnehmung und Wertschätzung der materiellen Hinterlassenschaft, der Monumente und Artefakte und in weiterer Folge eine akademische Auseinandersetzung damit, was letztendlich zur Ausbildung der Klassischen Archäologie als wissenschaftliche Disziplin führte. Beeinflusst wurde die Antikenrezeption durch Reisende, deren Beschreibungen gedruckt und mit Abbildungen bereichert wurden und dadurch einen Eindruck der mediterranen Ruinenlandschaften vermittelten. Ebenso stieg das Interesse für den Orient stark an. Die in den bürgerlichen Salons gepflegte Ägyptomanie und Orientromantik des 19. Jahrhunderts hatte großen Einfluss auf die zeitgenössische Architektur und Kunst, führte letztendlich aber auch zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den romantisch verklärten Kulturräumen.

In Mitteleuropa entwickelte sich aus der Heimatkunde eine archäologische Fachrichtung, die sich verstärkt der Erforschung der lokalen, der »eigenen« Vergangenheit widmete, seien es nun prähistorische Kulturen, die Römer oder aber auch die Völkerwanderungszeit. Die heimatlichen Bodenforschungen wirkten stark identitätsfördernd und sind im Kontext des anwachsenden Nationalismus zu verstehen. Keltomanie und Illyrismus sind nur zwei Beispiele für das Verständnis des 19. Jahrhunderts, moderne Identitäten historisch zu begründen. Die gewissen antiken Kulturen unterstellte Einheit und Ursprünglichkeit – durch Reinheit und Schlichtheit zum Ausdruck gebracht –, das Prinzip des Volksgedankens, ein kultureller und politischer Führungsanspruch sowie das Konzept der territorialen Expansion zur Schaffung von Siedlungsraum nehmen letztendlich politische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorweg. Bisweilen abstruse Auswüchse fand die Keltenverehrung anlässlich romantisch-ritueller Jahrtausendwendfeiern im Jahr 1900, mit denen der Anbruch einer neuen Zeit gefeiert wurde.

Während die Beschäftigung mit den mediterranen Hochkulturen historischer Zeit zur Ausbildung der Klassischen Archäologie führte, ist die Ur- und Frühgeschichte, aber auch die Provinzialarchäologie traditionellerweise regional geprägt. Ägyptologie und Orientalistik waren ursprünglich stark philologisch ausgerichtete Disziplinen, im Rahmen derer allerdings der Archäologie eine immer wichtiger werdende Rolle zukam. All diesen Fachrichtungen gemein ist die Feldforschung, und hier insbesondere die Ausgrabung als eine feldarchäologische Methode. Die Begriffe Archäologie und Ausgrabung werden landläufig synonym gebraucht, sind es aber nicht: Die Ausgrabung ist lediglich eine archäologische Methode von vielen. Ebenso ist das Berufsbild des Archäologen als Abenteurer und Schatzsucher eine stark von Hollywood beeinflusste romantische Fiktion, die aber nicht die Realität darstellt.

Die ersten archäologischen Grabungen wurden unter größten Strapazen und Entbehrungen in Ländern durchgeführt, deren zivilisatorischer Standard es nicht mit jenem von Zentral- und Nordeuropa aufnehmen konnte. Sie waren getragen von wissenschaftlicher Neugierde und Entdeckerfreude der Forschungsreisenden. Und dennoch darf nicht vergessen werden, dass all diese Aktivitäten im 19. Jahrhundert stark politisch motiviert waren. Es waren demnach keineswegs ausschließlich altruistische Gründe, die die Forschenden bewogen, fremde Länder zu erkunden und Ruinenstädte zu dokumentieren. Hinter diesen Reisen standen realpolitische Machtinteressen, geprägt und diktiert von den Großreichen des 19. Jahrhunderts. Auch spielten die Archäologen keine primäre Rolle. Vielmehr waren es häufig Geistliche, Vertreter des Militärs, Diplomaten, Geodäten oder Wirtschaftstreibende, die zur Erweiterung des Wissens über die Länder des Mittelmeers und des Nahen und Fernen Ostens beitrugen und vor Ort auch die archäologischen Stätten inventarisierten und beschrieben.

Das politische Interesse Europas dieser Zeit stand im Zeichen des Kolonialismus, sowohl in Afrika und Zentralasien als auch im Nahen Osten. Die europäischen Mächte – Großbritannien, Frankreich, Russland, Deutschland und auch Österreich-Ungarn – standen dabei im Wettkampf miteinander. Die landeskundlichen Forschungsreisen waren sowohl imperialistisch als auch religiös motiviert. Antike Stätten wurden einerseits nach strategischen Gesichtspunkten besetzt, andererseits sicherte man sich die für das Christentum bedeutenden Orte.

Während der Wirtschafts- oder Handelsimperialismus der Erweiterung von Handelsbeziehungen und der Erschließung neuer Märkte, Ackerbau- und Rohstoffgebiete, Transportwege und ganzer Landstriche diente, befriedigte der Kulturimperialismus in erster Linie das Prestigebedürfnis der Herrscherhäuser des 19. Jahrhunderts. Begleitet wurden die Aktivitäten von eurozentrischen und christlich-religiösen Motiven. Überzeugt von der Überlegenheit Europas galt es, die Welt zu europäisieren – und gleichzeitig begab man sich auf die Suche nach den Wurzeln der europäischen und auch der christlichen Zivilisation.

Mit dem Erstarken des Nationalismus setzte ein wahrer Wettstreit um die besten, das heißt prestigeträchtigsten und kulturhistorisch bedeutendsten archäologischen Ausgrabungen ein. Das besondere Interesse Europas galt den reichen Ruinenstätten im Osmanischen Reich, in dessen Territorium nun zahlreiche Ausgrabungen initiiert wurden. Die daraus gewonnenen neuen Erkenntnisse flossen direkt in die universitäre Lehre und Forschung ein und trugen damit maßgeblich zur Entwicklung der Feldarchäologie als akademische Disziplin bei. Ein weiteres Ziel war, die Sammlungen in den europäischen Museen – in Berlin, London, Paris und auch in Wien – mit besonderen Fundstücken und Kunstwerken aus den eigenen Grabungen zu bereichern.

Sozialdarwinismus und spionierende Forscher

Die archäologische Forschung des 20. Jahrhunderts wurde entscheidend vom Sozialdarwinismus mitgeprägt. Das Grundprinzip vom Überleben des Stärkeren wurde auf Kulturen, Völker und Nationen übertragen; darauf aufbauend wurden Blütezeit und Dekadenz, Aufbau und Zerstörung einander gegenübergestellt. Die Archäologie eignete sich hervorragend zur Unterstützung und Bestätigung dieser Ansichten, da man eine »untergegangene« Kultur, die nunmehr in Schutt, Asche und Scherben lag, praktisch vor sich hatte. Durch die Ausgrabung von Ruinenstätten konnten längst vergangene Blütezeiten rekonstruiert und die für den Aufstieg, aber auch den Untergang und die endgültige Zerstörung verantwortlichen Gründe diskutiert werden. Grundlegend für diese Überlegungen waren die Theorien der evolutionären Kulturanthropologie, die eine zyklische Abfolge von Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang postulierte. Letztendlich übertrug man die Vorstellung einer Gesetzmäßigkeit von Entwicklung und des menschlichen Strebens nach dem Optimum auch auf Gegenstände und leitete davon eine maßgebliche und bis heute noch teilweise angewendete Methode ab: die Typologie.

Nicht immer standen jedoch kulturelle Interessen am Anfang von Ausgrabungen. So gehen die Feldforschungen in Ephesos beispielsweise auf den englischen Ingenieur John Turtle Wood zurück, der von der Oriental Railway Company mit dem Bau der Bahntrasse vom damaligen Smyrna (heute Izmir) nach Tralles (heute Aydın) beauftragt worden war. Ab 1863 widmete er sich ausschließlich der Suche nach dem Artemistempel und wurde dabei vom British Museum finanziell unterstützt, mit dem offenkundigen Ziel, Exponate für das Museum zu akquirieren. Die Erwartungshaltung war groß, denn aus literarischen Quellen ging hervor, dass der Tempel der Artemis in Ephesos – eines der sieben Weltwunder der Antike – einstmals prachtvoll ausgeschmückt gewesen war. Umso größer war die Enttäuschung, als die spärlichen Reste von Wood im Jahr 1869 endlich entdeckt wurden. Über Jahrhunderte hinweg war der Tempel geplündert und seiner Bausubstanz und Ausstattung beraubt worden. Erhalten hatten sich kaum mehr als die untersten Steinlagen. Das British Museum zog umgehend die Konsequenzen aus den enttäuschenden Resultaten und reduzierte die finanzielle Unterstützung, sodass die Grabungen schließlich eingestellt werden mussten.

Die Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts hatten auch großes politisches Gewicht. Sie hielten sich lange Zeit in fremden Ländern auf, standen in engem Kontakt mit Land und Leuten und beherrschten in vielen Fällen auch »exotische« Sprachen. So kam es immer wieder vor, dass ihr Expertenrat geschätzt und sie als Konsulenten in die Politik berufen wurden. Ebenso wenig verwundert es, dass sie immer wieder der Spionage verdächtigt wurden – und dies bisweilen wohl auch zu Recht, denn es ist heute zweifelsfrei belegt, dass viele Altertumsforscher tatsächlich mit Spionageaufträgen betraut waren.

Österreich als Mitspieler

Österreich-Ungarn war ebenfalls in die kulturimperialistischen Machtspiele des 19. Jahrhunderts involviert. Innerhalb der eigenen Reichsgrenzen lagen prestigeträchtige Grabungsplätze, beispielsweise an der Donau, im Adriaraum und auf dem Balkan. Gleichzeitig bemühte sich Österreich – wie andere europäische Großreiche auch – um Grabungslizenzen im Osmanischen Reich.

Bei der Erforschung des Orients kommt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eine Pionierstellung zu; der Orient wurde dadurch für die Reichshauptstadt Wien immer interessanter. Ausgedehnte und ertragreiche Forschungsreisen führten die Wissenschaftler insbesondere nach Kleinasien, speziell nach Lykien, aber auch nach Griechenland. Durch die Gründung von Lehrstühlen und Kommissionen wurde diesem Interesse Rechnung getragen und die Orientforschung als wissenschaftliche Disziplin etabliert.

Ein weiterer Meilenstein wurde mit der Erteilung der Grabungsgenehmigung in Ephesos im Jahr 1893 und mit dem Beginn der Ausgrabungen zwei Jahre später gesetzt. Österreich-Ungarn konnte nun in direkte Konkurrenz mit Pergamon, Priene und Milet treten, allesamt Grabungsplätze des Deutschen Kaiserreichs. Ephesos war durch den Ausstieg der Briten nicht »besetzt«, sondern für die Österreicher quasi »verfügbar«. Den Ausschlag gab aber auch die Bedeutung von Ephesos für das Christentum, als zentraler Ort der Marien- und Paulusverehrung. Anders als der deutsche Kaiser Wilhelm II. zeigte Kaiser Franz Joseph I. allerdings kein gesteigertes persönliches Interesse an der archäologischen Forschung. Umso mehr zog es seine Frau, Kaiserin Elisabeth, zu den antiken Stätten Griechenlands. Kleinasien hat sie aber trotz ihrer rastlosen Reisetätigkeit nie besucht.

Bereits 1884 war prinzipiell die Ausfuhr von Antiken aus dem Osmanischen Reich unterbunden worden, allerdings erlaubten spezielle Erlässe Fundteilungen und den Export. Für Ephesos bedeutete dies, dass ein Drittel der Funde ausgeführt werden durfte, während zwei Drittel vor Ort verbleiben mussten. So fanden im ersten Grabungsjahrzehnt zahlreiche Architekturproben, Skulpturen, Objekte der Kleinkunst und Alltagsgegenstände ihren Weg nach Wien, bis im Jahr 1906 die Gesetzeslage geändert wurde und die Ausfuhr von Antiken aus dem Osmanischen Reich untersagt wurde. Nun sammelte man sie in den Museen von Istanbul, später in Izmir; 1929/30 wurde mit finanzieller Hilfe aus Österreich ein Museum in Selçuk gebaut, das 1964 erstmals seine Pforten für Besucher öffnete. Die Fundstücke rückten demnach immer näher an ihren Auffindungsort. Das Ephesos-Museum in Wien, heute in der Neuen Burg untergebracht, zeigt folglich ausschließlich Objekte aus den ersten Jahren der Grabung. Wer sämtliche in den letzten 150 Jahren ausgegrabenen und aktuell ausgestellten Funde ansehen möchte, muss nach London, Wien, Istanbul, Izmir, Selçuk und natürlich auch nach Ephesos selbst fahren.

Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurden auch Außenstellen von archäologischen Institutionen nahe den Ausgrabungsorten eröffnet. Mit einer Vertretung vor Ort war es wesentlich leichter, die Grabungslogistik zu organisieren und die Bürokratie abzuwickeln. Im Zusammenspiel der internationalen archäologischen Forschung bedeuteten diese Vertretungen eine österreichische Repräsentanz, und sie sind es bis heute geblieben. Mit dem Aufbau von Bibliotheken und wissenschaftlichen Archiven wurden diese Außenstellen bald Forschungszentren, die von ansässigen Fachleuten genutzt werden konnten. Sie boten aber auch Übernachtungsmöglichkeiten und Verpflegung, um den Auslandsaufenthalt der Wissenschaftler zu erleichtern. Die oft unwirtliche Umgebung veranlasste die Archäologen auch zum Bau von Grabungshäusern, um die eigene Versorgung sicherzustellen und das geborgene Fundmaterial zu schützen und zu lagern.

Die Zweigstelle in Smyrna, dem heutigen Izmir, repräsentierte das Österreichische Archäologische Institut in der Türkei, fiel allerdings in den Wirren des Türkisch-Griechischen Kriegs um 1920 einem Brand zum Opfer und wurde aufgrund der desaströsen finanziellen Situation des Instituts in Wien in weiterer Folge geschlossen. Bis zum heutigen Tag verfügt Österreich trotz der großen Grabungsprojekte über keine archäologische Vertretung in der Türkei. Die im späten 19. Jahrhundert gegründete Zweigstelle Athen hat hingegen bis heute Bestand. Sieht man von der Angliederung an das Deutsche Archäologische Institut während der Zeit des Nationalsozialismus ab, stellt die Zweigstelle Athen seit ihrer Gründung eine durchgehende Repräsentanz österreichischer Archäologie in Griechenland dar. Seit 1973 unterhält das Österreichische Archäologische Institut eine Zweigstelle in Kairo, die gerade in jüngster Zeit trotz Revolution und politischen Umwälzungen in Ägypten an der Erforschung und dem Schutz des kulturellen Erbes des Landes festhält.

Ephesos und die österreichische Archäologie

Die Grabungen in Ephesos hatten großen Einfluss auf die archäologische Forschung in Österreich. Als direkte Konsequenz wurde 1898 das Österreichische Archäologische Institut mit dem expliziten Ziel gegründet, den Ausgrabungen in Ephesos eine solide Basis zu verleihen und deren langfristige Durchführung zu gewährleisten. Dafür wurden Geldmittel bereitgestellt, die auch in Ausbildung und Forschung flossen. Otto Benndorf, der erste Grabungsleiter in Ephesos, war gleichzeitig Ordinarius für Klassische Archäologie an der Universität Wien und konnte die neuen Erkenntnisse direkt an die Studierenden weitergeben.

Für den Forschungsstandort Wien bzw. Österreich insgesamt bot eine Ausgrabung im Mittelmeerraum – an einem kulturhistorisch bedeutsamen Ort – die Möglichkeit, sich in der archäologischen Wissenschaft international zu positionieren. Dabei ging es insbesondere um das Erlangen einer Führungsposition auf europäischer Ebene in direkter Konkurrenz, aber auch in Kooperation mit anderen Grabungsunternehmen. Es ist keineswegs falsch, diesen Anspruch als Wissenschaftsimperialismus zu bezeichnen, der von Europa ausgehend in den Mittelmeerraum und den Orient transferiert wurde.

Bei den frühen Grabungspublikationen handelt es sich um ganzheitliche Betrachtungen, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart miteinbezogen. So werden nicht nur die antiken Ruinenstätten beschrieben, sondern auch zeitgenössische Sitten und Gebräuche. Otto Benndorf widmet dem friedlichen Zusammenleben von Griechen und Türken im Raum von Ephesos einen langen Abschnitt in Ausgabe I der »Forschungen in Ephesos« – eine Einschätzung, die durch die bald darauf über die Region hereinbrechenden Ereignisse geradezu konterkariert wird. Große Aufmerksamkeit wird auch den Naturbeschreibungen geschenkt. Landschaft, Pflanzen- und Tierwelt, Geologie und selbst Klima und Wetter finden ausreichend Berücksichtigung. Im Sinne einer Kulturgeografie werden die naturräumlichen Voraussetzungen in direkte Verbindung zu den menschlichen Aktivitäten gesetzt. Dazu gehörte auch eine minutiöse Erfassung aller oberflächig sichtbaren Ruinen, eingebettet in großräumige topografische Karten.

Aber auch vonseiten der historischen Perspektive ist eine epochenübergreifende Erforschung historischer Prozesse und kulturhistorischer Phänomene zu konstatieren. Deutlich ablesbar ist das Bemühen, jeder Epoche gerecht zu werden und dadurch ein möglichst umfassendes und lückenloses Bild der Siedlungsgeschichte einer Region zu entwerfen. Dies hat zur Folge, dass zwar die Schwerpunkte auf den griechischen und römischen Epochen liegen, dass aber auch die byzantinischen und die türkischen Monumente eingehende Berücksichtigung finden. Dies sollte sich im 20. Jahrhundert gravierend ändern. Unter dem starken Einfluss des Sozialdarwinismus setzte sich auch in der Archäologie eine qualitative Bewertung von kultureller Hinterlassenschaft durch. Nun musste nicht mehr alles mit der gleichen Akribie beschrieben und analysiert werden, und es erstaunt daher auch nicht, wenn man in Grabungstagebüchern ab und an liest: »Römisches Gebäude leider von byzantinischer Mauer überbaut, abgeräumt, Problem gelöst.«

Nach dem Ersten Weltkrieg