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Tanja Maljartschuk

Biografie eines
zufälligen Wunders

Roman

Aus dem Ukrainischen
übersetzt von Anna Kauk

Residenz Verlag

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www.residenzverlag.at

© 2013 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:
978-3-7017-4360-5

ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1612-8

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Mit freundlicher Unterstützung von KulturKontakt Austria

Ein Hund, der stirbt und der weiß,
daß er stirbt wie ein Hund,
und der sagen kann, daß er weiß,
daß er stirbt wie ein Hund – ist ein Mensch.

Erich Fried

Inhaltsverzeichnis

1 Wie sie sich und andere nannte

2 Gott im Himmel und auf Erden

3 Wie sie sich vornahm, nicht verrückt zu werden

4 Skiapoden, Arimaspen und andere Kynokephale der Naturphilosophie

5 Wie sie die Grundlagen der Valeologie erlernte

6 Warum sie keine Herrin sein wollte

7 Wie sie suchte und nicht fand

8 Wie sie Kleines beschützte, damit das Große nicht angegriffen wird

9 Der Immobilienkrieg

10 Ein wenig Theorie

11 Erklärender Bericht

12 Wie sie auf den letzten Hirten traf

13 Wie sie in die Finsternis blicken musste, um das Licht zu sehen

Weitere Bücher der Autorin

1    Wie sie sich und andere nannte

Lena wurde in San Francisco geboren und nannte sich Lena.

San Francisco ist eine ukrainische Kleinstadt, mehr im Westen als im Osten des Landes. Ihren Namen erhielt sie zum Andenken an diejenigen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach ihrem Traum in die USA ausgewandert waren. Die Daheimgebliebenen sagten: »Unser Amerika ist hier«, und tauften ihre Stadt »San Francisco«.

Selbstverständlich hieß sie nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Kommunisten anders, doch Lena nannte ihre Heimatstadt auch weiterhin bei ihrem amerikanischen Namen und behauptete sogar, das San Francisco in den USA sei weit weniger real als sein ukrainisches Gegenstück.

Sich selbst bezeichnete sie ausschließlich als Lena, niemals anders. Sie hätte auch eine »Olena« oder »Olenka« sein können, aber sie verabscheute diese beiden Varianten ihres Namens noch viel mehr als das russische »Lena«, obwohl sie – wie die meisten Westukrainer – alles Russische wie die Pest hasste.

Vermutlich aus Rache hat sich das Russische an ihren Namen gehängt und sie nie wieder losgelassen. So ist das mit den Dingen, die man hasst. Sie bleiben an einem kleben.

Als Lena klein war, wurde sie gezwungen, ein Gedicht aus der Lesefibel auswendig zu lernen. Es handelte von der »kleinen Olenka«, die erste Strophe lautete: »Kleine Olenka, warum freust du dich so?« Und die Olenka aus dem Buch antwortete: »Meine Familie macht mich so froh!«

Lenas Verwandte fanden das Ganze sehr spaßig und ließen sie das Gedicht bei Familientreffen immer wieder aufsagen. Lena lief dabei jedes Mal knallrot an und versuchte sich zu drücken, doch die Verwandten ließen nicht locker. Schließlich stellte sie sich zähneknirschend vor sie hin und deklamierte mit lauter Stimme: »Kleine Olenka, warum freust du dich so? Meiner Familie zeig ich den Po.« Danach bekam sie Ärger, musste in der Ecke stehen oder man redete ein, zwei Tage nicht mit ihr.

Lena assoziierte den Namen Olenka mit Dummheit, und dumm zu sein war das Einzige, was sie ihr Leben lang vermeiden wollte, allerdings vergeblich.

Als Kind hatte Lena ständig Angst, etwas zu verpassen, etwas Wichtiges nicht zu erfahren, und deshalb dumm zu sein. Später wurde ihr klar, dass niemand davor gefeit ist und dass Klugheit nicht davon abhängt, wie viele Bücher ein Mensch in seinem Leben gelesen hat. Klugheit, sagte Lena, erfordert Mut sich einzugestehen, was und wie man denkt. Zunächst muss man eine eigene Meinung haben, und mit der Zeit kommt dann vielleicht auch die Klugheit. Die eigene Meinung bildet jedenfalls die Grundvoraussetzung. Und man muss anderen zuhören und sich entscheiden: ihnen zuzustimmen oder doch lieber bei seiner eigenen Meinung zu bleiben. Man sollte sich selbst gegenüber ehrlich und gleichzeitig in der Lage sein, neue Sichtweisen zu übernehmen.

Lenas Abneigung gegenüber allem Russischen konnte ihr nicht als Schuld ausgelegt werden. Zum einen wurde sie dort geboren, wo Russland aus dem Blickwinkel der historischen Gerechtigkeit gehasst werden musste. Zum anderen kam Lena genau zu jenem Zeitpunkt in den Kindergarten, als die Tanten dabei waren, das Lenin-Bild im Festsaal von der Wand zu reißen. Ganz offensichtlich hassten sie ihn von ganzem Herzen. Im Kindergarten hatte Lena oft gehört, dass die Ukraine sich von Lenin, von den Kommunisten und von vielen anderen Russen früher habe viel gefallen lassen müssen. Deshalb gebe es nicht den geringsten Grund, Russland zu mögen. Vor den Kommunisten war da noch das Russische Reich, welches die Ukraine als »Kleinrussland« bezeichnete und die ukrainische Sprache verbot. Lena erfuhr von Gefängnissen, in denen Ukrainer gesessen und gestorben sind, sie erfuhr von Sibirien, wohin ihre Landsleute in den sicheren Tod inmitten von Schnee, Tundra und Polarbären geschickt wurden. Lena lernte Lieder über junge ukrainische Männer, die in den Krieg zogen, um ihre Heimat zu verteidigen, wobei sie meistens ihre schwangere Verlobte daheim zurückließen. Diese Verlobte tat Lena immer sehr leid.

Lena kannte die Lebensgeschichte des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko in- und auswendig und weinte immer an der Stelle, wo der kleine Taras lernen will und der betrunkene Schulmeister ihn schlägt und ihn barfüßig zum Wasserholen an den Fluss schickt, obwohl es Winter ist. Es ist ungewiss, ob Lena gesagt wurde, der betrunkene Schulmeister sei ein Russe gewesen. Vielleicht war er auch Pole. Polen mochte Lena auch nicht leiden, aber das ist eine andere Geschichte.

Im Kindergarten erlitt Lena ein seelisches Trauma im Zusammenhang mit der russischen Sprache.

Kindergartentanten hatte sie viele, allesamt Frauen mittleren Alters mit kurzen Ringellöckchen und einer unbändigen Liebe zum Vaterland. Eine Tante stellte allerdings das genaue Gegenteil der Superpatriotinnen dar. Sie war älter. Ihre langen grauen Haare hatte sie immer zu einem riesigen Dutt gebunden. Der Dutt war größer als ihr ganzer Kopf. Und diese Tante war nicht voller Liebe zum Vaterland.

Das Vaterland war zwar nie Gesprächsthema zwischen Lena und der Tante, aber es war offensichtlich, dass die Erzieherin es nicht liebte. Sie verlor nie auch nur ein Wort darüber. Mit den Kindern sprach sie Russisch, was angesichts des übersteigerten Patriotismus in Lenas Kindergarten sehr ungewöhnlich war. Anstelle des Bildes von Lenin wurde im Festsaal nun eines von Taras Schewtschenko aufgehängt. Er war darauf ebenfalls in voller Körpergröße zu sehen und seinem Vorgänger nicht ganz unähnlich. Alle blickten das Bild voller Angst und Respekt an, als wäre es eine Ikone.

Außer dieser einen Erzieherin. Vielleicht wusste sie nicht, wer Taras Schewtschenko war, oder vielleicht hielt sie ihn für unwürdig, die Nachfolge seines Vorgängers anzutreten.

Die Erzieherin hatte ihr ganzes Leben in San Francisco verbracht, war aber nicht in der Lage, wie ein normaler Mensch zu sprechen. Entweder wollte sie nicht oder konnte sie nicht. Ihr Russisch war grotesk, mit starkem ukrainischen Akzent und vielen ukrainischen Wörtern durchsetzt, die sie jedoch falsch verwendete. Vermutlich führte die Erzieherin kein leichtes Leben, denn wer so spricht, kann unter Fremden nicht glücklich werden.

Lena nannte sie »Frau Dutt«.

Frau Dutt mochte Kinder, und ganz besonders mochte sie Lena. Sie brachte ihr das Singen bei und behauptete, Lena würde irgendwann bestimmt »ganz groß rauskommen«. Es war allerdings nicht klar, wo genau sie rauskommen würde, also zum Beispiel aus welcher Körperöffnung, aber damals war Lena wahnsinnig stolz auf sich und sang dermaßen laut, dass die Fensterscheiben nur so klirrten.

Frau Dutt sagte außerdem voraus, Lena würde eine hübsche junge Frau werden, einen gut aussehenden Mann heiraten und schöne Kinder bekommen. Das war offensichtlich gelogen. Lena war nämlich pummelig und hatte fransige, mit stumpfer Schere schief geschnittene Haare. Die Kindergartentante riet, sie solle sich um ihren Körper und ihre Haare keine Sorgen machen, denn als Kinder seien alle Menschen hässlich. Das war auch gelogen, denn wenn Lena sich so umsah, waren da ganz andere Mädchen. Sie hatten lange blonde Zöpfe, Rüschenkleidchen und Gesichter, die aussahen wie gemalt.

Dafür konnte Lena am lautesten von allen singen. Und Frau Dutt wiederholte auf Russisch, dass aus ihr mal etwas ganz Großes rauskommen würde.

Eines Tages bestellte die Kindergartendirektorin die Erzieherin in ihr Büro und befahl ihr, von nun an nur mehr Ukrainisch mit den Kindern zu sprechen. Die Erzieherin versprach es. Einen Monat lang oder vielleicht sogar zwei gab sie sich allergrößte Mühe, doch ihre Versuche wirkten einfach nur lächerlich. Sie brachte keinen geraden Satz heraus und verhaspelte sich ständig. Statt »Hallo Kinder« sagte sie »Hallo Kender«. Die »Kender« krümmten sich vor Lachen, und Frau Dutt weinte. Einmal ging Lena während der Mittagsruhe zu ihr, um sie zu trösten und sich für das »Großrauskommen« zu bedanken.

»Sie wissen ja«, sagte Lena, »Russland ist ein sehr böses und gemeines Land. Wegen Russland mussten viele Ukrainer sterben. In Sibirien und auch am Weißen Meer.«

Das Gesicht der Kindergärtnerin wurde rot und verquollen, Tränen rannen. Sie schwieg, und ihr Schweigen ließ Lena keine Ruhe.

Lena fuhr fort:

»Kommen Sie eigentlich aus Russland? Denn wenn Sie Russin sind, könnten Sie mein Feind sein.«

»Ich bin Russin«, antwortete Frau Dutt in einer Sprache, die nicht so leicht einzuordnen war.

»Dann sind Sie eben eine liebe Russin. Das gibt’s auch.« Irgendwie wurde Lena alles doch zu viel und sie begab sich zu einer Audienz bei der Frau Direktor.

Die Direktorin war eine sehr strenge Frau. Unter ihrem Blick brach den Kindern der Angstschweiß aus, doch Lena beschloss, ihr zum Wohle aller die Stirn zu bieten.

Sie klopfte vorsichtig an die Tür. Als keine Antwort folgte, schob sie ihren Kopf durch den Spalt. Die Direktorin saß an ihrem Schreibtisch. Sie trug ihren weißen Kittel, den sie nie ablegte, obwohl sie in einem Kindergarten und nicht im Krankenhaus arbeitete.

»Was ist?!«, rief sie gereizt.

Lena schlüpfte zwischen Tür und Türrahmen hindurch wie ein Wiesel, von dem sie gehört hatte, dass es durch die engsten Spalten kommt, indem es sich in die Länge zieht und ganz flach macht. Also schlüpfte Lena wie ein Wiesel durch den Türspalt und setzte mit zittriger Stimme an:

»Ich wollte Sie fragen, Herr Direktor … Frau Direktor Wolodymyriwna, ich wollte Sie bitten, dass Sie ihr erlauben, mit uns Russisch zu sprechen. Oder wenigstens mit mir. Weil ich verstehe alles. Es macht mir auch gar nichts aus.«

Die Direktorin blickte Lena streng an, während Lena weiter vor sich hin haspelte und das Stammeln langsam in ein Weinen überging. Das Gesicht der Direktorin war eisern, bleich, mit einem Stich ins Graue. Bei Bedarf setzte sie ein ebenso eisernes Lächeln auf, das genügte, damit die Kinder zu stottern anfingen oder zu Bettnässern wurden. Doch heute lächelte die Direktorin nicht.

»Hör mir einmal zu«, zischte sie unter Einsatz ihres charakteristischen pädagogischen Untertons, »wie heißt du überhaupt?«

»Lena …«

»Das heißt nicht Lena, sondern Olenka! Hör mir mal zu, Olenka. Du bist Ukrainerin, vergiss das nie. Deine Großväter und Urgroßväter haben ihr Leben dafür gegeben, dass du heute Ukrainerin sein darfst.«

»Mein Opa lebt noch«, schob Lena schnell ein, »er trinkt nur viel. Mein Urgroßvater ist aber tot, das stimmt. Er war schon alt.«

»Pass auf, hörst du überhaupt, was ich dir sage?! Ich meine nicht deine Großväter und Urgroßväter, sondern die von anderen Menschen. Die vielen anderen Großväter und Urgroßväter …«

»Ach so, das hätten Sie mir gleich sagen müssen!«

»… die ihr Leben für die Ukraine gegeben haben. Sie mussten sterben, damit du heute leben kannst. In einer freien Ukraine. Und du hast kein Recht, dieses Land zu verraten. Du wirst hier leben und zum Wohle dieses Landes arbeiten. Und du wirst Ukrainisch sprechen. Unsere Sprache ist nur dank deiner Großväter und Urgroßväter erhalten geblieben.«

Lena zuckte zusammen.

»… ich meine, dank der vielen anderen Großväter und Urgroßväter, die ihr Leben riskiert haben, nur damit Ukrainisch weiterhin frei erklingen kann.«

Lena hörte noch ein wenig zu, um einen höflichen Eindruck zu machen und nicht unnötig zu provozieren, um dann wieder zum Wichtigsten zurückzukommen:

»Erlauben Sie ihr also, Russisch mit uns zu sprechen?«

»Du hast es nicht verdient, dich Ukrainerin zu nennen!«, keifte die Direktorin zornig. »Wie kannst du es nur wagen, deine Sprache so zu verraten, wo deine Großväter und Urgroßväter unter der Erde liegen!«

»Mein Opa lebt noch …«

»Raus, du Abtrünnige!«

Lena stürmte aus dem Büro. Unterwegs versuchte sie einzuordnen, in welche Kategorie von Schimpfwörtern das Wort »Abtrünnige« fallen könnte. Frau Dutt bekam nach diesem Gespräch noch größere Probleme. Die Direktorin berief eine Sonderkommission ein – eine Art öffentliches Verfahren, welches endgültig über ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte.

Das Schicksal entschied jedoch, wie so oft, selbst.

Jener Tag prägte sich Lena besonders gut ein.

Es war Mai, alles blühte und duftete. Lena hatte gerade ein neues Kleid bekommen, was damals nicht sehr oft vorkam, weil ihren Eltern schon lange kein Gehalt mehr ausbezahlt wurde. Das dunkelrote Kleid mit den winzigen Ahornblättern war ihr ungefähr um zwei Größen zu klein.

Als die anderen Kinder nach dem Mittagessen eingeschlafen waren, ging Lena zu Frau Dutt und teilte ihr mit, dass sie nicht schlafen würde, weil sie ihr neues Kleid nicht ausziehen wollte. In Wahrheit konnte Lena einfach nicht herausschlüpfen, da sie Angst hatte, sie könnte das Kleid zerreißen oder beim Ausziehen ersticken. Frau Dutt wusste sofort Bescheid und ließ das Mädchen bei sich im Spielzimmer sitzen.

Frau Dutt bastelte gerade einen hellblauen Schwan aus Plastilin – sie liebte Hellblau. Sie wandte sich an Lena:

»Mach die Augen zu und stell dir einen Regenbogen vor.«

Lena folgte Frau Dutts Anweisungen, doch der Regenbogen wollte nicht erscheinen.

»Weißt du, was ein Regenbogen ist?«

»Sicher«, log Lena.

Natürlich hatte sie schon Regenbögen gesehen, aber sie hatte keine Ahnung, woher sie kamen und wohin sie verschwanden. Lenas Opa erklärte, Regenbögen seien Brücken zwischen zwei Flüssen, aber vermutlich war das geflunkert, er schwindelte gern.

»Ein Regenbogen, das sind Farben, die sich manchmal versammeln, um gemeinsam die Welt zu verschönern«, sagte Frau Dutt. »Zähl einmal die Farben auf, die du kennst.«

»Weiß, Schwarz, Rot, Grün, Gelb …«

»Weiß und Schwarz sind keine Farben.«

»Wieso keine Farben? Ihre Bluse ist ja weiß.«

»Das sieht nur so aus. In Wirklichkeit sind alle Farben im Weiß enthalten – alle Farben zusammen. Das nennt man ein Wunder.«

»Na ja, ich sehe aber keine anderen Farben, ich sehe nur Weiß.«

»Deswegen ist es ja ein Wunder, eben weil man sie nicht sehen kann. Wunder muss man anders erkennen. Diese Fähigkeit muss man trainieren.«

»Bringen Sie’s mir bei?«

»Gerne«, sagte Frau Dutt mit Wehmut in der Stimme. Sie formte gerade den Schwanenkopf.

Draußen zog inzwischen ein richtiges Maigewitter auf. Es wurde so dunkel wie in der Nacht. Irgendwo in der Nähe heulten Hunde.

»Bei einem solchen Sturm kommt der Schwarze Reiter auf seinem Rappen in die Stadt geritten«, sagte Frau Dutt.

»Ich habe ihn noch nie gesehen«, antwortete Lena.

»Na ja, niemand hat ihn je gesehen, weil bei einem Gewitter alle zu Hause sitzen. Dann reitet er auf seinem schwarzen Pferd durch die Stadt.«

»Und was will er?«

»Das weiß niemand. Vielleicht macht er einfach nur einen Ausritt, aber vielleicht sucht er auch nach etwas.«

Frau Dutt erzählte den Kindern oft irgendwelche Ammenmärchen und Gruselgeschichten. Sie handelten von übernatürlichen Phänomenen, Vulkanausbrüchen, Außerirdischen und Gespenstern in verlassenen Burgen. Die Kinder hörten ihr mit offenem Mund zu. Später erzählten sie die Geschichten zu Hause weiter, woraufhin ihre wütenden Eltern zur Direktorin liefen, um sich über die Erzieherin zu beschweren.

Draußen donnerte und blitzte es. Die Kinder kamen verängstigt in ihren Unterhosen angelaufen.

»Geht wieder ins Bett«, sagte Frau Dutt, »ich komme gleich nach, ich muss nur noch das Fenster zumachen.«

Die Kindergärtnerin stand von ihrem Tisch auf und ging zum Fenster.

Da blitzte in der Luft etwas auf.

Eine Feuerkugel von der Größe eines Fußballs kam mitten im Zimmer über den Kinderköpfen zum Stehen und spuckte kurze weiße Funken in alle Richtungen. Die Kugel zuckte, verharrte aber gespenstisch auf der Stelle, als warte sie auf etwas Bestimmtes. Die Kinder standen wie angewurzelt da und starrten gebannt auf die Kugel. Im gleißenden Licht fingen ihre Augen an zu tränen.

Lena wusste, was die Kugel bedeutete. Sie hatte Frau Dutt tausende Male über Kugelblitze sprechen gehört. Sie waren ein beliebtes Thema in allen Science-Fiction-Zeitschriften. Alle redeten andauernd über Kugelblitze, ohne jemals einen gesehen zu haben. Alle wussten, dass man Ruhe bewahren und nicht weglaufen sollte. Auf keinen Fall durfte man sich bewegen. Allerdings wusste keiner, wie lange nicht, denn es gab keine Augenzeugen dieser fantastischen Naturerscheinung, zumindest keine überlebenden.

Frau Dutt wusste ebenfalls, womit sie es zu tun hatte. Lena bemerkte Angst in ihren Augen und war etwas überrascht, da sie eigentlich sicher war, Frau Dutt würde immer eine Lösung finden.

Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden.

Die schreckensstarren Kinder standen in ihren Unterhosen da und waren bereit, Reißaus zu nehmen. Doch Frau Dutt kam ihnen zuvor. Sie stürzte zum Fenster und rief aus Leibeskräften:

»Ist das etwa kein Wunder, Lena?!«

Im gleichen Augenblick sprang der Feuerball ruckartig zur Seite und Frau Dutt loderte in allen Farben des Regenbogens auf. Die Kinder schrien wie am Spieß. Lena stand regungslos da und schaute.

Frau Dutt löste sich in den bunten Farben auf, als hätte es sie nie gegeben. Nur der abscheuliche Geruch von verbranntem Fleisch erinnerte noch an die frühere Existenz der Kindergärtnerin.

Lena blieb reglos stehen und beobachtete, wie sich der ganze Kindergarten auf das nun einsetzende Geschrei hin versammelte. Die Direktorin fragte die Kinder, was passiert sei, aber es war aussichtslos, keiner brachte auch nur ein Wort heraus, alle weinten, ein paar lagen bewusstlos auf dem Boden. Die Direktorin wandte sich an Lena:

»Was ist passiert? Wo ist die Tante?«

Der hellblaue Plastilinschwan stand stolz auf dem Tisch, an dem Platz, wo noch kurz zuvor Frau Dutt gesessen war. Lena würde diesen Schwan behalten.

»Olenka! Olenka!«, schrie die Direktorin.

Lena sagte:

»Ich heiße Lena.«

Dann ging sie nach Hause.

In den folgenden Monaten sprach sie ausschließlich Russisch. Die Ärzte diagnostizierten das als eine Folge des Schocks. Lena sei noch glimpflich davongekommen, denn manche Kinder würden gar nicht mehr sprechen.

Lena kam in einen anderen Kindergarten, am Eingang des Unglückskindergartens wurde eine Gedenktafel zu Ehren von Frau Dutt angebracht. »Sie opferte ihr Leben, um Kinderleben zu retten« war darauf zu lesen. Lena hat diese Tafel nie gesehen, sie war immer zu beschäftigt. Sie wartete ungeduldig darauf, dass endlich etwas Großes aus ihr rauskommen würde.

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In der Schule bekam Lena gute Noten und las viel, da sie der Meinung war, eine andere Begabung sei ihr nicht gegeben. Sie hatte keine Freunde und war immer allein mit ihren Büchern. Sie lebte in einer Fantasiewelt, die wenig mit der Welt zu tun hatte, wie wir sie kennen.

Lena zog Außenseiter an, mit denen das Leben es nicht gut gemeint hatte. Später sollte sie in ihren Erinnerungen mit dem Titel »Die innere Schönheit der Ausgestoßenen« über diese Phase schreiben:

»Sie sind unglücklich und allen außer mir egal. Nehmen wir als Beispiel Iwanka, meine damalige beste Freundin. Ich nannte sie ›Hund‹, und sie hatte nichts dagegen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass sie den Namen ganz gern mochte. Sie hatte bis zur sechsten Klasse mit Müh und Not lesen und schreiben gelernt. Einfach und gutmütig wie sie war, ließ sie sich auf alle meine Abenteuer ein, begleitete mich überallhin, und wenn ich gesagt hätte, gehen wir ans andere Ende der Welt, dann wäre sie mitgegangen. Hund kam aus einer dreizehnköpfigen Familie, deshalb verbrachte sie ihre Nachmittage draußen oder bei mir zu Hause. Ich gab ihr zu essen, erzählte ihr von meinen Spinnereien, kämmte ihr die Haare und spielte manchmal mit ihr wie mit einer Puppe.«

In der Schule saßen die beiden nebeneinander und Hund schrieb alles von Lena ab. Trotzdem schaffte sie es, jedes Mal Fehler zu machen und schlechte Noten zu bekommen. Die waren ihr allerdings nicht besonders wichtig, auf die Schule insgesamt legte sie keinen allzu großen Wert. Hund bereute nie etwas, denn um etwas bereuen zu können, muss man denken können, und das konnte sie nicht, weshalb sie auch glücklich und unbeschwert durchs Leben ging. Lena übernahm die Verantwortung für Hunds schulische Leistungen. Sie erklärte ihr den Lernstoff aus Biologie, Physik, Literatur und Geschichte. Letztere machte ihr besonders viel Spaß, denn hier konnte sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Ein paarmal musste Hund Lehrgeld zahlen, als sie im Unterricht etwas wiedergab, das sie von Lena gehört hatte. Der strenge Lehrer für ukrainische Geschichte geriet völlig außer sich und warf sie hochkant aus dem Klassenzimmer.

Diesen Vorfall nahm Hund Lena übel und Lenas Autorität kam ins Wanken. Da Hund jedoch nicht weiterwusste, kam sie schon bald wieder zurück und beschwerte sich:

»Lena, du bist ein Lügenmaul.«

»Und du bist eine Dumpfnudel.«

Danach war alles wieder in Butter.

Eine andere Jammergestalt aus Lenas Umfeld war eine ältere Floristin, die sich um das schuleigene Gewächshaus kümmerte. Die Frau hatte ein Bein, das zwölf Zentimeter kürzer war als das andere. Beim Gehen sah sie aus wie ein Schiff, das auf den Wellen hin- und herschaukelt und dabei immer weiter vom Ufer fortgetrieben wird. Lena nannte sie Baba Lida.

Baba Lidas Gewächshaus war ein richtiger Urwald. Es roch nach Feuchtigkeit, Wärme und Ozon. Am Eingang stand ein riesiger, meterhoher Gummibaum. Weiter hinein musste man sich durch ein Dickicht aus Philodendren kämpfen, die aggressiv abstehende, ausgefranste Blattwedel hatten, die an Kraken-Fangarme erinnerten. Noch weiter hinten standen reihenweise Agaven und wollige, wie mit Schnee angezuckerte Kakteen. Und dann waren da noch Hunderte, ja Tausende Pflanzenarten, die Lena nie zuvor gesehen hatte.

Baba Lida begoss ihren Urwald mit eingeweichtem Hühnerdreck, eine Behandlung, auf die sie auch das üppige Wachstum ihrer Pflanzen zurückführte. Man konnte ihnen beim Wachsen förmlich zusehen. Baba Lidas Kakteen blühten zweimal im Jahr und die Philodendren trugen Früchte, was für diese tropischen Pflanzen im gemäßigten Klima ganz und gar untypisch ist. Selbst die bescheidenen Pelargonien muteten bei Baba Lida wie exotische Prinzessinnen an.

Lena und Hund verbrachten ganze Nachmittage im Urwald. Sie saßen auf winzigen Hockern unter den Philodendren und sahen dem Dschungel beim Wachsen zu. Manchmal kam die Schuldirektorin ins Gewächshaus. Sie war eine hässliche dicke Furie mit dick verspachtelten Froschlippen. (Aus irgendeinem Grund hatte Lena nie das Glück, auch nur einen einzigen normalen Menschen in einer Führungsposition kennenzulernen.) Die Direktorin kam ins Gewächshaus, um zu streiten. Lena saß auf dem Hocker und stellte sich vor, wie der meterhohe Gummibaum, der das alles mitanhören musste, die Direktorin mit seinem dicksten Ast in den Betonboden rammte, damit sie endlich Ruhe gab und Baba Lida nicht belästigte.

Die Direktorin brüllte:

»Lida! Was ist das hier für ein Urwald?! Wo soll ich denn die ganzen Pflanzen unterbringen?! Ich brauche keine Gummibäume und keine Philodendren! Die gehen ja in kein Zimmer rein! Und die Kakteen?! Wozu stehen die da rum? Die Kinder werden sich die Augen daran ausstechen! Willst du, dass ich ins Gefängnis muss?!«

»Ich habe auch andere Pflanzen«, antwortete Baba Lida leise. »Die Hortensien sind so schön, die Sumpf-Calla blüht auch schon …«

Die Direktorin war jedoch weder an den Hortensien noch an der Sumpf-Calla interessiert. Sie hasste Baba Lida einfach, und Lena musste erkennen, dass es Menschen gibt, die keinen besonderen Grund brauchen, um jemanden zu hassen.

Im Winter hielt Baba Lida Hühner mit ihren Küken. Sie versteckte sie in Kisten unter den Regalen und stellte große Topfpflanzen davor. In Baba Lidas winzigem Holzhaus, das in der Nähe des Schulgebäudes stand, war es eiskalt, während es hier im Gewächshaus immer warm und gemütlich war. Den Hühnern schien es zu gefallen, im Dschungel zu überwintern. Sie schenkten den Pflanzen ihre Exkremente und die Pflanzen dankten es mit ihrer Wärme.

Die Direktorin wusste nichts vom Hühnerstall im Gewächshaus und durfte davon auch nichts mitbekommen. Vor den planmäßigen Kontrollbesuchen der Furie deckte Baba Lida die Kisten mit Brettern ab, und die Hühner saßen still, ohne einen Pieps von sich zu geben.

Eines Tages schneite die Direktorin überraschend herein, sodass Baba Lida keine Zeit hatte, die Spuren zu verwischen. Die Direktorin begann sich wie üblich zu ereifern, diesmal wegen der neuen Sukkulentenfamilie, da hörte sie plötzlich ein undefinierbares Piepsen. Sie spitzte die Ohren, und Baba Lida wurde kreidebleich.

»Was war das, Lida? Was piepst da so?«

»Ich hab nichts gehört …«

»Doch, da war gerade so ein Piepsen, so wie …«, die Direktorin lauschte, »so wie Mäuse oder … Hühner …«

»Da sind keine Mäuse, Rajissa Wolodymyriwna, die würden ja an den Pflanzen nagen … Und Hühner? Wo sollten die denn herkommen?«

Während die Direktorin zwischen den Regalen hin und her stapfte, blieb Baba Lida totenbleich am Eingang stehen. Wenn das mit den Hühnern auffliegen würde, wäre sie ihre Arbeit los.

Doch da kam ihr Hund zu Hilfe, und Lena staunte nicht schlecht über deren Einfallsreichtum. Hund hüpfte hinter einem Regal hervor und piepste drauflos, und zwar so laut und meisterlich, wie es ein ganzer Hühnerstall nicht besser hätte machen können. Die Direktorin sprang erschrocken zur Seite und stieß dabei einen Eimer mit aufgeweichtem Hühnerdreck vom Regal, der ihr prompt auf den Kopf fiel.

»Was ist das, Lida? Was macht die Scheiße da?!«

Es war nicht klar, wen oder was genau sie damit meinte: den Hühnerdreck oder die piepsende Iwanka. Die blank geputzten schwarzen Schuhe und das silberglänzende Kostüm der Direktorin waren nun mit den Stoffwechselprodukten der Vögel besudelt.

»Das ist Hühnerdreck. Den nehme ich zum Gießen, damit die Pflanzen besser wachsen.«

»Ich will das hier nie wieder sehen! Pflanzen mit Scheiße gießen! Hast du sie nicht mehr alle?!«

»Es wird nicht wieder vorkommen«, antwortete Baba Lida mit einem Lächeln.

Damals konnte sie ihre Arbeit behalten, allerdings nicht für lange. Die Direktorin fand einen anderen Vorwand, um Baba Lida rauszuschmeißen und das Gewächshaus mit all seinen grünen Bewohnern an sich zu reißen.

Lena kam aus Gewohnheit immer noch hierher und musste mitansehen, wie unumkehrbar und rasant der Prozess des Absterbens voranschritt. Der Gummibaum wurde gelb und verlor alle seine Blätter. Nach einem Jahr wurde er zu Brennholz zerhackt. Die Philodendren verschacherte die Direktorin an Neureiche, die sie in ihre schicken Büros stellten. Gerüchten zufolge kostete so eine Pflanze zweihundert Dollar. Die Kakteen gingen ein. Nur die Pelargonien hielten sich noch lange. Sie halten überhaupt viel aus und sterben erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Nach ihrer Zeit im Gewächshaus ging Baba Lida in die Poliklinik putzen.

Im Laufe ihres Lebens hatte sie schon alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtet. Das Gewächshaus war dabei die einzige mehr oder weniger positive Ausnahme gewesen. Baba Lida war ihr Leben lang vom Pech verfolgt gewesen, das hatte sie Lena selbst erzählt. Sie sagte:

»Das geschieht mir recht. Ich bin selber schuld an meinem verpfuschten Leben. Wenn ich alles, was ich angerichtet habe, wiedergutmache, wird es wieder besser. Nicht in diesem Leben, nein, aber vielleicht im nächsten. Oder im übernächsten.«

Baba Lida interessierte sich für Esoterik und diverse Lehren über verloren gegangenes Wissen und verborgene Welten. Sie las die Werke von Helena Blavatsky und Nicholas Roerich und pseudowissenschaftliche Abhandlungen über den Weg der Arier. Sie legte sich tagelang die Karten, studierte verschlüsselte Botschaften in der Bibel, glaubte an Zeichen und Vorbestimmung und kochte Rosenblüten für den Winter ein. Lena sagte später, Baba Lidas Lebensstil sei noch nicht einmal der verrückteste von allen gewesen. Es hätte viel schlimmer kommen können und Baba Lida blieb immer lebensfroh und unverzagt.

Sie sagte:

»Als junge Frau war ich sehr hübsch. Die jungen Männer sind mir reihenweise zu Füßen gelegen. Aber ich habe sie ignoriert, sie die ganze Zeit beleidigt und mich immer nur über sie lustig gemacht. Ich war sehr stolz. Dann begann der Krieg und ich bekam ein paar Bombensplitter ab, unter anderem in den Bauch. Ich wurde direkt an der Front operiert, in den Katakomben, im ärgsten Dreck, ganz ohne Betäubung. Die Wunde wurde mit Selbstgebranntem desinfiziert. Der Arzt rechnete nicht damit, dass ich überlebe, und hat mich wie ein Schwein zusammengeflickt. Auf ihn warteten ja Hunderte andere verletzte Soldaten. Aber ich bin am Leben geblieben. Und glaub mir, Lena, das ist das Einzige, was ich wirklich an jedem einzelnen Tag meines Lebens bedaure. Meine ganze Familie ist im Krieg umgekommen, alle meine Bekannten. Mit siebzehn fing ich an, kreuz und quer durch die Weltgeschichte zu ziehen, war aber nirgendwo richtig zu Hause.«

Nach der Operation war eines von Baba Lidas Beinen um zwölf Zentimeter kürzer. Sie war nun eine Behinderte. In den 1950ern kam sie nach San Francisco und bekam ihre erste Anstellung als Putzfrau. Von da an putzte sie öffentliche Toiletten. Bei dieser Arbeit lernte Baba Lida einen jungen Mann kennen, der zufällig da war, um seine Notdurft zu verrichten. Sie verliebte sich bis über beide Ohren in ihn. Der junge Mann schien auch von ihr sehr angetan zu sein.

Ihre Beziehung zog sich in einem ständigen Auf und Ab über Jahre hin. Die Eltern des jungen Mannes – sie waren Professoren oder Zahnärzte – wollten der Heirat ihres einzigen Sohnes mit einer zugezogenen Behinderten nicht zustimmen. Sie versuchten sie auszuzahlen, bedrohten sie und konnten sie sogar ein paarmal wegen erfundener Diebstähle ins Gefängnis bringen. Als alle ihre Pläne scheiterten, schickten sie ihren Sohn zum Arbeiten nach Wladiwostok. Baba Lida hatte gerade seine Tochter zur Welt gebracht.

»Der junge Mann war an sich kein schlechter Mensch«, sagte Baba Lida, »aber er hatte einen schwachen Willen. Er hat mich geliebt, er hat mir Briefe geschrieben und beteuert, dass er sich was einfallen lassen würde. Nach ein paar Jahren kamen keine Briefe mehr. Offenbar ist ihm doch keine Lösung eingefallen. Er war nicht sehr erfinderisch.«

Die Eltern des jungen Mannes schickten Baba Lidas Tochter manchmal kleinere Geschenke zu Silvester. Baba Lida log, sie kämen von Väterchen Frost, und ihre Tochter glaubte an ihn, bis sie achtzehn war.

»Schau mich doch an, Lena«, seufzte Baba Lida, »wofür hätte man mich lieben sollen? Eine Behinderte ohne Familie, ohne ein Zuhause. Mein ganzes Leben lang hab’ ich nur geputzt. Die ganze Mühe, die viele Arbeit, und die Welt ist trotzdem nicht sauberer geworden.«

Baba Lida hatte einen wiederkehrenden Albtraum. In ihrem Traum fliegt sie unter der Zimmerdecke umher, während im Zimmer unter ihr Menschen in weißen Kitteln umherlaufen und sie einfangen wollten. Im Zimmer steht ein riesiger Fleischwolf, der auf Hochtouren läuft. Er arbeitet.

Baba Lida hört das Knacken von Menschenknochen und hat große Angst. Es riecht nach Blut. Sie hört kleine Kinder und stolze Männer schreien. Doch dann sieht sie das geöffnete Oberlicht. Sie fliegt aus dem Zimmer und freut sich: »Gott sei Dank, ich bin gerettet, ich bin frei!« Doch auf der anderen Seite des geöffneten Fensters findet sie sich in einem ebensolchen Zimmer wieder, mit einem weiteren Fleischwolf, der genauso arbeitet.

Lena hatte so große Angst vor dem Fleischwolf aus Baba Lidas Albträumen, dass sie anfing, selbst davon zu träumen. Baba Lida beschwichtigte sie:

»Du brauchst keine Angst zu haben. Du hast Familie, bist gut in der Schule. Du wirst es viel besser haben als ich.«

Lena löffelte Baba Lidas Rosenmarmelade und nickte.

»Ich habe lauter Einsen«, sagte sie, »aus mir kommt mal was ganz Großes raus.«

»Schau, dass du die Baba Lida nicht vergisst, wenn aus dir mal was ganz Großes wird.«

»Ich vergess’ dich nicht! Ich komme dich besuchen!«

Mit der Zeit ähnelte Baba Lida immer mehr einer guten Märchenhexe. Lena besuchte sie einmal pro Jahr, manchmal auch einmal in zwei Jahren. Sie redeten immer über »Hochgeistiges«, vermutlich deshalb, weil Menschen, die nur die Niederungen kennen, gerne träumen.

Irgendwann vergaß Lena Baba Lida schließlich doch. Sie hatten sich auseinanderentwickelt. Die eine wollte leben, während die andere genug vom Leben hatte und auf etwas anderes wartete.

2    Gott im Himmel und auf Erden

Irgendwann in der siebten Klasse bekam Lena ernsthafte Probleme mit ihrem Glauben.

Jener Gott, zu dem sie brav jeden Morgen und Abend betete, hatte mit einem Mal keine Macht mehr über sie, da Lena ihn einfach nicht mehr ernst nehmen konnte. Lenas Oma erzählte ihr von ihrem Gott. Sie lieh ihn ihrer Enkelin solange, bis Lena einen eigenen Gott fände. Die Oma brachte ihr auch das Beten bei. Sie selbst sprach mit Gott jeden Tag im Morgengrauen und nach Sonnenuntergang. Oma hatte zwei Götter: einer hing in der Sommerküche (ihn mochte Lena lieber) und der andere im Schlafzimmer. Morgens betete Oma zu zweiterem und abends, nach dem Füßewaschen, zu ersterem. Die Zähne putzte sie sich übrigens nie. Lena fand den Grund dafür erst viel später heraus: sie hatte keine mehr.

Lenas Oma wusch sich jeden Abend das Gesicht und die Füße, zog ihr bodenlanges Nachthemd an, stellte sich, dürr wie eine Bohnenstange, mit gefalteten Händen hin und rezitierte das Vaterunser in einer Sprache, die Lena fremd vorkam. Der Anfang war immer gleich und wurde in einem Atemzug auf Altkirchenslawisch ausgesprochen: »Очченашєжиєсінанебесі«. Lena saß daneben auf dem Sofa, wusch sich die Füße nicht, weil sie keine Lust hatte, und lauschte. Sie mochte Omas Gott und nannte ihn »Omagott«. Er war streng, aber gerecht. Er war allmächtig. Eine imposante Erscheinung. Vom Alter her so um die sechzig, was laut Lena das beste Alter für einen Gott war: kein Jungspund mehr, auf den kein Mensch hören würde, und auch kein Greis, also noch nicht verkalkt. Der sechzigjährige Omagott hatte einen langen Rauschebart und einen milden Blick, der sich allerdings auch ändern konnte, je nachdem, wie schwer Lena den Tag über gesündigt hatte.

Sie unterhielt sich oft mit ihm. Für gewöhnlich schlug sie ihm recht abenteuerliche Abmachungen vor, etwa: Wie wär’s, Gott, du gibst mir dieses und jenes, und dafür werde ich immer an dich glauben. Als wäre es Gott nicht egal, ob man an ihn glaubt.

Von Zeit zu Zeit stellte Lena Gott auf die Probe. Dann sagte sie: »Ich lutsche gerade ein Bonbon. Beweis mir, dass es dich gibt, und mach, dass es mir aus dem Mund fällt. Dann werde ich an dich glauben.«

Manchmal fiel das Bonbon tatsächlich auf den Boden.

Lenas Oma hingegen hatte ihre eigenen Vereinbarungen. Sie bat Gott um Gesundheit für Lena und all ihre anderen Enkel und Kinder, ohne etwas dafür zu geben. Sie bat ihn um schönes Wetter oder eine gute Ernte. Sie bat darum, dass die Kuh gut kalben möge und die Schweine aufhören würden, den Boden im Stall zu demolieren. Dass die Kartoffelkäfer das Erdäpfelkraut nicht so unverschämt fressen. Dass das Heu bis zum Frühling reicht. Dass der Großvater weniger trinkt. Dass es Lenas Eltern gut geht und sie endlich das ersehnte Auto kaufen können.

Das Gebet endete immer mit den gleichen Worten: »Ich habe hundertmal gesündigt, vergib mir, Herr.« Diesen Teil konnte Lena nicht verstehen, denn ihre Oma sündigte nie. Sie war ein herzensguter Mensch und begnügte sich mit dem Wenigen, das sie hatte. Solche Menschen gibt es nicht mehr, würde Lena später feststellen. Heutzutage will jeder alles haben. Alle sind nur damit beschäftigt, haben zu wollen. Die Oma hingegen freute sich schon, dass sie gesund und nicht bettlägerig war.

Sie besaß keine Zähne mehr, und wenn sie manchmal Heißhunger auf saure Gurken verspürte, raspelte sie eine auf der feinen Reibe und schlang sie wie einen Brei hinunter. Ihre Wünsche waren sehr bescheiden, und wenn sie nicht in Erfüllung gingen, machte sich Oma nicht viel daraus.

Lenas Großvater war da ganz anders. Er hatte Wünsche, aber um bei der Wahrheit zu bleiben, eigentlich nur zwei: trinken und rauchen. Diese Wünsche waren so bestimmend, dass er sich, als Gott aufgehört hatte, sie zu erfüllen, rächte und aufhörte, an ihn zu glauben.

Großvater lag hilflos in seinem dunklen Zimmer, ohne Schnaps und ohne Zigaretten, und sah Dämonen.

Da schwor sich Lena, niemals etwas zu sehr zu wünschen, denn diesen Ungeheuern wollte sie auf keinen Fall begegnen.

Lena betete viele Jahre lang jeden Morgen und jeden Abend. Wenn sie aus irgendeinem Grund einmal darauf vergaß, machte sie sich die allergrößten Vorwürfe und hatte furchtbare Angst vor Bestrafung. Sie dachte: Das war’s dann, jetzt kann ich mir am Sonntag kein Eis mehr kaufen oder ich mache einen Fehler beim Ukrainisch-Test und bekomme nur ein »Gut«. Oder ich stolpere irgendwo in eine Pfütze, und die ganze Stadt wird über mich lachen.

Der Omagott konnte alles sehen und verzieh nichts. Er saß in Lena drinnen und bekam alles mit, was sie so tat und dachte, und wenn etwas Schlimmes dabei war, ereilte sie immer die wohlverdiente Strafe.

Lena verlor ihre Lieblingshandschuhe, weil sie ihrer Mutter nicht beim Aufräumen helfen wollte. Lena begriff nicht, wie der Winkelmesser funktioniert, weil sie am Abend zuvor in Gedanken »Blödmann« und »wenn ich groß bin, zahl’ ich’s dir heim« zu ihrem Vater gesagt hatte.

Auf diese Weise hing alles mit allem zusammen. Das Prinzip von Ursache und Wirkung funktionierte wie eine Rechenmaschine. Demütig akzeptierte Lena ihre Strafen und sündigte auf ihre kindliche Art weiter.

»Es war so eine Art Spiel«, schrieb sie später. »Mein Kindheitsgott und ich zwinkerten einander gegenseitig zu: wie du mir, so ich dir. So waren wir beide weniger allein.«

Doch eines Tages, ungefähr mit dreizehn, konnte Lena beim allabendlichen Gebet plötzlich nichts mehr fühlen – weder Angst vor Bestrafung noch Dankbarkeit für ihre Existenz. Ihr war, als hätte jemand ihren geborgten Kindheitsgott von der Wand genommen und als klaffte an seiner Stelle nun ein riesengroßes schwarzes Loch, das nicht verdeckt werden konnte. Das Spiel war aus, die beiden waren nun, jeder für sich, auf sich allein gestellt. Mach, was du willst, sündige, so viel du kannst – Böses bleibt ohne Strafe, Gutes wird nicht belohnt.

Lena hörte mit dem Beten auf, doch nichts geschah. Der Boden unter ihren Füßen tat sich nicht auf. Ein paarmal ertappte sie sich dabei, wie sie in Gedanken vor sich hersagte: Lieber Gott, vergib mir, dass ich nicht zu dir bete. Es bedeutete so viel wie: Lieber Gott, vergib mir, dass ich nicht an dich glaube.

Später wurde Lena bewusst, wie absurd diese Worte waren. Von da an rechtfertigte sie sich gar nicht mehr. Rein äußerlich war ihr Leben nicht anders als zuvor. Außer vielleicht, dass sie gelegentlich versuchte, den Lehrern in der Schule zu beweisen, dass es keinen Gott gab, weil sie ihn nicht sehen konnte.

Der sogenannte »gesellschaftliche« Gott, falls so einer überhaupt existiert, verhielt sich ebenfalls sehr merkwürdig und erweckte bei Lena kein Vertrauen. Menschen, die siebzig Jahre lang nur an die strahlende sozialistische Zukunft geglaubt hatten, rannten auf einmal alle gleichzeitig in die aus dem Boden gestampften Kirchen, um sich zu verneigen. Die Kirchen sahen von außen alle gleich aus und auch drinnen ließ sich nicht zweifelsfrei feststellen, welchem Bekenntnis und welcher Nationalität der dortige Gott angehörte und wie viel man ihm für das Seelenheil zahlen musste. Die Vielgötterei erfreute sich großer Beliebtheit. Es gab russische, ukrainische, orthodoxe, griechisch- und römisch-katholische, protestantische, baptistische und evangelikale Götter, Götter der Siebenten-Tags-Adventisten und der Krieger des Himmlischen Königreichs.