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Roman Marchel

Wir waren da

Neun Erzählungen

Residenz Verlag

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ISBN ePub:
978-3-7017-4361-2

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1611-1

Für Tatjana

Der Roboter und das Mädchen

– Also. Mein Name ist Alexander, aber in der Familie sagen sie Alex zu mir. Mein bester Freund nennt mich heute noch Xahander, wenn wir unter uns sind. So hat er mich immer genannt, als wir noch ganz klein waren und er meinen Namen nicht richtig aussprechen konnte, wir kennen uns schon ewig. Aber egal.

Mein Name ist Alexander, ich bin siebzehn, ich bin Hinterbliebener.

– Hallo, Alexander.

– Ich will ehrlich sein: Eigentlich halte ich nicht viel von solchen Versammlungen. Seid mir bitte nicht böse, jeder lebt, wie er kann, aber was mich angeht, habe ich immer gedacht, dass man sich seinen Problemen alleine stellen muss. Mein Vater sieht das ähnlich. Aber egal, jetzt bin ich hier. Ich komme als eine Art Stellvertreter meiner Mutter, sie hatte vorgestern wieder einen Zusammenbruch. Jetzt ist sie im Krankenhaus und spricht nicht. Da habe ich mir gedacht, sie soll in Ruhe schweigen können, ich rede für sie.

Für mich ist das nicht ganz leicht, ich bin nicht gerade von der gesprächigen Sorte, aber ich versuche mein Bestes. Vielleicht beginne ich mit dem Anfang.

Wir sind alle im Garten gesessen, es war ein schöner Sommertag. Nachmittag. Wir Kinder haben Cola getrunken, das heißt, Ina und ich, Philip war ja damals erst vier Jahre alt, er durfte noch kein Cola trinken. Ich sehe genau die rot-weißen Plastikschirmchen vor mir, die wir auf unseren Gläsern hatten, als Schutz gegen die Wespen. Ina hat mit ihrem Schlüsselanhänger gespielt, ich weiß nicht mehr, woher sie ihn hatte. Es war ein rosa Miniaturradio mit einem einzigen Knopf. Wenn man daraufgedrückt hat, spielte es den Refrain von Seasons in the Sun. Ina hat immer und immer wieder das Lied abgespielt. Beim ungefähr dreihundertneunundsiebzigsten Mal hat meine Mutter ihr gesagt, sie soll bitte das Radio lassen. Ina hat es auf den Tisch gelegt, einen Schluck von ihrem Cola genommen und dann wieder auf den Knopf gedrückt. »Bring das Radio bitte in dein Zimmer«, hat mein Vater gesagt. Es war wirklich nervig. Sie hat gemurrt, aber dann ist sie doch ins Haus. Als sie wieder zurückgekommen ist, war da auf einmal der Roboter im Garten. Seine Lichter haben bunt geblinkt. Ina ist zu ihm hingegangen, und er hat ihr etwas gesagt. Wir haben es deutlich gehört, aber nicht verstanden. Ina hat sich zu uns umgedreht, sie hat gelächelt und uns gewunken. Ich würde mein ganzes Gedächtnis dafür geben, wenn ich nur dieses Gesicht, diese Hand mit den gespreizten Fingern vergessen könnte. Sie hat gelächelt, aber so unwirklich wie eine Puppe, ihre Wangen waren fleckig, als hätten die Lämpchen des Roboters auf sie abgefärbt. Dann ist sie durchs Gartentor hinausgegangen.

Der Roboter hat Ina mitgenommen.

Das war vor sechs Jahren, Ina war neun.

Es war die erste Welle, also noch bevor das Fernsehen gewusst hat, dass es eine Welle war. Wir waren nicht vorbereitet, aber die einzige, blinkende, ratternde Wahrheit ist: Wir haben es gewusst. Wir sind dagesessen und haben es gewusst.

Ich habe mir lange und oft eingeredet, es hat einfach zu Ina gepasst. Sie war ein fröhliches Mädchen, sie hat gern auf der Straße Fußball gespielt, sie hatte nie Angst. Ganz anders als wir. Wir machen uns bei jeder Gelegenheit in die Hosen. Meine Mutter hat immer Angst um uns, mein Vater hat dann Angst um meine Mutter, und ich habe Angst um mich selbst. Nur mein Bruder, der ist vielleicht auch anders, heute. Aber früher war er halt noch klein. Wenn es zum Beispiel ein Gewitter gegeben hat. Ich muss selber lachen, wenn ich uns so vor mir sehe. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und tröstet meinen kleinen Bruder, den sie an sich drückt, als wäre es der Weltuntergang. Mein Vater sitzt am Tisch und legt Karten. Er spielt oft Solitär, er glaubt, das hat eine beruhigende Wirkung auf meine Mutter. Ich sitze hinter dem Sofa auf dem Boden und bohre wie verrückt in der Nase. Ich mache das oft, wenn ich Angst habe, manchmal bis ich Nasenbluten bekomme. Nur Ina, was macht sie? Sie hockt vor der Balkontür und giert nach den Blitzen. Sie hat das Gesicht, so fest es geht, an die angelaufene Scheibe gepresst, die Nase plattgedrückt. Ihre Wimpern berühren das Glas. Sie sind wie lauter kleine Hängebrücken, auf denen die magischen Wesen, die sie wohl im Gewitter sieht, den Weg zu ihr finden sollen. Sie hat überhaupt keine Angst. Dann zeichnet sie mit dem Finger gezackte Pfeile in die Atemflecken, damit sie eine Erinnerung an die schönen Blitze hat, wenn der Zauber vorbei ist.

Das Spiel meines Vaters ist nicht aufgegangen, ich habe Blutflecken auf der Hose, mein Bruder wird in dieser Nacht im Bett meiner Eltern schlafen; aber egal wie viel Zittern und Wimmern und Bluten ich auch bemühe, das Bild, das uns im Garten sitzend zeigt, bleibt deutlich: Wir haben es gewusst.

Seid mir bitte nicht böse, ich weiß natürlich nicht, wie es bei euch war. Aber die zweite und dritte Welle sind doch eine Art Beweis. Da war man doch schon gewarnt. Und was hat es geholfen? Original nichts. Irgendwie haben wir es doch alle gewusst, oder? Heute ist mir das klar. Damals war es anders, kurz haben wir mitgespielt. Ina war kein Baby mehr, sie ist halt vors Tor gegangen, na und? Das wollte auch die Polizei hören. Und die Fürsorge. Später sind dann die Journalisten gekommen und die Leute vom Fernsehen, und auch ihnen hat es gepasst. Sie wollten Aufnahmen machen vom unverändert gebliebenen Kinderzimmer. Die waren überhaupt am besten, die Leute vom Fernsehen. Sie wollten sehen, dass wir unseren Fernseher auf den Müll geworfen haben, weil wir die Nachrichten nicht mehr ertragen konnten. Sie wollten ein abgezwicktes Telefonkabel filmen, unsere Panik vor dem Klingeln. So Scheiße halt. Meine Mutter hat geweint, und mein Vater hat sie dann rausgeworfen … die Leute vom Fernsehen, meine ich. Haben wir doch glatt die Unverschämtheit besessen, weiter zu leben.

Natürlich haben wir in der ersten Zeit das Kinderzimmer unberührt gelassen. Wir haben gehofft und geheult, wir sind die Tode gestorben, von denen später so viel und so leicht geredet wurde. Die Nachrichten haben uns umgebracht, das Telefon hat uns umgebracht, aber dann waren wir wieder da, unsere Herzen dicke, klumpige Muskeln. Vielleicht klingt es hart, was ich jetzt sage, aber das Leben eignet sich nicht zum Melodram. Schließt die Augen und stellt euch vor, wie ihr am Klo sitzt, dann habt ihr den Beweis. Wir hoffen und heulen heute noch, aber auch das ist wahr: Wir wissen, sie kommt nicht zurück.

Am besten geht Philip, mein kleiner Bruder, damit um. Er kann unglaublich gut zeichnen und malen. Er tut praktisch den ganzen Tag nichts anderes. Wenn er zum Beispiel einen Baum malt, dann sieht man, dass er noch wachsen wird. Habt ihr schon jemals einen Baum angesehen und dabei gedacht, der wächst noch? Ich nicht. Ich sage das nicht, weil er mein Bruder ist, er hat wirklich ein unheimliches Talent. Man sieht, dass sich die Blätter gerade erst wieder beruhigt haben, nachdem kurz zuvor ein heftiger Windstoß hineingefahren ist. Man spürt, auf dem leicht gebogenen Zweig muss ein Vogel sitzen – und wirklich, wenn man genauer hinschaut, erkennt man im scheckigen Laub die Schwanzfedern. Er wird bestimmt ein großer Maler, da gibt es für uns keinen Zweifel. Vor Kurzem habe ich in der Zeitung ein Interview mit einem Dichter gelesen. Er war im Krieg und er sagt, dass kein Mensch ernsthat dichten kann, bevor seine Welt nicht ins Gleiten, ins Schlittern gekommen ist, solange sie nicht droht, außer Kontrolle zu geraten. Für meinen Bruder stimmt das wahrscheinlich. Okay, ich verstehe davon nicht viel, von Dichtung eigentlich gar nichts, ich habe das Interview nur wegen der Überschrift gelesen: »Sex hilft schon auch!« Unsere Zeitungen. Eine Zierde, was?

Aber egal. Ich wollte ja für meine Mutter sprechen. Für sie ist es am schwersten. Vorgestern hatte sie wieder einen Zusammenbruch. Es geht ihr schlecht. Aber schon vor dem ersten Zusammenbruch war uns klar, dass sie am meisten Schutz braucht. Mein Vater sagt, sie ist unser umgekehrter Engel. So, hat er geglaubt, würden wir am ehesten begreifen, worum es ging. Mein kleiner Bruder war ja erst vier, dann, am ersten Jahrestag, fünf. Jahrestage, haben wir geglaubt, sind besonders gefährlich. Mein Vater hat unsere Nachbarn und Bekannten eingeschworen, keine Anrufe, keine Besuche. Es ist gut gegangen. Das Frühstück am nächsten Morgen war ein Festmahl im Zeichen des Triumphs, wenn man einen kurzen Blickwechsel zwischen meinem Vater und mir so nennen will. Unsere Ina ist fort, aber diese Schlacht haben wir gewonnen. In solchen Begriffen haben wir tatsächlich gedacht, damals. Zumindest ich. Mein Vater aber auch, glaube ich. Die Servietten neben den Tellern waren bunt, keine Zugeständnisse, keine weißen Fahnen. Ich erinnere mich, wir waren sogar ziemlich heiter. Wir haben gelacht. Mein kleiner Bruder hat etwas von seinem Joghurt auf den Teller gepatzt, auf ein Paprikastück. Er hat es aus der Pfütze genommen und gesagt: »Quak, quak, quak.« Er ist lustig, mein Bruder, wir haben gelacht, meine Mutter auch.

Bis wir es plötzlich gehört haben … das Lied. Ein paar Sekunden später war es ruhig. In meinem ganzen Leben habe ich nie eine solche Stille erlebt wie in diesem Moment. Die Zeit ist ein Geräusch, und wenn sie stehen bleibt, ist Stille. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange. Dann ein Krachen, ein Schaben, und wieder: Seasons in the Sun. Meine Mutter ist aufgesprungen und durchs Haus gelaufen, wir auch. Sie hat geschrien, zuerst »Aus! Aus!«, immer wieder »Aus!«, dann hat sie keine Wörter mehr herausgebracht, nur noch Laute. Ich wünsche niemandem, dass er solche Laute hören muss. Es war nicht das hysterische, schrille Gekreische wie im Film, sondern tiefes, kehliges Klagen. Als ich ins Kinderzimmer gekommen bin, ist meine Mutter auf allen vieren gekauert, unter ihr die Splitter und Elektronikteile des Miniaturradios. Sie hat den Schlüsselanhänger zertreten. Doucette muss ihn hinter einem Kasten oder Regal herausgefischt haben und mit der Pfote am Knopf angekommen sein. Doucette ist unsere Katze. Sie ist eigentlich ein Kater, aber als uns die Tierärztin darüber aufgeklärt hat, waren wir schon so an den Namen gewöhnt, also sind wir dabei geblieben.

Meine Mutter war dann für einige Zeit im Krankenhaus. Doucette auch. Also in der Tierklinik. Wir wohnen recht nahe an der Bahntrasse, und ein paar Tage später ist sie unter einen Zug gekommen. Mein Gott, die hat ausgesehen, als wir sie gefunden haben. Die linke Vorderpfote war abgetrennt, ich darf gar nicht daran denken. Jedenfalls hat sie überlebt. In der Nachbarschaft hat sofort das Gerede eingesetzt. Katzen stehen im Bunde mit den Mächten der Finsternis, und das war die Strafe. So Scheiße halt. Uns haben sie es natürlich nicht gesagt, aber mein bester Freund hat es aufgeschnappt. Und es hat schon Momente gegeben. Der Zeitpunkt war immerhin eigenartig, als hätte Doucette sich nur um einen Tag verrechnet, bei der Sache mit dem Radio. Da muss man wahnsinnig aufpassen, verloren ist man schnell.

Ich muss fast lachen. Das wäre etwas gewesen für die Leute vom Fernsehen. Jedenfalls haben wir daraus gelernt, dass Jahrestage nichts bedeuten. Das Leben rechnet nicht in Tagen. Wir brauchen gar nicht zu triumphieren, haben wir gelernt. Wer von einer Schlacht spricht, hat schon verloren. Manchmal bin ich unerträglich altklug, ich weiß. Aber meistens bin ich ganz normal. Das ist es ja, wir leben fast ganz normal. Das ist es, was ich vorher sagen wollte. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber bei uns ist es … Ich freue mich wie ein kleines Kind, wenn eine Schulstunde entfällt, einmal habe ich sogar in die Hände geklatscht. Oder, es ist nicht lange her, da wollte ich einen Film anschauen, im Freiluftkino. Die Vorstellung ist ausgefallen, weil es geregnet hat. Ich bin zwei Tage auf dem Bett gelegen und habe mir leid getan. Wegen so was. Als wäre meine Schwester nie von einem Roboter fortgenommen worden, als wären wir nicht dagesessen und hätten zugeschaut. Manchmal glaube ich, ich habe kein Herz.

Vor zwei Wochen zum Beispiel, das war so ein Spaß. Mein bester Freund und ich haben bei ihm hinterm Haus einen Joint geraucht. Seine Eltern haben oben die Nachrichten geschaut, das Fenster war offen. Wir haben geflüstert. Wenn sie etwas riechen, sagen wir einfach, dass der eine Politiker jetzt schon so eingeraucht ist, dass es sogar durch den Fernseher kommt. Das sieht man ja, dass der vor jeder Parlamentssitzung etwas raucht, vor jedem Interview und eigentlich immer. Die Idee allein hat uns wiehern lassen vor Lachen. Wir sind dann in ein Lokal gegangen, das Flüstern hätten wir nicht mehr lange durchgehalten. Dort haben wir uns abwechselnd Interviewfragen gestellt und dann beide darauf geantwortet. Alles gereimt. Kostproben erspare ich euch, ich habe ja schon gesagt, von Dichtung verstehe ich nichts. Aber wir waren begeistert, wir haben mit der Hand auf den Tisch geschlagen und wie aufgezogen gestrampelt. Die Kellnerin hat uns einen leeren Aschenbecher gebracht. »Darfs für euch noch was sein?«, hat sie gefragt. Mein bester Freund hat sich zurückgelehnt und sie angeschaut. »Ja, bitte, Huber, sing uns doch etwas vor.« Ich bin seitlich vom Sessel gekippt vor lauter Lachen. Der Huber ist der Sänger von unserer Schulband. Gott sei Dank hat sie ihn nicht gekannt. Der Vergleich ist kein Kompliment, das könnt ihr mir glauben. Normalerweise sind wir aber nicht so ungut, wir können uns schon benehmen.

Vor zwei Tagen waren wir dann schwimmen und wen haben wir gesehen? Den Huber, den richtigen Huber, mit einem Mädchen aus der sechsten Klasse. Die gefällt uns schon lange, und jetzt hat ihr der Huber den Rücken eingeölt. So eine Strafe für einen winzigen Spaß! Wir haben auch gemerkt, dass sich etwas zusammenbraut, immer mehr Leute haben ihre Sachen gepackt und sind gegangen. Erste Tropfen haben wir auch gespürt, aber wir mussten einfach auf unseren Handtüchern sitzen bleiben, die Finger zwischen den Zehen, wir konnten es nicht fassen. Bis wir endlich zur Straßenbahn gekommen sind, klebten uns die Haare im Gesicht und das Gewand auf der Haut. Zu Hause habe ich einen richtigen Bach durchs Wohnzimmer ins Bad gezogen. Das war hier die einzige Spur, die das Gewitter hinterlassen hat. Schon während der Straßenbahnfahrt hatte es offenbar die Verfolgung aufgegeben. Ich habe geduscht, nur kurz, und frische Sachen angezogen. Als ich dann ins Wohnzimmer zurückgekommen bin, ist meine Mutter auf dem Sofa gehockt und hat sich das Handtuch, mit dem sie meine Sauerei aufgewischt hatte, an die Brust gedrückt. Neben ihr setzte mein kleiner Bruder gerade die letzten Striche auf eine Bleistiftskizze. Ich weiß nicht, wie lange ein Gedanke dauert. Jedenfalls habe ich mir gedacht, was für ein unglaubliches Talent! Die Wolken auf dem Papier waren gewaltiger und geladener als die über dem Schwimmbad, und obwohl das Papier natürlich vollkommen trocken war, habe ich die Nässe, den Regenguss, der gar nicht gezeichnet war, so deutlich kommen sehen und viel deutlicher gespürt als die erste Dusche auf dem Weg zur Station und die zweite im Badezimmer. Das war mein Gedanke, er kann nicht lange gedauert haben. Aber ich hatte gerade noch Zeit, diesen Gedanken zu denken, dann hat es gekracht. Der Donner war mitten im Wohnzimmer, der Blitz in der Scheibe, und dass sie nicht zersprungen ist, war ein Wunder. »Schalt doch bitte das Ding aus«, hat meine Mutter zu meinem Vater gesagt. Er hat am Computer Solitär gespielt. »Gleich«, hat er gesagt. »Ich gewinne gerade.« Das war ein Irrtum. Mit dem nächsten Kracher gab es ein helles Aufleuchten, als bestünde die Luft aus Geistern, die für einen Sekundenbruchteil sichtbar werden, wenn sie erschrecken. Dann war es finster, auch am Bildschirm. Der Blitz hatte in den Computer eingeschlagen, und ein brennendes Bündel von Ängsten in meine Mutter.

Jetzt ist sie im Krankenhaus. Sie wird sich fangen. Irgendwann wird dann wieder irgendwas passieren. Ich weiß nicht, warum ich geglaubt habe, es könnte helfen, wenn ich das alles hier erzähle. Vielleicht habe ich es gar nicht geglaubt. Vielleicht wollte ich in Wahrheit etwas anderes sagen: Ina kommt nicht zurück, und wir wollen ein reiches Leben, so in der Art. Mit Sekt an den Feiertagen. Ina hat einmal einen Sektkorken mit einer Schnur an den Sessel beim Telefontisch gebunden, für unsere Katze. Er hängt immer noch dort, wir haben die Schnur zweimal erneuert, aber er hängt noch dort. Die Katze hat dem Korken den halben Tag lang aufgelauert, sie ist ihn angesprungen, hat sich in ihn verbissen, sie hat ihn geliebt. Etwas zum Lieben, das war Inas Geschenk für die Katze. Inzwischen ist sie alt geworden und träge, sie hat das Interesse am Korken verloren. Manchmal, wenn der Zug draußen vorbeipoltert, die Stifte im Glas neben dem Telefon vibrieren und der Korken zittert, tatzelt sie noch hin und versucht, mit dem Stummel ihrer Vorderpfote einen zweiten Schlag nachzusetzen. Aber es will ihr nicht so recht gelingen. So ist es mit uns. Wir haben dem Fernsehen nicht den Gefallen getan uns einzubunkern, wir haben die Fenster nicht mit Papier zugeklebt, niemand von uns trägt Schwarz. Nicht einmal hierher gekommen bin ich, bis jetzt. Aber wir werden älter, und es wird schwerer. Ina ist fort. Und wenn wir eine Freude, ein Glück in Reichweite haben … Es stimmt, ich habe es eh gesagt, wir bekommen schon etwas davon ab, aber dann wollen wir es fassen und rudern mit unserem Stummel ins Leere. Ich kann hier nur für mich sprechen und ich weiß, es ist nicht richtig. Aber ich wünschte so sehr, ich könnte auch gehen.

Schwimmer in den Kronen

Ich bin keine Schriftstellerin und nie war ich seine Geliebte. Nicht so, wie man es normal in der Welt versteht. Aber einst, etwa ein Jahr vor der Matura, waren wir gemeinsam die heimlichen Bewohner einer Blase in der Zeit; lange bevor er in diese andere wechseln sollte, die inzwischen geplatzt ist.

Er hat mir drei Gedichte geschenkt. Sie sind nicht in seinem Buch, aber in meinem aufgefächerten Leben werden sie ihren Platz immer behalten, samt Lesebändchen und Seitenzahlen.

Normal in der Welt teilten wir gut drei Monate lang Ort und Zeit. Es waren die letzten Wochen der siebten Klasse und die großen Ferien, die in meinem Fall durch keinerlei Urlaubsreisen unterbrochen wurden, da mein Vater die Stelle im Motorenwerk gerade erst angenommen hatte. Wir wohnten in einer Reihenhaussiedlung, etwa zwölf Kilometer östlich der Stadt. Ein paar luftige Gedankensprünge weiter wohnte – immer schon – Markus. Auch er verbrachte die Ferien daheim. Seine Eltern, sagte er, hätten keine Lust mehr, sich ihre Reisen von ihm verderben zu lassen; er sei, sagte er, ein unangenehmer Mensch. Ich hielt das damals für eine Art Koketterie; mein Vater bezeichnete seinen Vorgesetzten als unangenehmen Menschen, eigentlich all seine Vorgesetzten. Wie die Dinge heute liegen, hatte Markus aber, anders als mein Vater, den wahren Feind in sich selbst wohl richtig erkannt. Leider.

Was mich selbst angeht, wusste ich sehr wohl, was mit mir nicht stimmte. Ich schlief schlecht, durchwachte, durchwälzte halbe Nächte und mehr, weil ich mich nicht an die neue Umgebung gewöhnen konnte, obwohl ich auch damals schon einige Übung darin hätte haben sollen. Mit jeder weiteren Umzugsankündigung war mir, als weckte man mich gewaltsam auf, immer gerade dann, wenn ich einem Traum nahe war. Und die erste Erinnerung, die ich mit Markus verbinde, passt auch genau hierher: Huhu, aufwachen, du versäumst ja dein eigenes Bild.

Es war seine Stimme, noch nicht sein Gesicht. Ein Geist hatte mir von hinten auf die Schulter getippt.

Abgedunkelte Räume waren für mich in den Jahren meiner Schulzeit der Befehl sofort einzuschlafen. (Helle Räume weckten nur den heftigen Wunsch, aber auch ihm gab ich allzu oft nach.)

Eine Mitschülerin hielt ein Referat über El Greco, und als der Wachruf mich ereilte, leuchtete an der Wand, als Diaprojektion, Maria Magdalena, mit feuriger Lockenpracht unter aufreißenden Wolken. Ich fühlte mich sofort als Sünderin.

Ich heiße Magdalena, ohne Maria, sagte ich abwehrend, warnend, gleichsam zu meiner Beruhigung. (Meine Haare sind dunkel und damals trug ich sie als Bubikopf.) Ich sagte es aber ungewollt viel zu laut, die vorderen Reihen drehten sich zu mir um, auch der Lehrer, und verschämt, ein kleines Kind, senkte ich den Blick auf meine Hände: Genau wie die Gestalt auf dem Bild hielt ich sie in den Schoß gedrückt.

Nach der Stunde kam Markus zu mir. Es tut mir leid, sagte er, ich hätte dich nicht wecken sollen. El Greco ist ein Kitschbruder. Faltenwürfe und Glanzstreifen in den Augen, als wäre ein Schneck drübergekrochen, das kann er. Aber sein Himmel ist immer enttäuschend. Von Maria Magdalena hat er nichts verstanden, erst recht nicht davon, wie ihr der Himmel erschienen sein muss.

Von hier an also hatte er auch ein Gesicht. Und wie müsste der Himmel sein, fragte ich.

Ich habe dich im Bus gesehen, sagte er, du wohnst in meiner Nähe. Komm halt mal zu mir aufs Dach.

Ich sah ihn später nur selten im Bus, er blieb meist zum Mittagessen bei seiner Großmutter in der Stadt. Ich sagte auch nicht gleich ja, und wahrscheinlich ist unser kleines Gespräch erst im Verlauf der zwölf Jahre, die seither vergangen sind, so groß geworden, wie ich es heute in meinen Einschlafbeschwörungen höre. Trotzdem war mir damals, noch bevor ich von seiner Blubberlehre wusste, als hätte die Welt eine Pause gemacht.

An der Rückseite seines Hauses, die den angrenzenden Feldern zugewandt war und dem eingezäunten Obstgarten des benachbarten Bauern, war ein Holzgitter befestigt, als Kletterhilfe für die Weintrauben, die dort sehr spärlich gediehen, die auch, sagte er, immer von den Vögeln schon aufgepickt waren, bevor jemand auch nur eine Handvoll davon hätte ernten können. Markus gefiel das Rautengitter gerade in seiner Zwecklosigkeit. Das Holz war einmal blau gestrichen gewesen, jedoch waren die Latten inzwischen von Rissen und tiefen Spalten zerklüftet, übersät mit dem Altersbart rau abstehender Fasern, und die verwaschene Farbe teilte sich auf dem unregelmäßigen Grund zu Flecken auf von bleichem Schimmelgrün, durchgrautem Holz und Wasserleichenblau, das, wenn die späte Nachmittagssonne auf die vollreifen Kirschen im Obstgarten brannte, einen leichten, lebendigen Violettstich annehmen konnte. Das Hüpfen der Licht- und Schattenflecken, der Amseln und Spatzen war für Markus der Beweis für die ewige Jugend des alten Gitters, und wenn wir daran aufs Dach kletterten, nahmen wir in seinen Worten die Harlekinleiter in den Himmel.

Tatsächlich war das Blau, in das wir schauten, wenn wir dann rücklings auf der Schräge lagen, meistens von selbstbewusster Klarheit und Ruhe, genügte sich in seiner Weite, anstatt großer Gesten bot es hier und da einen weißen Bausch oder den schwarzen Tupfentanz hoher Vögel, dem ein kurzer Traum zum Spiegel wurde, wenn ich mehr als nur einmal erschöpft in den Schlaf sank.

Oft saßen wir aber auch im Reitersitz einander gegenüber, ganz oben auf dem Giebel, und schauten hinunter auf die Welt, die für Markus ein Versprechen war, für mich die entlegene Provinz einer unsicheren Hoffnung. Ich sehe den Garten, der zum Haus gehörte, ziemlich dunkel und abgeschlossen von einer unregelmäßigen Reihe aus traurigen Fichten und düsteren Föhren, von seinem Urgroßvater angeblich, so Markus, nach dem gewagten Vorbild seiner Zähne gepflanzt. Mehr Richtung Osten lag der Friedhof, dessen Portal von zwei mächtigen Ahornbäumen flankiert war. Tatsächlich waren es, sagte mir Markus, Platanen. (Sie finden sich übrigens, zu einer zusammengenommen, im Gedicht »Der Friedhofsbaum«. Es ist in seinem Buch, S. 24.) In südöstlicher Richtung lag das eine von insgesamt zwei Dorfgasthäusern, das gleichzeitig ein kleines Hotel war, mit Tennisplätzen und Gastgarten (Tische und Sessel aus weißem Plastik, Sonnenschirme bedruckt mit dem Schriftzug einer Kaffeemarke). So, wie wir immer saßen, lag dieser Teil aber in meinem Rücken, und um den Dunstfleck aus geschäftiger Gastlichkeit und verschwitztem Bewegungsdrang mit ins Bild zu bekommen, muss ich mich sogar im heutigen Erinnern so arg verdrehen, dass Nacken und Schultern schmerzen. Dahinter, unweit, aber von Bäumen verdeckt, lag die Siedlung mit unserem Haus. Auch nicht ohne Weh und Ziehen.

Ich zeichne das hier nicht als Lageplan, wie man ihn normal in der Welt versteht. Es ist für mich eine Schatzkarte zu meinen Erinnerungen an Markus. Er hat auch statt Norden, Süden usw. immer links und rechts gesagt, selbst in der Geografiestunde, in der siebten Klasse. Du bist in der Siebten, bitte, hat der Geografielehrer dann immer gesagt. Rechts, aus seiner Sicht, hätte Markus also gesagt, lag der Obstgarten, ein Traum. Mehrere Apfel- und Birnbäume und, am prachtvollsten, nahe dem Zaun, der Kirschbaum. Ziemlich weit hinten war matt das Bauernhaus mit seiner rissigen Fassade zu sehen, daneben ein moderner Silo, in hellgrauem Militärgrün.